Where nobody dies von Monsterseifenblase ================================================================================ Kapitel 1: Sag mir nicht... --------------------------- ~.~ Die Frau in dem Krankenbett war mit ihren sechsundsechzig Jahren nicht übermäßig alt, dennoch war ihr deutlich anzusehen, dass sie schon bald ihre letzten Atemzüge tun würde. Ein kleiner, blonder Junge von vielleicht sechs Jahren saß in sich zusammengesunken auf einem unbequemen, harten Holzstuhl. Wohl wissend, dass ihm nur noch wenige Minuten mit seiner Großmutter blieben. Entgegen der Erwartung vieler, blieben seine Wangen trocken, denn er hatte sich vorgenommen, nicht zu weinen. Schließlich hatte seine Oma ihm gesagt, dass er jetzt ein großer Junge war, der die Welt entdecken musste. Luca wusste, was das hieß. In nur wenigen Minuten würde er alleine sein, ohne seine Oma, die ihn bisher vor allem Unrecht der Welt beschützt hatte. Er wusste auch, dass sie die Augen nicht noch einmal aufmachen würde, er hatte gehört, wie die Ärzte sagten, dass sie dafür zu schwach war. Luca konnte sich nicht wirklich vorstellen, wie man zu schwach sein konnte, um die Augen zu öffnen. Hätte er jemanden gehabt, der ihm in dieser Situation beistand, dann hätte derjenige ihm bestimmt erklärt, dass seine Oma sehr müde war, so wie er, wenn er den ganzen Tag draußen gespielt hatte und dann noch mit seiner Großmutter bis in die Nacht hinein einen Disneyfilm angeschaut hatte. Aber er hatte niemanden. Mit einem Mal verwandelte sich das regelmäßige Piepen der Apparaturen um ihn herum in einen langen, durchgehenden Ton. Luca schaute auf und als er bemerkte, wie ein Arzt durch die Tür hereingestürmt kam, wusste er, dass es bereits vorbei war. Wie in Trance stand er auf und verließ den Raum. Er weinte noch immer nicht und er schaute auch nicht zurück. Das Einzige, woran er denken konnte war, dass er jetzt niemanden mehr hatte, außer der Pflegefamilie, in die er würde gehen müssen. Gott hatte ihm alles genommen. Seine Eltern, seine kleine Schwester und nun auch seine Großmutter. Bevor sie gestorben war, hatte er sie gefragt, warum Gott so etwas macht, warum er ihm alles wegnahm, was er besaß. „Gottes Wege sind oft unergründlich“, hatte sie geantwortet. „Wenn er dir etwas nimmt, dann wird er seine Gründe dafür haben, Luca.“ „Gibt es denn irgendetwas, was er mir nicht nehmen kann, etwas, dass ich vor ihm verstecken kann?“ „Deine Fantasie mein Engel, die kann er dir nicht nehmen. Sie ist ein Teil deiner selbst. Wenn sie auf einmal weg ist, dann hat sie dir niemand genommen, dann hast du sie verloren. Also, gib gut Acht auf sie, damit du sie nicht in irgendeinem Bus liegen lässt, einverstanden?“ * Seit vier Tagen war er jetzt alleine, ohne Hilfe. Seit vier Tagen brauchte er keine Angst mehr vor Gott zu haben, denn Luca wusste, dass es nichts gab, was dieser ihm noch nehmen konnte. Er besaß nichts mehr, dessen Verlust ihn tief treffen würde. Die Decke unter der er lag, war kühl, fast so, als würde sie den Jungen einfach nicht wärmen wollen. Er hatte immer öfter das Gefühl, dass er nicht hier her gehörte, als wäre er ein Fremder, jetzt da er niemanden mehr hatte, der ihm zeigen konnte, wie man sich in diesen großen Welt zu Recht finden konnte. Gequält schloss er die Augen und drehte den Kopf zur Seite. Sein Körper war müde, sehnte sich nach ein paar Stunden Schlaf, die seine Kräfte wieder regenerieren würden, aber Lucas Geist war hellwach und weigerte sich in die Traumwelt hinüber zu gleiten. Er hatte Angst vor dem Schlaf. Die letzten Nächte hatte er jedes Mal schrecklich geträumt, von Gott in Gestalt eines fürchterlichen Monsters, das alles fraß, was bunt und lebensfroh schien. Seine kleinen Hände streckten sich nach dem Kuscheltier, das neben ihm lag, aus. Es war ein undefinierbares, kleines Fellknäul mit spitzer Nase und freundlichen schwarzen Knopfaugen. Luca mochte es. Das er keine Ahnung hatte, was es darstellen sollte, machte ihm nichts aus. Das seltsame Knäul war da, weich und flauschig, mehr brauchte er nicht. Er vergrub sein Gesicht in dem weichen Kissen, presste das Stofftier an sich und wartete, bis der Schlaf ihn übermannte. * Als er aufwachte, fühlte Luca sich nicht mehr so erschöpft, wie an den vorherigen Tagen. Es war, als hätte er das erste Mal seit langem wieder geschlafen. Gut gelaunt und erholt setzte er sich auf und streckte sich, bevor er überrascht die Arme sinken ließ. Seine Bettdecke war nicht mehr weiß, so wie am Vorabend, sondern vom einem Sonnengelb, das ihn freundlich anlächelte und einen guten Morgen wünschte. Aber nicht nur die Farbe der Decke war anders, sein ganzes Zimmer war nicht wieder zu erkennen. Sein Bett stand nun nicht mehr in einem zu vier Seiten begrenzten Raum, es stand unter der Ausbuchtung einer riesigen Baumwurzel. Genau so, dass er nun hinaus schauen konnte, in eine Welt, die definitiv nicht so war wie die, in der er eingeschlafen war. Luca rieb sich die Augen, wissend, dass er träumte, und wartete darauf wieder aufzuwachen. Er war ein großer Junge, der sein Leben von nun alleine würde meistern müssen, er konnte es sich nicht erlauben von einem Bett zu träumen, das unter einer Baumwurzel stand. Aber er erwachte nicht, egal wie fest er die Augen zusammenkniff und wieder öffnete, er schaffte es nicht in die Realität zurückzukehren. Als er nach dem fünften Versuch noch immer von der sonnengelben Bettdecke begrüßt wurde, hatte er das Bedürfnis zu weinen. Er wollte groß sein, aber er konnte es nicht. Er wollte stark sein und seine Oma stolz machen, aber er schaffte es nicht. Eine Träne, die er einfach nicht zurück halten konnte, stahl sich über seine Wange hinab und er wünschte sich, dass es jemanden gäbe, der ihn in den Arm nehmen würde. Aber es gab niemanden, er war allein. Allein in seinem Traum gefangen. Die Decke zog sich fester um ihn und einen Moment lang glaubte Luca, dass sie ihn trösten wollte. Aber dann kam er zur Besinnung. Eine Decke konnte ihn nicht trösten und er musste endlich aufhören so einen Quatsch zu träumen, sonst würde er nie hier heraus kommen! Noch während er das dachte, fing der Baum über ihm an zu knarren und er zuckte zusammen. Nur ein paar Sekunden später erschien ein Ast vor dem großen Eingang, so als hätte sich der Baum nach vorne gebeugt um seinen Besucher zu betrachten. „Guten Morgen, Luca“, sagte der Ast. „Es ist schon spät und du hast doch bestimmt Hunger, oder nicht?“ Der Junge starrte den Ast an. Er war sehr dünn und hatte nur wenige, kleine Blätter, so als wäre er noch sehr jung. „Bäume können nicht sprechen“, erwiderte der Junge schließlich und das Knarren des Baumes verstummte. Der Ast verharrte wo er war und einen Moment lang hatte Luca den Eindruck, dass er ein wenig traurig aussah. Er blinzelte und dann war der Ast nur noch ein Ast. Er sah weder traurig noch fröhlich aus. Und reden tat er auch nicht, genau so, wie es sich gehörte. Luca war zufrieden. Er musste diesen Traum wieder zu der Realität werden lassen um ihm entfliehen zu können. Er schlug die Decke zurück, die sich an ihn geklammert hatte und ihn wärmen wollte, und starrte sie an. „Warum bist du gelb?“, fragte er. „Du sollst weiß sein, weiß wie meine Bettdecke zu Hause.“ „Aber ich möchte lieber eine gelbe Bettdecke sein. So gelb wie die Sonne, die jeden Tag lacht“, antwortete die Bettdecke. Luca runzelte die Stirn. „Ich will aber, dass du weiß bist!“, beharrte er und die Decke wurde weiß, doch sie sah viel trauriger aus, als vorher, als sie noch gelb gewesen war. Der Junge nickte, dann drehte er sich um und lief in seinem Pyjama aus der kleinen Baumhöhle heraus auf die grüne Wiese, die sich vor ihm erstreckte. Sie war mit Blumen in allen erdenklichen Farben geschmückt und das erste Mal seit langem freute Luca sich. Seit Jahren hatte er von so einer großen, bunten Wiese geträumt, wie sie immer in den Märchenbüchern abgebildet gewesen waren. Schon immer hatte er barfuss darüber laufen wollen. Er wusste genau, dass er eigentlich hier fort musste, um wieder in die richtige Welt zurück zu kehren, aber dennoch streckte der kleine, sechsjährige Junge die Arme aus und fing an zu laufen. Er rannte so schnell er konnte durch das hohe, grüne Gras. Der Wind streichelte seine Wangen, zerzauste seine Haare und trieb ihm die Tränen in die Augen, aber das machte ihm nichts aus und er lief immer weiter, immer weiter in die Endlosigkeit hinein. Erst als er nicht mehr konnte und vor Anstrengung keuchte, hielt er inne und ließ sich mit geschlossenen Augen rücklings ins Gras fallen. Es war nicht kratzig, wie er es erwartete hatte, sondern ganz weich und kitzelte ihn an den Füßen und als es sich auch nach seinem Gesicht ausstreckte und ihn am Kinn berührte, musste Luca lachen. Er kicherte leise vor sich hin und rollte sich auf die Seite, um den Halmen zu entgehen, aber sie streckten sich nach ihm aus, berührten ihn überall, zwickten ihn sanft in den Bauch und umarmten ihn. Der Junge kicherte weiter, bis er schließlich lauthals anfing zu lachen, sich immer weiter zur Seite rollte und das Gras mit großen Augen und einem Lächeln auf den Lippen dabei beobachtete, wie es sich nach ihm ausstreckte. „Jetzt reicht es aber“, hörte er jemanden sagen. Es war eine weibliche, sanfte die Stimme. „Ihr wisst doch alle genau, dass ihr nicht immer so übertreiben sollt!