Gefesselt von Nifen ================================================================================ Kapitel 1: ----------- I. Geheimnisse Es war ihr Geheimnis, ihr erste Geheimnis, das Geheimnis, auf dem alle folgenden beruhten. Und mit Geheimnis war nicht etwas so simples gemeint, wie eine Kiste mit ihren Schätzen, die sie als Kind in der hintersten Ecke des Gartens versteckt und von dem doch die ganze Familie gewusst hatte. Nein, dieses Geheimnis war etwas, von dem niemand aus ihrer Familie je erfahren durfte. Nicht einmal ihr Bruder Albus Severus, obwohl sie sicher war, dass er etwas in der Richtung vermutete, so wie er sie manchmal ansah, auch wenn er wohl nie den ganzen Umfang dieser Ungeheuerlichkeit erahnen würde. Noch lebhaft erinnerte sich Lily Luna an den Tag, an dem sie zwischen zwei Höllen hatte wählen müssen... Es war der 1. September 2019 gewesen. Seit so vielen Jahren hatte sie keinen sehnlicheren Wunsch gekannt als nach Hogwarts, der besten Schule für Hexerei und Zauberei Britanniens, zu dürfen, genau wie ihre Geschwister und Cousins, doch jetzt, wo sie gemeinsam mit Hugo und den übrigen Erstklässlern in die Große Halle geführt wurde, erfüllte sie einzig ein Gefühl der Vorahnung. Was, wenn...? Nein! Sie würde es verhindern müssen. „Ah, welch interessante Mischung...“, tönte es in ihrem Kopf, kaum dass sie bei der Auswahlzeremonie den Sprechenden Hut aufgesetzt hatte. „Es scheint als hätten sich die Züge deines Vaters mit den latenten Eigenschaften deiner Mutter in dir vereint. Ganz eindeutig, du bist eine Sl...“ Weiter kam der Sprechende Hut nicht, denn in dem Moment, wo er den Riss im Stoff hatte öffnen wollen, um seine Entscheidung zu verkünden, hatte Lily Luna, mit all der Kraft einer Elfjährigen, die magische Kopfbedeckung zusammengedrückt. Der erstaunten Lehrerschaft erklärte sie mit einem unschuldigen Gesicht, sie habe den Hut davor bewahren wollen, von ihrem Kopf zu rutschen. Mental aber zischte sie. „Wage es ja nicht, etwas anderes als Gryffindor auszurufen!“ Der Hut schnaubte empört. „Was glaubst du, was das hier ist Fräulein? Wünsch dir was? Ganz sicher nicht! Meine Aufgabe ist es seit über einem Jahrtausend...“ „... uns das Leben schwer zu machen“, fiel Lily ihm ins Wort. „... Talente und Eigenschaften in den Schülern zu erkennen und sie dem Haus zuzuordnen, in dem sie ihr Potenzial am besten entfalten können“, korrigierte der Sprechende Hut sie. „Sag ich doch, du willst uns das Leben schwer machen. Denn du fällst deine Entscheidung, ohne das familiäre Umfeld zu berücksichtigen. Und wohin das führt, haben wir alle bei meiner Cousine Mo sehen können. Das war wirklich eine gute Entscheidung.“ Ihre Gedanken bei diesen letzten Worten troffen nur so vor Sarkasmus, wie man es einem elfjährigen Mädchen kaum zutraute. Aber die Verzweiflung verlieh ihren Worten ungeahnte Flügel. Sie wollte nicht das gleiche Schicksal erleiden wie Molly. Als einziges Mitglied der Familie Weasley (wobei es für diese Betrachtung unerheblich war, ob der tatsächliche Nachname Weasley oder Potter lautete) hatte Molly, Mo genannt, es gewagt, dem Sprechenden Hut die Wahl zu überlassen und war in Ravenclaw gelandet. Ihre Eltern hatten ihr zwar versichert, dass sie genauso glücklich seien, ihre Tochter statt in Gryffindor in Ravenclaw zu wissen, dass Ravenclaw ein gutes Haus sei, aber man musste schon mit mehr als nur Blindheit geschlagen sein, um ihre Enttäuschung nicht zu bemerken. Weit schlimmer aber noch war das Verhalten ihrer Großmutter. Niemand, der die Familie näher kannte, würde abstreiten, dass der Weasley-Clan von einer Matriarchin erster Güte in Form von Molly Weasley der Älteren, nach der Lilys Cousine benannt worden war, beherrscht wurde. Diese energische Frau, selbst eine Gryffindor, hatte nicht weniger als sieben Kinder großgezogen, die allesamt ebenfalls Gryffindors geworden waren. Die Mehrzahl ihrer nun verheirateten Kinder hatten ihrerseits wiederum Gryffindors geheiratet, so dass es in den Augen dieser Matriarchin ausgeschlossen war, dass die Enkelkinder irgendetwas anderes als Gryffindors hätten werden können. Kurz hatte bei Victoire, der Ältesten dieser Weasley-Generation, Bedenken geherrscht, floss doch in ihren Adern französisches und Veela-Blut, aber diese Sorgen hatten sich in Luft aufgelöst, als die erlösende Nachricht aus Hogwarts kam, dass Victoire die Weasley-Gryffindor-Tradition weiterführte. Danach gab es keinerlei Zweifel mehr an der Bestimmung der Enkelkinder. Bis Mo... Da ein solcher Fehltritt einfach nicht sein konnte, erst recht nicht von einer Weasley mit dem gleichen Namen wie sie, entschied Molly Weasley, ihre abtrünnige Enkelin einfach mit Nichtachtung zu strafen, ganz so als gäbe es sie gar nicht. Das erste Indiz für dieses Verhalten war gewesen, als Mo zu jenem Weihnachtsfest keinen traditionellen Weasley-Pullover bekommen hatte. Und wenn die Großmutter bei Familienfeiern doch nicht umhin kam, die Anwesenheit ihrer Enkeltochter zur Kenntnis zu nehmen, so tat sie dies stets mit einer Miene äußerster Missbilligung. Bei ihren eigenen Eltern hatte Mo immerhin die Chance, die Entscheidung des Hutes zu rechtfertigen, indem sie Klassenbeste wurde. Aber auch wenn ihr das ein Minimum an Anerkennung brachte, fühlte jeder, dass sie damit nur die Erwartung des Selbstverständlichen erfüllte, dass alles andere untragbar gewesen wäre. Was den Rest des Clans betraf, so neigte dieser dazu, Mo gleichsam zu ignorieren, allein schon, um sich die ärgerlichen Blicke Mollys zu ersparen. Und so fristete Mo ein Leben zwischen Nichtexistenz und Versagensangst. Doch um wie viel schlimmer wäre es dann erst, einem Haus wie Slytherin zugeteilt zu werden? Nichts, keine guten Noten oder sonstigen, schulischen Auszeichnungen, würde die Entscheidung für die Familie akzeptabel erscheinen lassen, wusste Lily Luna. Da mochte ihr Vater noch so oft betonen, dass Slytherin auch gute Menschen hervorgebracht hatte, allen voran Albus Severus’ Namenspaten Severus Snape. Aber ihr Vater war eben auch kein gebürtiger Weasley. Sogar bei ihrer Mutter war sich Lily nicht sicher, ob sie nicht eher die Ansichten von Großmutter Molly teilte statt der aufgeschlossenen Meinung ihres Ehemanns. Dafür war das zurückhaltende Schweigen von Ginny Potter, geborene Weasley, bei diesem Thema eigentlich zu vielsagend. Nein! Um jeden Preis musste Lily verhindern, dass der Sprechende Hut sie zu einer Slytherin machte! „Hör mir zu“, sagte da der Hut, der Lilys fliegenden Gedanken und Ängsten gefolgt war. „Ein Ravenclaw, auch wenn er es schwer hat, wird sich in Gryffindor behaupten können. Ein Hufflepuff, obgleich kaum in der Lage, sich in dieser Umgebung durchzusetzen, wird überleben und vermutlich sogar in Gryffindor Freunde finden können. Aber ein Slytherin in Gryffindor wird an der Lüge, die zu leben er gezwungen ist, zu Grunde gehen. Du würdest nie du selbst sein können.“ „Aber immerhin wäre ich noch jemand und nicht bloß ein Niemand in den Augen meiner Familie“, hielt Lily Luna dagegen. „Wenn es also wirklich dein ausdrücklicher Wunsch ist, deine unumstößliche Entscheidung...“ Lily nickte gedanklich und dieses Mal brachte sie den Sprechenden Hut nicht zum Schweigen, als sich der Riss wieder öffnete: „Gryffindor!“ Und der Applaus, der ihr besonders von den Mitgliedern ihrer Familie gespendet wurde, bestärkte sie darin, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. *** Ein Jahr. Noch nicht einmal ein Jahr lang hatte sie es geschafft, der Welt und vor allem ihrer Familie die mustergültige Gryffindor vorzuspielen. Vielleicht hätte sie ja noch eine Chance gehabt, diese Illusion etwas länger aufrecht zu erhalten, wäre da nicht die Sache mit der Gedenkfeier gewesen. So aber... Jedes Jahr veranstaltete Hogwarts Anfang Mai eine Große Feier zum Gedenken an den Sieg über Voldemort im Jahre 1998. Der 1. Mai war eine stille, ernste Veranstaltung, bei der der Gefallenen gedacht wurde, der 2. Mai stand dann ganz im Zeichen des Siegesjubels und ging mit einem fröhlichen Festbankett einher. Und jedes Jahr wurden die Schüler mit einbezogen, indem sie bei der Dekoration halfen, mit Plakatwänden, Spruchbändern und Bildern, auf denen die Geschichte des Schlosses lebendig wurde, hatte Hogwarts doch weit mehr gesehen als nur die letzte Begegnung zwischen Harry Potter und Lord Voldemort. Jeder Jahrgang bekam dabei eine andere Epoche zugewiesen, angefangen bei den Gründerjahren für die Erstklässler bis hin zu aktuellen Geschehnissen für die Siebtklässler. Lily Luna war froh darüber, dass sie vorerst nicht über den letzten Krieg gegen Voldemort etwas würde ausarbeiten müssen, wäre es doch einfach zu merkwürdig, als Tochter über die Taten ihres Vaters berichten zu müssen. Es war so schon merkwürdig genug, spielte ihre Familie doch bei diesen Gedenkfeiern immer eine Sonderrolle. Sie wusste, dass ihr Vater am 1. Mai nach Hogwarts kommen und eine Rede halten würde. Sie wusste auch, dass die ganze Familie sich danach an das Grab von Fred Weasley begeben würde, Onkel Georges Zwillingsbruder, den sie nie kennengelernt hatte. Es würde das erste Mal sein, dass sie, Lily, dabei wäre, und wenn sie ehrlich war, fürchtete sie sich auch ein wenig davor. Denn so ziemlich der schlimmste Anblick, den sie sich vorstellen konnte, war ihre Großmutter Molly weinen zu sehen. Sie hatte sie erst ein Mal weinen sehen, damals, als ihr kleiner Cousin Fred seine erste Stinkbombe im Fuchsbau gezündet hatte, aber sie würde den Anblick nie vergessen. Und Lily wusste, dass ihre Großmutter am Grab des toten Freds auch weinen würde. Um nicht allzu sehr über diesen fürchterlich traurigen Teil der Feier nachzudenken, beschloss sie, sich ganz auf die Projektarbeit zu konzentrieren. Lily wollte, dass die Arbeit besonders gut wurde, und wer wusste schon, vielleicht gelang es ihr damit auch Großmutter Molly ein wenig von ihrem Kummer abzulenken. Einen Versuch war es jedenfalls wert. Außerdem floss die Arbeit zu einem Teil in ihre Abschlussnote in Geschichte ein, was für Lily ein weiterer Grund war, sich anzustrengen. Wenn möglich, sollte die Arbeit ihrer Gruppe die beste Arbeit des ganzen Jahrgangs sein! Aber um das zu erreichen, musste sie herausfinden, was die anderen Gruppen planten. Die Ravenclaws machten es ihr ziemlich leicht, da man sie für gewöhnlich bei Recherche in der Bibliothek fand. Da musste man sich nur leise verhalten, aufmerksam lauschen und schon wusste man, was sich auf deren Plakatwand wiederfinden würde. Die Hufflepuffs waren sogar so gutgläubig, über ihr Projekt offen bei den Mahlzeiten zu sprechen, so dass hier auch keine Geheimnisse bestanden. Bei den Slytherins dagegen wurde es schon etwas schwieriger. Zwar gab es seit der offiziellen Öffnung der Kammer des Schreckens eigentlich nur ein Thema, das jedes Jahr in einer neuen Variante dargestellt wurde – Basilisken und die Größe Salazar Slytherins – aber es waren die Details an denen Lily interessiert war. Hier erwies es sich von Vorteil, dass sie eine gute Beobachterin war und so richtete sie es so ein, dass sie eines Morgens, Anfang April, beinahe mit einer ihrer Slytherin-Klassenkameradinnen vor der Eulerei zusammenstieß. Das andere Mädchen, Belinda Collins, grummelte ungehalten, hatte sie doch vor Schreck ob der Beinahekollision ihren Brief fallen lassen. Lily sah die Adresse und fand ihre Vermutung bestätigt. „Oh, du schreibst an deinen Vater? Wusstest du, dass mein Onkel George erst vor kurzem einen Weg gefunden hat, die Entwicklungslösung für magische Fotos so abzuändern, dass jetzt auch Töne eingefangen und wiedergegeben werden können?“ Mr. Collins war Inhaber eines der angesehensten Zauberfotoateliers und Lily Luna hatte guten Grund zu der Annahme, dass die Slytherins diese Ressource nutzen würde, um ihre Projektarbeit mit hochkarätigen Fotos nachgestellter Szenen aufzuwerten. „Wie interessant“, meinte Belinda mit einem leicht herablassenden Tonfall. „Nur kann keiner von uns Parsel und ein normales ‚Öffne dich’ bringt es nicht wirklich.“ Lily nickte nur stumm, murmelt hastig noch eine Entschuldigung und eilte dann den Gang entlang. