Anders von Yume-chan (Unterschiede trennen Welten) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Ich spüre den kalten Wind wie eisigen Atem im Nacken. Meine Hände sind in meiner Jackentasche ineinander verschlungen festgefroren. Sie sind unempfindlich geworden für jede Berührung. Ich kann kaum etwas erkennen, die Dunkelheit, in der ich dahinwandere ist dick wie Watte und die Schneeflocken tanzen vor meinen Augen einen federleichten Tanz zu unhörbarer Musik. Trotzdem bleibt das weisse, kalte Wunder nicht liegen. Die kleinen Sterne schlagen sanft am Boden auf und verschwinden. Das Salz auf den Strassen tötet sie. Ich bleibe kurz stehen und hauche in die Eiseskälte dieser stillen Januarnacht. Mein Atem kringelt sich, schwebt vor meinem Gesicht und verflüchtigt sich. Ich gehe weiter. Noch nie ist mir die Stadt vergleichsmässig verlassen vorgekommen. Alle Lichter sind aus, erloschen. Hinter den Fenstern der hohen, grauen Wohnblöcke verbergen sich verängstigte Gesichter, kleine, glänzende Kinderaugen, schmale, zusammen gepresste Lippen. Hier leben sie, sie, die niemand haben will, an denen niemand interessiert ist. Hier wohnen die andern. Und ich, ich wandere als Nicht-andere durch die leeren Strassen der andern und geniesse ganz allein den Winter. Niemand wird mich stören, niemand wird sich aus dem Haus wagen. Sobald sie mich sehen, werden sie sich verschanzen, sich einschliessen. Sie fürchten uns. Und wir fürchten sie. Aber im Gegensatz zu den restlichen Nicht-andern fürchte ich sie nicht. Sie ziehen mich magisch an, ihre Schicksale scheinen das meine geworden zu sein. Leise beginne ich zu summen. Der zweite Satz des Winters aus den vier Jahreszeiten. Ganz passend, finde ich und spaziere weiter. Ein kleiner, mutiger Schneestern lässt sich auf meinem Schal nieder. Ich beobachte ihn eine Weile und versuche, seine genaue Struktur zu erkennen. Dann verschwindet er langsam, löst sich leise auf. Ich sehe vor mir den verreisten Brunnen auftauchen. Vorsichtig setze ich Fuss vor Fuss und spüre, wie ich rutsche. Doch ich behalte das Gleichgewicht und gelange sicher zum Brunnenrand. Ich schwinge mich hoch und bleibe rittlings sitzen. Die Fläche unter mir glänzt verspiegelt. Sie ist das einzige, das in dieser Nacht den vollen Mond widerspiegelt. Sein eisiges Gegenstück lächelt mir verzehrt zu. Ich lächle zurück. Am Brunnenhahn hängen kleine, silbrige Eiszapfen. Verlockend blinzeln sie mir entgegen und ich kann nicht anders als vorsichtig meine versteiften Hände aus der Tasche zu ziehen, mich nach vorn zu beugen und einen abzubrechen. Seine Oberfläche ist ganz glatt, ohne Risse. Bewundernd streiche ich mit dem Finger darüber. Die Kälte, die von ihm ausgeht, spüre ich kaum. Ich halte ihn mir an die Wange, spüre seine schöne Form. Und ich spüre, wie er langsam schmilzt. Bevor er ganz sterben muss, lege ich ihn vorsichtig auf die Eisfläche des Brunnens. Fast augenblicklich friert er dort fest. Ich puste warmen Atem in meine Hände und reibe sie aneinander. Viel hilft es nicht. Egal, ich wollte so oder so weiter. Langsam lasse ich mich vom kalten Brunnenrand herunter gleiten und setze meine Füsse auf den verreisten Boden. Ich schiebe mich vorwärts, aus der Gefahrenzone weg. Als ich sicher stehe, greife ich mein Lied wieder auf und gehe summend weiter, immer tiefer in die Strassen der andern hinein. Die sanfte Melodie wird von den Mauern zurückgeworfen, schwingt sich durch die Nacht und füllt den ganzen Stadtteil aus. Erschrocken bleibe ich stehen. Gespannt lausche ich den kleinen, fast durchsichtigen Tönen. Sie huschen in mein Ohr, schwirren mir leise um den Kopf. Ich lächle und wende mich zum Weitergehen, bleibe jedoch wie angewurzelt stehen. Vor mir schiebt sich eine dunkle Gestalt aus dem Schatten eines Hauses. Ihre Kontur zeichnet sich scharf gegen den verschwommenen Stadthintergrund ab. Sie bleibt stehen und scheint mich aufmerksam zu mustern. Mein Herz klopft so laut, dass sie es unmöglich überhören kann. Meine verreisten Hände schieben sich noch etwas näher zusammen, klammern sich fest. Ein leiser Wind erhebt sich und streicht mir eine Haarsträhne ins Gesicht. Sie ist eiskalt und steif. Ich puste dagegen, aber sie bewegt sich nicht. Wippend hängt sie vor meiner Nase. Wie ein Messer teilt sie mein Sichtfeld in zwei verschiedene Teile. Naiverweise habe ich das Gefühl, mich hinter ihr verstecken zu können. Die Gestalt hebt