Götterhauch von Flordelis (Löwenherz Chroniken III) ================================================================================ Kapitel 21: Manchmal liefern Bücher Antworten --------------------------------------------- Joel sprach den ganzen Rest des Unterrichts kein Wort mehr mit dem neben ihm stehenden Anthony. Er ließ sich lediglich zu einer kurzen Verabschiedung herab, ehe er auch schon verschwunden war. Die Atmosphäre war kurz vor Ende der Stunde wieder merklich gelöster gewesen, als die Wesen verschwanden, Anthonys Inneres hatte sich wieder beruhigt, aber seine Gedanken fanden keine Ruhe. Dementsprechend erleichtert war er, als Marc ihn nach der Schule fragte, ob er Interesse daran hätte, gemeinsam mit ihm und Rena noch einkaufen zu gehen. Während sie nebeneinander herliefen, kam es Anthony vor als wäre es Renas Idee gewesen und sie hätte Marc nur dazu überredet, mit ihr zu gehen. Wieder festigte sich sein Entschluss, seinen Freund zu fragen, was er Rena schuldete und warum. Im Moment beschäftigte ihn eher, dass sie nicht in Richtung des Kaufhauses liefen. „Wo gehen wir eigentlich hin?“ „In einen Buchladen“, antwortete Rena. „Aber nicht der im Kaufhaus, der ist mir immer mit zu vielen Leuten gefüllt, da kann ich mich nicht konzentrieren. Außerdem gibt es dort nicht die Bücher, die ich haben will.“ „Was suchst du denn für welche?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich, wenn ich sie sehe.“ Er fand sie wirkte nicht wie jemand, der sich für Bücher interessierte. Offenbar waren Menschen wesentlich vielschichtiger, so dass man sie nicht auf den ersten Blick einschätzen konnte. Ihr Weg führte sie in ein altes Einkaufsviertel, dessen Geschäfte schon von außen einen gemütlichen und einladenden Eindruck machten, so dass man hineingehen und den Laden nie wieder verlassen wollte. Der Buchladen, an dem sie stehenblieben, gehörte ebenfalls dazu. Von außen war nicht viel zu sehen, die Fenster waren verdunkelt, so dass Anthony daran zweifelte, ob überhaupt geöffnet war, doch Rena drückte wie selbstverständlich die Tür auf und ging hinein, gefolgt von ihren beiden Begleitern. Der Geruch alter Bücher erfüllte die Luft und hieß sie willkommen und setzte Anthony wieder in die Vergangenheit zurück. Bücher, das war etwas gewesen, das sie auch im Peligro Waisenhaus zur Genüge gehabt hatten. Es wäre zu viel gesagt, wenn jemand behauptet hätte, dass Anthony sie liebte, aber er empfand auch keinerlei Abneigung dagegen. Am Liebsten mochte er eigentlich den Geruch alter Bücher, er umfing einen sobald man den entsprechenden Folianten in der Hand hielt und verhieß Geschichten von Abenteuern, Legenden, Märchen, Liebe und Freundschaft. Geschichten, in denen Drachen getötet und Jungfrauen gerettet wurden oder Menschen von den Toten auferstanden. Dieser Moment kam Anthony stets wie ein Rausch vor, das Lesen des Buches dagegen war für ihn fast schon wieder eine Enttäuschung, da die aufgeschriebenen Geschichten nie seinen Erwartungen standhalten konnten. Deswegen liebte er keine Bücher. Rena dagegen war sofort verzückt, als sie die Regale betrachtete, die sich an der Wand aufreihten und in denen so viele Bücher verstaut waren, dass es Anthony fast schon wunderte, dass sich die Bretter nicht unter dem Gewicht durchbogen. Von außen hatte der Laden dunkel ausgesehen, aber im Inneren war es überraschend hell, die Glühbirne war wesentlich stärker als