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Belinda hatte ihr doch allen Ernstes auf einen vagen Köder hin verraten, dass die Slytherins das Öffnen der Kammer zum Thema gewählt hatten. Ohne Soundeffekte. Soweit stellten Lilys Bestrebungen für die Gryffindors noch kein Problem dar. Es war die Art, wie sie sich die Informationen über die Pläne der zweiten Gryffindor-Gruppe organisierte, die ihr die Missbilligung ihrer Familie einbrachte. Als einziges Haus hatte Gryffindor zwei Projektgruppen, aus dem einfachen Grund, dass die Mädchen die Jungs für zu kindisch befunden hatten, um mit ihnen zusammen zu arbeiten und sich deswegen von Professor Longbottom die Erlaubnis geholt hatten, ein eigenes Projekt auszuarbeiten. Um nun in Erfahrung zu bringen, was die Jungs auf ihrer Plakatwand darstellen wollten, ging Lily den offensichtlichsten Weg: Sie fragte einfach ihren Cousin Hugo. Schließlich waren sie eine Familie. Was wohl auch der Grund war, weshalb Hugo ihr treuherzig alles erzählte. Allerdings hatte er wohl aber damit gerechnet, dass sie ihm im Gegenzug die Ideen ihrer Gruppe verriet. Ein Trugschluss seinerseits, über den er sich prompt bei nächster Gelegenheit bei Louis beschwerte, der es wiederum unter den anderen Kindern des Weasley-Clans verbreitete, von wo aus es binnen kürzester Zeit die Ohren der empörten Eltern erreichte und Lily Luna ihren ersten Heuler von ihrer Mutter bekam. Nicht, dass Lily ihre Vorgehensweise bereute, aber die scheelen Blicke und das ablehnende Verhalten ihrer Familie waren ziemlich unangenehm. Wieso konnten sie denn nicht verstehen, dass sie nur so hatte sicherstellen können, dass ihre Gruppe die beste Projektarbeit ablieferte? Es war ihr Vater, der ihr schließlich diese ungestellte Frage beantwortete, als er sie am 1. Mai beiseite nahm. Sie standen vor der wirklich fantastischen Collage über die Erbauung Hogwarts, die Lilys Gruppe ausgearbeitet hatte. „Ich würde gerne sagen, dass ich stolz auf deine Arbeit bin, Prinzessin. Aber musstest du dafür wirklich sprichwörtlich über Leichen gehen? Du bist doch eine Gryffindor und keine Slytherin.“ Doch tief in ihrem Herzen wusste Lily, dass sie eben doch eine Slytherin war. *** Den Rest des Schuljahres hatte sie sich bemüht, ihr Naturell zu unterdrücken, aber die Art, wie ihre Cousins und Cousinen jede ihrer Handlungen beobachteten, zerrte an Lilys Nerven. Die anschließenden Sommerferien waren kaum besser gewesen, so dass sie regelrecht froh war, als der 1. September sie wieder in Hogwarts sah. Doch der innere Druck wurde nicht weniger, mehr und mehr fühlte sie sich wie ein Tier im Käfig. Der kleinste Fehltritt, das geringste Anzeichen eines Nicht-Gryffindor-Verhaltens... Fasziniert starrte sie auf das dünne Rinnsal Rot, das ihren Finger hinabrann. So frisch, so klar, so lebendig, so... frei! Lily hörte kaum wie ihre beste Freundin Celestine Woodville neben ihr erschrocken aufkeuchte und nach Professor Valentine rief. Sie war beim Schneiden der Ginsengwurzel nur einen winzigen Moment unachtsam gewesen und das Messer war abgerutscht. Sie hatte den Schmerz kaum gespürt, dazu war der Anblick des Bluts, das aus dem glatten Schnitt hervorquoll, zu erhaben gewesen. Als wollte es ihr etwas mitteilen. Nur am Rande bekam Lily mit, wie der Professor sie zur Schulschwester schickte, damit diese den Schnitt desinfizieren und heilen konnte, denn schließlich war das Messer nicht sauber gewesen. Wie in Trance ging sie durch die Gänge des Schlosses, von einem eigenartigen Gefühl des Losgelöstseins erfüllt. Ein unerwarteter und doch so willkommener Augenblick der Freiheit, in dem alle innere Anspannung von ihr abgefallen war... Rückblickend wusste sie, dass dies der erste Moment ihres zweiten Geheimnisses war, auch wenn danach mehrere Wochen vergingen, ehe sie verstand, was das Blut ihr damals hatte sagen wollten. Ehe wieder ein Tag kam, an dem der Druck, der auf ihr lastete, sie zu zerquetschen drohte. Ein Samstag... Quidditch war bei den Weasleys fast schon so etwas wie ein Familiensport und da in jenem Jahr nicht weniger als neun Weasley-Potters in Hogwarts waren, brauchten sie nur eine Handvoll Freunde, um zwei Mannschaften für ein Freundschaftsspiel aufzustellen. Sogar Mo hatte sich für dieses Spiel von ihren Studien losreißen können, was von allen freudig begrüßt wurde, war Mo doch mit Abstand die beste Sucherin der Familie. Ravenclaw hätte es nur zu gern gesehen, wenn sie für die Hausmannschaft gespielt hätte, aber Molly wusste, dass sie sich das nicht erlauben konnte. Denn für Ravenclaw zu spielen, hätte bedeutet gegen Gryffindor, gegen die Familie zu spielen. Gegen die Familie zu gewinnen... Niemand, der auch nur halbwegs klar denken konnte, würde diesen Weg wählen, weshalb Ravenclaw auch anstandslos Mos Entscheidung akzeptierte. Aber Freundschaftspiele, wo nur die Familie gegeneinander spielte, waren etwas ganz anderes und so hatte Mo hier keine Skrupel. Der zweitbeste Sucher der Familie war eigentlich Lily Luna, aber wie üblich bestand James als ältester Potter-Spross darauf, dass er auf dieser Position spielte, während Lily sich in der undankbaren Situation wiederfand, in James’ Mannschaft als Treiber spielen zu müssen. Es kam, wie es kommen musste: James zog wie ein aufgeblasener Gockel großspurige Runden über dem Spielfeld, statt es Mo gleichzutun, die sich knapp über dem übrigen Spielgeschehen hielt, ohne von irgendeiner Stelle, wo der Schnatz auftauchen konnte, zu weit entfernt zu sein. Lediglich, wenn einer der Klatscher in ihre Richtung flog, bewegte sie sich ein wenig. Und dann entdeckte Mo den kleinen, geflügelten Ball! Augenblicklich schoss sie los und die Verfolgungsjagd begann. Lily selbst hatte den Schnatz nur Sekundenbruchteile nach Mo gesichtet, aber es vergingen gut zwei Sekunden, ehe James bemerkt hatte, was vor sich ging. Dabei war er sogar in unmittelbarer Nähe von Mo gewesen! Lily war wütend. Auf die Weise würden sie nie gewinnen, denn James lag jetzt viel zu weit hinten im Rennen um den goldenen Ball. Nie im Leben würde er ihn vor Mo erreichen. Es sei denn... Das Blut rauschte in ihren Ohren, als Lily Luna die Position des nächstgelegenen Klatschers ausmachte. Wenn der Schnatz die momentane Flugbahn beibehielt... nein... er flog schon zu lang in diese Richtung, würde sie bald ändern. Aber wohin? Da! Der kleine Ball hatte einen scharfen Schwenk nach links gemacht und nur Sekundenbruchteile später feuerte Lily Luna den Klatscher in Richtung des Punktes, wo ihrer Meinung nach der Schnatz jeden Moment sein würde. Zu spät erkannte sie, wie nahe Mo dem wertvollen Ball gekommen war, bereits die Finger nach ihm ausstreckte... Schnatz und Klatscher prallten zusammen und Mos Finger waren dazwischen. Schmerz verzerrte Mos Gesicht, während der Schnatz das Weite suchte. Aber das kümmerte in diesem Moment niemand. Während Rose und Dominique Mo in den Krankenflügel brachten, um die gebrochenen Finger heilen zu lassen, stürzten sich die anderen wie eine Schar aufgebrachter Hühner auf Lily und hackten auf sie ein. Was sie sich dabei gedacht hätte? Sie sei eine Schande für Gryffindor! Sie... Da half es nichts, dass Lily beteuerte, sie habe Mo ja nicht mit Absicht verletzt, und dass nirgendwo im Regelwerk verboten wurde, mit dem Klatscher auf einen Ball zu zielen... „Willst du uns weiß machen, du hättest auf den Schnatz gezielt und auch noch getroffen?“, fuhr James sie höhnisch an, als wollte er sagen: ‚Eine so gute Quidditch-Spielerin bist du nun auch wieder nicht, also gib nicht so an.’ Lily, die mittlerweile mehr als wütend war, fauchte zurück: „Was hätte ich bitte sonst machen sollen? Zusehen, wie du lieber den Angeber spielst und dann nicht schnell genug deinen Hintern bewegt kriegst? Ich musste handeln, sonst hätten wir doch überhaupt keine Chance mehr gehabt!“ Bei diesen Worten starrten die anderen Lily nur perplex an. Auch wenn die meisten insgeheim vielleicht ihre Ansichten teilten, wären sie nie soweit gegangen, diese auszusprechen oder gar danach zu handeln. James funkelte sie böse an. „Wenn du glaubst, so viel besser als Sucher zu sein, dann sieh zu, dass du jetzt den Schnatz einfängst. Mir ist für heute die Lust am Quidditch vergangen!“ Damit schulterte er seinen Besen und schritt davon. Einer nach dem anderen taten es ihm die übrigen gleich. Keiner würdigte Lily eines Blickes. Ärgerlich stieß diese sich vom Boden ab, um den vermaledeiten Ball zu suchen. Stunden später, als sie in ihren Schlafsaal im Gryffindor-Turm zurückkehrte, hatte sich Lilys Laune kein bisschen gebessert. Der Schnatz hatte ewig gebraucht, ehe er sich nach ihrem Klatscherangriff wieder gezeigt hatte, und zu allem Überfluss hatte es mittendrin auch noch zu regnen begonnen, so dass sie jetzt bis auf die Knochen durchnässt war. Sie wusste, dass es vermutlich das Vernünftigste wäre, zur Krankenstation zu gehen und sich prophylaktisch eine Dosis Aufpäppeltrank verabreichen zu lassen, aber das hätte bedeutet, sich noch einmal ihrer Familie zu stellen. Nicht, dass Lily Luna nicht wissen wollte, wie es Mo ging – schließlich tat es ihr ja auch leid, dass die Finger der Cousine zwischen die Bälle geraten waren –, aber die anderen... Normalerweise kümmerte sich auch in Hogwarts, fern von Großmutter Molly, keiner des Weasley-Clans sonderlich um Mo, und wenn sie jetzt so ein Getue um Mo machten und so plakativ Anteilnahme zeigten, dann nur, um damit deutlich zu machen, um wie viel besser als die böse Lily Luna sie doch waren. Gryffindorsche Heuchelei in Reinform. Lily war das alles so leid! Sie wollte schreien vor Ungerechtigkeit, doch wer sollte ihr zuhören? Ihre Eltern? Bei dem Gedanken an ihre Eltern, legte sich ein beklemmender Druck auf ihre Brust. Ihre Brüder würden mit Sicherheit von den heutigen Geschehnissen nach Hause berichten und so peinlich die darauf folgenden Heuler sein würden, wäre dies doch noch der schmerzloseste Teil dessen, was sie zu erwarten hatte. Nicht, dass ihre Eltern je handgreiflich in ihrer Erziehung geworden wären, jedenfalls nicht mehr, seit Lily drei Jahre alt gewesen war, aber die enttäuschten Blicke, die ernsten Gespräche, eine gewisse Distanziertheit und Kälte, die ihr von allen Seiten begegnen würde, ließ Lily Luna sich nach körperlichem Schmerz, einem erleichternden Ausgleich sehnen. Das war der Moment, wo sie das Flüstern, dass sie seit dem Unfall in Zaubertränke begleitet hatte, verstand: ...Ein glutroter Kuss. Kannst du´s sehn, kannst du´s spür'n? Farben verblassen, Ruhe kehrt ein… Wie in Trance öffnete sie die Lederrolle, die ihre Zaubertrankutensilien enthielt und griff nach dem Edelstahlmesser. Die skalpellartige Klinge schimmert sanft und verheißungsvoll im Licht ihrer Nachttischlampe. …Ein Traum wird dich holen, dich auserwähl'n. Flieg mit ihm dahin, lass dir Märchen erzähl'n! Prinzessin schließe die Augen! Schlafe nur seelenruhig ein! Prinzessin, du kannst mir glauben, ich leuchte dir, fange Sterne dafür. Schlafe nur ein hier bei mir… Behutsam, fast andächtig zog sie die scharfe Klinge über die helle Haut ihres Unterarms, verstärkt ein wenig den Druck, sah zu, wie langsam das rote Blut aus dem glatten Schnitt quoll. Tropfen um Tropfen… Und Tropfen um Tropfen schien es ihr, als wasche das Blut den Druck, der auf ihr lastete, hinfort. Minuten mochten vergangen sein, vielleicht aber auch nur ein paar Sekunden, ehe die Blutung von selbst stoppte, ehe sie aus diesem Zustand der Trance erwachte. Lily Luna hätte es nicht sagen können. Als sie dann aber die dünne Linie getrockneten Rots auf ihrem Arm entdeckte, erschrak sie. Was hatte sie getan? Und doch… Es hatte sich so gut angefühlt, so richtig, für einen Moment… war ihr alles so leicht erschienen. Dieses Gefühl – solange sie die dünne, rote Linie auf ihrem Arm sehen konnte, erinnerte sie sich genau an dieses wundervolle Gefühl, so als wäre es gerade eben erst geschehen. Und wann immer sie in den folgenden Tagen den heilenden Schnitt betrachtete, schein der nie endende Druck ein wenig nachzulassen. Lily Luna wusste, dass Madam Quinze binnen Sekunden die Wunde so hätte heilen können, dass keine Spur zurückblieb. Aber das wollte sie nicht, denn dann wäre auch die Erinnerung an das Gefühl sofort verblasst. Und so erzählte sie niemandem davon. Auch nicht, als der Druck wieder so unerträglich groß wurde, dass sie abermals zum Messer griff. *** Ihr drittes Geheimnis ging mit der Entdeckung ihrer ersten beiden Geheimnisse einher. Natürlich nicht durch ihre Familie, denn das hätte nur eine Katastrophe zur Folge gehabt, kein weiteres Geheimnis. Vor allem aber half ihr jene Entdeckung mit den ersten beiden Geheimnissen besser umzugehen. Es war in ihrem vierten Schuljahr, knapp zwei Jahre, nachdem sie zum ersten Mal den Lockruf des Stahls gehört hatte und ihm gefolgt war. Zwei Jahre, in denen der Stahl ihr geholfen hatte, entweder ihr Naturell im Zaum zu halten, oder die Anfeindungen seitens ihrer Familie zu ertragen. Und einzig ihre Unterarme zeugten von diesem ständigen Kampf der Selbstverleugnung... „Er sieht ja so toll aus“, seufzte Celestine neben Lily beim Frühstück und versenkte beinahe ihren Müslilöffel in dem Topf mit der Erdbeermarmelade. Lily, die eben noch wie geistesabwesend über den neusten Schnitt in ihrer Haut, der jetzt von den langen Ärmeln ihrer Schulrobe verdeckt wurde, gestrichen hatte, lenkte im letzten Moment den Arm ihrer Freundin in eine andere Richtung und verhinderte so den peinlichen Zusammenstoß mit der Marmelade. „Nicht schon wieder“, murmelte sie fast unhörbar, ehe sie lauter zu Celestine sagte: „Wieso fragst du ihn nicht endlich, ob er nächsten Samstag mit dir nach Hogsmeade gehen mag?“ „Ich kann nicht, das geht doch nicht, ich...