“, rügte sie und Luca spürte, wie sich die Grashalme von ihm zurückzogen. „Du musst entschuldigen, aber sie sind immer so liebesbedürftig, dass sie alles umarmen, was seinen Weg hier her findet. Kleine Menschenkinder haben sie besonders gerne, ich glaube, sie mögen euer Lachen.“ Der kleine Junge schaute sich suchend um, doch er konnte einfach nichts entdecken. „Hier unten bin ich!“, hörte er da wieder die Stimme und betrachte dann den Boden. Es dauerte ein bisschen, bis er sie schließlich entdeckte. Eine kleine Frau, gerade einmal so groß wie seine Hand, stand zwischen den Grashalmen und schaute zu ihm empor. Als sich ihre Blicke begegneten, lächelte sie. „Wer bist du?“, fragte Luca schließlich gedehnt, während er ihre braunen Haare und ihre kleine Stupsnase betrachte. „Ich bin Laila“, antwortete sie. „Und was bist du?“, hakte der Junge nach und die kleine Frau lachte. „Nun... Was möchtest du denn, was ich bin?“, fragte sie ihn und Luca schaute sie verwirrt an. „Was ich möchte, das du bist?“ „Ja.“ „Ich möchte gar nichts, nur nach Hause.“ Das kleine Wesen hob die Augenbrauen. „Aber du bist doch zu Hause. Mehr zu Hause als anderswo.“ „Woher willst du das wissen?“ „Alle Kinder, die hier her kommen sind hier zu Hause.“ „Ich nicht“, entgegnete Luca unwirsch und stand auf. Er hatte lange genug getrödelt. Er musste diesen Traum endlich abschütteln. „Wie komm ich hier weg?“, fragte er die kleine Frau, aber die zuckte nur die Achseln. „Keine Ahnung.“ „Aber du hast doch gesagt, dass schon viele Kinder hier waren! Du musst doch wissen, wie sie wieder gegangen sind.“ „Nein“, entgegnete die Frau und schubste einen Grashalm zur Seite, der sie umarmen wollte. „Jedes Kind kommt und geht auf seinem eigenen Weg.“ „Und wo ist mein Weg?“, wollte Luca wissen. Er hatte schlechte Laune und auch ein bisschen Angst. Angst davor, für immer hier gefangen zu sein. „Das weißt nur du selbst.“ „Nein, ich weiß es nicht.“ Laila zog eine Schnute und schien nachzudenken, dann strahlte sie auf einmal. „Dann bleibst du am besten einfach hier!“ „Nein!“, schrie Luca und war den Tränen nahe. Er wollte hier weg, wollte in sein Bett und wollte endlich wieder nach Hause. Er spürte ein paar der längeren Grashalme, die sich gestreckten hatten, um ihn im Gesicht zu berühren. Sie wischten eine Zornesträne fort, aber Luca wandte sich von ihnen ab, so dass sie sein Gesicht nicht mehr erreichen konnten. Er wollte diesen Traum nicht! Es war albern und kindisch sich vorzustellen, dass Bäume und Bettdecken reden konnten und dass das Gras einer Wiese verspielt und liebesbedürftig war. „Nun, wenn du nicht hier bleiben willst, dann musst du dir halt deinen Weg suchen“, erklärte Laila und legte den Kopf in den Nacken um ihn ansehen zu können. „Wenn du willst, dann helfe ich dir.“ „Kennst du dich denn an diesem Ort aus?“, fragte der Junge und die kleine Frau zuckte nur wieder mit den Achseln. „Ich kenne fast alle, die hier leben, wir könnten sie fragen ob sie den Ausgang kennen“, entgegnete sie. Für Luca war das genug. Er nickte und überlegte, was als nächstes zu tun sei, bis ihm einfiel, dass er noch immer nicht wusste, was Laila eigentlich war. „Was bist du jetzt eigentlich?“ „Dasselbe wie vorher.“ „Und was warst du vorher?“ „Das was du willst, was ich bin.“ „Und was ist das?“ Laila runzelte die Stirn. „Das müsstest du doch am besten wissen, oder nicht?“ Luca überlegte. „Bist du eine Elfe?“ „Willst du, dass ich eine Elfe bin?“ „Das hab ich nicht gesagt, aber du siehst fast so aus wie die Elfen auf den Bildern in den Büchern, aus denen mir meine Großmutter immer vorgelesen hat.“ „Dann werde ich wohl eine Elfe sein“, verkündete die kleine Frau stolz und wirkte sehr zufrieden mit dieser Tatsache. Luca war verwirrt. Er verstand die Frau nicht, er verstand diesen ganzen Traum nicht, diese ganze Welt nicht. Er wollte zurück. „Lass uns den Weg hier raus suchen“, sagte er unwirsch. „Du musst mich aber tragen, denn deine Beine sind viel länger, als meine und ich kann ja nicht die ganze Zeit rennen!“, erwiderte Laila mit ihrer sanften und inzwischen etwas glockenähnlichen Stimme und befreite sich wieder von einem der liebesbedürftigen Grashalme. Luca bückte sich genervt und überlegte dann, ob er sie einfach packen sollte, aber noch bevor er zu einem Entschluss kommen konnte, war die Elfe auf seine Hand geklettert. „Setz mich am besten auf deine Schulter, dann kann ich am weitesten sehen!“, ermunterte sie ihn und Luca tat wie ihm geheißen, während er die Augen verdrehte. Er wollte hier weg. Ganz schnell. „Heiliger Strohsack, was ist das eine Aussicht! Und du kannst wirklich immer so weit sehen?“, staunte die kleine Elfe und Luca nickte. Ganz hibbelig vor Aufregung rutschte Laila auf seiner Schulter hin und her, bis sie schließlich in eine Richtung zeigte. „Am besten wir fangen dort an", sagte sie und Luca ging los. Das Gras kitzelte ihn wieder an seinen nackten Füßen und er spürte, wie es sich wieder nach ihm ausstreckte und ihn berühren wollte, aber er versuchte es zu ignorieren. Er ging weiter und weiter und nach einer Weile, begann es ihn zu nerven. Egal wie schnell er ging und welchen Kurs er nahm, immer kamen die Grashalme, strichen ihm über die Haut und wollten ihn gar nicht mehr loslassen. Er blieb stehen. „Ich will nicht, dass ihr so liebesbedürftig seid!“, rief er. „Habt ihr gehört? Ich will, dass ihr damit aufhört!“ Dann war es still und ein paar Sekunden später, zogen sich die Grashalme, die ihn gerade noch umklammert hatten, zurück und sanken in sich zusammen, beinahe so, als würden sie traurig die Köpfe hängen lassen. Die ganze Wiese wirkte bedrückt und eine Welle der Wehmut überfiel Luca. „Warum hast du das gemacht?“, fragte Laila bestürzt. „Weil sie Grashalme sind. Und Grashalme dürfen nicht liebesbedürftig und verschmust sein. Sie müssen Grashalme sein und einfach da stehen, nichts anderes!“ „Und wenn es ihnen langweilig wird immer einfach nur so dazustehen?“, fragte Laila entrüstet. „Warum dürfen sie nicht Grashalme sein, die sich vom Wind hin und her wiegen lassen und sich freuen, wenn jemand sie besuchen kommt?“ „Weil Grashalme so etwas nicht machen!“, erwiderte Luca. „Und woher willst du das wissen?“ „Weil die richtigen Grashalme in der Realität das auch nicht machen!“ „Vielleicht sind die Grashalme aus deiner Realität ja gar nicht die richtigen, sondern diese hier! Dann würden sich die anderen Grashalme falsch verhalten!“ Darauf wusste Luca nichts zu erwidern, so dass er schwieg, während er sich weiter seinen Weg durch die Grashalme bahnte. Sie hingen jetzt alle schwach, lustlos und traurig umher und machten ihm keinen Platz mehr, wenn er kam. Es wurde viel mühsamer für ihn vorwärts zu kommen und schließlich war er so erschöpft, dass er stehen blieb. „Am besten ist es, wenn wir eine Pause machen“, murmelte er und ließ sich auf seinen Hosenboden fallen. „Hey“, schimpfte Laila, die dabei fast von seiner Schulter gefallen wäre. Luca beachtete sie nicht und sie kletterte an seinem Oberarm herab auf den Boden, dann ging sie direkt zur nächsten Grasstaude und flüsterte etwas. Der Junge beobachtete aus den Augenwinkeln, wie sich die Halme bewegten, zum Boden wanderten und ein kleines Bett formten. Laila legte sich hinein, ließ sich von den spitzen Halmen kitzeln und schlief schließlich ohne ein weiteres Wort ein. Luca gähnte und betrachtete sie neidisch, als er sich auf den kalten und harten Boden legte. Vorhin, als er mit dem Gras gespielt hatte, da war der Boden so wunderbar weich gewesen, aber jetzt war er hart und voller Steine, die ihm in den Rücken stachen. Er rollte sich auf die Seite, aber auch diese Position war unbequem und er hoffte, dass das Gras sich vielleicht ausstrecken und ihm ein Bett formen würde, aber nichts geschah. Die Halme hielten sich von ihm fern und ließen ihn auf dem harten Boden liegen, so dass es eine ganze Weile dauerte, bis er endlich einschlief. ~.~ Kapitel 2: ...ich hätte... -------------------------- ~.~ Als er die Augen wieder aufschlug, war es noch nicht ganz hell und sein Rücken tat ihm weh. Er wollte nach Hause. Tränen stiegen ihm in die Augen, aber er weigerte sich zu weinen. Nachdem er sich gestreckt hatte, richtete er sich auf und stellte fest, dass ein paar Grashalme auf seinem Bauch lagen und ihn scheinbar zugedeckt hatten, während er schlief. Jetzt, da er wach war, zogen sie sich eilig zurück und versteckten sich zwischen den anderen Gräsern. „Schon OK“, murmelte der Junge und kam sich im nächsten Moment albern vor. Die Grashalme kamen nicht zurück. Luca fuhr sich durch die Haare und schaute sich schließlich um. Alles war genauso wie am Vortag, eine große endlos wirkende Wiese, aber nirgends eine Tür, die einen Ausgang aus dieser Welt versprach. Entmutigt ließ er sich wieder nach hinten fallen. Wenn er in seinen Träumen schon schlafen und wieder aufwachen konnte, ohne dass es auch nur irgendein Zeichen davon gab, dass er vielleicht irgendwann einmal wieder in der Realität aufwachen würde, dann hatte er ein Problem. Er war gefangen in einer Welt, in der er nicht sein wollte, in die er einfach nicht hineingehörte. Jetzt rann ihm doch eine Träne über die Wange und beschämt wischte er sie weg. Er hatte Angst, dass jemand sehen könnte, dass er weinte. „Es ist nichts dabei, wenn man einmal traurig ist, weißt du das?