alle, die er bislang gesehen hatte und verbreitete gleichzeitig ein überraschend sanftes Licht, vermutlich damit man sich beim Probelesen nicht die Augen kaputtmachte und dabei nicht die Buchstaben ausbleichen ließ. Während Rena sich umsah und dabei ihre Finger über die Buchrücken streifen ließ als könne sie somit jegliche Inhalte erfahren, blieb Marc ziemlich direkt neben dem Eingang stehen, wieder einmal mit verschränkten Armen. Anthonys Blick fiel auf einen Verkaufstresen, aber niemand war dahinter zu sehen. Allerdings gab es eine Tür auf der anderen Seite, die nur mittels eines Vorhangs den Raum jenseits des Ladens vor neugierigen Augen abzuschirmen vermochte. „Sie hat eine Kamera“, erklärte Marc auf Anthonys Nachfrage, „deswegen sieht sie, ob sie gebraucht wird oder nicht. Mach dir keine Gedanken.“ Der Buchladen gehörte also einer Frau. Aus irgendeinem Grund hätte Anthony einen solchen eher mit einem alten Mann in Verbindung gebracht als mit einer Frau. „Und wenn jemand etwas stiehlt?“ Statt einer Antwort deutete er auf etwas, das oberhalb der Tür angebracht war. Es war ein für Anthony unbekanntes Symbol in einem bedrohlichen Purpurton. Zwar sagte Marc nichts dazu, aber auch ohne jede weitere Erklärung konnte er spüren, dass ein mächtiger Zauber darauf lag, der Personen mit schlechten Absichten weder hinein- noch hinausließ, wenn sie irgendwie doch in den Laden gekommen waren. Rena griff sich eines der Bücher heraus und blätterte neugierig darin herum. Es sah so aus als würde es noch eine Weile dauern, weswegen Anthony sich ebenfalls umzusehen begann. Keiner der Titel oder Autorennamen sagte ihm etwas, weswegen sie alle vor seinen Augen zu neuen Geschichten verschmolzen unter denen er sich alle möglichen Sachen vorstellte, weswegen er keines der Bücher herauszog, um auch nur auf dem Einband nachzulesen, worum es wirklich ging. Er kam an einem weiteren Regal an, das anders eingerichtet war als alle anderen. Nicht alle Bücher standen mit dem Rücken zum Kunden, einige zeigten auch mit dem Cover nach vorne und präsentierten damit ihre fantasievollen Titelbilder, die sich erstaunlicherweise mit Anthonys Vorstellungen deckten. Sein Blick blieb allerdings an einem Bild hängen, das nicht sonderlich fantasievoll oder gar bunt, sondern eher unheimlich war. Darauf war ein skorpionähnliches Wesen zu sehen – und er wusste sofort, wo er es schon einmal gesehen hatte. „He, Marc. Dieses Buch...“ Er deutete nur darauf und beendete den Satz nicht, aber sein Freund kam bereits dazu, um es sich selbst anzusehen. „Ah, ich erinnere mich. Mein Kindermädchen hat mir früher oft daraus vorgelesen.“ Anthony merkte sich diese Information für eine spätere Frage. „Worum geht es darin?“ „Man könnte sagen, dass es ein Märchenbuch ist. Mit unheimlichen Märchen natürlich, die Kindern beibringen sollen, sich nachts nicht auf der Straße herumzutreiben. Warum? Interessierst du dich dafür?“ „Erkennst du das Monster darauf denn nicht?“ Anthony streckte den Arm ein wenig mehr durch, so dass er das Buch fast mit seiner Fingerspitze berührte. Marc blickte genauer auf das Cover, was Anthony fast dazu führte, dass er einen verzweifelten Laut ausstieß. Wie konnte es sein, dass er überhaupt darüber nachdenken musste? „Wo du es erwähnst, es scheint Ähnlichkeit mit den Wesen unseres Trainings zu haben. Ist mir nie aufgefallen, dabei seh ich das Buch öfter.“ „Wie kann dir das nicht auffallen?