“ Celestine brach ab und suchte in einem mädchenhaft schüchternen Kichern Zuflucht. Lily verdrehte nur die Augen. Wenn man Celestine so sah, mochte man kaum glauben, dass sie eine der besten Treiberinnen war, welche die Gryffindor-Mannschaft seit einem Jahrzehnt gesehen hatte. Wo sie den Klatscher hinschlug, wuchs so schnell kein Gras mehr. Aber was Jungs betraf, schien Celestine ein hoffnungsloser Fall zu sein, der scheinbar noch nach den Regeln von vor der Französischen Muggelrevolution lebte, wonach es so etwas wie Damenwahl nicht gab, weder beim Tanz noch bei einem potenziellen Hogsmeade-Date. Dabei schreiben sie das Jahr 2023! Außerdem war sich Lily Luna ziemlich sicher, dass Celestine bei dem derzeitigen Opfer ihrer Bewunderung – Raymond Davenport, seines Zeichens Fünftklässler und Ravenclaw – durchaus eine Chance gehabt hätte, wenn sie nur mal den Mund aufbekommen hätte, statt ihn nur aus der Ferne anzuschmachten. „Also gut“, sagte sie nun, „ich gebe dir bis heute Abend Zeit. Wenn du ihn bis zum Abendessen nicht gefragt hast, werde ich die Sache für dich in die Hand nehmen.“ „Oh Lily, was hast du vor?“, fragte Celestine halb ängstlich, halb hoffnungsvoll. „Lass dich überraschen! Aber keine Sorge, ich werde dir kein Veritaserum in den Kürbissaft mischen und dich dann vor der versammelten Schule Raymond deine Gefühle gestehen lassen, so verlockend der Gedanke auch sein mag“, erwiderte Lily mit einem leicht fiesen Grinsen. Nein, Veritaserum wäre viel zu plump für ihren Geschmack. Ganz anders als der Plan, der in den letzten Tagen in ihr herangereift war, geboren aus der Tatsache, dass sie ungern ihre Freundin so unglücklich sah – denn es stand außer Frage, dass Celestine unglücklich mit der momentanen Situation war – und sie es nebenbei leid war, allmorgendlich irgendwelche Frühstücksunfälle zu verhindern. Ob es daran lag, dass sie ihre Zeit lieber damit vertrödelt hatte, darüber nachzugrübeln, wie Lilys Plan wohl aussehen mochte, oder sie einfach nur wie üblich nicht die Zähne auseinandergebracht hatte, wann immer sie sich näher als fünf Meter an Raymond herangewagt hatte, wusste Celestine vermutlich selbst nicht zusagen, jedenfalls war sie am Abend nicht weiter als am Morgen. Aber Lily hatte nichts anderes erwartet und so passte sie gleich nach dem Abendessen Alys Kirke, eine Klassenkameradin ihres Bruders James und derzeitige Kapitänin des Gryffindor-Quidditchteams ab. „Alys, hast du kurz einen Moment Zeit?“ Ein wenig irritiert sah die Siebtklässlerin Lily an. Noch immer hatte sie es dem jüngsten Potter-Spross nicht verziehen, dass diese, trotz direkter Bitte ihrerseits, sich nicht für die Quidditchauswahlspiele eingetragen hatte und sie deswegen wohl wieder mit James als Sucher würde vorlieb nehmen müssen. Und da James immer noch sauer war, weil sie, Alys, und nicht er den Posten des Mannschaftskapitäns bekommen hatte – dabei war für jeden offensichtlich, dass Schulleiterin McGonagall kein Mitglied des Weasley-Clans mit diesem mehrjährigen Amt betrauen würde, um jegliche Art von Geschwisterrivalität im Keim zu ersticken – war bereits im letzten Jahr das Zusammenspiel reichlich angespannt gewesen. Wie es aber erst dieses Jahr werden würde, wagte Alys kaum zu raten. Weshalb sie umso verzweifelter gehofft hatte, James durch Lily ersetzen zu können, denn jeder in Gryffindor – James vielleicht ausgenommen – wusste, dass Lily die bessere Sucherin war, und man mit ihr in der Mannschaft vielleicht sogar eine reelle Chance auf den Pokal gehabt hätte. Allerdings konnte Alys auch verstehen, dass das jüngere Mädchen eine offene Konfrontation mit ihrem Bruder vermeiden wollte. Dennoch... „Was ist, Potter?“, fragte sie daher jetzt ein wenig ungehalten. „Ich wollte dir einen Deal vorschlagen“, erwiderte Lily forsch, um die leichte Nervosität zu verbergen. Abwartend sah Alys sie an. „Du sorgst dafür, dass Malcolm Lee dafür sorgt, dass Raymond Davenport Celestine am Wochenende nach Hogsmeade einlädt und ich bewerbe mich im Gegenzug offiziell und ernsthaft um den Posten als Sucher unserer Hausmannschaft“, erklärte Lily ihr Anliegen. Alys blinzelte heftig, so als wollte sie sich vergewissern, dass sie richtig gehört hatte. „Sag mal, umständlicher geht es wohl nicht?“ Lily Luna verdrehte leicht die Augen. „Wir sind vierzehn Jahre alt, was erwartest du? Da schreibt man sich entweder kindische Nachrichten, oder involviert die halbe Schule, damit ja die andere Hälfte der Schule nichts davon mitkriegt.“ Das entlockte der Quidditchkapitänin ein Lachen, erinnerte sie sich doch noch genau an das Theater, dass sie und ihre Freundinnen damals regelmäßig inszeniert hatten, wenn es um Jungs gegangen war. „Also gut... Lily... Ist ja nicht so, als würde für mich nichts dabei rausspringen. Aber hast du dir auch überlegt, wie ich Lee dazu bringen soll, sich bei Davenport für deinen Plan stark zu machen?“ Schließlich würde das Argument, dass Lily Sucherin werden wollte, beim Ravenclaw-Kapitän kaum Freudengefühle auslösen. Lily zog nur leicht spöttisch die Augenbrauen hoch. „Nichts leichter als das. Die Downunder Devils spielen am Boxing Day in Glasgow...“ Die Downunder Devils waren eine australische Koboldband, die seit ein paar Jahren regelmäßig mit ihren Hits die Zaubercharts stürmten. Und obendrein waren sie die Lieblingsband von Malcolm Lee, der todtraurig gewesen war, als er keine Karte mehr für das Konzert bekommen hatte. „Und...?“ Lily war kurz davor, die Geduld zu verlieren. War sie denn die einzige, die in dieser Schule etwas mitbekam? „Anjali Roshan, Slytherin, Sechstklässlerin, hat zwei Karten für das Konzert. Eigentlich wollte sie mit ihrem Freund Francis Musgate, Slytherin, Siebtklässler, dorthin gehen, aber Francis hat letzte Woche mit ihr wegen Gwenhyfar Pacey Schluss gemacht...“ „Boxing Day sagtest du?“, vergewisserte sich Alys, deren Gesicht ein mittlerweile wissendes Lächeln zierte. Lily nickte. „Oder anders ausgedrückt: zwei Hogsmeade-Wochenenden, Halloween, das Gryffindor-Slytherin-Spiel und zig weitere Gelegenheiten für Lee, Roshan zu überzeugen, dass er die bessere Konzertbegleitung ist als ihre kleine Schwester. Zumal bei Lee als Ravenclaw die Hausschranken nicht ganz so hoch sind wie etwa bei einem Gryffindor.“ „Bis Boxing Day hätte er sogar Chancen, wenn er ein Hufflepuff wäre.“ Alys lachte. „Und wie sieht es mit einem Argument aus, das Lee Davenport gegenüber ins Feld führen könnte? Schließlich ist Davenport weder im gleichen Jahrgang wie Lee, noch im Quidditch-Team...“ ‚Betont unschuldig’ traf Lilys Gesichtsausdruck wohl am ehesten. „Nicht, dass ich wüsste, wer es getan hat, aber ich bin mir sicher, dass Professor Longbottom für jeden Hinweis in Sachen Düngerattacke dankbar wäre...“ „Du meinst, Raymond Davenport hat...“ Wie auch Lily sprach Alys das Geschehene nicht zur Gänze aus. Schließlich war es das erste Mal gewesen, dass die Schülerschaft von Hogwarts Professor Neville Longbottom dermaßen wütend erlebt hatte. Weshalb es ihnen plötzlich nicht mehr schwer gefallen war zu glauben, dass der sonst eher sanftmütige Kräuterkundelehrer seinerzeit mit Gryffindors Schwert Voldemorts Horcrux-Schlange Nagini erschlagen hatte. Es war aber auch ein gemeiner Streich gewesen, Knöterichsamen und Wachstumselixier unter den Spezialmulch zu mischen, den der Professor extra für seine seltenen Orchideen aus Südamerika importierte. Sowohl bei der Circe-Dendrobium als auch bei der Merlin-Phalaenopsis handelte es sich um die einzigen Exemplare ihrer Art im Vereinigten Königreich und bei beiden stand noch nicht fest, ob sie sich je wieder von diesem Anschlag erholen würden. „Ich habe nichts dergleichen gesagt“, stritt Lily nun sofort ab. „Aber ich will nicht ausschließen, dass er vielleicht mehr über die Angelegenheit weiß, als er bislang zugegeben hat.“ „Lily, du bist unglaublich! Aber wenn du soviel weißt, wieso gehst du nicht selbst zu Davenport und klärst die Sache auf dem kurzen Weg?“ Lily Luna winkte ab. „Zu direkt und damit zu auffällig. Schon vergessen? Vierzehn... wir sind vierzehn.“ Alys schüttelte nur ihren Kopf. „Also gut, Lily, du hast deinen Deal. Aber vergiss nicht: Das Auswahlspiel ist schon am Donnerstag!“ Damit schlug Alys den Weg zur Bibliothek ein, zweifelsohne um zu sehen, ob sie ihren Kapitänskollegen aus dem Hause Ravenclaw dort antraf. Lily erlaubte sich ein triumphierendes Aufatmen, schrak aber im nächsten Moment zusammen, als sie aus dem Hintergrund leisen Applaus vernahm. Halb panisch, halb verärgert sah sie sich in der Eingangshalle um, wobei sie nicht zu sagen gewusst hätte, ob der Ärger dem Lauscher oder ihrer eigenen Unvorsichtigkeit, das Gespräch an einem Ort wie diesem abgehalten zu haben, galt. Denn auch wenn Alys und sie sich in eine Nische neben eine der zahlreichen Rüstungen zurückgezogen hatten und die meisten Schüler noch beim Abendessen waren, war die Eingangshalle eigentlich ein zu belebter Ort für Pläne, die nicht gleich die ganze Schule mitbekommen sollte. „Bravo Potter!“ Noch immer Beifall spendend, löste sich Scorpius Malfoy aus dem Schatten einer Säule unweit der Stelle, an der Lily stand. „Malfoy!“, fauchte diese regelrecht als Gruß. „Was willst du?“ Zwar war die Feindschaft zwischen den Mitgliedern dieser Potter-Weasley-Malfoy-Generation bei weitem nicht so ausgeprägt wie zwischen den vorangegangenen, aber die allgemeine Slytherin-Gryffindor-Feindschaft ging tief genug, um bei Lily augenblicklich Misstrauen hervorzurufen. „Och, zuerst hatte ich nur herausfinden wollen, ob Kirke dich endlich wegen des Sucherpostens weichgekocht hat und ich entsprechend meine Mannschaft warnen muss, besonders Jason Lefolt, unseren Sucher... Jetzt aber, nachdem ich den ganzen Plan gehört habe, kann ich nicht anders, als dir Anerkennung zu zollen. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass eine Gryffindor so slytherin sein kann. Noch dazu eine Potter...“ Viel weiter kam Scorpius nicht, denn Lily war bei seinen Worten aschfahl geworden und ehe er sich versah, war sie davongerannt. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Das hier war Hogwarts, ein Ort, wo die Klatschmühlen schneller mahlten als die Gerüchteküche des Tagespropheten kochen konnte. Unmöglich, dass ihre Familie nicht mitbekam, was sie getan hatte. Und auch wenn sie nicht aus Eigennutz gehandelt hatte – oder allenfalls am Rande, würde sie doch künftig, hoffentlich, in Ruhe frühstücken können – würden die anderen nur den Part sehen, wo sie James die Position als Sucher in der Hausmannschaft wegnahm. Da zählte es auch nicht, dass James in den Ferien sogar getönt hatte, in diesem Jahr eventuell aus dem Team auszusteigen, um sich auf seine UTZ-Prüfungen konzentrieren zu können. Schließlich wusste jeder in der Familie, dass das bloß leeres Gerede war, dass James seinen Status als Sucher viel zu sehr genoss, als dass er ihn freiwillig aufgeben würde, auch wenn seine Noten eigentlich ein solches Opfer bitter nötig hatten. Sicher, sie könnte immer noch bei den Auswahlspielen gegen ihren Bruder verlieren und behaupten, sie sei nervös gewesen, aber das wäre in ihren Augen Verrat an der Wahrheit gewesen, hatte James sie doch zuletzt in dem Sommer bevor sie nach Hogwarts gekommen war, besiegt. Außerdem gehörte Lily zu den Menschen, die ein einmal gegebenes Wort hielten, und sie hatte Alys ihr Wort gegeben... Die Schwärze, die sich bei diesen Gedanken auf sie herabsenkte, schien immer stärker zu werden, lastete drückend auf ihr, zugleich spürte Lily aber auch das vertraute Pochen, dass von einer ihrer Schulrobentaschen auszugehen schien. Jener Tasche, in der sie, in einem Elfenbeinzylinder sicher verwahrt, ihr Zaubertrankskalpell mit sich herumtrug. Prinzessin schließe die Augen! Schlafe nur seelenruhig ein! Und kann ich einmal nicht bei dir sein, so schleich ich mich in deinen Traum hinein. Schlafe nur seelenruhig ein! Sie hatte zwar nicht vorgehabt, so bald schon wieder zur Klinge zu greifen, lag der letzte Schnitt doch noch keine zwei Tage zurück, aber dies hier… Verheißungsvoll strich das kühle Metall über die helle Haut, vermischte sich langsam mit der Wärme ihres Blutes, ließ den Druck abflauen. „Shit, Potter, was machst du da?“ Der Ruf erschreckte Lily, ließ die Klinge abrutschen, den Schnitt tiefer werden, als sie vorgehabt hatte. Und der daraus folgende Schmerz barg keine Erleichterung! Scharf sog sie die Luft ein, während sie zugleich wie im Schock of die Wunde starrte, aus der mehr und mehr rotes Nass floss. „Halt still!“ Nur am Rande bekam sie mit, wie jemand ihren Arm festhielt und mit einem Zauber den Schnitt heilte. In dem Maße, wie sich die Wunde schloss und wieder makellose Haut zum Vorschein kam, klärten sich auch wieder ihre Sinne und sie erkannte Malfoy neben sich auf dem kalten Steinboden kauern. Als dieser sich aber dem bereits heilenden, älteren Schnitt zuwenden wollte, zog sie rasch ihren Arm weg. „Nicht...