“, hörte er auf einmal eine Stimme. Laila. Luca machte sich nicht die Mühe sich zu ihr umzudrehen. Er wollte sie nicht ansehen, nicht mit seinen tränengefüllten und geröteten Augen. „Und es ist auch nichts schlimmes, wenn man einmal weint“, fuhr sie fort und Luca wurde sauer. Sie hatte doch keine Ahnung und konnte ihm gewiss nicht sagen, was man tun durfte und was nicht. Sie wusste einfach gar nicht! Er musste groß sein, erwachsen, weil es niemand anderen mehr in seiner Familie gab, der es sein konnte. Er war der Letzte! Und genau deshalb musste er bedacht handeln, ein Mann sein, nicht weinen. Je mehr der Junge sich das einredete, desto mehr Tränen flossen ihm die Wangen hinab. „Was ist los?“, hörte er da wieder Lailas Stimme. Dieses Mal war sie ganz nah an seinem Ohr und es dauerte einen Moment, bis er registriert hatte, dass sie an seinem Arm hinaufgeklettert war und sich nun eine bequeme Sitzposition auf seiner Brust suchte. Er antwortete nicht. „Weißt du“, sagte Laila und biss in eine seltsam, rötliche Frucht, wie Luca sie noch nie gesehen hatte. „Meistens haben die Kinder einen Grund dafür, dass sie hier her kommen. Natürlich gibt es viele die immer wieder kommen, weil es ihnen Spaß macht, aber wenn sie das erste Mal hier sind, dann ist es meistens kein einfacher Wochenendausflug.“ Das Fruchtwasser rann der kleinen Fee jetzt am Kinn herab und Luca sah zur Seite. Er musste lächeln. Auf irgendeine Art und Weise erinnerte das kleine Lebewesen ihn an seinen vor einem Jahr verstorbenen Vater. Er hatte zwar nur vage Erinnerungen an ihn – damals war er schließlich noch sehr klein und überhaupt nicht erwachsen gewesen – aber die Art, wie Laila redete, ihre Wortwahl – all das ließ ihn an seinen Vater denken. Er vermisste ihn. Er hatte es zwar nie gesagt, weil er von Anfang an gewusst hatte, dass seine Großmutter sehr unter dem Unfall litt, aber tief in seinem Herzen vermisste er es mit seinem Dad in den Wald zu gehen, Stöcke zu schnitzen, Staudämme an kleinen Flüssen zu bauen und Drachen steigen lassen zu gehen. Aber das war ein Geheimnis, niemand wusste davon und so würde es auch bleiben. Erwachsene Männer dürfen schließlich keine Sachen vermissen, sie dürfen nicht weinen – nie, unter keinen Umständen – und sie dürfen auch nicht all zu lange trauern. „Was meinst du, wieso bist du hier?“, sein Blick wanderte zurück zu Laila, die erneut in die seltsame Frucht biss. „Weil ich irgendetwas falsch mache“, antwortete Luca ohne groß zu überlegen. Die Elfe verschluckte sich, hustete und brauchte eine ganze Weile, bis sie wieder ohne Probleme atmen konnte. „Bitte was? Du meinst du bist hier, weil du etwas falsch gemacht hast? Nein, nein, das kann gar nicht sein. Das ist doch kein Gefängnis hier!“ „Aber es ist ein Traum. Ein Traum von einer Welt, die gar nicht existiert und große Jungs dürfen nicht träumen! Das ist ein Zeichen von Schwäche, das hab ich gehört!“, verteidigte sich der Junge und wich dem stechenden Blick des kleinen Wesens aus. „Deine Welt muss schrecklich sein“, hörte er sie schließlich murmeln. Es dauerte eine Weile, bis die Worte ganz zu Luca durchgedrungen waren und als es soweit war, sprang er wütend auf, so dass Laila von seinem Bauch kullerte und gerade noch von den Grashalmen aufgefangen wurde. „Sie ist nicht schrecklich!“, schrie er sie an. „Es ist besser, als das alles hier“, er machte eine ausschweifende Handbewegung. „Meine Welt ist wenigstens real! Es gibt sie, sie existiert! Und ich will verdammt noch mal dort hin zurück.“ Wütend stampfte er mit dem Bein auf und bemerkte gar nicht, dass er schon wieder angefangen hatte zu weinen. „Aber all das gibt es doch auch“, murmelte Laila und strich zärtlich über einen der Grashalme. „Nein, tut es nicht! Verstehst du das denn nicht? Es ist alles ein Traum! Die gelbe Bettdecke war ein Traum, das Gras ist ein Traum und du bist auch nur irgendein dummer Traum!“ Schluchzend ließ sich der Junge wieder auf den Boden fallen und vergrub sein Gesicht in den Händen. „Mhm...wenn das alles hier nur ein Traum ist, nichts weiter, warum kannst du es dann anfassen? Warum spürt man trotzdem die Berührung der Gegenstände auf seiner Haut...?“, fragte Laila leise und Luca schaute mit tränenüberströmtem Gesicht auf. Die kleine Elfe betrachtete gedankenverloren einen der dunkelgrünen Halme und strich zärtlich mit dem Finger darüber, so dass er sich genussvoll beugte. „Wenn das alles nur ein Traum ist, wessen Traum ist es dann?“, murmelte sie schließlich weiter und schaute dann auf. Luca direkt in die Augen. Der erwiderte den Blick ein paar Sekunden lang, dann schaute er zur Seite und ließ die Schultern hängen. „Wahrscheinlich meiner. Oder kann man im Traum eines Fremden gefangen sein?“, fragte er und Lailas Augenbrauen zuckte in die Höhe. „Ich glaube nicht“, sagte sie schließlich und ließ den Grashalm los. „Dann ist es meiner. Mein beschissener Traum!“, schluchzte Luca und vergrub sein Gesicht wieder in den Händen, um all das, was seiner eigenen Fantasie entsprang, nicht ansehen zu müssen. „Also, ich finde es ist ein schöner Traum.“ Der Junge verdrängte die Stimme und das, was die kleine Elfe gesagt hatte aus seinem Kopf und atmete tief durch. Er war erwachsen, er würde sich aus dieser dämlichen Situation befreien. Er würde sich selbst und seinen ollen Traum besiegen können. Mit zitternden Fingern wischte er sich über das Gesicht und versuchte es zu trocknen. Ohne Erfolg, aber es war ihm egal. Er stand auf und obwohl er noch ein wenig wackelig auf den Beinen war, schaute er streng und fest entschlossen zu Laila auf den Boden herab. „Komm, wir müssen den Ausgang suchen“, sagte er und bückte sich, um ihr die Handfläche hinzuhalten. Sie schaute ihn noch einen Moment skeptisch an, dann schien sie zu dem Schluss zu kommen, dass sie ihn auch weiterhin begleiten würde. Umständlich kletterte sie auf seine warme Haut, drehte ihm aber dennoch demonstrativ den Rücken zu und schaute in eine andere Richtung. Luca kümmerte sich nicht weiter darum, sondern stand auf, sah sich kurz um und ging los. Wohin wusste er selbst nicht, aber da er auch nicht wusste wo der Ausgang lag, war das vollkommen egal. Kapitel 3: ...keine Flügel,... ------------------------------ ~.~ Er lief mehrere Stunden am Stück, immer einen Fuß vor den anderen setzend und erst dann konnte er am Horizont eine Veränderung der Landschaft ausmachen. Ein erleichtertes Seufzen entfuhr ihm, als er daran dachte, dass er diese riesengroße Wiese bald wieder verlassen konnte. Aber gleichzeitig, tat es ihm ein bisschen Leid, da sich die Grashalme in den letzten Stunden wieder genähert hatten. Ganz langsam und vorsichtig, so als hätten sie Angst, dass Luca sie wieder wegschicken würden. Aber nach einer Weile waren sie immer selbstbewusster geworden. Als wüssten sie, dass er kleine Junge tief in seinem Innern ein schlechtes Gewissen hatte. Luca ging weiter und suchte. Ohne, dass er sich sicher war, was er dabei finden würde. Vielleicht den Ausgang, den er sich so sehr wünschte, aber vielleicht auch irgendetwas, was ihm überhaupt nicht gefiel. Etwas, was ihm Angst machte und Böses wollte, schließlich hatte er keine Ahnung, was es in dieser Welt alles gab. Aber wenn es wirklich nichts weiter als seine Traumwelt war, wie Laila gesagt hatte, dann durfte es eigentlich nur Dinge geben, die er sich vorstellte. Dinge, die er sich wünschte. Der Junge blieb abrupt stehen und kniff die Augen so fest zusammen, dass kein Sonnenstrahl mehr durch seine Lider drang. Immer wieder konzentrierte er sich auf das, was er wirklich wollte, was er sich wünschte – einen Ausgang. Er dachte ganz fest an eine Tür, die man öffnen und durchqueren konnte. Auf der anderen Seite würde dann sein Zimmer sein, sein Bett, das dicht am Fenster stand und von einer einfachen, weißen Bettdecke geschmückt wurde. Er dachte ganz fest daran, ganz fest, dann öffnete er wieder die Augen. Da war keine Tür. Da war nichts. Nur Gras, das hin und her wiegte, leise zu murmeln schien und sich nach ihm ausstreckte. Warum war da nichts? Warum war da kein Ausgang, wenn er sich doch nichts mehr als einen Ausgang wünschte? „Vielleicht gibt es Dinge, die du dir viel mehr wünschst, als endlich hier weg zu kommen“, sagte Laila auf einmal und Luca schaute nur stumm auf sie herab. Es wunderte ihn nicht, dass sie genau wusste, was er versucht hatte und was er nun dachte. Eigentlich wunderte ihn gar nichts mehr. Wenn man bedachte, dass er eine Bettdecke dazu gebracht hatte weiß zu werden und das Gras in dieser Welt nicht nur anhänglich und kuschelig war, sondern sich scheinbar endlos weit erstreckte, dann konnte es bestimmt auch kleine Elfen geben, die Gedanken lesen konnte. Oder fliegen. Luca betrachtete die kleine Frau, die noch immer in seiner Handfläche saß. Flügel hatte sie keinen und auch ansonsten schien sie keinerlei Fluggeräte bei sich zu habe, wie er sie manchmal im Fernsehen sah. Große Luftballons oder Hubschrauber. „Kannst du fliegen?“, fragte er unvermittelt. Laila zog eine Augenbraue hoch. „Ob ich fliegen kann?“ „Ja, ich möchte wissen ob du fliegen kannst.“ „Keine Ahnung“, antwortete sie. „Wie ‚keine Ahnung’?