Orthogonalität am Beispiel des virilen Objekts von Kirschbaum ================================================================================ Große Brüder und kleine Brüder ------------------------------ Ich vermisste Herrn Branner. Der Mittwoch zog sich und Donnerstag war sicherlich kein angenehmer, erster Ferientag für mich. Zwar schlief ich endlich mal wieder richtig entspannt aus, doch trotzdem fühlte es sich nicht so gut an, so ganz allein im Bett. Nicht, dass ich jemals bei Herrn Branner übernachtet hätte, ich hatte sein Schlafzimmer noch nie gesehen. Doch wenn ich bei ihm war, fuhr er mich ganz von sich aus, wie eine Art Regel, Abends nach Hause. Und zu mir kam er ja sowieso nie. Wäre mir schon schlimm genug, wenn Mama mich mit irgendeinem Mann erwischen würde, aber einen elf Jahre älteren, der zusätzlich noch mein Lehrer war, das wollte ich ihr garantiert nicht zumuten. Meine Abwesenheit in den letzten Tagen schrieb sie einer heimlichen Freundin zu, was so unverkehrt auch nicht war. Nur meine Freunde waren da etwas skeptischer. Neulich fragten sie mich, ob ich mit ihnen in den Pub wollte, doch natürlich hatte ich an diesem Abend vor, zu Herrn Branner zu fahren. Da warf mir Ray das erste mal vor, dass ich in letzter Zeit kaum Zeit mehr hätte. Nach der Schule sofort nach Hause, ich würde nicht mehr auf Telefonanrufe oder ähnliches reagieren und online sei ich auch so gut wie gar nicht mehr. Dass das seit Aachen so war, bemerkten sie zum Glück nicht, oder sie fanden keinen Zusammenhang. Und dass Joe sich von mir immer mehr distanzierte, dass bemerkte ich natürlich auch nicht, immer hin war ich viel zu beschäftigt mit meiner Liebe. Es war nicht so, dass Herr Branner mich je mehr berührt hätte, als ich wollte. Und ich war so nervös, was das anging, dass ich garantiert noch nicht so berührt werden wollte. Ich hatte mir im Grunde niemals Gedanken über Sex gemacht, das war für mich immer sehr fern, immerhin war meine einzige Liebe immer nur Zac Efron gewesen, und es gab sicherlich kaum etwas unrealistischeres als Sex mit dem. Und da ich so unerfahren und nervös war, machte ich mir auch keine Gedanken über Sex, als ich mit Herrn Branner zusammen kam. Er war siebenundzwanzig Jahre alt, ich erwartete garantiert nicht, dass er eine keuschere Jungfrau war, und vielleicht war es genau deshalb total unwirklich, mit ihm zu schlafen. Nicht, dass ich niemals Sex wollte, aber das alles war mir in diesem Moment so fern, wie Zac Efron. Als ich endlich im ICQ online kam, wurde ich gleich von Nachrichten von Lilly bombadiert, die sie mir scheinbar die halbe Nacht zukommen lassen hatte. „Verdammt“, hieß es in der Neusten „ich hab dir hundert SMS geschrieben und dich achthundert Mal angerufen, Tim!!!!“ Etwas verwirrt und noch müde fragte ich, was los sei. „du musst mit Ray reden! Sofort.“ antwortete mir mein Bildschirm und die Verwirrung wuchs immer mehr. „Wieso?“ tippte ich in das kleine Gesprächfenster. Sie antwortete nur mit einem ziemlich nachdrücklichen 'Sofort' und einigen Ausrufezeichen. Etwas lahm kramte ich in meinem Rucksack nach meinem Handy. Es war auf Lautlos eingestellt, was erklärte, wieso ich ihre dreiundzwanzig Anrufe nicht bemerkt hatte. Genervt drückte ich die weg, dann suchte ich nach Ray im Telefonbuch und seufzte genervt auf, als ich es bei ihm Klingeln ließ. Dann ertönte das Klicken, dann hörte ich schon ein nervöses „Tim?“ „Äh“, antwortete ich matt „was'n los, alter?“ „Es geht um Steve un...“, er hielt inne. „Was ist denn los?“ fragte ich und seine Nervosität sprang auf mir über. Ray war doch immer jemand, der nicht schnell auf der Ruhe zu bringen war und eigentlich hatte ich gedacht, dass er erst so ausflippen würde, wenn er das von Herrn Branner und mir erfuhr. „Steve ist...