“, flüsterte sie. Nun, da sie wieder klar denken konnte, wurde ihr die ganze Tragweite ihrer Situation klar. Ihr Geheimnis war kein Geheimnis mehr, war entdeckt. Wieso aber war Malfoy ihr auch gefolgt? Wieso hatte sie nicht besser aufgepasst, sich vergewissert, dass sie auch wirklich alleine war, ehe sie in dem vermeintlich verlassenen Korridor zusammengesunken war und dem Drang nachgegeben hatte? Niemals würde er ihr Geheimnis für sich behalten! Sie würde als abnormal gebrandmarkt, geächtet... Schamesröte schoss ihr ins Gesicht und geschlagen barg sie den Kopf in ihren Knien. Sie wusste, hätte Malfoy ihr nicht das Messer aus der Hand genommen, ehe er den Arm geheilt hatte, würde sie jetzt wieder zur Klinge greifen. Und sie hasste sich dafür in diesem Moment. Da spürte sie zu ihrer Überraschung, wie ein vertrautes Gewicht in ihre Hand gelegt wurde. Als sie aufblickte, erkannte Lily, dass Malfoy ihr das Skalpell zurückgegeben hatte. „Ich weiß, dass du es wieder tun wirst, Potter“, sagte er, ein wenig traurig, während er sich neben sie an die Steinwand lehnte. „Selbst wenn ich dieses Messer behielte, du würdest einfach ein anderes finden. Pack es also weg.“ Stumm vor Staunen ließ Lily das Skalpell in dem schützenden Zylinder verschwinden. Schließlich aber hielt sie die Ungewissheit nicht länger aus. „Und nun? Was hast du jetzt vor?“, fragte sie, nicht ohne Ablehnung in der Stimme. Er lächelte nur leicht. „Nichts.“ „Nichts?“, echote Lily ungläubig. „Oder willst du sagen ‚noch nichts’, sprich du wartest lediglich auf einen günstigen Moment, um dann das Wissen um meine Schwäche mit dem größtmöglichen Nutzen für dich einzusetzen?“ Sein Lächeln vertiefte sich. „Was?“, fauchte Lily ungehalten. „Du amüsierst mich einfach, wenn du Gryffindor-Vorurteile von dir gibst, obwohl du genau weißt, dass Egoismus eigentlich keine ausgeprägte Slytherin-Eigenschaft ist. Allenfalls gehen wir ehrlicher damit um. Aber auch hier dürftest du wissen, dass daran eigentlich nichts Verkehrtes ist.“ „Ach, und woher sollte ich das wissen?“, fragte sie schnippisch. Malfoy lachte. „Gut gebrüllt, Löwe. Aber ein Slytherin erkennt einen anderen Slytherin, selbst wenn er sich hinter dem Rot und Gold von Gryffindor versteckt.“ „Du spinnst ja!“, schnaubte Lily Luna empört. „Ach ja?“, erwiderte Scorpius und seine Mundwinkel zierte wieder jene spöttische Arroganz, die keinerlei Zweifel an seiner Abstammung ließ. „Nenn mir eine andere Erklärung für dein Verhalten und ich lass mich gern eines Besseren belehren.“ Er stieß sich vom Boden ab und stand auf. „Bis dahin ist dein kleines Geheimnis bei mir sicher. Denn was in Slytherin geschieht, bleibt auch in Slytherin.“ Damit verschwand er um die nächste Ecke. Die nächsten Tage brachte Lily Luna mit nichts anderem zu, als darüber nachzugrübeln, ob es für einen Slytherin wirklich so offensichtlich war, dass sie eigentlich in das Haus mit dem grün-silbernen Wappen gehörte. Aber wenn dem so war, wieso hatte dann bislang kein Slytherin versucht, daraus einen Vorteil zu ziehen? Schließlich konnte Malfoy doch wohl kaum der einzige sein, der mit der Weisheit gesegnet war, ihre eigentliche Hauszugehörigkeit zu erkennen. Und egal, was Malfoy über Egoismus gesagt hatte, Slytherins ließen eigentlich nur selten einen Vorteil ungenutzt. Nur am Rande bekam Lily mit, dass Raymond Davenport Celestine tatsächlich für das anstehende Hogsmeade-Wochenende einlud. Und Celestine schaffte es sogar, ihm auf seine Frage eine positive Antwort zu geben, ohne zu stammeln. „Lee und Roshan gehen übrigens auch gemeinsam nach Hogsmeade. Kein Grund also, mit scharfen Objekten zu spielen. SHM“, stand auf einer kurzen Nachricht, die Lily am zweiten Tag nach ihrer Unterredung mit Alys Kirke und Scorpius Malfoy per Eulenpost erhielt. „Hey, war das nicht Malfoys Eule?“, fragte Albus Severus neben ihr, als der Vogel wieder das Weite suchte. „Wieso sollte Malfoy Lily schreiben?“, mischte sich Rose skeptisch ein. „Wahrscheinlich die üblichen Slytherin-Freundlichkeiten“, gab Hugo mit vollem Mund seinen Senf dazu und wurde prompt von seiner Schwester ob der miserablen Tischmanieren gescholten. Lily seufzte ungehört. Sie mochte ihre Familie, egal was kam, aber sie war so zahlreich, dass man sich selbst bei den Mahlzeiten zwangsläufig in der Nähe wenigstens zweier weiterer Mitglieder wiederfand. Da in Ruhe irgendwelche Post zu lesen, war ein Ding der Unmöglichkeit, weshalb sie nach einem kurzen Blick auf das Geschriebene rasch den Zettel wegsteckte. Zugegeben, die Information über Malcolm Lee und Anjali Roshan war interessant, aber wieso machte sich Malfoy die Mühe, ihr dies zu schreiben? Was versprach er sich davon? Und wieso dieser Satz, der sie daran erinnerte, dass er ihr Geheimnis kannte? Als Tochter Harry Potters war Lily es gewöhnt, dass manche Leute ihre Bekanntschaft oder gar Freundschaft nur wegen ihres Vaters suchten, aber das konnte bei Malfoy keine Rolle spielen. Und auch wenn Slytherins nicht vornehmlich vom Egoismus angetrieben wurden, Altruismus oder gar Besorgnis hatten sie sich auch nicht auf die Fahne geschrieben. Wieso also? Der Tag verstrich, ohne dass Lily auf diese Frage eine Antwort hätte finden können. Sie war so mit diesem Rätsel beschäftigt, dass sie beinahe darüber die Quidditchauswahlspiele am Abend vergessen hätte. Selbst auf dem Besen waren ihre Gedanken ständig woanders, so dass es ihr nur ganz knapp gelang, James zu besiegen. So knapp, dass ihr Bruder auf einer Wiederholung bestand, die dann allerdings einer Demütigung für ihn gleichkam, fing Lily doch den Schnatz mit drei Besenlängen Vorsprung, obgleich er, als Lily den Ball sichtete, deutlich näher an dem geflügelten Ziel gewesen war, als sie. Vermutlich lag es an der Art, wie James auf einem dritten Durchgang bestand – den Alys ihm aber verwehrte –, dass sich Lily nicht gleich der geschlossenen Weasley-Front gegenüber sah, auch wenn Louis zischte: „Konntest du nicht noch das eine Jahr warten?“ Die einzige, die sich aufrichtig freute, war Alys. „Gut gemacht, Lily! Vielleicht ist es uns jetzt endlich einmal vergönnt, den Pokal zu holen. Bis nachher im Gemeinschaftsraum! Wir müssen schließlich die neue Mannschaftsaufstellung feiern!“ Aber irgendwie verspürte Lily nicht den geringsten Wunsch, den restlichen Abend im Gryffindorturm zu verbringen. Fröhlichkeit würde dort allein schon wegen James bestimmt nicht aufkommen. Selbst wenn der Rest der Familie vielleicht zu dem Schluss kommen sollte, dass Lily als die bessere Sucherin tatsächlich den Platz in der Mannschaft verdient hatte, würden sie kaum offen mit ihr Feiern und James zum Teufel schicken. So schützte Lily stattdessen Hausaufgaben vor und zog sich in die Bibliothek zurück, wo sie Scorpius Malfoy wenig später aufstöberte. „Hallo Slytherin!“, grüßte er sie, was ihm einen vernichtenden Blick eintrug. „Müsstest du nicht bei den Auswahlspielen sein?“, eröffnete er das Gespräch und lehnte sich lässig gegen das nächstgelegene Bücherregal. „Was kümmert es dich?“, erwiderte Lily ungehalten. Malfoy war so ziemlich der letzte, den sie nach diesem Tag zu sehen wünschte. Aber es blieb ihr eben auch dieser krönende Abschluss nicht erspart. „Gemach, gemach, kleine Löwenschlange“, sagte Scorpius grinsend. „Und wie ich neulich schon sagte, als Kapitän und Hüter erachte ich es als Pflicht meine Mannschaft so früh wie möglich über Änderungen in der Aufstellung der gegnerischen Teams zu informieren.“ Lily war bei der Bezeichnung, mit der Malfoy sie bedacht hatte, zusammengezuckt. Wieso überraschte es sie eigentlich, dass er sie wieder und wieder daran erinnerte, dass er ihr Geheimnis kannte? Darüber ignorierte sie auch seinen Kommentar bezüglich Quidditch und fragte stattdessen niedergeschlagen: „Warum? Warum tust du das? Warum bewahrst du nach außen hin mein Geheimnis? Warum kümmert dich, was ich tue und lasse, ob ich Gryffindor oder Slytherin bin?“ Scorpius seufzte. „Wenn du es unbedingt wissen willst... Vielleicht gefällt mir ja die Widersprüchlichkeit der Situation? Ein Malfoy, der dem gefallenen Gryffindor-Engel Potter hilft?“ Und das war der Anfang ihres dritten Geheimnisses gewesen... II. Schatten Wer dem Sprechenden Hut je genauer zugehört hatte, wenn dieser bei der Auswahlfeier die vier Schulhäuser Hogwarts’ vorstellte, wusste, dass ein echter Slytherin sich nicht nur durch Gerissenheit sondern auch durch Loyalität auszeichnete. Wie sonst sollte man ein wahrer Freund sein? Aber Loyalität begann nicht bei seinen Freunden, und auch nicht bei der Familie, sondern bei der eigenen Person. Denn wenn man sich selbst gegenüber schon nicht loyal sein konnte, wie sollte man anderen Loyalität entgegen bringen? Aus dieser Grundhaltung folgte eine gewisse Verschwiegenheit, denn schließlich war es wenig loyal sich selbst gegenüber, alles über sich selbst preiszugeben. Denn ‚alles’ umfasste auch die Schwächen und Fehler. Diesem Grundsatz der Loyalität folgend, ergab sich das Sammeln von Informationen und Geheimnissen beinahe zwangsläufig, denn auf diese Weise konnten die eigene Person, aber auch Freunde und Familie geschützt werden. Natürlich war es genau dieser letzte Punkt, der von den anderen Häusern – allen voran Gryffindor – gerne als Eigennutz oder gar Hang zum Erpresserischen verkannt wurde, aber ein echter Slytherin kannte die Wahrheit. Es war eben jener Hang zum Informationensammeln ohne dabei die Klatschmühlen betätigen zu wollen, der Scorpius Hyperion Malfoy als erstes auf Lily Potters Fährte gebracht hatte. Aber wann genau ihm das Mädchen zum ersten Mal aufgefallen war, hätte er vermutlich nicht sagen können. Fest stand nur, dass sie ihn faszinierte – und hätte er je Jane Austen gelesen, hätte er wie Mr. Darcy aus ‚Stolz und Vorurteil’ gestehen müssen, dass er schon längst dabei war, sich in Lily zu verlieben, ehe er sich dessen bewusst wurde. Nicht, dass die Angelegenheit durch diese Erkenntnis leichter wurde, zumal sie erst später kam... Davor kamen Kleinigkeiten, Puzzlestücken gleich, die ihn alle auf ihre Art faszinierten, ein komplexes Gesamtbild hervorriefen, das mehr Dimensionen zu haben schien, als er erahnt hatte. Und sie alle bestätigten seine Vermutung, dass Lily eigentlich eine Slytherin war. Vor allem die Schattenseiten, denen er in ihrer Persönlichkeit begegnete. Schatten, die ihn eigentlich nicht hätten überraschen dürfen, war er doch vorgewarnt gewesen. Und doch bedauerte er es, diese Seiten an ihr zu sehen. Denn mit Schattenseiten waren weder ein Hang zu Schwarzer Magie gemeint, noch der beizeiten übersteigerte Wert, den Slytherins einem Stammbaum beimessen konnten – nein, es waren Dinge, die man vor dem Rest der Welt, selbst dem eigenen Haus und der Familie geheim hielt, die man sogar vor sich selbst geheim gehalten hätte, wäre dies möglich gewesen. Wie etwa der Schatten, der sich auf einen legte, wenn man Verrat an sich selbst begehen musste, um die Erwartungen der Familie zu erfüllen... Wie jedes reinblütige Zauberkind vor seiner ersten Fahrt nach Hogwarts, war auch Scorpius damals von Angst erfüllt gewesen, bei der Auswahlzeremonie vielleicht im falschen Haus zu landen. Denn er wusste, dass für seine Familie nur Slytherin in Frage kam. Es war nicht so, dass er ernsthaft daran gezweifelt hätte, dass der Sprechende Hut ein anderes Haus bei ihm in Betracht zog, allein schon seine ganze Erziehung und die daraus folgende Gesinnung ließen keinen anderen Schluss als Slytherin zu, aber dieser winzige Stachel der Angst tief in seinem Inneren hatte ihm keine Ruhe gelassen. Bis er mit seinem Paten Theodore in der Nacht vor dem 1. September gesprochen hatte... Obgleich schon spät, war die Küche im Londoner Stadthaus der Notts keineswegs so verwaist, wie Scorpius gehofft hatte, als er sich aus seinem Bett hinab stahl, um sich noch ein Glas Milch zu holen. Doch statt seiner Eltern, die ihn mit strikten Worten wieder dorthin zurückschickten, wo er hergekommen war, fand er seinen Patenonkel Theodore am Kühlschrank sehen. Als dieser merkte, dass er Gesellschaft bekommen hatte, drehte er sich lächelnd um. „Zu aufgeregt wegen morgen?