“ „Ich weiß es nicht“, wiederholte sie. „Ich hab es noch nicht ausprobiert. Willst du, dass ich fliegen kann?“ „Keine Ahnung“, sagte Luca. „Wie ‚keine Ahnung’?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete der Junge. „Du musst doch wissen, ob du willst, dass ich fliegen kann oder nicht!“ Das einzige was Luca wollte, war nach Hause, aber er wusste, dass das jetzt die falsche Antwort wäre, deshalb gab er sich einen Ruck. „Ich glaube, ich fände es schön, wenn du fliegen könntest“, gab er leise zu. Und es stimmte. Eine kleine, hübsche Frau, die in der Luft umher tanzte, so wie in den Büchern die er sich immer angeschaut hatte, das würde ihm gefallen. „Na, siehst du“, strahlte Laila ihn an. Stolz lag in ihrer Stimme, etwas, was Luca schon lange nicht mehr gehört hatte. „Also, kannst du fliegen?“, wollte er neugierig wissen. „Ja, ich denke schon“, nickte Laila und Luca betrachtete sie, jetzt ein wenig skeptisch. „Aber du hast doch gar keine Flügel“, meinte er schließlich und Laila schaute ihn mit einem finsteren Blick an. „Wer sagt denn, dass ich Flügel brauche um zu fliegen, hm?“ „In den Büchern haben die fliegenden Wesen aber immer Flügel, wie sollen sie denn sonst auch fliegen?“, verteidigte sich der Junge. „Wir sind nicht in irgendeinem Buch Luca, wir sind in irgendeiner Welt, die nach deinen Vorstellungen gestaltet ist. Und es ist doch vollkommen egal, wie ich fliege, auch wenn ich keine Flügel habe. Tatsache ist, ich kann es“, sie sprang in die Luft, blieb dort stehen und schaute kurz ein wenig überrascht drein, so als wäre sie es nicht gewohnt keinen festen Halt unter den Füßen zu haben. Als sie ihr Gleichgewicht gefunden hatte, sah sie wieder zu Luca. Ein schelmisches Grinsen lag auf ihrem Gesicht. „Siehst du, ich kann es. Und zwar aus dem einfach Grund, dass du es willst.“ Luca schaute sie mit zusammengekniffenen Lippen an. Die kleine Frau spazierte noch etwas unbeholfen, aber glücklich durch die Luft und das, obwohl er genau wusste, dass es eigentlich nicht möglich war. Sie tat es, weil er es wollte! Allein die Vorstellung, dass die Fähigkeiten der Elfe allein von seinen Wünschen abhing, war irrsinnig verlockend für ihn und ein paar Sekunden später wusste er, wie er diese Welt verlassen und in die Realität zurückkehren konnte. Er würde sie solange nerven, quälen und verändern, bis alles hier die Nase voll von ihm hatte und ihn freiwillig gehen ließ. „Ich wünsche mir, dass du nicht mehr fliegen kannst“, flüsterte er und fasste die kleine Elfe ins Visier, die nun gut und gerne zwei Meter über dem Boden spazieren ging. „Ich wünsche mir, dass du nicht mehr fliegen kannst“, wiederholte er und konzentrierte sich so fest er konnte auf diesen einen Gedanken. Er rechnete damit, dass die kleine Elfe jeden Augenblick abstürzte und dann vielleicht von dem Grashalmen aufgefangen wurde, aber nichts geschah. Sie stieg immer höher und schließlich wieder runter, lief einen Kreis und schien ihre neue Freiheit zu genießen. Als sie schließlich wieder zu ihm zurückkehrte, schaute Luca sie böse, beinahe schon hasserfüllt an. „Wenn doch alles, was ich will, in dieser Welt geschieht, warum kommt dann keine Tür, die mich hier fortführt, wenn ich sie haben möchte. Warum kannst du dann noch fliegen, auch wenn ich gesagt habe, dass ich es nicht mehr will?“ Die kleine Elfe wirkte nicht einen Moment lang erschrocken, als sie hörte, dass der Junge versucht hatte, sie abstürzen zu lassen. Stattdessen zog sie nur eine Schnute und kam noch näher zu ihm. „Alles, was du wirklich willst, das geschieht in dieser Welt. Aber du kannst dich nicht mit verschränkten Armen hin stellen und sagen, ich will einen Kuchen, so funktioniert das nicht“, erklärte sie schließlich. „Warum nicht?“, beharrte der Junge und die kleine Elfe seufzte. „Weil du es nicht damit wollen“, sie flog ein Stück höher und tippte ihm an den Schädel „Sondern dir hiermit wünschen musst“, vollendete sie schließlich den Satz und ließ sich ein Stück absinken, bevor sie ihren kleinen Finger auf seine Brust drückte. Genau auf sein Herz. „Du konntest mich nicht abstürzen lassen“, sie verzog das Gesicht bei dem Gedanken daran, „weil du es eigentlich gar nicht wolltest.“ Luca funkelte sie einen Augenblick wütend an. Warum machte sie ihm erst Hoffnungen darauf alles tun und lassen zu können, was er wollte und machte diesen Wunsch kurz darauf direkt wieder zu Nichte? So etwas war unfair und seine Mama hatte ihm immer gesagt, dass man zu Kindern niemals unfair sein sollte. Das war feige, weil sie sich nicht wehren konnten. Der Gedanke an seine Mutter tat weh, war wie ein Stich in seine Brust. Er vermisste sie, vermisste es von ihr in den Arm genommen zu werden, zu spüren, wie sie ihm freundlich übers Haar strich, vermisste es ihr Lächeln zu betrachten. So sehr, dass es schon wehtat. Auf einmal spürte er, wie ihm wieder eine Träne die Wange hinab lief und beschämt wandte er wieder den Kopf ab, damit Laila sie nicht sah. Er durfte nicht weinen, er musste stark sein, keine Schwäche zeigen. Er stand für seine Familie, für alles was noch da war. Er konnte es sich nicht leisten seine Familie und ihr Ansehen zu verraten in dem er von allen nur als ein kleiner, weinender Junge angesehen wurde. Er hatte einmal gehört wie jemand gesagt hatte, dass die Personen, die starben, durch ihre Nachkommen weiter lebten und man sie durch die Existenz ihrer Kinder für lange Zeit nicht vergessen würde. Luca wollte nicht, dass man seine Eltern vergessen würde, er wollte, dass man sich an sie erinnerte. Durch ihn. Und genau deshalb durfte er kein kleiner Junge sein. Was würden seine Eltern sagen, wenn man sie nur als ein kleines, heulendes Kind in Erinnerung behalten würde? Das konnte er nicht zulassen, er würde alles tun um das zu verhindern, um die Erinnerung an seine Eltern in die Welt hinauszutragen. Mit einem Ruck wischte er sich die Träne von der Wange, er tat es schnell und unüberlegt, so dass er sich mit einem Finger ins Auge stach. Der Schmerz ließ ihn die Lider fest zusammenkneifen, aber er ertrug ihn still ohne einen Laut des Kummers. Es war seine Strafe dafür, dass er das Andenken seiner Eltern mit Tränen befleckt hatte, anstatt zu lächeln. Er hatte es verdient und konnte nur von Glück reden, dass er noch nicht wieder in der Realität war, sondern noch immer von seinem eigenen Traum gefangen gehalten wurde. Hier konnte niemand seine Schwäche sehen. Er blinzelte vorsichtig und stellte fest, dass sein Auge noch immer leicht tränte. Er wischte sich noch einmal vorsichtig durchs Auge und wandte sich dann wieder Laila zu. „Es wird Zeit, dass ich endlich gehe“, sagte er. „Ich bin ohnehin schon zu lange hier, meine neuen Pflegeeltern machen sich bestimmt Sorgen, wenn ich so lange nicht aufwache.“ Die kleine Elfe lächelte. „Ich wäre mir da ja nicht so sicher“, sagte sie. „Warum nicht? Glaubst du etwa, sie sorgen sich nicht um mich?“ „Tun sie es denn?“ Luca schwieg. Es ging das kleine Wesen, das noch immer durch die Luft spazierte und sich beharrlich weigerte abzustürzen, rein gar nichts an, dass seine Pflegeeltern nett waren, aber er trotzdem nicht bei ihnen sein wollte. Die Tatsache, dass er Ersatzeltern bekommen hatte, zeigte, dass er noch klein war. Und er wollte nicht klein sein. „Warum sollten sie sich denn nicht um mich sorgen?“, fragte er und spürte ein paar Grashalme an seinem Arm. Sie strichen vorsichtig über seine Haut. Tröstend. „Ich war zwar noch nie in der anderen Welt-“ „In der richtigen Welt“, korrigierte Luca sie, doch die kleine Frau ignorierte den Einwurf. „-,aber ich würde trotzdem sagen, dass hier alles anders ist als dort. Alles. Warum nicht auch die Zeit?“ „Wie soll sich denn die Zeit ändern?“, fragte der Junge spöttisch und kam sich mit einem Mal groß und erwachsen vor, wie er da vor der kleinen Elfe stand und im Gegensatz zu ihr wusste, dass man die Zeit nicht anhalten konnte. „Wie kann ich fliegen, wo ich doch gar keine Flügel habe?“, entgegnete sie und breitete die Arme aus, während sie ein Stück nach oben stieg und ihm nun direkt in die Augen sehen konnte. „Vielleicht ist diese Welt, die du erschaffen hast, einfach zeitlos und du kannst in deinen Träumen kommen, wann immer du willst, ohne, dass du irgendetwas in deiner Welt verpasst.“ „Ich hab diese Welt nicht erschaffen verdammt noch mal! Ich wüsste es doch wenn ich irgendwann einmal an Gras gedacht hätte, dass einen gerne umarmt oder irgend so einen Schwachsinn.“ „Wenn du sie nicht erschaffen hast, wer dann?“, fragte die Elfe. „Keine Ahnung! Ich war es jedenfalls nicht.“ „Vielleicht hast du es unbewusst getan.“ „Nein, nein, nein! Ich war das nicht! Wenn ich mir irgendetwas wünschen könnte, dann wären es meine Eltern, verstehst du? Wenn ich auch nur einen einzigen Wunsch frei hätte, dann würde ich meine Eltern wieder sehen wollten und damit nicht irgendeine dumme Welt erschaffen! Und sie sind hier nirgendwo. Nirgendwo! Und deshalb kann ich es gar nicht gewesen sein!