“ Marc zuckte scheinbar verlegen mit den Schultern. „Keine Ahnung. Das passiert wohl.“ „Und fragst du dich jetzt nicht, warum die Wesen so aussehen wie die beim Training?“ Er brauchte gar keine Antwort, um zu wissen, dass sein Freund sich das tatsächlich nicht fragte, sein Blick war genug. Marc zuckte noch einmal mit den Schultern. „Wir sind Söldner, wir hinterfragen nicht – haben zumindest meine Eltern immer gesagt, als ich hier anfing. Und zu Hause haben wir das auch nicht gemacht. Habt ihr im Waisenhaus etwa was anderes gelernt?“ Langsam schüttelte Anthony mit dem Kopf. Wenn überhaupt, war ihnen beigebracht worden, immer alles zu tun, was ihnen von einer höherstehenden Person aufgetragen wurde. Aber da war noch etwas anderes... „Ich habe das Gefühl, irgendjemand anderes hat mir beigebracht, zu hinterfragen.“ „Vielleicht deine Eltern? Du erinnerst dich ja nicht an sie, oder?“ Anthony neigte den Kopf ein wenig. „Ich erinnere mich nicht, aber es ist gut möglich.“ Die Erinnerungen an seine Eltern waren immer noch nicht zurückgekehrt und er zweifelte auch daran, dass es je passieren würde. Aber immerhin konnte er sie so nicht vermissen. Er beschloss, das Thema fallen zu lassen, statt weiter darauf herumzuhacken, dass Marc seiner Umgebung keine Beachtung schenkte und er auch keine Fragen stellte, da es ihm so beigebracht worden war und nahm dafür ein anderes Thema wieder auf: „Du hattest ein Kindermädchen?“ Marc lächelte sofort und lachte leise. „Klar. Eine sehr tolle Frau, die eigentlich eher wie meine Großmutter war. Deswegen denke ich gerne an sie zurück. Sie konnte tolle Kekse backen.“ Sein Blick verriet deutlich, dass er viele gute Erinnerungen an diese Frau hatte und sie vermutlich tatsächlich vermisste, was Anthony Leid tat. Er kannte diese Art von Schmerz zwar noch nicht, aber er stellte sich vor, dass es sehr grauenvoll war. Eine Bewegung von Rena riss ihn aus seinen Gedanken. Sie begab sich an ein anderes Regal etwas weiter entfernt von ihnen. Da sie immer noch tief in die Bücher vergraben war, nutzte Anthony die vermeintliche Gelegenheit, um Marc eine weitere Frage zu stellen: „Ich habe mich heute mit Ethan unterhalten. Er meinte, du würdest Rena etwas schulden, aber...“ Da er augenblicklich blass wurde, hielt Anthony wieder inne. Marcs Schultern sanken ein wenig tiefer. „Lass uns später darüber sprechen“, wisperte er. „Wenn wir irgendwann allein und unter vier Augen sind.“ Die Intensität seiner Stimme und die mitschwingende Verzweiflung sorgten dafür, dass Anthony keine weitere Fragen stellte, sondern direkt nickte und erneut das Thema wechselte: „Wie lange wird Rena wohl noch brauchen?“ Ihm war kalt. Trotz der Sonne, die direkt ins Lehrerzimmer und sogar ganz genau auf seinen Stuhl fiel, fror er; trotz der Jacke, die er um seinen Körper geschlungen hatte, fror er. Deswegen hasste er den Unterricht, er hasste, dass er dazu gezwungen wurde, aber gleichzeitig wusste er, dass es notwendig war und dies ihn unersetzlich machte. Er war unabdingbar für Raymond und den Rest der Akademie und das war ein extrem gutes Gefühl. Zu dumm nur, dass diese entsetzliche Kälte der kaum auszuhaltende Nachteil daran war. Während er noch dasaß und versuchte Wärme zu tanken ehe er nach Hause fuhr, hörte er, wie die Tür geöffnet wurde. Er blickte nicht einmal auf, da er fürchtete, sonst von einem der anderen Lehrer in ein Gespräch verwickelt