“ Scorpius nickte nur schwach. Er hatte in den vergangenen elf Jahren – auch wenn er nur an höchstens sieben Jahre davon Erinnerungen hatte – zu viel Zeit im Haus seines Paten verbracht, um diesem etwas vormachen zu können. Onkel Theo war in dieser Hinsicht fast noch schwerer zu belügen als seine Großmutter Nana, im Gegensatz zu seinen Eltern. Denen musste er nur den perfekten Sohn vorspielen und alles war in Ordnung. Weshalb es diesen wohl nie in den Sinn gekommen wäre, dass Scorpius hinsichtlich seines ersten Jahres in Hogwarts, das am nächsten Tag beginnen würde, von irgendwelchen Zweifeln geplagt sein könnte. Aber genau das war es, was ihn wach hielt. Was, wenn der Sprechende Hut morgen mit der alten Tradition brach, nach der alle Malfoys Slytherins wurden? Ein Glas kalte Milch wurde vor ihn auf den Küchentisch gestellt. „Setzt dich“, forderte ihn Theodore auf. „Und ja, ich hab daran gedacht, die laktosefreie Milch zu nehmen. Ich will dich doch schließlich nicht vergiften“, fügte er noch mit einem leichten Grinsen hinzu. Scorpius verzog nur das Gesicht. Es war schon dämlich genug, mit einer so lächerlichen Muggelallergie geschlagen zu sein, aber auch noch von allen Erwachsenen ständig daran erinnert zu werden, war in seinen Augen wirklich unnötig. Schließlich hatte er wenig Verlangen, dass ihm plötzlich speiübel wurde und er nicht schnell genug die nächste Toilette erreichen konnte, um sich zu übergeben. Folglich vermied er freiwillig derlei Produkte. Für seinen Aufenthalt in Hogwarts war ihm schon zugesichert worden, dass ausreichend Anti-Laktose-Trank vorhanden war, so dass er während der Mahlzeiten nicht durch besondere Speisen auffiel. Der Nachteil war nur, dass dieser Trank absolut widerlich schmeckte, weshalb Scorpius nach Möglichkeit darauf verzichtete. Seine einzige Hoffnung bestand darin, dass sich die Allergie mit der Pubertät auswachsen würde. Aber noch war das leider nicht der Fall. „So, und nun verrate mir, was genau dich so beschäftigt, dass du nicht schlafen kannst. Ist es die Auswahlfeier?“ „Woher weißt du das?“, fragte Scorpius überrascht. „Weil es mir damals genauso ging. Und deinem Vater vermutlich auch. Aber du musst dir keine Gedanken machen. Du wirst nach Slytherin kommen, wenn du es willst.“ „Aber... ich dachte immer, der Sprechende Hut wählt das Haus nach den Talenten der Schüler und nicht nach ihren Wünschen?“ Theodore grinste. „In jedem von uns stecken alle Qualitäten aller Häuser. Natürlich überwiegen immer ein paar und lassen erkennen, in welchem Haus man sich am besten entwickeln würde. Das ist dann das Haus das der Hut vorschlägt. Aber wenn du ganz fest anderer Ansicht bist, wird er deine Wünsche berücksichtigen. Er wird zwar versuchen, dich von seiner Wahl zu überzeugen, aber wenn du absolut nicht in das vorgeschlagene Haus willst, wird er sich deinen Wünschen beugen.“ Das leicht bedauernde Lächeln, das den Mund seines Paten bei diesen Worten umspielte, verriet Scorpius, dass dieser aus Erfahrung sprach. Doch mit angeborenem Slytherin-Takt sprach er seine Vermutung nicht aus. Stattdessen sagte er: „Aber es ist nicht immer klug, seinen eigenen Kopf durchzusetzen?“ „Kommt darauf an, wie die Alternativen lauten. Kannst du dir vorstellen, dass ein Nott oder auch ein Malfoy, der nicht offen mit der Familie brechen will, in ein anderes Haus als Slytherin geht? Andererseits dürfte es schwer sein, mit einem Hufflepuff-Gemüt in Slytherin zu überleben. Nicht, dass es unmöglich wäre, schließlich steckt auch in einem Hufflepuff ein Slytherin-Kern, aber leicht wird es nicht.“ „Und ein Ravenclaw?“, fragte Scorpius. Sein Pate hatte zu offensichtlich über Hufflepuff gesprochen und hätte in ihm auch nur ansatzweise der Gryffindor überwogen, wäre er mit Scorpius’ Vater nie so gut ausgekommen. Theodore lachte leise. „Kein Zweifel, du wirst ein Slytherin, Scorpius, auch ohne dass du dich gegen den Sprechenden Hut stellen musst. Aber ja, der Hut hatte mir ursprünglich Ravenclaw vorgeschlagen. Es hat vermutlich geholfen, dass Slytherins auch für Cleverness bekannt sind, was sich durchaus auch in Wissensdurst äußern kann. Gemäßigter natürlich... Und es hat mit Sicherheit geholfen, dass dein Vater damals so gerne im Rampenlicht stand. Somit haben weniger Leute auf mich geachtet und es fiel nicht so auf, dass ich kein echter Slytherin war. Nicht, dass je jemand von einem der anderen Häuser es erfahren hätte. Denn, und das ist etwas, dass du dir unbedingt zu Herzen nehmen solltest, Scorpius: Was in Slytherin geschieht, bleibt auch in Slytherin. Sprich, wenn du jemals herausfindest, dass einer deiner Slytherin-Kameraden der Familie zuliebe dieses Haus gewählt hast, darfst du ihn deswegen nicht verurteilen, denn schließlich wird derjenige seine Gründe gehabt haben, die dir vermutlich unbekannt sind. Stattdessen ist es an dir, dafür zu sorgen, dass die anderen Häuser nicht einmal ahnen, dass derjenige einer von ihnen sein könnte. Ob du denjenigen wissen lässt, dass du sein Geheimnis kennst, ist dir überlassen. Solange du es nicht vom Astronomieturm herab der ganzen Schule verkündest.“ Scorpius nickte nur. Es war selbstverständlich für ihn, dass er sich seinem Haus gegenüber loyal verhalten und dessen Schwächen nicht nach außen tragen würde. Und ein Slytherin, der kein echter Slytherin war, konnte durchaus als Schwäche betrachtet werden. Auch wenn es ihm damals nicht in den Sinn gekommen war – in jener Nacht war er einfach nur erleichtert gewesen, dass Onkel Theo ihm gleich zweifach bestätigt hatte, dass er ein Slytherin würde – schien es rückblickend nur logisch, dass Slytherin nicht das einzige Haus war, das Mitglieder hatte, die der Hut lieber in einem anderen Haus gesehen hätte. Auch wenn Scorpius sich ziemlich sicher war, dass kein Haus so viele traditionsgebundene Familien wie Slytherin hatte. Aber die Weasleys? Sicher, es war auffällig, dass bis auf die älteste Tochter von Percy Weasley alle Kinder in Gryffindor gelandet waren, aber die Weasleys galten allgemein als offen und tolerant. Oder war das nur eine Fassade? Es wäre also nicht undenkbar, dass der jüngste Potter-Sprössling der Familie wegen dem Hut widersprochen hatte. Auch wenn für Scorpius offensichtlich war, dass sie sich damit keinen Gefallen getan hatte. Zwar hielt der Weasley-Clan nach außen hin ähnlich fest zusammen, wie die Slytherins, aber es war nicht zu übersehen, dass Lily Luna häufig mit ihren Cousins und Cousinen, aber auch mit ihren Brüdern im Streit lag und so manch schiefen Blick auf sich zog. *** Alles auf dieser Welt hat seinen Preis. Diese Weisheit war Scorpius von klein auf eingebläut worden. Aber wie hoch der Preis sein konnte, wenn bezahlte, im falschen Haus zu sein und dessen Ansprüchen genügen zu müssen, hatte er seinerzeit bei dem Gespräch mit seinem Paten über die Häuserwahl nicht bedacht. Diese Wahrheit, dieser Schatten, wurde ihm erst in seinem dritten Schuljahr in Hogwarts förmlich ins Gesicht geschleudert... Er hatte es tatsächlich geschafft. Er war in die Quidditchmannschaft von Slytherin aufgenommen worden. Zwar hatte seinerzeit sein Vater den Einzug in das Team bereits in der zweiten Klasse geschafft, aber sein Vater hatte sich ja auch um den Posten des Suchers beworben, während Scorpius sich zum Hüter berufen fühlte. Weshalb trotz seiner ausgeprägten Reflexe ihm erst der Wachstumsschub, den er im vergangenen Sommer hingelegt hatte, erlaubt hatte, den alten Hüter zu schlagen und sich den Platz in der Mannschaft zu sichern. Stolz hatte er seinen Eltern und Großeltern von diesem Erfolg berichtet und ihnen auch gleich die Termine der Slytherin-Spiele mitgeteilt. Doch zu seiner nicht geringen Enttäuschung – auch wenn er sich äußerlich nichts anmerken ließ – schreiben ihm seine Eltern, dass sie zu den ersten beiden Begegnungen nicht kommen könnten, da sie jeweils im Ausland auf Geschäftsreise wären, zuerst in Hongkong und dann in Neuseeland, sodass auch eine kurzfristige Unterbrechung der Reise mittels internationaler Portschlüssel wegen der Zeitverschiebung nicht möglich war. Dabei hatte Scorpius fest damit gerechnet, dass sie zu seinem ersten Spiel, dem traditionellen Spiel gegen Gryffindor, kämen. Bei seinen Großeltern hatte er auch wenig Hoffnung, denn sein Großvater Lucius litt seit geraumer Zeit an Gicht im linken Bein und konnte nur sehr schwer laufen – sich da freiwillig für eventuell gleich mehrere Stunden der zugig kalten Luft Nordenglands auszusetzen wäre wenig gesundheitsförderlich – und seine Großmutter Nana hatte noch nie sonderlich viel Interesse an Quidditch gezeigt. Und andere Großeltern hatte er nicht mehr. Sogar sein Patenonkel hatte ihm eine Absage erteilen müssen. Umso größer war dann die Überraschung, als Narcissa Malfoy am Tag des großen Spiels durch das Eingangsportal geschritten kam, gerade als Scorpius die Große Halle nach dem Mittagessen verließ. „Großmutter!“, rief er erstaunt und schaffte es im letzten Moment das ‚Nana’, das er üblicherweise an den Titel anhängte, zu unterdrücken. Er wusste, dass seine Großmutter ihn bedingungslos liebte, sie war in dieser Hinsicht die perfekte Oma, die ihren Enkel verwöhnte und das Schelten den Eltern überließ. Er wusste auch, dass er als einziges Enkelkind im Leben seiner Großmutter einen besonderen Platz einnahm, was vielleicht mit ein Grund dafür war, dass sie nie darauf bestanden hatte, dass er ihren Namen richtig aussprach anstatt des Namens, den er ihr gegeben hatte, als er noch ein Krabbelkind gewesen war, das gerade zu sprechen begonnen hatte. Überhaupt verband ihn mit seiner Großmutter eine einzigartige Beziehung. Sie hatte ihm nie eine Antwort vorenthalten, egal welche Frage er gestellt hatte, anders als seine Eltern, die manchmal auf die Standardantwort aller Eltern zurückgegriffen hatten, dass er noch zu jung sei. Zwar hatte Scorpius nicht immer alles verstanden, was seine Großmutter ihm erklärte – er erinnerte sich noch daran, wie er mit fünf Jahren unbedingt hatte verstehen wollen, wie das Flohnetzwerk funktionierte und wieso dabei keine Flöhe im Spiel waren –, aber er hatte stets das Gefühl gehabt, ernst genommen zu werden. Und dass sie jetzt extra wegen ihm zu einem Quidditchspiel gekommen war, würde er ihr nie vergessen. Gleichzeitig aber wusste er, dass seine Großmutter in der Öffentlichkeit stets die Rolle der Mrs. Malfoy in den Vordergrund stellte und diese öffentliche Person Narcissa Malfoy würde nicht wollen in der Schule ihres Enkels mit einem so vertraulichen Namen wie Nana angesprochen zu werden. Narcissa Malfoy nickte Scorpius lächelnd zu, während sie, nach außen hin blasiert, sagte: „Dein Großvater bestand darauf, dass erste Spiel seines Enkels unmöglich verpassen zu können und verpflichtete mich daher, das gesamte Spiel auf Ominglas aufzuzeichnen.“ Scorpius konnte ein wissendes Grinsen kaum unterdrücken. Wäre es nur um eine Aufzeichnung des Spiels gegangen, hätte sein Großvater genauso gut einen Hauselfen schicken können. „Dann werde ich mich wohl besonders anstrengen müssen, damit Großvater auch ein denkwürdiges Spiel zu sehen bekommt“, erwiderte er so ernst er eben konnte. Nicht, dass er sich nicht eh angestrengt hätte. Dass er nicht der einzige war, der dieses Spiel mehr als ernst nahm, sollte er wenig später herausfinden. Die Slytherin-Mannschaft hatte sich fast vollständig in dem Umkleideraum unter dem Slytherin-Turm des Quidditch-Stadions versammelt, von wo aus das Team ins Stadion einfliegen würde. Einzig der Kapitän der Mannschaft, Roger Thorald, fehlte noch. Dabei waren sich alle sicher, dass er der erste gewesen war, der sich von ihnen in Richtung des Stadions aufgemacht hatte. „Vielleicht ist er im Bad und hat sich auf der Toilette eingeschlossen?“, meinte Scorpius schließlich, der kurz davor war, vor Nervosität von einem Bein aufs andere zu treten. Aber ohne die abschließenden Worte ihres Kapitäns konnten sie dem Schiedsrichter nicht signalisieren, dass das Team für das Spiel bereit war. Als hätten sie nur darauf gewartet, dass jemand die Geduld verlor, grinsten die anderen ihn an und bedeuteten ihm dann, dass, da er die Idee hatte, es an ihm sei, nachzusehen, ob Roger tatsächlich im Bad war oder nicht. Scorpius verzog ein wenig missmutig das Gesicht. Roger Thorald war für sein mürrisches Wesen, besonders kurz vor Spielbeginn, berüchtigt. Ihn dann dabei zu stören, wie er sich erleichterte, kam einer unausgesprochenen Todessehnsucht gleich. Dennoch ging er zu dem Bad, das sich an den Umkleideraum anschloss und klopfte an die Tür der Toilettenkabine. Als er nichts hörte, drückte er die Klinke und fand die Tür zu seiner Überraschung unverschlossen. Doch mit dem Anblick, der sich ihm dann bot, hätte er nie gerechnet. Rot… überall, so schien es ihm, war rot. Blut! Und dazwischen Thorald, der zusammengesunken auf dem Klo saß, bewusstlos. Scorpius schluckte. Sein erster Impuls war, nach der Schulschwester zu schicken, die bei den Spielen immer im Stadion war, um sich der Verletzten gleich anzunehmen. Dann aber entdeckte er das Rasiermesser in Thoralds Hand und schlagartig wurde ihm bewusst, dass er Madam Quinze nicht kommen lassen konnte. Noch nicht. Denn was in Slytherin geschah – und Thoralds Selbstverletzungen waren eindeutig in Slytherin geschehen – blieb auch in Slytherin! Verzweifelt fuhr er sich durch das Haar und überlegte, was er machen sollte. Er wusste nur, dass er nicht allzu lange warten konnte, Thorald brauchte sofort Hilfe. Da fiel sein Blick auf den Spiegel über dem Waschbecken. Seine Entscheidung war gefallen. Auch wenn er damit sieben Jahre Unheil heraufbeschwören würde, es ging nicht anders. Ein gezielter Schockzauber brachte den Spiegel zu bersten, gleichzeitig polterte Scorpius so laut er konnte gegen die Kabinentür, während er den bewusstlosen Thorald aus der Kabine schleifte und auf den Boden legte. Das Messer ließ er in seinem Quidditch-Stiefel verschwinden, da seine Roben keine Taschen hatten. Dann eilte er zu seinen Mannschaftskameraden hinaus. „Schnell, holt Madam Quinze! Thorald ist auf dem feuchten Boden ausgerutscht und dabei in den Spiegel gefallen. Er blutet wie ein Schwein! Schnell!