“ Mit jedem Wort wurde er immer wütender, immer lauter, so dass er zum Schluss sogar schrie, aber es änderte nichts. Noch immer stand er dort auf dieser Wiese und alles war wie vorher. Er war nicht zurückgekehrt. Obwohl er es bis vor kurzem doch in Erwägung gezogen hatte, dass all das hier von ihm geschaffen worden war. Jetzt zweifelte er. Nur Kinder glaubten an so etwas. Und er war kein Kind. Frustriert drehte er sich von der Elfe weg und stapfte los. Er setzte einen Schritt vor den anderen und gönnte sich keine Ruhe, während er die scheinbar endlose Wiese überquerte und auch als er bemerkte, dass die Grashalme um ihn herum immer kleiner wurde und ihm zum Schluss gerade einmal über die Knöchel reichten, lief er weiter. Erst als er die letzten der grünen Halme hinter sich gelassen hatte, blieb er stehen. Unter seinen Füßen befand sich nun eine rötliche Erde, die hart und trocken war. Luca machte noch ein paar Schritte nach vorne und jedes Mal, wenn seine Füße den Boden berührten, stieg eine kleine Staubwolke auf. Vereinzelt wuchsen noch kleine Pflanzen, die sich mit aller Kraft nach oben streckten und versuchten dem tödlichen, trockenen Staub zu entkommen. Luca hob den Blick und betrachtete seine Umgebung. Hinter ihm die kleinen grünen Halme die sich zum Horizont hin zu einer grünen Massen entwickelten und vor ihm diese kahle Landschaft, regiert von Staubhügeln, die alles Leben bedeckten. Von so etwas hatte er noch nie geträumt. So etwas hatte er sich noch nie gewünscht. Noch ein Beweis dafür, dass diese Welt unmöglich seiner Fantasie entspringen konnte und was all das um ihn herum stattdessen sein konnte, das interessierte ihn nicht. Er wollte es nicht wissen, er wollte hier weg. Und hier irgendwo musste ein Ausgang sein. Er ging weiter, aber nachdem er ein paar Schritte in die Einöde gemacht hatte, hörte er wieder ihre Stimme: „Ich finde, wir sollten umkehren.“ Laila klang ein wenig schockiert, vielleicht auch traurig, Luca war sich nicht ganz sicher, aber er drehte sich dennoch nicht zu ihr um, als er fragte: „Warum?“ „Nun, ich finde, dass das hier nicht unbedingt die schönste Ecke diese Welt ist.“ „Kennst du sie etwas?“ „Ja, ich habe schon einige Male meine Erfahrungen mit diesem Staub gemacht.“ „Man kann damit doch keine Erfahrungen machen! Es ist einfach nur ein Stück Land, das anders aussieht als die Wiesen und Wälder, die man sonst überall zu sehen bekommt.“ „Nein Luca.“ Dem Jungen fiel auf, dass Laila ihn jetzt das erste Mal überhaupt mit seinem Namen angesprochen hatte. Er sah sie noch immer nicht an, aber ihre Stimme klang ernst – sehr ernst. „Ich weiß nicht, wo dieser Staub herkommt. Ich bin eine Weile durch diese Welt spaziert ohne ihn je zu Gesicht bekommen zu haben, aber es ist nun das dritte Mal, dass ich auf ihn treffe und ich weiß bis heute nicht, wo er herkommt.“ „Vielleicht bist du vorher einfach nur nie an dieser Stelle vorbei gekommen.“ „Nein, daran liegt es nicht. Dieser Staub gehört hier nicht hin und er war ganz am Anfang auch nicht da. Nirgendwo. Und dann ist er vor einer Weile auf einmal wie aus dem Nichts aufgetaucht und er macht sich immer breiter. Wie ein gefräßiges Tier schluckt er alles um sich und gibt es nie wieder frei. Bitte lass uns umkehren." Luca starrte in die scheinbare endlose Weite hinaus und er konnte keine Veränderung ausmachen. Es war, als würde die vom Staub bedeckte Einöde bis in die Ewigkeit weitergehen, ohne, dass irgendetwas dahinter kam. Es fröstelte ihn, obwohl nicht der Hauch eines Windes blies, und er rieb sich die Arme. „Aber was ist, wenn hier irgendwo der Ausgang ist?", murmelte er leise. Er schaffte es nicht, sich von dem kahlen Anblick loszureißen und fühlte eine seltsame Leere in sich. Laila ließ sich elegant auf seiner Schulter nieder, schaute in dieselbe Richtung wie er und sagte schließlich: „Ich weiß nicht, ob hier irgendwo ein Ausgang ist, aber wenn es hier einen geben sollte, dann glaube ich nicht, dass es der wäre, der am besten für dich sein würde.“ Der kleine Junge reagierte erst nicht, aber nach einer Weile nickte er schließlich ergeben und Laila seufzte vor Erleichterung auf. Zusammen wandten sie sich von dem schrecklichen Anblick der Leere und Düsternis ab und obwohl Luca es sich eigentlich nicht eingestehen wollte, musste er doch zugeben, dass er froh darüber war, nicht allein zu sein, sondern Laila bei sich zu haben. Bis jetzt war sie nur eine kleine Elfe gewesen, die Bestandteil dieses schrecklich schönen Albtraums war, aus dem er einfach nicht auszubrechen vermochte. Aber jetzt, da sie zusammen diese Einöde gesehen hatten, da sie ihn davor bewahrt hatte, alleine dort hinein zu gehen und nach einem Eingang zu suchen…jetzt war sie auf einmal ein bisschen mehr. Sie war wie eine Freundin, die ihm beistand, auch wenn er schon oft unhöflich zu ihr gewesen war. Ein schlechtes Gewissen erfüllte Luca als er daran dachte, wie er sich gewünscht hatte, dass sie abstürzte, ohne dass sie ihm etwas getan hatte und jetzt war er froh darüber, dass er es nicht geschafft und sie nicht gefallen war. Er spürte, wie sein Gesicht ein wenig heiß wurde und konnte es kaum noch glauben, dass er wirklich versucht hatte dem kleinen Wesen weh zu tun. Große Leute, erwachsene Leute sollten nicht unhöflich sein, sie wussten sich zu benehmen, zumindest hatte sein Papa das einmal gesagt, als er ihn gefragt hatte, wo denn der Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern war. Luca hatte es ihm bis vor kurzem nicht glauben wollen, aber seitdem seine Großmutter gestorben war, hatte er das Gefühl, dass sein Papa doch Recht gehabt hatte. Bei der Beerdigung waren viele Menschen gewesen und ein jeder hatte sich zu benehmen gewusst und Luca konnte sich noch ganz genau daran erinnern, dass jeder von ihnen geweint hatte, obwohl er sich sicher war, dass viele von ihnen seine Großmutter schon seit Jahren nicht mehr gesehen oder überhaupt gekannt hatten. Eigentlich war das ja ein wenig seltsam, aber er hatte sich dem Ganzen gefügt. Das war die Welt der Erwachsenen, die richtige Welt und nicht irgendeine schwachsinnige voller gelber Bettdecken, die gelb waren, weil sie es sich wünschten. Kapitel 4: ...sonst... ---------------------- ~.~ Mit jedem Schritt den Luca tat, entfernte er sich weiter von der vom Staub erstickten Ebene und je größer die Entfernung wurde, desto wohler wurde ihm ums Herz und das erste Mal überhaupt regte sich Interesse in ihm. Interesse und Sorge für diese eigenartige Welt. Was war, wenn sich er Staub weiter verbreiten würde? Was, wenn er immer weiter wehen würde, bis er schließlich das grüne Gras unter sich begrub, so dass sie ihre Halme nicht mehr nach jedem ausstrecken konnten, der zwischen ihnen hindurch ging? Eigentlich war es ja nicht schlimm, schließlich war es nur irgendein Traum, zumindest behauptete Laila das. Und wenn es wirklich so war, dann würde er rein theoretisch auch in der Lage sein jeder Zeit einen Neuen zu schaffen. Luca dachte eine Weile darüber nach, während seine kleinen Beine immer schwerer wurden. Als er schließlich so müde war, dass er keinen Schritt mehr gehen konnte, blieb er einfach stehen und ließ sich erschöpft nach hinten fallen. Das Gras fing ihn eilig auf und bettete ihn sanft auf den Boden. Luca regte sich nicht und blieb einfach still liegen, während er immer wieder tief Luft holte und hinauf zu Himmel starrte. Er war seltsam klar und erst jetzt – wo er ihn das erste Mal so genau betrachtete – fiel Luca auf, dass das sanfte Blau über ihm von bunten Streifen durchzogen war. Rote, Grüne, Gelbe…wie viele kleine Milchstraßen zogen sie sich durch das Blau hindurch und bildeten ein wirres Muster, das eine seltsame, bizarre Schönheit ausstrahlte. Angestrengt versuchte er eine der bunten Linien zu verfolgen, aber er verlor sie schon bald und starrte einfach nur hinauf auf und betrachtete den bunten Himmel. „Es heißt, die bunten Streifen kommen von kleinen Kobolden, die furchtbar neugierig sind und immer und immer wieder über diese Welt hinweg fliegen um sie betrachten zu können und alles zu sehen, was sich tut.“ Lailas Stimme kam von irgendwo neben Luca. Auch sie hatte sich rücklings auf den Boden gelegt, während ihr Lucas faszinierter Blick nicht entgangen war. Dem Jungen kam die Geschichte allerdings bekannt vor und vor seinem geistigen Auge begannen Bilder herumzuwirbeln. Er und sein Vater gingen spazieren. Sie hatten sich an der Hand gefasst und Luca hatte alles fragen dürfen, was er wissen wollte. „Papa, warum ist der Himmel blau?“ „Warum sollte er nicht blau sein?“ „Ich weiß es nicht.“ „Na siehst du.“ „Ja, aber warum ist er denn nicht rot, oder grün?“ „Willst du denn, dass der Himmel rot ist? Das sähe doch ein bisschen seltsam aus, findest du nicht?“ „Nein, ganz rot soll er nicht sein. Aber bunt. Ein blauer Himmel mit vielen bunten Streifen, das fände ich schön.“ „Das würde dir also gefallen? Gut, dann stellen wir uns einfach vor, dass der Himmel voller bunter Streifen wären, aber wo kommen die her?“ „Riesenbienen.“ „Riesenbienen? Bist du sicher?“ „Nein…ich habe noch die eine Riesenbiene gesehen.“ „Woher weißt du dann, dass es sie gibt?“ „Ich habe mal von einer geträumt. Sie war so groß wie unser Haus und hatte einen riesigen Stachel.“ „Und die machen die bunten Streifen?“ „Ich weiß es nicht. Woher kommen die bunten Streifen Papa?“ „Mhm, vielleicht sind es ja Kobolde.“ „Was sind Kobolde?“ „Ich weiß nicht, was glaubst du denn, was Kobolde sind?“ „Vielleicht sind es ja kleine Kinder, die durch die Luft fliegen können!“ „Kinder, die fliegen können? Wie kommt das denn?