zu werden, aber zu seinem Bedauern hielten die Schritte direkt vor seinem Tisch inne. Allerdings roch er im selben Moment den unwiderstehlichen Duft einer frischen Suppe aus seinem Lieblingsrestaurant. Eine Hand schob den damit gefüllten Teller in sein Blickfeld. Er bedankte sich seufzend bei Raymond, während er diesem den Löffel abnahm. Der Direktor setzte sich ihm gegenüber, um selbst ebenfalls einen Teller mit Suppe zu essen. Joel stürzte sich geradezu auf sein eigenes Essen, um sein Inneres mit der Wärme zu erfüllen, die ihm im Moment fehlte. „Du hast dich heute übernommen, oder?“, fragte Raymond. „Nachdem ich Anthony am Mittwoch getroffen habe, dachte ich, dass es besser wäre, wenn er gleich heute sieht, mit was wir trainieren.“ „Aber du warst noch nicht ganz auf der Höhe dafür. Vielleicht hättest du doch lieber noch eine Woche zu Hause bleiben sollen.“ Joel schnitt ihm eine humorlose Grimasse. „Erklär das mal deiner Frau.“ Raymond zuckte mit den Schultern. „Dazu müsste ich ihr erst einmal erklären, was du hier eigentlich genau machst und das willst du ja nicht.“ „Es reicht, wenn du es weißt.“ Nach dem ersten Schlingen hatte sich die Wärme gleichmäßig wieder in ihm ausgebreitet, so dass er langsamer essen und die restliche Suppe genießen konnte. „Das ist wirklich nichts, was ich an die große Glocke hängen will.“ Er selbst fand diese Fähigkeit unheimlich und grauenerregend, es war schlimm genug, dass er sie sein eigen nannte, da musste er nicht auch noch die Gewissheit haben, dass andere darüber Bescheid wussten - und insbesondere Alona musste nicht wissen, dass er sie andauernd einsetzte. Er wusste nicht, wie Raymond anderen Leuten erklärte, wie das Training in der Akademie ablief und woher die Monster kamen, aber es kümmerte ihn auch nicht weiter, da es nicht sein Problem war, solange die Leute nicht erfuhren, dass er etwas damit zu tun hatte. „Ich verstehe. Aber lass es die nächsten Tage wenigstens ein wenig ruhiger angehen. Es wäre nicht gut, wenn dir etwas passieren würde.“ „Nur keine Sorge, ich kann auf mich aufpassen, auch wenn es nicht so aussieht.“ Er zwinkerte Raymond zu, der allerdings weiterhin ein wenig besorgt aussah. Dennoch sagte er nichts weiter, sondern aß einfach schweigend. Jedes weitere Wort war umsonst, das wusste er. Immerhin hielt Joel diese Fähigkeit unter Kontrolle, das war viel wert, wie er wusste, aber dennoch machte er sich Sorgen darum, dass sein bester und einziger Freund eines Tages davon verschlungen werden würde, auch wenn ihm versichert worden war, dass so etwas nicht geschehen könnte. Aber wie viele Menschen außer ihm gab es denn, die solche Illusionen beschwören konnten? Wie sollte man also mit Gewissheit sagen können, dass es ungefährlich für Joel war? Da blieb nur die Hoffnung und die wenigen Mittel der Unterstützung, die Raymond ihm bieten konnte, wenn er ihn schon so sehr missbrauchte. „Ich denke aber, du solltest dir einmal andere Monster vorstellen. Mir scheint, dass viele der Schüler diese Märchenfigur nicht mehr ernstnehmen.“ „Ja, so kommt es mir auch vor.“ Joel nickte bedächtig. „Ich werd' mir mal was für die nächste Stunde vorstellen.“ Raymond neigte zufrieden den Kopf und verbrachte den Rest der gemeinsamen Mahlzeit mit einem zwanglosen Gespräch, das nicht verriet, wie besorgt er war und wie sehr sein schlechtes Gewissen an ihm nagte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)