“ Verdutzt sahen die anderen ihn für einen kurzen Moment an, doch der arrogante Malfoy-Blick, den er ihnen entgegen sandte, belehrte sie eines Besseren und so wagten sie nicht, seine Worte zu hinterfragen. Kurz darauf war das Quidditch-Spiel auf den nächsten Samstag vertagt und Scorpius in dem Umkleideraum alleine. Gedankenverloren saß er auf einer der Bänke und spielte mit dem Rasiermesser. Da hörte er auf einmal Schritte, vertraute Schritte von Füßen in eleganten, teuren, hochhackigen Schuhen, doch irgendwie brachte er es nicht fertig, zu seiner Großmutter aufzusehen. Diese blieb nur kurz stehen, betrachtete ihren Enkel für einen Moment und ging dann in Richtung des Bads weiter, das noch so aussah, wie zu dem Zeitpunkt, da die Krankenschwester mit Roger Thorald das Stadion verlassen hatte. Denn solange sich einer der Menschen noch in dem Slytherin-Umkleiderraum befand, würden die Hauselfen nicht zum Putzen antreten. Diesbezüglich waren diese dienstbaren Geschöpfe eigen und wollten nicht, dass die Menschen auch noch hinter das Geheimnis ihrer Putzmagie kamen. Wieder schien Narcissa Malfoy ein kurzer Blick zu genügen, dann kehrte sie zu ihrem Enkelsohn zurück und setzte sich neben diesem auf die Bank. „Du hast richtig gehandelt. Was in Slytherin geschieht, bleibt in Slytherin. Ich bin stolz auf dich.“ „Woher weißt du…?“ Scorpius beendete die Frage nicht, seine Großmutter würde auch so wissen, was er ausdrücken wollte. Narcissa lächelte. „Ich verrate dir nun eines meiner tiefsten Geheimnisse… Nicht einmal dein Vater weiß davon.“ Mit diesen Worten knöpfte sie die Ärmel ihrer perfekt geschnittenen Roben auf und schob langsam den Stoff nach oben. Dann zeigte sie ihrem Enkel ihren Unterarm, auf dem eine Reihe dünner, verblasster, kaum noch zu erkennender Narben zu sehen war – Narben die eindeutig von Schnitten herrührten. Scorpius keuchte überrascht auf. „Du…“ „Ja“, Narcissa nickte, „ich habe mir diese Verletzungen selbst beigefügt. Damals, während meiner Hogwartszeit.“ „Aber… wieso?“ „Du weißt, was es heißt, ein Malfoy zu sein. Eine Black zu sein, und ich bin eine geborene Black, ist nicht viel anders. Das einzig wahre Haus für eine Black war Slytherin, die einzig wahre Heirat die mit einem Reinblut. Man könnte sogar soweit gehen zu sagen, dass der Familienname Programm war und die einzig wahre Magie für einen Black schwarze Magie war. Nun, du weißt, dass sowohl weiße als auch schwarze Magie Gutes wie auch Böses wirken können, aber die Gesellschaft sieht das meist anders, einfach, weil die schwarze Magie sich mitunter Mitteln bedient, die von vielen Menschen gefürchtet werden. Meine älteste Schwester Bellatrix hat all diese Familienprinzipien mit offenen Armen willkommen geheißen. Sie war in diesem Sinne eine perfekte Tochter. Meine zweite Schwester Andromeda war das glatte Gegenteil. Sie wurde deswegen, und auch weil sie ein Schlammblut geheiratet hat, aus der Familie verbannt. Ich als jüngste Tochter stand dazwischen. Alles, was ich eigentlich wollte, war so viel wie möglich lernen und irgendwann heiraten. Zum Teil wegen des Status’, zum Teil weil ich Kinder haben wollte. Deswegen hatte der Hut wohl auch vorgehabt, mich zu einer Ravenclaw zu machen. Wegen meiner Wissbegierigkeit. Der Sprechende Hut kann nur Talente beurteilen, nicht familiäre Hintergründe durchleuchten, weshalb er durchaus bereit ist, Einwände der Schüler in Betracht zu ziehen. Und ich wusste, dass ich zumindest den Teil meiner Zukunft, der eine eigene Familie bedeutete, begraben könnte, wenn ich keine Slytherin würde. Ich wurde eine Slytherin.“ Scorpius nickte nur. Ähnliches hatte ihm sein Patenonkel schon erzählt. „Dadurch, dass meine Schwester Bella eine perfekte Slytherin war, gerissen, schlau, mit einem Hang zur Dunklen Magie, erwarteten alle, dass ich genauso sein würde. Und so loyal Slytherin nach außen auch ist, so sehr sie auch eine Einheit bilden, hinter den Kulissen zerfällt diese Front. Hinter den Kulissen kann man es sich nicht leisten, nicht den Erwartungen zu entsprechen. Und es waren vor allem die anderen Slytherins, die von mir erwartet haben, dass ich mich genauso verhalten würde wie Bella. Also habe ich mich so verhalten – und es gehasst. Ich habe mich gehasst! Einzig, wenn ich mich selbst verletzte, schienen der Hass und der Druck, stets eine perfekte Black sein zu müssen, nachzulassen.“ „Deine Narben sind alt, Nana... Wie hast du es geschafft aufzuhören?“ „Erst als ich mit der Schule fertig und mit deinem Großvater verlobt war. Dann musste ich keine perfekte Slytherin mehr sein, die Gryffindors in Fallen lockte und selbst dabei entkam. Ich musste nur noch eine perfekte Ehefrau sein. Etwas, das ich auch wirklich sein wollte. Der Hass verschwand, der Druck wurde erträglich.“ Scorpius nickte nur und schwieg. Er war seiner Großmutter dankbar, dass sie ihm ein so großes Vertrauen entgegen brachte. Aber jetzt wollte er erst einmal allein sein und über alles nachdenken. Und Narcissa Malfoy kannte ihren Enkel gut genug, weshalb sie ohne weitere Worte aufstand und den Umkleideraum verließ. Erst am Abend konnte sich Scorpius überwinden, in die Krankenstation zu gehen, um sich nach Roger Thorald zu erkundigen. Zu seiner Überraschung, war der Mannschaftskapitän schon wieder bei Bewusstsein. Dank seines schnellen Handelns, so die Schulschwester zu Scorpius, sei alles glimpflich verlaufen und in ein paar Tagen, wenn der blutbildende Trank seine Wirkung getan hätte, könnte Thorald wieder entlassen werden. Die Schwester gestattete ihm sogar, den Kapitän für ein paar Minuten zu besuchen. „Hey“, sagte Scorpius, unsicher, wie Roger wohl reagieren würde, nun da Scorpius um sein Geheimnis wusste. Doch Roger sah ihn nicht einmal an. Da fasste Scorpius einen Entschluss. Aus einer Tasche seiner Robe nahm er das Rasiermesser und legte es neben Rogers Hand. „Die offizielle Version ist, dass du dich am Spiegel verletzt hast.“ Damit wollte er sich zum Gehen wenden, doch Roger hielt ihn zurück, die andere Hand fest um das vertraute Messer geschlossen. „Danke“, wisperte der Kapitän. Scorpius lächelte nur ein wenig unsicher. „Was in Slytherin geschieht, bleibt auch in Slytherin.“ Roger schnaubte ein wenig unwillig. „Schöner Slytherin bin ich. Schaffe es noch nicht einmal die üblichen Anfeuerungsworte von wegen ‚Sieg über alles, pfeift auf die Fairness, doch lasst euch nicht beim Foulen erwischen’ vor einem Spiel sagen, ohne mich dafür verletzen zu wollen...“ „Hufflepuff?“ Zuerst sah es so aus, als wollte Roger aufbegehren, Scorpius für diese Beleidigung zur Rechenschaft ziehen, doch dann ging ihm auf, dass der Jüngere dieses Wort als Frage formuliert hatte, nicht als Beschimpfung. Dass der Hüter seiner Mannschaft eher den Versuch unternommen hatte, zu erraten, in welches Haus er eigentlich gehörte. Und so nickte Roger schließlich kaum merklich. „Und du?“ Denn es schien ihm nur logisch, dass nur jemand, der in einer ähnlichen Situation war, wie er selbst, von diesem Betrug wissen konnte. „Slytherin, ohne Zweifel. Aber ich weiß, dass es noch mehr Gründe als Talent gibt, die für ein Haus sprechen.“ Roger nickte akzeptierend. Dann seufzte er. „Ich schätze nach heute werden die anderen wollen, dass ich von meinem Posten als Kapitän zurücktrete?“ Scorpius grinste und schüttelte den Kopf. „Davon ist bislang nicht die Rede. Wie könnte es auch sein, wo es doch offiziell nur ein Unfall war, noch dazu einer, an dem ich angeblich Schuld war? Dich zum Rücktritt zu zwingen, würde heißen, öffentlich eine Schwäche im Team einzugestehen. Und das wird das Team nicht wollen. Also bleibst du Kapitän. Allerdings...“ Scorpius zögerte ein wenig, nicht sicher, ob er als Drittklässler es wagen konnte, Roger als Siebtklässler einen solchen Vorschlag zu machen. Schließlich aber beschloss er, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. „Allerdings, wenn es dir so schwer fällt, die Mannschaft auf die üblichen Gemeinheiten einzuschwören, wieso überlässt du diesen Part nicht jemand anderem? Sag einfach, so arrogant, wie du es nur fertig bringst, dass du als Siebtklässler und Kapitän wichtigeres zu tun hast, als dir jedes Mal irgendeine großartige Rede auszudenken. Dass du deswegen jemanden aus der Mannschaft damit beauftragst. Und nimm dann einen Spieler, bei dem keinerlei Zweifel daran besteht, dass er ein absoluter Slytherin der schlimmsten Sorte ist.“ „Du weißt, dass du dich soeben freiwillig für diesen Posten gemeldet hast?“, erwiderte Roger mit einem Grinsen, das zumindest erkennen ließ, dass er durchaus auch ein paar latente Slytherinzüge besaß. „Ich schätze, ja... Andererseits hätte ich dann den Vorteil, dass ich quasi eine Vorbereitung auf den Kapitänsposten geltend machen könnte, wenn nächstes Jahr die Wahl für deinen Nachfolger ansteht.“ Und mit einem echten Malfoy-Grinsen auf den Lippen verließ Scorpius die Krankenstation. *** Er verstand Lily Luna Potter besser, als sie sich vorstellen konnte. Er wusste mehr über sie, als er je preisgeben würde. Und sie faszinierte ihn mit allem, was er über sie wusste. Gewiss, es gefiel ihm nicht im geringsten, als er entdeckte, dass sie die einzige Erleichterung in dem kalten Stahl zu finden glaubte. Ich wär so gern ein kleiner bunter Fisch. Ein Flußumschwinger, Wasserplanscher voll von Lebenslust. Ein Lebenskünstler, Glücksgeniesser, Leben für den Augenblick. Geplantes Ablenkungsmanöver von Deinem Problem. Es wurde auch dadurch nicht leichter, als er sich eingestand, dass er auf dem besten Wege war, sich in Lily Potter zu verlieben, sich vielleicht schon verliebt hatte. Denn all das, was er für Lily sein wollte, all die Hilfe, die er ihr geben wollte, konnte, durfte er ihr nicht zeigen. Es reichte für einen Malfoy nicht, ein Slytherin geworden zu sein. Seine Familie stellte noch weitere Ansprüche an ihn, darunter auch den einer passenden Partie. Und auch wenn rein objektiv Lily die Voraussetzungen für eine solche Partie erfüllte – ihr Geburtsstatus war der einer reinblütigen Hexe, minderer Qualität zwar, aber reinblütig, und sie war eine Slytherin, wenn auch im falschen Haus – so waren es doch die subjektiven Gründe, die es Scorpius unmöglich machten, überhaupt eine Zukunft mit ihr auch nur in Betracht zu ziehen. Denn subjektiv betrachtet war sie eine Gryffindor, die Tochter des Schulnemesis’ seines Vaters und die Tochter einer Blutsverräterin. Allenfalls dazu geeignet, ihm als Zeitvertreib zu dienen, wie sein Vater es an Scorpius’ sechzehnten Geburtstag seinem Sohn gegenüber ausgedrückt hatte, als er mit ihm das erste Mal über seine persönliche Zukunft gesprochen hatte. Überhaupt hatte Draco Malfoy alle Schülerinnen von Hogwarts als potenzielle Lebensgefährtinnen für Scorpius ausgeschlossen. Entweder, weil sie nicht die richtigen Ansichten mitbrachten, oder aufgrund der neusten Erkenntnisse der magischen Genetik das Risiko für minderbegabten Nachwuchs bestand. Nein, Draco Malfoy war entschlossen, seinem Sohn eine starke, reinblütige, anständige junge Hexe zu suchen, vorzugsweise aus einer der alten britischen Kolonien, wo der Stammbaum verfolgt werden konnte, aber es über Generationen keinen Kontakt zum Mutterland gegeben hatte. „Doch das soll dich nicht davon abhalten, in der Zwischenzeit Spaß zu haben“, hatte sein Vater Scorpius mit einem wissenden Lächeln gesagt. Oh ja, unter dem Gesichtspunkt des Spaßes wäre Lily Potter in den Augen des älteren Malfoys eine perfekte Wahl. Doch Scorpius wollte das nicht. Er wollte bei Lily alles oder nichts. Er wollte sie nicht bloß als Spaß benutzen und sie somit vielleicht noch in tiefere Verzweiflung stürzen, nur um sie dann eines Tages so vorzufinden wie Roger Thorald seinerzeit. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass er ihre Gegenwart suchte, nachdem sich ihm einmal durch die Entdeckung ihres Geheimnisses ein Zugang geboten hatte. So verdächtig ihr das auch vorkommen musste. „Wenn du es unbedingt wissen willst... Vielleicht gefällt mir ja die Widersprüchlichkeit der Situation? Ein Malfoy, der dem gefallenen Gryffindor-Engel Potter hilft?