“ „Sie wollten alles sehen und deshalb haben sie fliegen gelernt. Ist das so Papa?“ „Wenn du das sagst, dann hast du bestimmt Recht.“ „Hast du schon mal ein kleines fliegendes Kind gesehen, Papa?“ „Nein, das habe ich noch nicht.“ „Woher weißt du denn dann, dass es sie gibt?“ „Nur weil ich noch nie eines gesehen habe, heißt es ja nicht, dass es sie nicht gibt. Hast du schon mal einen echten Elefanten gesehen?“ „Nein, aber du hast gesagt, dass wir bald in den Zoo gehen.“ „Ja, das machen wir auch noch. Aber hast du jetzt schon einmal einen echten Elefanten gesehen?“ „Nein.“ „Aber es gibt sie, oder nicht? Auch wenn du sie noch nicht gesehen hast.“ „Ja, ich glaube schon.“ „Na siehst du.“ Kobolde die über den Himmel sausten. Waren es vielleicht die kleinen Kinder, die er sich damals vorgestellt hatte? „Wo genau sie herkommen weiß keiner und bis heute hat auch noch nie jemand einen solchen Kobold gesehen.“ „Woher wisst ihr dann, dass es sie gibt?“, fragte Luca und drehte den Kopf zu der kleinen Elfe, die ihm auf einmal furchtbar jung vorkam. Erwachsene wussten doch, dass man Dinge erst dann glauben sollte, wenn man sie gesehen hatte. Laila drehte ebenfalls den Kopf und starrte ihn verständnislos an. „Warum sollte es sie nicht geben?“, fragte sie verwirrt. „Weil ihr sie noch nie gesehen habt.“ „Ja, aber da sind doch die bunten Streifen!“ Luca dachte einen Moment daran, dass es ja vielleicht auch Flugzeuge sein konnten, ganz schnelle, die anstatt des weißen Qualms bunten hinterließen, aber er sagte nichts. Eigentlich fand er die Idee von den kleinen Kobolden schöner. Kleine fliegende Kinder. Wie es wohl war, wenn man fliegen konnte, so wie Laila und die kleinen Kinder, die über der Erde hin und her sausten? Ob er wohl möglich war, dass auch er fliegen konnte, wenn er es sich wünschte? Einen Moment lang konzentrierte er sich ganz fest darauf in die Luft steigen zu können, aber nichts geschah und er schloss erschöpft die Augen. Vielleicht musste er sich noch ein wenig mehr anstrengen, damit es funktionieren konnte, aber dafür war er jetzt zu müde. Doch bevor er diese Welt verlassen würde, würde er es auf jeden Fall noch einmal ausprobieren, das nahm er sich ganz fest vor, bevor sich schließlich auf die Seite drehte, zusammenrollte und einschlief. Als seine Sinne sich zurück in die Welt stahlen, fühlte er sich noch immer müde und erschöpft und schaffte es nicht seine Augen zu öffnen. Stattdessen lauschte er dem leisen, liebevollen Summen, das an sein Ohr drang. Es gab ihm das Gefühl geborgen zu sein und an irgendetwas erinnerte es ihn, auch wenn noch nicht sagen konnte, was es war. Aber er machte sich keine weiteren Gedanken darüber, er lag einfach nur da und hörte zu. Wen interessierte schon, wo es herkam, wenn es so wunderschön war? Luca wusste, dass es so etwas zu Hause nicht gab, also würde er die wunderschöne Melodie einfach genießen. Wer wollte ihm deswegen schon böse sein? Niemand konnte hier her kommen und mit ihm schimpfen, niemand konnte ihn hier erreichen und wenn er zurückging, dann konnte er immer noch erwachsen sein. Luca gähnte müde und drehte sich auf die Seite und eine Hand strich ihm liebevoll über den Rücken und verwundert blinzelte er, aber noch bevor er seine Augen ganz aufschlagen und denjenigen, der ihm vorgesungenen hatte erblicken konnte, war er auch schon wieder verschwunden. Verwirrt schaute der Junge sich suchend in der Umgebung um, aber nirgendwo gab es einen Hinweis darauf, dass so eben jemand hier gewesen und ihm heimlich Gesellschaft geleistet hatte. Eigentlich war es ja ein wenig seltsam, dass man in einem Traum träumen konnte, oder nicht? Luca dachte einen Moment lang darüber nach, verwarf den Gedanken daran aber schnell wieder. Wenn interessierte schon, ob es komisch war oder nicht. Immerhin gab es hier Kobolde, die am Himmel entlang liefen und gelbe Bettdecken, die gelb waren, weil sie gelb sein wollten. Da war das mit seinem Traum im Traum ja noch vergleichsweise harmlos. Der Junge gähnte laut und streckte sich und betrachtete seine Umgebung. Sie war genauso, wie zu dem Zeitpunkt, an dem er eingeschlafen war. Aus irgendeinem Grund erleichterte ihn das und erst jetzt wurde im klar, dass er es schade gefunden hätte, wenn er wieder bei seiner Pflegefamilie aufgewacht wäre. Lieber wollte er noch einmal durch diese Welt wandern und sich in Ruhe von ihr verabschieden. Schließlich hatte er Zeit, oder etwa nicht? Laila hatte gesagt, dass es ja sein könnte, dass sie Zeit hier anderes verging, als in der Realität und selbst wenn nicht. Wer würde ihn schon vermissen? Seine neuen Eltern? Sicher, sie würden sich Sorgen machen, sie würden alles tun um ihn wieder zu finden, aber würden sie ihn auf Dauer richtig vermissen, so wie er seine Eltern vermisste? Jetzt, da er erst wenige Tage in dieser neuen Familie verbracht hatte, konnte er das nicht glauben. Niemand war in der Lage ihn so zu vermissen, wie ihm seine Eltern fehlten und niemand war in der Lage ihn so zu lieben, wie Mama und Papa es getan hatten. Eine Träne lief ihm über die Wange, aber Luca merkte es gar nicht. Er war in Gedanken ganz woanders, sehnte sich danach umarmt zu werden, so sehr, dass er gar nicht registrierte, dass es nur die Grashalme waren, die sich ausstreckten und seine Haut tröstend streichelten, und nicht seine Eltern. Und dann, traf er auf einmal eine Entscheidung. Er würde sich weigern diese Welt zu verlassen, bevor er nicht seine Eltern gefunden hatte. Hier war alles, was er sich wünschte, alles, was er sich jemals ausgemalt und erträumt hatte – irgendwo hier mussten seine Eltern sein. Sie mussten hier sein. Und er würde sie finden. Oder für immer hier bleiben. Entschlossen marschierte er los. Schritt vor Schritt, immer weiter. Den Kopf hoch erhoben, damit er sie auch ja nicht übersehen konnte. „Hey, wo willst du denn hin?“, hörte er auf einmal Laila hinter sich rufen und blieb abrupt stehen. Die kleine Elfe hatte er ganz vergessen. Er drehte den Kopf nach hinten und sah sie heran fliegen. Ungeduldig wartete er auf die kleine Frau und sobald sie sich auf seiner Schulter niedergelassen hatte, marschierte er weiter. „Warum haben wir es denn auf einmal so eilig?“, wollte sie interessiert wissen und drehte sich eine Haarsträhne um ihre kleinen Finger. „Ich muss jemanden finden“, antwortete Luca knapp und schaute sich weiter suchen um. „Nicht zu fällig deine Eltern, oder?“, hakte die kleine Elfe schließlich nach ein paar Minuten des Schweigens nach. „Ja.“ „Wie kommst du auf die Idee, dass sie hier sind?“ „Du hast gesagt, dass alles, was ich mir wirklich wünsche, hier zu finden ist.“ „Und du wünscht dir Eltern?“ „Nein! Ich wünsche mir meine Eltern.“ Jetzt weinte der Junge und beschämt wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht. Wenn seine Eltern wirklich irgendwo hier sein sollten, dann wollte er ihnen nicht weinend wie ein kleines Kind begegnen. „Ah. Und was ist wenn du in die falsche Richtung läufst?“ Er blieb stehen. „Weißt du wo sie sind?“ „Nein.“ „Wie kannst du dann wissen, ob ich in die falsche Richtung laufe oder nicht?“, fauchte Luca und ging weiter. „Na ja. Ich meine mich zu erinnern, dass in der Richtung, in die du jetzt gerade gehst, auch schon Sand lag. Also dieser Staub, du weißt schon was ich meine.“ „Und warum sollten sie da dann nicht sein?“ Luca war genervt und fühlte sich ausgenutzt. Das einzige was er wollte, war doch einfach nur seine Eltern wieder treffen, was war daran so schlimm? Und außerdem wurmte es ihn ein wenig, dass Laila schon wieder Recht hatte. Auch wenn er es nicht zugeben wollte, er wusste genau, warum seine Eltern dort nicht sein würden. Der Staub gab einem das Gefühl von Hilflosigkeit, die Ebene, die von ihm bedeckt wurde, wirkte so unendlich kahl und einsam. Nein, da würden sie nicht sein. Die Gegend war einfach zu hässlich. „Na schön. Dann drehen wir halt rum.“ Sein Tonfall war aggressiv und die kleine Elfe antwortete nicht. Stattdessen starrte sie einfach nur umher, ob auf der Suche nach jemandem, den sie kannte, seinen Eltern, oder irgendetwas anderem, das wusste Luca nicht. Und auch wenn er neugierig war, traute er sich nicht, zu fragen. Schweigend ging er weiter und je mehr Zeit verstrich, desto größer wurde die Sehnsucht. Er wollte zu seinen Eltern. Er wünschte es sich so sehr, wie schon lange nicht mehr. Durch diesen bescheuerten und kindischen Traum, waren sie ihm wieder so nahe! Sie waren nicht einfach tot und weg, sie waren irgendwo hier und wenn er nur lange genug nach ihnen suchen würde, dann würde er sie irgendwann finden. Aber wie lange, war lange genug? Er lief und lief und schon bald hatte er das Gefühl, hunderte von Kilometern zurückgelegt zu haben. Seine Beine wurden müden, die Füße immer schwerer und er war bereits versucht, sich wieder einfach ins Gras fallen zu lassen und zu schlafen, aber er hatte Angst, dass er dann woanders wieder aufwachen würde. Er durfte nicht schlafen. Nicht, bevor er nicht seine Eltern wieder gesehen hatte. „Ich glaube, dahinter ist ein Weg“, rief Laila auf einmal in die Stille hinein. Sie schwebte etwa einem Meter über ihm, da sie gemerkt hatte, wie er wieder müde wurde, und auch wenn sie nicht sonderlich schwer war, wollte sie kein zusätzliches Gewicht für ihn darstellen. „Ein Weg?