langsam eine Hand, wie eine schlaffe Fahne bleibt sie mitten in der Bewegung hängen. Niemand rührt sich. Dann, eine Ewigkeit scheint vergangen, winkt sie mir zu. Es wirkt so schüchtern, dass ich unwillkürlich lächeln muss. Ich löse meine Hände aus ihrer Erstarrung und winke zurück. Die Gestalt macht einen unsicheren Schritt auf mich zu. Ich zögere eine Millisekunde und tue es ihr gleich. Die Anziehungskraft die von ihr ausgeht, ist nicht zu beschreiben. Sie hält mich fest, wenn ich hätte weglaufen wollen, hätte ich das ganz bestimmt nicht gekonnt. Aber momentan kreisen meine Gedanken nur um die merkwürdige Gestalt. Ich bin fasziniert davon, wie sie sich bewegt, was sie ausstrahlt. Je näher sie kommt, desto klarer kann ich sie erkennen. Wie ein verwunschener Zauberer schiebt sie sich aus der Dunkelheit, rückt näher ins Licht, das ich mir nur einbilde. Es ist ein Mann. Ein junger Mann, vielleicht einige Jahre älter als ich. Und er gehört eindeutig zu den andern. Seine Gesichtszüge sind verhärmt und hart. Und trotzdem strahlt er etwas Sanftes, Gutmütiges aus. Ich kann nicht anders, als ihn anzulächeln. Seine Gegenwart befreit mich auf eigenartige Weise. Er macht mich froh, mein Gemütszustand hebt sich von sehr gut auf genial gut. Vorsichtig lächelt er zurück. Irgendwie passt dieses Gefühl nicht in sein Gesicht. Es sieht aus wie zwei falsch ineinandergeschobene Puzzleteile. Was er wohl alles erlebt hat, bis er hierher gekommen ist? Ich puste erneut gegen meine Haarsträhne, habe keine Lust mehr auf die zweigeteilte Sicht. Er hebt vorsichtig eine Hand und streicht mir die Strähne hinters linke Ohr. Seine Finger sind eiskalt, genau wie meine. Ich nicke ihm dankend zu, er nickt zurück. Seine Geste war nicht anzüglich, kein bisschen. Sie war so natürlich, dass sie mich nicht einmal überrascht hat. Er macht eine Handbewegung Richtung Brunnen. Ohne gross auf meine Antwort zu warten, geht er die Strasse entlang. Er rutscht gekonnt über die Eisfläche und hält mir helfend die Hand entgegen, als er sieht, wie ich um mein Gleichgewicht kämpfe. Ich schwinge mich zum zweiten Mal in dieser Nacht auf den Brunnenrand und schenke dem eisigen Mond darin wieder ein kurzes Lächeln. Lange sieht er mich einfach nur an. Sein Blick durchbohrt mich, frisst sich in mein Inneres, das ich nicht einmal besonders zu verbergen versuche. Ich schaue offen zurück und lasse ihn in meinen Erinnerungen und Gedanken wühlen. Währenddessen tauche ich ein in seine Geschichte. Sie ist unendlich traurig. Und so brutal, dass es mich kurz schüttelt. Sofort reisst er sich aus meinem Blick und dreht sich weg. Ich atme ruckartig aus, ich wollte ihn nicht verletzen. Seine Hände kratzen an dem Eis, das auf dem Brunnen liegt. So lange und fest, bis sie von der Kälte aufreissen und zu bluten beginnen. Wie ein kurzes, hämisches Lachen fällt ein kleiner Blutstropfen auf das Eis und taut es augenblicklich. Ich wische ihn weg, sehe ihn dabei unverwandt an. Langsam dreht er sich wieder zu mir und nimmt zögernd das Taschentuch entgegen, das ich ihm hinhalte. Ich sehe, wie er mit sich kämpft und schliesslich verliert. „Danke.“ Ich erstarre. Seine Stimme ist klar und hell. Sie bohrt sich direkt in mein Herz. „Gern geschehen“, murmle ich. „Du solltest gehen.“ Ich nicke nachdenklich und betrachte den hellen Streifen am Horizont. Ich werde wirklich gehen müssen. Aber ich will ihn unbedingt wiedersehen. Gerade als ich mich zu ihm umdrehe, springt er elegant vom Brunnenrand, nimmt mich bei der Hand und zieht mich runter. Ich stolpere und pralle unsanft gegen seine Brust. Einen Moment verweilen wir beide in dieser Position, er hält meine Hand immer noch fest, seine andere liegt leicht auf meinem Rücken. Ich spüre sie kaum. Seine Nase streicht über mein Haar. Dann, ganz plötzlich, schiebt er mich von sich weg und eilt mit mir an der Hand die Strassen entlang. Ich erkenne bereits das steinerne, grosse, furchteinflössende Tor, dass die andern von uns trennt. Ich gebe ihm die Schuld, dass ich mich da gerade in eine furchtbar komplizierte aber nicht minder schöne Sache hineingebracht habe. Lange stehe ich regungslos davor. Dann drehe ich mich zu ihm um. Doch er ist bereits verschwunden. Wohin, weiss ich nicht. Aber als ich im Schein der ersten Sonnenstrahlen unter dem Tor hindurchtrete, schwöre ich mir, dass ich ihn wiedersehen werde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)