“, flüchtete er sich schließlich in Halbwahrheiten, als sie ihn direkt darauf ansprach. Zu seiner Erleichterung akzeptierte sie diese Aussage. Und sie ließ es zu, dass er in der Folgezeit so etwas wie ein Freund für sie wurde. Auch wenn es nie genug war... Für beide nicht. Und obgleich der Drang, sich selbst zu verletzen, nicht mehr so häufig aufzutreten schien, konnte Scorpius trotz aller guter Absichten nicht verhindern, dass der Stahl immer noch eine Rolle in Lilys Leben spielte. Es war der Abend vor seiner Abschlussfeier. Mit dem morgigen Tag würde die Zeit in Hogwarts hinter ihm liegen. Im Gegensatz zu seinen Jahrgangskameraden wusste Scorpius genau, was die berufliche Zukunft für ihn bereit hielt: Er würde in das Malfoy-Familienimperium eintreten und nach und nach die einzelnen Geschäftsbereiche durchlaufen. Er würde viel auf Reisen sein, doch gerade das war der Aspekt an seiner Zukunft, der ihm am besten gefiel. Er war neugierig auf die Welt. Zugleich aber konnte er nicht verhindern, dass ein leichter Schatten der Sorge seine Zukunft trübte, denn er wusste, dass Lily ohne seine Gegenwart, auch wenn sie mittlerweile nicht mehr von einer Überzahl älterer Weasleys in Hogwarts dominiert wurde, den Familiendruck wieder stärker spüren würde – mit allen Konsequenzen. Seit ein paar Wochen schon, seit der letzten UTZ-Prüfung, hatte er deshalb überlegt, ob und wie er ihr einen Rettungsanker, einen letzten Ausweg, zukommen lassen konnte. Schließlich glaubte er die perfekte Lösung gefunden zu haben... ... drum versuche ich zumindest vom Sonnenstrahl, vom Fisch, vom Baum ein Stück für Dich zu klauen. III. Freiheit Kalt umkrampfte ihre Hand den goldenen Kettenanhänger in ihrem Ausschnitt, die scharfen Spitzen des Felsens, umgeben von stilisierten Wellen, bohrten sich unnachgiebig in ihre Haut. Doch sie spürte den Schmerz nicht, zu sehr überlagerte ein anderer, größerer, tief sitzender Schmerz ihre Empfindungen. Eine einzelne Träne rollte Lily über die Wange, dabei hatte sie doch geglaubt keine Tränen mehr übrig zu haben. Scorpius... Sie wusste um die Bewandtnis des Anhängers, er hatte ihn ihr vor fast zwei Jahren geschenkt. Er enthielt einen Zauber, ein Versprechen. Sie müsste lediglich die Worte aussprechen und er würde wissen, wie es um sie stand, wissen, dass sie nicht länger konnte. Er würde kommen. Das hatte er ihr versprochen, als er ihr den Anhänger als Zeichen ihrer Freundschaft geschenkt hatte. Freunde... waren sie das wirklich? Oder war nur sie so illusorisch gewesen, in ihrer gemeinsamen Zeit die Hoffnung auf etwas anderes zu sehen? Offenbar... Nein, sie würde den Anhänger nicht aktivieren! Wie könnte sie auch, wenn er, Scorpius, doch der Grund dafür war, dass sie von dem Gefühl aufgefressen wurde, es nicht länger aushalten zu können? Wieder fiel ihr Blick auf den Tagespropheten, der auf der Seite mit den Gesellschaftsnachrichten aufgeschlagen vor ihr auf dem Bett lag: „Es geben ihre Verlobung bekannt: Scorpius Hyperion Malfoy & Deborah Hannah Bourke“ Die verhältnismäßig schlichte Anzeige war von dem Herausgeber noch mit ein paar wenigen Informationen zu den beiden Herrschaften ergänzt worden, so dass alle Welt nun wusste, dass es sich bei der jungen Frau um eine reinblütige Hexe aus der alten Kap-Kolonie handelte, deren Vorfahr einst im Auftrag der englischen Krone als Gouverneur nach Südafrika gekommen war und sich dort niedergelassen hatte. Ferner wurde erwähnt, dass die Familie über beträchtlichen Besitz und Einfluss im internationalen magischen Diamantenhandel verfügte. Die perfekte Braut für Scorpius! Perfektion, die sie, Lily, ihm nie hätte bieten können... Ein Traum, der endgültig ausgeträumt war. Verzweiflung schnürte ihr die Kehle zu und sie spürte das altvertraute Pochen. Doch dieses Mal sang der ihr so vertraute Stahl ein anderes Lied, ein weitaus süßeres, verführerischeres... Flieh durch finstre Gänge, Dunkle Gassen, Fieh durch Wälder Und sei frei! Freiheit... Welch verlockender Gedanke! Ohne es wirklich mitzubekommen, hatte ihre andere Hand nach dem Zylinder mit ihrem Skalpell getastet. Doch trotz der vertrauten Welle der Erleichterung, die der erste Schnitt mit sich brachte, schien der Druck dieses Mal nicht nachzulassen, nicht weniger zu werden. Wieder und wieder fuhr der scharfe Stahl über die Haut, immer tiefer. Immer mehr Blut quoll aus den Wunden, doch scheinbar schien Lily das gar nicht mitzubekommen. Zu tief war sie in ihren Gedanken, ihrem Sehnen nach Freiheit gefangen. Bis schließlich alles um sie herum dunkel wurde und sie das Bewusstsein verlor. *** „Ein Glück, dass Sie Miss Potter so schnell gefunden haben, Miss Woodville. Andernfalls hätte es schlimm ausgehen können.“ Ernst sah Professor Longbottom die Siebtklässlerin an, doch Celestine Woodville schien ihn nicht zu hören. Wie gebannt starrte sie auf die weißen Vorhänge, die um das Bett herum gezogen worden waren, in dem Lily lag, und hinter denen die Schulschwester zusammen mit Professor Valentine ihr Bestes tat, das Leben ihrer besten Freundin zu retten. Der Professor seufzte, fasste dann die Schülerin mit ruhiger Hand bei den Schultern und führte sie zu einem Bett auf der gegenüberliegenden Seite. Dort drückte er sie sanft nieder, ehe er zu dem Kabinett ging, in dem die Heiltränke aufbewahrt wurden. Ein Beruhigungstrank würde Wunder wirken. Es war aber auch nur zu verständlich, dass das Mädchen unter Schock stand, nachdem sie ihre Freundin blutüberströmt und dem Tode nah im Schlafsaal gefunden hatte, neben sich auf dem Bett ein Messer. Professor Longbottom machte sich schwere Vorwürfe, nicht eher gemerkt zu haben, dass mit Lily Potter etwas nicht stimmte. Gewiss, ihm war aufgefallen, dass sie sich von den anderen Kindern des Weasley-Clans unterschied, aber dies hatte ihn nicht weiter beunruhigt. Jede Familie hatte ein schwarzes Schaf, das hier und da aneckte und mit der Familie im Clinch lag. Er erinnerte sich noch genau, wie schlecht die vier jüngeren Weasleys seinerzeit auf ihren Bruder Percy zu sprechen gewesen waren, doch im entscheidenden Moment hatte sich herausgestellt, dass Percy das Herz am rechten Fleck hatte und heute war von dem damaligen Bruch in der Familie nichts mehr zu merken. Jedes Kind war eben anders, jedes reagierte auf den Prozess des Erwachsenwerdens auf andere Weise. Aber dass Lily Luna derartige Probleme hatte, dass sie keinen anderen Ausweg als Selbstmord sah... Neville wollte noch nicht einmal daran denken, was Harry und Ginny sagen würden, wenn sie von dem Vorfall erfuhren. Etliche Stunden später erst, lange nachdem er Celestine Woodville mit einer geringen Dosis Schlaftrank versorgt hatte, öffnete sich der Vorhang um Lily Potters Bett leicht und die Schulschwester trat heraus. Augenblicklich sprang Neville von dem Stuhl, auf dem er gewartet hatte, auf. „Wie geht es ihr? Wird sie...?“ „Sie wird es schaffen. Ja... Miss Woodville hat sie noch rechtzeitig gefunden. Aber Professor, der Vorfall heute... Ich kann noch nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es sich dabei um einen Selbstmordversuch handelte, oder ob das Problem nicht tieferliegend ist.“ Irritiert sah der Gryffindorhauslehrer Madam Quinze an. „Nachdem wir Miss Potter stabilisiert hatten und ich Zeit hatte, sie von dem Blut zu reinigen, wurde deutlich, dass die Verletzungen an ihrem Arm von heute nicht die ersten dieser Art waren. Mit Sicherheit waren es die bislang schwerwiegendsten, aber ihr Arm ist regelrecht übersät von den Spuren alter Schnitte. Ich fürchte, dass wir es hier mit einem Problem zu tun haben, welches das Mädchen schon seit Jahren mit sich herum trägt und das heute einfach außer Kontrolle geraten ist.“ „Seit Jahren...?“, flüsterte Neville geschlagen. Sein Versagen als Hauslehrer war größer als er zuvor geglaubt hatte. Die Schwester nickte. „Sehen Sie sich ruhig ihren Arm selbst an. Miss Potter ist derzeit in einem magischen Koma, in das wir sie versetzen mussten, damit die Tränke in Ruhe wirken können, so dass Sie sie nicht stören werden.“ Noch immer schockiert über das, was er soeben gehört hatte, trat Neville hinter den Vorhang, wo sein Kollege Valentine dabei war, die gebrauchten Zaubertrankphiolen zusammenzuräumen, damit die Elfen sie reinigen konnten. Stumm machte dieser dem Kräuterkundelehrer Platz. Vorsichtig schob Neville den Verband an Lilys linkem Arm ein wenig beiseite. Tatsächlich waren auf der Haut Spuren verblassender Narben zu sehen, so hauchfein, dass man sie ohne genauere Betrachtung leicht übersehen konnte. Bedrückt schüttelte er den Kopf. Dann fiel ihm der Anhänger auf, den Lily noch immer an einer Kette um den Hals trug. Durch den Überwachungszauber des magischen Komas leuchtete das kleine, goldene Objekt leicht bläulich, was darauf hindeutete, dass es sich um einen magischen Anhänger handelte, und das machte ihn neugierig. Neville bezweifelte, dass Madam Quinze mehr als eine oberflächliche Untersuchung bei dem Anhänger vorgenommen hatte, gerade gründlich genug, um sicherzustellen, dass der Anhänger bei der medimagischen Behandlung keinerlei Schwierigkeiten machen würde. Er selbst hatte, aufgrund der Leidenschaft seiner Großmutter, seine angeblichen Schwächen durch allerlei magische Gegenstände kaschieren zu wollen, ein recht profundes Wissen über Zauber, die sich in leblose Gegenstände einschließen ließen, ohne dabei ihre Wirkung zu verlieren, und so konnte er der Versuchung nicht widerstehen, herauszufinden, welchen Zauber Lily Potter mit sich herumtrug. Vielleicht, so versuchte er seine Neugier vor sich selbst zu rechtfertigen, half es ihm auch, herauszufinden, welches Problem das Mädchen hatte und weshalb es an diesem Tag so außer Kontrolle geraten war. Ein erster Versuch, dem Anhänger das Geheimnis zu entlocken, zeigte lediglich dass es nur die eine Hälfte eines Zaubers war, ähnlich wie man es von Zwei-Wege-Spiegeln kannte. Allerdings schien dieser Zauber etwas einfacher gestrickt zu sein, was darauf hindeutete, dass es nur ein einziges magisches Gegenstück gab, während die aktuellen Zwei-Wege-Spiegel mehr dem ähnelten, was die Muggel mittels Mobiltelefonen erreicht hatten: Man konnte mit einem solchen Spiegel einen jeden Zauberer oder eine jede Hexe kontaktieren, die im Besitz eines ebensolchen Spiegels war, weshalb natürlich Zwei-Wege-Spiegel im Unterricht streng verboten waren und von den Lehrern konfisziert werden durften. Im übrigen schien der Anhänger auch nicht einer gegenseitigen Kommunikation ähnlich einer Unterhaltung zu dienen, sondern mehr der Übermittlung einer festgelegten Botschaft. Je mehr Professor Longbottom die Struktur des Zaubers analysierte, desto größer wurde der Wunsch, herauszufinden, wer die andere Hälfte des Zaubers besaß. Er bezweifelte stark, dass Lilys Eltern ihr den Anhänger gegeben hatten, denn dann hätten ihre Brüder etwas ähnliches gehabt und dem war nicht so gewesen. Schließlich kam Neville zu dem Schluss, dass er nur, wenn er den Anhänger aktivierte, herausfinden würde, wer das Gegenstück besaß, und so nahm er Lily vorsichtig die Kette ab und trug sie nach draußen. Denn bloß weil der Zauber im Ruhezustand das magische Koma nicht beeinflusste, hieß das noch lange nicht, dass dies auf der Fall war, wenn der Zauber ausgelöst wurde. Da er das Passwort des Anhängers nicht kannte, brauchte Neville fast eine halbe Stunde, ehe er eine Möglichkeit gefunden hatte, dieses Hindernis zu umgehen, aber er hatte im Laufe seines Lebens zu viele Dinge entweder ausschalten oder reparieren müssen, um sich zu schnell geschlagen zu geben und endlich strahlte der Anhänger jene bezeichnende Wärme aus, die darauf hindeutete, dass der Zauber aktiviert war. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig als zu warten. Stunde um Stunde verrann, und immer wieder nickte Neville, trotz der unbequemen Position auf dem hölzernen Stuhl, ein. Doch erst, als im Osten die Nacht der Dämmerung und damit dem heranbrechenden Tag wich, hörte er plötzlich vor der Tür der Krankenstation erregte Stimmen. Zwei Männer, nein, drei, alle vertraut, doch es dauerte einen Moment, bis sein müdes Gehirn die Stimmen zugeordnet hatte. Das eine war die Stimme von Hieronymus McCoy, dem aktuellen Hausmeister der Schule, der protestierte, dass es viel zu früh sei für Besucher. Die zweite Stimme ließ Neville schlucken, denn wie sollte er auch nicht die Stimme seines Freundes Harry Potter erkennen? Er hatte ja gehofft, dass ihm noch ein wenig Schonfrist gegönnt wäre, ehe er sich Lilys Eltern stellen müsste. Die dritte Stimme bereitete ihm schon etwas mehr Probleme, hatte er sie doch beinahe zwei Jahre nicht mehr gehört, doch dann gelang es ihm, in ihr Scorpius Malfoy zu erkennen. Irritiert fragte er sich, was der Malfoy-Spross hier wollte, wo er doch, nach Auskunft des Tagespropheten, in Südafrika war und sich verlobt hatte. Aber noch ehe Neville eine Antwort auf diese Frage hatte finden können, wurde die Tür aufgestoßen und alle drei Männer stürzten herein, nur um von Madam Quinze, die von dem Lärm ebenfalls geweckt worden war, zurecht gewiesen zu werden. Während McCoy sich grummelnd wieder zurückzog, verlangten die beiden anderen Lily zu sehen. Das schien Lilys Vater endlich dazu zu bringen, die Frage zu stellen, die auch Neville schon die ganze Zeit auf der Zunge brannte. „Und warum, darf ich fragen, sind Sie hier, Mr. Malfoy?