“ Luca blieb stehen. Er war erschöpft, richtig erschöpft, aber die Hoffnung, endlich am Ziel zu sein, gab ihm neue Kraft. „Wo?“ „Dahinten“, antwortete die Elfe und zeigte auf eine Stelle rechts von ihm. „Obwohl, als richtigen Weg, würde ich es nicht bezeichnen. Es sieht er aus wie Trampelpfad, der da einfach so mitten im Gras anfängt.“ „Einfach so?“ „Ja. Da ist nichts. Aber trotzdem fängt da dieser Pfad an. Wollen wir ihm folgen?“ Wo ein Weg war, da waren schon einmal Menschen hergegangen, woher sollte er sonst stammen? Und weil Luca in dieser Welt noch keinen einzigen Menschen getroffen hatte, konnte er nur von seinen Eltern stammen. „Ja.“ „Dann hau mal rein, Kleiner“, entgegnete die Elfe und flog voraus. Es dauerte nicht lange, bis sie den Pfad erreicht hatten und sie folgten ihm eine ganze Weile, aber er schien kein Ende nehmen zu wollen. „Kannst du schon etwas sehen?“, fragte Luca schließlich, aber Laila schüttelte nur den Kopf. „Nein, tut mir Leid. Aber wenn du willst, dann können wir ja mal eine Pause machen.“ Der Junge biss die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf. „Wir gehen weiter“, erwiderte er. Und sie gingen weiter und zu Lucas Erleichterung tat sich doch etwas. Der Weg wurde breiter und immer fester, so, als würde er regelmäßig benutzt werden. Und dann machte er eine Kurve – und war zu Ende. Erstaunt blieb Luca stehen. Vor ihm lag ein riesiger See, aber nichts weiter. Nur das Wasser. Kein Schiff, kein Haus, keine Brücke, kein weiterer Weg, der irgendwo hinführen konnte. Enttäuscht ließ Luca die Schultern hängen. Er war immer noch nicht da. „Luca?“ Er schaute auf. „Sieh mal dahinten.“ Er starrte auf den See hinaus. Nichts. „Nicht da. DA!“ Er drehte den Kopf und blickte am Ufer des Sees entlang und erblickte einen Steg. Ein paar hundert Meter von ihm entfernt. Er ragte ein paar Schritte weit aufs Wasser hinaus und ganz am Ende war ein kleines Boot vertäut. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Du ruderst“, stellte Laila klar, aber Luca war bereits losgerannt und hörte es gar nicht mehr. Leise seufzend folgte die kleine Elfe ihm und holte ihn am Steg dann wieder ein. Der Junge war bereits dabei, in das Boot zu klettern und schien gar nicht zu bemerken, dass es gar keine Ruder gab, um das kleine Schiff vom Fleck zu bewegen. Die kleine Elfe dachte gerade darüber nach, wie sie den Jungen möglichst schonend auf diese Tatsache aufmerksam machen sollte – er wirkte so fröhlich, seit er diese Hoffnung in sich trug und Laila wollte seine Freude nicht kaputt machen – als die kleine Holzschale sich wie von Zauberhand zu bewegen begann und langsam auf den See hinaus steuerte. Laila schaute überrascht hinter Luca her, der es sich jetzt in dem Boot bequem machte, dann beeilte sie sich ihm zu folgen. Sie würde den Jungen schließlich nicht alleine lassen, das wäre ja noch schöner. Sobald sie ihn eingeholt hatte, ließ sie sich auf dem Rand des Bootes nieder und schielte zur ihrem kleinen Schützling herüber. Er war schon wieder eingeschlafen, so müde war er von der ganzen Lauferei geworden. Seine blonden Haare hingen ihm in die Stirn und sein Kopf war nach vorne gefallen und ruhte jetzt erschöpft auf seiner Brust. Laila beschloss ihn schlafen zu lassen, er hatte es sich verdient und da niemand sagen konnte, was in einer Welt wie dieser als nächsten geschah, war es wahrscheinlich am besten, wenn er sich ausruhte, wann immer er die Möglichkeit dazu hatte. Kapitel 5: …stürze ich noch ab. ------------------------------- ~.~ Das Boot fuhr weiter und weiter, bis man das Ufer kaum noch sehen konnte und Luca und Laila schließlich von den Wassermassen umgeben waren. Der Junge schlief noch immer und Laila betrachtete das feuchte Nass um sie herum. Sie hatte keine Angst davor, denn das Wasser war vollkommen glatt und nur die Wellen, die ihr kleines Boot hinterließ, waren zu sehen. Die Stille um sie herum empfand Laila als angenehm und sie fand es schön, einfach so in die Leere hineinzulauschen, während sie darauf wartete, dass Luca wieder erwachte. Aber bevor er die Augen aufschlug, konnte die kleine Elfe in der Ferne etwas ausmachen. Es war etwas, das auf dem Wasser schwamm und das Boot schien direkt darauf zu zusteuern. Neugierig richtete sie sich ein wenig auf und als das so gut wie gar nichts brachte, ließ sie sich zwei Meter in die Luft steigen. Viel erkennen konnte sie noch immer nicht, dafür waren sie einfach noch zu weit entfernt, aber je näher sie kamen, desto größer wurde es, bis Laila schließlich eine Art großen, runden Pavillon erkannte, der auf dem Wasser trieb. Darum herum flackerten viele kleine Lichter, die ebenfalls auf dem Wasser zu schwimmen schienen. Ihre Augen wurden vor Überraschung immer größer und ihre Ungeduld brachte sie dazu, sich wieder in das Boot herabsinken zu lassen und dort unruhig hin und her zu gehen. Sie lebte schon lange in dieser Welt – wie lange genau, dass wusste sie nicht - und sie hatte schon vieles gesehen, manches nur ein einziges Mal, bevor es dann wieder für immer verschwand, anderes war dauerhaft gewesen und hatte bestand, selbst an einem so vielseitigem Ort wie dieser einer war. Das Gras zum Beispiel. Diese hohen Halme, die sich nach allem und jedem streckten, der in ihrer Nähe war und dann seine Haut liebkoste. Aufgetaucht war es das erste Mal vor knapp einem Jahr. Erst ein paar Halme, die spärlich aus dem Boden geragt hatten, dann immer mehr. Rasend schnell hatten sie sich vermehrt und so große Flächen eingenommen, dass man Tage zu brauchen schien, bis man das Land, das es schließlich beansprucht hatte, durchquerte. Und Laila hatte das Gefühl, dass es immer noch dabei war sich zu vermehren, sich auszubreiten. Aber dieser große See und vor allem der darauf schwimmende Pavillon, umgeben von Lichtern, waren ihr vollkommen neu. Noch immer gespannt auf das, was kommen würde, ging sie weiter hin und her, bis das Boot schließlich vorsichtig an einem Steg andockte. Sie stieg etwas in die Luft und schaute sich neugierig und zu gleich misstrauisch um. Zwar war ihr in dieser Welt bis auf den Sand noch nie etwas Böses begegnet, aber vor allem an dem Tag, an dem sie Luca das erste mal getroffen hatte, hatte sie den Eindruck gewonnen, dass seine Fantasie nicht immer…nun ja, nicht ganz richtig war. Aber seit dem Beginn seines Aufenthalts hatte es sich eindeutig gebessert. Dennoch, sicher war sicher. Das Boot lag noch immer an dem Steg, genau so, dass man ohne Probleme daraus aussteigen konnte. Es verharrte an der Stelle und schien darauf zu warten, dass Luca wach wurde, aufstand und auf den Steg kletterte. Aber der Junge schlief und Laila war sich nicht sicher, ob sie ihn wecken sollte. Sie zögerte, aber noch bevor sie zu einer Entscheidung kommen konnte, sah sie eine Gestalt am Ende des Stegs, die auf sie zukam. Mit jedem Schritt den sie tat, wurde sie größer, fast schon bedrohlich, aber als ihre Züge schließlich erkennbar wurden, sah Laila, dass das Gesicht des Mannes freundlich war. Seine Augen glänzten fröhlich und seine Lippen waren zu einem Lächeln verzogen. Er kam immer näher und auch wenn Laila anfangs hatte flüchten wollen – wenigstens für ein paar Sekunden – so wartete sie jetzt ab. Der Mann kam bis an das Boot heran, sah sie, lächelte noch breiter und legte sich einen Finger auf die Lippen. Dann wandte er sich an Luca, der noch immer friedlich schlief, streichelte ihm vorsichtig über die Wange und hob ihn dann ohne Probleme aus dem Boot. Den kleinen Kinderkörper fest und zugleich liebevoll an sich gedrückt, zwinkerte er der kleinen Elfe zu, bedeutete ihr, ihm zu folgen und drehte sich um. Mit zwei Metern Abstand folgte Laila ihm und sah ihm dabei zu, wie er langsam, aber kraftvoll den Steg entlang schritt, immer weiter auf den riesengroßen Pavillon zu. Von nahem wirkte er noch seltsamer, als aus der Ferne. Verwundert zog Laila die Augenbrauen hoch und betrachtete das fein geschnitzte Holz der Pfeiler, die das kunstvolle Dach trugen und an denen grüne Pflanzen hinauf wucherten, wie sie es noch nie gesehen hatte. Im Innern des runden Unterstandes stand eine große, runde Liegefläche, auf der eine Frau mit langen blonden Haaren saß. Neben ihr lag ein kleines Mädchen, das sich in eine dünne Decke gekuschelt hatte und augenscheinlich schlief. Der Blick der Frau lag auf dem Mann und Luca, der noch immer friedlich schlummernd von ihm getragen wurde. Sie lächelte und strahlte dabei eine unglaublich sympathische Aura aus. Der Mann legte den kleinen Jungen vorsichtig vor ihr auf dem weichen Bett ab und bettete seinen Kopf sanft in dem Schoss der Frau. Deren Hände wanderten direkt zu Lucas Gesicht, strichen ihm vorsichtig über die Nase, die Lippen und schließlich durch die Haare. Der kleine Junge seufzte leise auf und einen Moment lang dachte Laila, dass er aufwachen würde, aber er drehte sich nur ein Stückchen, kuschelte sich näher an die Frau heran und schlief weiter. Die Fremde lächelte erfreut und streichelte ihm liebevoll über den Rücken und auch der Mann ließ sich jetzt auf der großen Liegefläche nieder und küsste den Jungen sanft auf die Stirn. Und auf einmal wusste Laila, wer diese Leute waren. Es war seine Familie. Seine Mutter, sein Vater, seine Schwester. All die, die er seit so langer Zeit vermisste. Sie hatten hier auf ihn gewartet, hier in diesem seltsamen Pavillon. Aber warum? Warum ausgerechnet hier? „Ich danke dir dafür, dass du auf ihn aufgepasst hast“, fing seine Mutter auf einmal an zu reden. Ihre Stimme war samtweich und Worte die sie damit formte, schienen wie Musik durch die Luft zu schweben. „Ich weiß nicht, ob er ohne deine Hilfe noch einmal zu uns gefunden hätte.