“, sagte er, hielt wieder inne und ich hörte sein nervöses Atmen. „Was ist mit ihm? Geht’s ihm gut?“ fragte ich prononciert, so langsam wurde mir schlecht von dem ganzen Theater und irgendwo in meinem Kopf, ganz klein, ahnte etwas, dass mit Josh was nicht stimmte und allein, dass ich mir Gedanken darüber machte, ärgerte mich und machte mir gleichzeitig Angst. „Steve ist schwul, okay?“ Ray klang so entrüstet, wie ich war. Nämlich darüber, dass ich mir am frühen Morgen so eine Show reinziehen durfte, für so eine Nebensächlichkeit. Wenn er vom Auto angefahren worden wäre, oder aus irgendeinem mysteriösen Grund nach Spanien geflohen wäre, um seine Uroma im Land Valencia an der Mittelmeerküste zu besuchen, oder wenn er und Josh die Nacht in einer Ausnüchterungszelle auf dem Polizeirevier verbracht hätten, dass wären zwar keine unerwarteten Gründe, aber durchaus welche, bei denen man rumheulen durfte. „Aha“, entgegnete ich also sehr genervt. „Aha?“ antwortete er total verdrießen „Aha? Sag mal, is dir klar, was das bedeutet? Meine Fresse. Ein schwuler, spanischer Katholik? Der wird von meiner Familie verstoßen werden. Er wird gehasst, verbannt, gesteinigt. Du meine Güte, das ist sein Todesurteil.“ Ray klang sehr aufgekratzt. Ich unterdrückte mein Gähnen „Ray, bist du dir sicher?“ Er hielt in seinen Tötungsdelikten inne. „Was meinst du damit?“ fragte er. „Na, hat er es dir gesagt, oder was?“ „Nein, nicht direkt.“ entgegnete Ray etwas ruhiger. Ich wollte ihm gerade sagen, dass er sich keine Sorgen machen sollte, als er mich beim Nachdenken unterbrach: „Er hat es mir nicht gesagt, aber ich habs gesehen. Okay? Ich hab ihn gesehen mit... einem anderen. Also einen Typen. Gesternabend. Sie waren zusammen, Tim, sie haben sich geküsst.“ seine Stimme wurde leiser, bis er flüsterte „so richtig.“ „Kennst du den Anderen?“ fragte ich. Und Ray schwieg. Ich hörte sein nervöses Einatmen. „Na, ich war das nicht“, sagte ich dann, und er nickte: „Nein, herzlichen Glückwunsch. Es war Josh!“ Dann war es ganz still um uns herum. Stundenlang. Ich hörte nichts weiter, als das Rauschen vom Handy in meinem Ohr, und ganz leise dadrunter war Rays angespanntes Atmen. „Dein Bruder fickt mein Bruder?“ flüsterte ich. Ich drehte mich zur Tür. Ich hatte plötzlich Angst, dass meine Mutter hörte, was ich sagte. „Sieht ganz so aus.“ antwortete Ray, er flüsterte auch. „Das ist absurd.“ „Du sagst es.“ „Josh und schwul?“ „Steve, man. Steve!“ „Heißt das... mein Bruder ist wie ich?“ „Was?“ „Mein Vater hat zwei schwule Söhne...“ Dann hörte ich Rays leises Kichern. Und dann musste ich auch Lachen. Dabei war gar nichts zum Lachen. „Soll ich vorbei kommen?“ fragte ich. „Nein, ist schon gut“, entgegnete Ray „du hast Recht. Ich sollte mich nicht aufregen, oder?“ „Solltest du nicht.“ „Ich sollte mit Steve reden.“ „Wahrscheinlich.“ „Okay.“ sagte er und klang etwas erleichtert. „Bis dann, Ray. Schöne Weihnachten.“ „Dir auch, wir sehen uns.“ Dann legten wir auf und die Stille fing mich wieder ein. Mein großer Halbbruder sollte also schwul sein. Ich wusste nicht, ob ich das lustig, seltsam oder traurig finden sollte. Für meine Eltern. Sofort rief ich bei Herrn Branner an und erzählte ihm alles. Er lachte und sagte mir, dass ich mir keine Sorgen machen sollte. Wir wünschten uns ziemlich innig schöne Weihnachten und sagten „bis Morgen“ zueinander. Und ich vergaß die Sache auch ziemlich schnell, bis zum Nachmittag, als Papa und Josh Traditionsgemäß in unsere Wohnung kamen, damit wir Heilig Abend als eine Scheinfamilie glücklich zusammen verbringen konnten. Als Josh die Wohnung betrat, und dabei so tat, als sei nichts, gar nichts ungewöhnliches, als er lächelte, meine Mutter umarmte und sich vorbeugte, um ihr auf die Wange zu küssen, und mich wie immer verschmitzt