“ „Lily hat mich gerufen“, gab dieser schlicht als Antwort. Augenblicklich wollte Harry das vehement dementieren und auch die Schulschwester war kaum zu bremsen in ihren Ausführungen, dass Miss Potter im Koma läge und wohl kaum in der Lage sei, irgendwen zu benachrichtigen, doch sie sprachen so wirr durcheinander, dass man kein Wort verstehen konnte. Derweil hatte Neville die eigentliche Antwort auf die Frage gefunden und drängte sich jetzt in die hitzig debattierende Gruppe. Ruhe gebietend hob er die Hände und seltsamerweise hatte er Erfolg. „Nicht Miss Potter hat Sie gerufen, Mr. Malfoy, sondern ich. Zumindest wenn Sie auf diesen Anhänger hier anspielen.“ Hier hielt er Lilys Kette hoch. Bei dessen Anblick wurde Scorpius deutlich blasser als er von Natur aus schon war. „Der Fels in der Brandung“, murmelte er nur undeutlich, ehe er sich wieder gefasst hatte. „Aber... ich verstehe nicht...“ Unsicher wanderte sein Blick zu Harry Potter, als wollte er sagen: Irgendwas ist doch mit Lily los, sonst wäre ihr Vater nicht hier. Aber wieso hat sie mich nicht gerufen? „Vielleicht sollten wir uns hinsetzen?“, schlug Neville nun vor und beschloss im gleichen Moment dafür zu sorgen, dass Madam Quinze und er jeweils zwischen dem jungen Malfoy und Potter senior saßen. Kurz darauf hatten sie sich um den Tisch, an dem gewöhnlich die Patienten, die unter Quarantäne standen, aber nicht ans Bett gefesselt waren, ihre Mahlzeiten einnahmen, gruppiert. „Das also sind die Fakten: Ein enormer Blutverlust, hervorgerufen durch selbstzugefügte Schnittverletzungen, haben dazu geführt, dass Lily in ein magisches Koma versetzt werden musste, um den Heiltränken die Gelegenheit zu geben, ihr Werk zu vollführen.“ Neville sah, dass Harry etwas einwerfen wollte, doch mit einer Handbewegung brachte er ihn zum Schweigen. Schließlich war er noch nicht mit seinen Ausführungen fertig und solange er nicht alles gesagt hatte, würden sie sich nur in sinnlose Diskussionen verrennen. „Wir wissen noch nicht, ob es sich um einen gezielten Selbstmordversuch handelte, oder um ein Versehen, denn wie es scheint neigt Lily zu selbstverletzendem Verhalten.“ Während Harry erschrocken aufkeuchte, blieb Scorpius ruhig, ja beinahe nachdenklich, und das wiederum machte Professor Longbottom stutzig. „Sie wussten davon, Mr. Malfoy?“ Scorpius nickte. „Ja. Ich habe es zufällig herausgefunden, als Lily in der vierten Klasse war.“ „Und Sie haben es nicht für nötig befunden, jemanden darüber zu informieren, der Miss Potter vielleicht hätte helfen können?“, mischte sich nun Madam Quinze ein. Der Malfoy-Spross zuckte nur mit den Schultern. „Was in Slytherin geschieht, bleibt auch in Slytherin.“ „Aber Miss Potter ist keine Slytherin“, widersprach die Schulschwester. „Ihr Uniform trägt zwar nicht das grün-silberne Abzeichen des Hauses, aber ihr Inneres...“ „Meine Tochter, eine Slytherin? Niemals!“, brauste Harry auf. „Ist das denn so unwahrscheinlich?“, konterte Scorpius. „Wie war das noch vor acht Jahren? Dass Slytherin auch gute Menschen hervorgebracht hätte und es nicht schlimm wäre, wenn Albus ein Slytherin würde? Waren das nicht Ihre Worte damals am Bahnsteig in Kings Cross? Oder galt das nur für den zweitgeborenen Sohn und nicht die erstgeborene Tochter, die Prinzessin? Wie wahrscheinlich bitte ist es, dass bei zwölf Familienmitgliedern einer Generation nur ein einziges einem anderen Haus als Gryffindor angehört?“ Mit spöttischem Ton stach er gezielt Löcher in die Logik der selbstherrlichen Gryffindor-Denkweise. „Ich habe zwar nicht viel mitbekommen, weil Molly Weasley zwei Jahrgänge über mir war, aber sie machte auf mich stets einen irgendwie gehetzten, ausgestoßenen Eindruck. Und dabei war sie nur eine Ravenclaw...“ Aufgrund der eigenen Ängste waren Scorpius die Worte Harry Potters, die dieser damals zu seinem Sohn gesprochen und die Scorpius mehr oder weniger unfreiwillig mit angehört hatte, lebhaft im Gedächtnis geblieben. „Merlin...“, murmelte Harry. „Aber hätte der Sprechende Hut dann nicht die entsprechenden Weasleys in andere Häuser geschickt, wenn dies mehr ihren Neigungen entsprochen hätte?“ Ein überlegenes Grinsen zierte Scorpius’ Gesicht. „Nicht, wenn der betreffende Schüler es nicht will. Er berücksichtigt die Wünsche der Kinder, nicht wahr Mr. Potter?“ Geschlagen sank Harry in sich zusammen. „Ja, wenn ein Kind partout nicht in ein Haus will, findet der Hut eine andere Lösung.“ „Und wenn man unbedingt in ein Haus will, weil es für die Familie das einzig wahre Haus ist, kann man den Hut auch dazu bringen“, führte Scorpius den angefangenen Faden weiter. „Slytherin ist ein Paradebeispiel dafür. Auch wenn der Preis dafür manchmal sehr hoch ist.“ „Thorald“, wisperte die Schulschwester mit einem Mal, als sie sich an den letzten Schüler erinnerte, der mit massiven blutigen Schnittverletzungen in ihrer Obhut gelandet war. Scorpius nickte leicht, beinahe unmerklich, als wollte er Madam Quinze beschwören, ihr neugewonnenes Wissen für sich zu behalten. „Lily hätte also eigentlich eine Slytherin sein sollen. Und deshalb, diesem idiotischen Verschwiegenheitskodex Ihres Hauses folgend, haben Sie nichts gesagt, Mr. Malfoy?“, hakte Professor Longbottom jetzt nach. „Wäre sie eine echte Slytherin gewesen, hätte ich sie vielleicht dazu bringen können, mit unserem Hauslehrer zu sprechen, aber so... Aber ich verstehe nicht, wieso sie den Anhänger nicht aktiviert hat. Ich habe ihn ihr doch extra gegeben, damit sie mich kontaktiert, ehe es soweit kommt.“ „Und was, wenn du der Grund für diesen Vorfall bist, Malfoy?“, kam es da von der Seite. Unbemerkt von den vier Erwachsenen, hatte Celestine ihr Bett verlassen und alles mitangehört. „Wie meinen Sie das, Miss Woodville?“, fragte Madam Quinze, die ausnahmsweise einmal kein Wort darüber verlor, dass das Mädchen barfuß dastand. „Auf Lilys Bett im Gryffindor-Turm lag die Zeitung... die Seite mit den Gesellschaftsanzeigen war aufgeschlagen... Wie willst du eigentlich deiner Verlobten erklären, dass du so Hals über Kopf – ich nehme mal an, dass du ziemlich überstürzt gehandelt hast – nach Hogwarts musstest, statt bei Miss Deborah Bourke in Südafrika zu bleiben?“ Die letzte Frage stellte Celestine mit kaum verhohlenem Ärger in der Stimme. Das war der Punkt, an dem Harry Potter gryffindorrot sah. Ohne darauf zu achten, dass eigentlich der Tisch ein unüberwindbares Hindernis darstellen sollte, sprang er auf und packte Scorpius Malfoy am Kragen, so fest, dass diesem fast die Luft wegblieb. „Halunke! Hast du Lily etwa Hoffnungen gemacht, nur um sie wegen einer Diamantenerbin fallen zu lassen? Aber was soll man auch anderes von einem Malfoy erwarten. Schuft!“ Doch alles, was Scorpius zu seiner Verteidigung hervorbringen konnte, war ein gequältes Röcheln. „Mr. Potter! Ich muss doch sehr bitten! Sie sollten eigentlich noch wissen, dass Handgreiflichkeiten in der Krankenstation nicht gestattet sind. Ich muss Sie bitten, Mr. Malfoy augenblicklich loszulassen!“, mahnte Madam Quinze in ihrer strengsten Stimme. Sie wollte schließlich nicht schon wieder einen Menschen wiederbeleben müssen. Doch erst, als Neville, der für einen Moment so ausgesehen hatte, als würde er seinem ehemaligen Klassenkameraden nur zu gerne das Feld überlassen, Harry beruhigend eine Hand auf die Schulter legte und ihn dabei mit einem Blick ansah, als wollte er den alten Freund davon überzeugen, dass ein Malfoy den Papierkrieg nicht wert war, den eine Vertuschung seines plötzlichen Ablebens nach sich zöge, ließ Harry von Scorpius ab. Dieser rieb sich auffällig dramatisch den Hals, während er seinen Angreifer mit bösen Blicken musterte. „Nie! Nie habe ich ihr Hoffnungen gemacht. Das konnte ich, durfte ich nicht... Im Gegenteil! Ich habe die Grenzen der Freundschaft nie überschritten, um Lily nicht zu verletzen.“ „Ha! Aber du hättest gerne, Bürschchen!“, trumpfte Harry auf, während Celestine ätzte: „Welcher Freund schreibt Woche um Woche Briefe, verschweigt aber, dass er drauf und dran ist, sich zu verloben? Welcher Freund lässt zu, dass jemand, der ihm eigentlich etwas bedeuten sollte, jemand, von dem er weiß, dass er längst nicht so stark ist, wie er seine Umwelt glauben lässt, so etwas aus der Zeitung erfährt? Zumal du genau wissen musstest, wie viel Lily deine Briefe bedeuteten!“ „Und was sollte ich deiner Meinung nach tun?“, wandte sich Scorpius an Celestine, denn es fiel ihm leichter, sich auf jemand seines Alters zu konzentrieren. „Ihr sagen, dass ich mich in sie verliebt habe, auch auf die Gefahr hin, dass wir dann beide unglücklich werden? Weil ich wusste, dass mein Vater eines Tages eine passende Verbindung für mich arrangieren würde? Oder es ihr gleich tun, jetzt, da meine private Zukunft feststeht, bloß um bei ihr zu sein? Um der Welt zu beweisen, dass ich was für Lily empfinde?“ „Wieso gleich so melodramatisch? Und außerdem wäre so eine Romeo-und-Julia-Nummer doch etwas abgedroschen. Heloise und Abelard tun es auch“, warf Harry mit einem leicht sadistischen Grinsen ein. „Ja, sind wir hier denn im Mittelalter?“, fragte Neville mit einem Anflug von Frustration in der Stimme, auch wenn ihm Harrys Kommentar ein wissendes, verständnisvolles, aber nichtsdestotrotz schmerzliches Lächeln auf die Lippen gezaubert hatte. „Mr. Malfoy, ist Ihnen je in den Sinn gekommen, dass Sie nicht tun müssen, was Ihr Vater will? Gewiss, es hat Tradition, er wird Ihnen mit allerlei Unannehmlichkeiten drohen, einschließlich dem Ausschluss aus der Familie, aber glauben Sie wirklich, dass er soweit ginge? Sie sind sein einziger Sohn und Erbe. Der nächste männliche Verwandte wäre Ted Lupin... Also, wenn Ihnen wirklich etwas an Lily liegt, dann entdecken Sie gefälligst den Gryffindor in sich, so wie in jedem von uns ein Slytherin schlummert, und kämpfen Sie für das, was Ihnen wichtig ist!“ Auch wenn uns beide das fortan zu ewig langer Flucht verbannt Sie haben unrecht, sind so blind, folgen nur den Worten ihrer Herrn der heiligen Macht in diesem Land *** Laufe, renne immer weiter Nimm das Unrecht nicht in Kauf Ich bleibe hier werd für dich kämpfen… ‚Vater, selbst auf die Gefahr hin, mich aus der Familie ausgestoßen zu sehen, kann ich nicht länger einer Verbindung mit Deborah Hannah Bourke zustimmen, da meine Wahl auf eine andere Hexe gefallen ist. Auch wenn Du erwidern magst, dass bei einer Vernunftehe, wie sie bei den Malfoys Tradition hat, persönliche Motive zurück zu stehen haben und anderweitige Vorlieben kein Hindernis darstellen – wieso sollte ein Slytherin, ein Malfoy, nicht auch beides bekommen – so ist dies in meinem Fall nicht möglich. Ein Malfoy mag seine Frau mit einer Hexe vom Schlag einer Hufflepuff betrügen, wenn er sich Wärme wünscht. Ein Malfoy mag seine Frau mit einer Ravenclaw betrügen, wenn es ihn nach intelligenter Konversation dürstet. Ein Malfoy mag seine Frau mit einer Gryffindor betrügen, wenn ihn schlicht das Abenteuer reizt. Aber ein Malfoy, der seine Frau, die aufgrund der Tradition dem eigenen Haus, Slytherin, zugeneigt ist, mit einer anderen Frau vom gleichen Schlag betrügt? Oder eher ein Malfoy, der seine Slytherin-Geliebte mit seiner Frau betrügt? In einer solchen Kombination steht zu befürchten, dass der Malfoy den Kürzeren zieht – ein absolut untragbarer Ausgang für einen Malfoy. Weshalb der kluge Malfoy stets diejenige Hexe zur Frau wählt, die seiner Familie zur Ehre gereicht, ohne ihn in Versuchung zu führen, seiner Familie Probleme ins Haus zu holen. Und genau dies gedenke ich zu tun. Mit besten Grüßen, Scorpius.’ Ein wenig beklommen sah Scorpius der Eule nach, die soeben den wohl schwierigsten Brief, den er je geschrieben hatte, zu seinem Vater trug. Doch er bereute seine Entscheidung nicht. Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen ging er zurück in die Krankenstation, um seine Wache an Lilys Bett wieder aufzunehmen, nur um zu seiner Überraschung die Hexe seines Herzens wach und aufrecht dasitzen zu sehen. „Lily!“, flüsterte er und seine Augen begannen zu leuchten. „Scorpius!“ Auch in ihrer Stimme war die Freude bei seinem Anblick kaum zu überhören, doch gleich darauf verdüsterte sich ihr Antlitz. „Was tust du hier? Müsstest du nicht bei deiner Verlobten sein?“ Ein klein wenig spöttisch zog er die Augenbrauen hoch. „Das bin ich doch. Zumindest hoffe ich, dass du mir, irgendwann, in der Zukunft, hilfst, diesen peinlichen Druckfehler im Tagespropheten richtig zu stellen...“ Fragend sah er sie an. „Du meinst...?“ „Nur, wenn du willst, Slytherin...“ „Vielleicht... irgendwann... in der Zukunft...“ Und in Lilys Augen funkelte ein glückliches Glitzern, das zuletzt wohl damals zu sehen gewesen war, als sie zum ersten Mal auf einem Besen geflogen war. Ein Ausdruck von Freiheit. ENDE Fußnote für alle jene, die Heloise und Abelard nicht kennen: http://de.wikipedia.org/wiki/Heloisa Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)