“ Laila verstand nicht, sie wusste nicht, was die Frau meinte. Warum hätte er nicht hierher finden sollen? „Ich glaube, er wird wach“, murmelte der Mann und sie richtete ihren Blick wieder auf den kleinen Jungen, der auf einmal so schutzbedürftig wirkte, nicht so selbstsicher und erwachsen wie vor ein paar Tagen. Er wälzte sich ein wenig hin und her, blieb schließlich still liegen und rieb sich mit den Händen einmal die Augen, bevor er sie dann öffnete und die Frau anstarrte. Und es schien, als könnte er damit nicht aufhören, sich nicht satt sehen an dem nahezu perfektem Gesicht, der feinen hellen Haut, dem freundlichen Lächeln. „Mama?“, fragte er schließlich, aber der Ton seiner Stimme war ehr skeptisch als fröhlich. „Ja, mein Schatz“, antwortete sie und strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn. „Es freut mich, dass du noch gekommen bist, ich hatte schon Angst, dass du uns gar nicht mehr besuchst.“ Luca starrte sie weiter an, dann – mit einem Mal- setzte er sich ruckartig auf und schaute sich um. Seine Stirn stand in Falten als er den Ort betrachtete, an dem er sich befand. „Wo bin ich?“, flüsterte er schließlich und als er die kleine Elfe entdeckte, die sich auf dem Geländer nieder gelassen hatte, wandte er sich an erster Linie an sie. „Wo bin ich?“, wiederholte er. Hilflos. Aber anstatt zu antworten zuckte Laila nur mit den Schultern. „Sag schon“, sagte er, flehte die kleine Frau beinahe an. Irgendwie verwunderte sie das. Eine Ewigkeit war er umhergewandert um seine Eltern zu treffen und jetzt, da es endlich so weit war, schien er es nicht wahrhaben zu wollen, schien er nicht sehen zu können, dass sie wirklich da waren. Stattdessen flehte er um Hilfe, als wäre er überfordert. „Derjenige, der das am besten weiß, bist du Luca“, flüsterte die kleine Elfe. Der Junge sprang von dem Bett hinunter und ging auf sie zu. „Ich?“, fragte er mit Tränen in den Augen und Laila konnte die Verzweiflung beinahe spüren. Doch sie konnte ihn nicht trösten, nur nicken. „Aber ich weiß nicht, wo wir sind!“, die Tränen liefen ihm jetzt über die Wange. „Dann sieh dich um“, flüsterte die Elfe. „Woher kennst du diesen Ort, wann hast du ihn schon einmal gesehen?“ „Ich kenne ihn nicht, ich war noch nie an einem Ort wie diesem“, seine Stimme klang gebrochen. „Und wenn schon. Vielleicht hast du ihn dir einmal vorgestellt.“ Der Junge schaute sich um, betrachtete die Holzpfeiler, das Wasser, die Blumenranken. „Meine Oma hat mir einmal erzählt, dass meine Eltern jetzt in einem wunderschönen Pavillon wären, dort auf einem runden Bett liegen und auf einen großen, unendlichen und wunderschönen See hinausblicken würden“, murmelte er schließlich geistesabwesend. Dann zuckte er auf einmal zusammen und sah Laila ängstlich an. „Bin ich tot?“ Sie lächelte. „Nein, du hast nur geschlafen und ich hab auf dich aufgepasst, die ganze Zeit über. Das Boot ist immer weiter über den See gefahren bis hier her. Und dann hat dein Papa dich aus dem Boot gehoben und hier her getragen.“ „Aber mein Papa ist tot!“ „In der wirklichen Welt, vielleicht. Aber nicht in der hier. Sonst würde er jetzt nicht hier sein, oder?“ Sie gab ihr bestes um ihm Mut zu machen und die Angst zu nehmen. Er stand vor Leuten, die in der anderen Welt schon lange tot waren und obwohl er sich darauf gefreut hatte sie zu sehen, schien er nun doch nicht zu wissen, was er davon halten sollte. „Aber Menschen die tot sind, die können doch nicht mehr leben, oder? Nirgendwo.“ Seine Wangen waren noch immer nass von den Tränen der Verzweiflung und Laila sah, dass er sich nichts mehr wünschte, als dass das alles hier wahr wäre, aber dass er einfach noch nicht daran glauben konnte. „Doch, das können sie. Hier oben“, erklärte Laila und tippte ihm an die Stirn. „In deinem Kopf, in deiner Fantasie, dort ist alles möglich, dort kannst du alles machen. Auch deine Eltern besuchen, in dem Pavillon, in dem sie jetzt leben und auf das Wasser hinausblicken.“ „Aber darf ich denn dann überhaupt hier sein? Ist das dann nicht der Ort der Toten?“ Einen Momentlang erschrak Laila, als der Luca von so etwas sprach. Es verwirrte sie, dass er als sechsjähriger Junge scheinbar schon zu groß war, sich einfach nur daran zu erfreuen, seine Eltern in die Arme schließen zu können. Aber sie schluckte es hinunter. Er war hier um wieder zu lernen, was es bedeutete ein Kind zu sein. „Nein, das ist deine Welt. Ganz allein deine Welt. Und wenn du dir wünscht, deine Eltern hier jederzeit besuchen zu können, dann kannst du das auch tun.“ „Das heißt es ist nichts Schlimmes dabei, wenn ich jetzt zu ihnen gehe und sie umarme, obwohl es sie eigentlich gar nicht mehr gibt?“ „Aber es gibt sie doch.“ „Ich meine in der richtigen Welt.“ Welche Welt war wohl die richtige Welt für einen kleinen Jungen? Die Welt, in der alle anderen lebten, oder die Welt in dem es ihm möglich war, seine Familie bei sich zu haben? „Du bist doch jetzt hier, oder nicht? Wenn interessiert es da, was in der anderen Welt ist?“ „Das heißt, es wäre nicht schlimm?“ Seine Augen waren rot und leicht geschwollen vom Weinen und ihm schien gar nicht bewusst zu sein, dass seine Eltern jedes Wort, das er sprach, hören konnten. Laila schüttelte den Kopf. „Nein, es wäre nicht schlimm“, antwortete sie schließlich leise und lächelte ihm aufmunternd zu. Der Junge lächelte ebenfalls kurz, dann schluckte er und es schien ihn einiges an Überwindung zu kosten sich schließlich umzudrehen. Und dann stand er einfach da und starrte sie an. Seine Eltern und seine Schwester, die noch immer ruhig schlief. „Papa?“, fragte er schließlich leise und der Mann erhob sich von dem Bett, bevor er lächelnd in die Knie ging und dem Jungen seine Arme entgegenstreckte. „Komm her“, sagte er, aber Luca zögerte. Nur langsam ging er auf ihn zu, machte einem Schritt nach dem nächsten, als würde er über jeden einzelnen nachdenken müssen. Und schließlich stand er vor ihm und der Mann schloss ihn sanft in die Arme. Es dauerte, bis Luca in der Lage war die Umarmung zu erwidern, aber schließlich drückte er seinen Papa so fest an sich, dass es den Anschein hatte, als würde er ihn nie wieder loslassen wollen. Das Bild entlockte Laila ein Lächeln und auch die Frau auf dem Bett, die jetzt dem Mädchen sanft über den Rücken strich, schien sich zu freuen. Als sich Luca nach einer Ewigkeit schließlich von seinem Vater löste, waren seine Wangen noch immer feucht, aber er lachte, als er sich seiner Mutter in die Arme warf und sich fest an sie drückte. Es schien, als würde er sie niemals loslassen wollen und wieder dauerte es scheinbar Stunden, bis er sich wieder von ihr zurück zog, sich hinlegte und seinen Kopf wieder gähnend in ihrem Schoss bettete. Er war noch immer müde, hatte er doch vorhin nicht wirklich ausgeschlafen. Aber seine Augen blieben offen, sie wurden kleiner, aber sie blieben offen. „Schlaf, mein Kleiner, ich merke doch wie müde du bist.“ So gut er es vermochte schüttelte er den Kopf. „Ich will nicht“, widersprach er trotzig, genauso wie man es von einem Sechsjährigen erwartete. „Und warum nicht?“, fragte seine Mutter und strich ihm wieder über den Kopf. Ihre Stimme war noch immer so unendlich sanft, aber es war, als würde sie müde machen und sogar Laila spürte auf einmal, wie die Erschöpfung in ihr empor kroch. „Weil wenn ich schlafe, dann wach ich vielleicht woanders wieder auf.“ „Und was wäre dran so schlimm? Du musst doch bald zur Schule gehen.“ „Aber ich möchte lieber hier bleiben. Bei euch und nicht wieder alleine sein.“ Sein Vater lächelte. „Du bist doch niemals alleine. Du kannst uns jederzeit besuchen kommen.“ „Bist du sicher?“, murmelte er leise, während er immer schläfriger wurde. „Aber natürlich“, flüsterte ihm seine Mutter ins Ohr. „So lange du es dem Staub nicht erlaubst all das hier zu vernichten, werden wir immer hier sein und du wirst uns jederzeit besuchen kommen können.“ Ihre Stimme wurde immer leise und Lucas Bewusstsein wurde immer stärker vom Nebel des Schlafes eingehüllt, bis er schließlich wieder ganz in seine Träume versunken war und gar nicht spürte, wie seine Mutter ihm sanft über den Rücken strich und sein Vater sein Hand hielt, was ihm die Geborgenheit gab, die er jetzt schon so lange vermisste. Als er wieder die Augen öffnete, waren seine Eltern fort. Einen Moment lang befürchtete Luca, dass sie niemals da gewesen waren, aber die Decke, unter der er lag und die sonst immer so kühl gewesen war, nicht in der Lage gewesen war Wärme zu spenden, war angenehm kuschelig und das erste Mal seit langem fror er nicht nach dem Aufwachen. Er richtete sich ein wenig auf und schaute zu dem Fenster, durch das das Sonnenlicht sich bereits seinen Weg in sein Zimmer gesucht hatte. Dass sie nicht hier waren, bedeutete nicht, dass es sie nicht gab. Sie lebten immer noch. Nur woanders und er würde sie jederzeit besuchen können. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)