angrinste, da erinnerte ich mich wieder daran und in mir breitete sich ein komisches, mulmiges Gefühl aus. Ich hatte sogar total vergessen, dass ich zum Töten eifersüchtig wurde, wenn meine Mutter Josh so berührte. Das war meine glückliche Scheinfamilie, die Mutter und der Vater und zwei schwule Söhne. Traditionsgemäß wurde gegessen, geredet, gelacht, nur ich konnte mich an dieses Weihnachten wirklich nicht erfreuen. Ich beobachtete Josh auf irgendetwas Ungewöhnliches. Ob er Angst hatte, oder nervös war, aber nichts dergleichen war der Fall. Josh war einfach wie immer. Glücklich, ausgelassen, vital. Machte Scherze, trank Wein (Moment, Wein?) und zwinkerte mir hin und wieder zu. „Alles klar, Tim?“ fragte mein Vater im Verlauf des Abends und meine Mutter nickte lächelnd, strich mir über den Kopf und sagte: „Tim hat eine Freundin, nicht wahr?“ „Äh“, sagte ich und wurde rot. „Eine Freundin“, Papa klang erfreut und überrascht gleichzeitig und Josh zog beide Augenbrauen hoch: „Tatsächlich? Kenn ich sie?“ Er wackelte böse mit den Augenbrauen. „Ich will das jetzt nicht besprechen.“ antwortete ich scharf und sah Josh durchdringlich an. Er vermutete wohl, ich wollte ihm sagen, dass er sich zügeln sollte, irgendein falsches Wort zu sagen; doch eigentlich sah ich ihn so an, weil ich genau wusste, wo er gesternabend war und was er gemacht hatte. Mein Vater schenkte mir Geld für den Führerschein, meine Mutter schenkte mir viel Milka Schokolade und Geld und von Josh bekam ich einen iTunes-Gutschein. Meine Eltern waren leicht angeduselt und redeten stundenlang im Wohnzimmer, als ich mich verabschiedete und in mein Zimmer ging, wo ich mich über eine Packung Lebkuchenherzen her machen wollte. Ein Weihnachten, wie jedes andere. Nur, dass Josh mich heute in meinem Zimmer besuchen kam. Er klopfte vorsichtig an, dann trat er ein. „Wasn los?“ fragte ich und sah ihn mit gemischten Gefühlen im Bauch an. Er sagte nichts. Er sah sich in meinem Zimmer um, begutachtete die letzten zwei Bilder von Zac Efron, die ich noch über meinem Bett hängen hatte, und das Foto von Herrn Branner, das auf dem Boden neben dem Bett lag. „Woher hastn die Bilder von Herrn Branner?“ fragte er verwirrt, als er in Zacs blaue Augen starrte. „Das ist nicht Herr Branner“, entgegnete ich genervt. „Hm?“ „Das ist Zac Efron, das ist ein Schauspieler, der genauso aussieht wie Herr Branner.“ „aha?“ machte Josh und musterte Zac genau. „Du hast Recht“, sagte er dann, drehte sich zu mich um und ließ sich auf meinem Bett nieder. „Du hast also einen Freund?“ fragte er dann und lächelte. Josh war ungewöhnlich nett zu mir und wirkte nicht so verrückt und klammernd, wie sonst immer. Vielleicht hatte das was mit dem Schwulsein zu tun. Ich zuckte die Schultern: „Ich hab doch gesagt, ich will nicht dadrüber reden.“ „Ist es Ray?“ „Das würde dir gefallen, ne?“ sagte ich mit einem leicht amüsiertem Unterton. „Ich fänd's zumindest witzig.“ antwortete er schmunzelnd. Dann sah er mich so komisch an. So durchdringlich und allwissend. „Du weißt es.“ sagte meine Stimme dann und ich war selbst verwundert über ihre Selbstständigkeit. Er nickte lächelnd „Steve hat mich angerufen und vorgewarnt. Ray hat uns wohl erwischt gestern, war irgendwie klar, dass er es dir gesagt hat.“ „Josh“, sagte ich dann, etwas mitleidig, obwohl ich das gar nicht wollte „weißt du, was das heißt?“ Er lachte vergnügt auf „wir können ein Doppel-Coming-Out starten!“ „Papa weiß also nichts?“ Josh schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander. Es fiel ihm offensichtlich etwas schwer, das alles, die gesamte Situation, und irgendwie war das ja auch alles komisch und sicherlich keine Sache, die man mal eben wegsteckte. Ich war schon Jahrelang so und hatte mich kein mal getraut, meinen Eltern es zu sagen. Sicherlich hatte ich es mir hin und wieder mal vorgenommen, doch ich hatte einfach viel zu viel Schiss vor deren Reaktion. Es meinen Freunden zu sagen, das war soviel einfacher. Als Josh es mitbekommen hatte, war es mir sogar ziemlich gleichgültig gewesen und das an der Schule jeder darüber redet bedeutet doch nichts. Die kenne ich ja nicht mal, die sehe ich in meinem Leben nie wieder, doch meine Eltern? Immer hin will man es den Eltern immer recht machen, man will sie niemals enttäuschen, man verehrt sie, und wenn sie über einen urteilen, dann trifft es einen härter als jedes andere Urteil der Welt. „Und...“, sagte ich „bin ich der Erste, der... dem... also?“ Josh lächelte und nickte dann „ja. Mein kleiner Bruder ist der Erste, der es weiß.“ „Das ist... ich weiß nicht, irgendwie...“ „Ich weiß, dass du eine irrationale Aversion gegen mich hast, Timmi, aber das heißt nicht, dass ich das gleiche für dich empfinde.“ Ich wurde irgendwie rot, das klang gerade so, wie eine Liebeserklärung, wenn das nicht total komisch gewesen wäre, immerhin war Josh mein Bruder und er war mit Steve zusammen. Und dann war in mir irgendwie plötzlich nicht mehr dieses Gefühl der Abneigung gegen ihn. Ich fühlte mich sogar etwas erleichtert, als ich ihn nun ansah und ich glaubte, uns verband doch mehr, als bloß derselbe Erzeuger. Mein großer Bruder war schwul. Genau, wie ich. Komische Sache. Mit gemischten Gefühlen schlief ich am Abend ein, wachte am Morgen auf und sagte meiner Mutter, dass ich 'mal an die Frische Luft' wollte. Sie zwinkerte mir zu und sagte, dass ich mir ruhig Zeit lassen könne. Ich drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, meine Mutter war kleiner als ich, und lief dann, dick und warm eingepackt in meiner Jacke, zur Sraßenbahnhaltestelle. Josh verwirrte mich. Aber ich hatte mir vorgenommen, diesen Tag nicht darüber nach zu denken. Ich wollte einen gemütlichen Mittag mit meinem Freund verbringen. Ich wollte mit ihm was essen, einen blöden Film im Fernsehen sehen und gemütlich auf seiner Couch liegen und kuscheln und das Zusammensein genießen, ohne irgendwelche Faktoren, die das ganze auf irgendeine Weise stören würden. Ich lief an dem kleinen Blumdenladen vorbei zum Hauseingang. Gerade, als ich den Knopf neben seinem Namenschild drücken wollte, wurde die Haustür aufgezogen. Ein älterer Mann sah mich kurz erschrocken an, dann lächelte er, begrüßte mich und ging an mir vorbei. Ich lächelte ihn zurück an und ging, ohne zu Klingeln, ins Haus. Auch gut. Er wohnte im dritten Stock und das blöde Haus hatte natürlich keinen Aufzug und als ich oben ankam, war ich ziemlich aus der Puste. Aber ich freute mich so auf Herrn Branner. Seine Wohnungstür war weiß und wirkte irgendwie steril. Es gab keine Fußmatte, keinen komischen, hässlichen Kranz, keine Schuhe vor der Tür, einfach nichts, was darauf hinwies, dass hier jemand wohnte. Nicht einmal ein Namensschild hing irgendwo, aber ich wusste, dass er hier lebte. Gleich hinter dieser Tür war er. Mein großer Freund mit den unvergleichbaren, blauen Augen und dem perfekt sitzendem, braunglänzendem Haar, der verdammt charmant und sexy grinsen konnte. Ich strich mit die blonden Strähnen aus dem Gesicht und drückt dann auf den Klingelknopf. Ich musste nicht lang warten, bis er die Tür öffnete. Er wirkte anders. Er war nicht so ruhig, wie sonst. Er erinnerte mich ein wenig an Aachen, als er den Mezcal getrunken hatte. „Alles klar?“ fragte ich ihn, als ich mich ihn vorbei in die Wohnung schob und die Schuhe auszog. Er seufzte: „Tim, das ist gerade irgendwie ungünstig.“ Verwirrt hob ich eine Augenbraue und ließ die Jacke neben der Garderobe auf den Boden fallen. „Ich, ähm“, nuschelte er, kam auf mich zu und packte meine Schultern. Dann hörte ich ein komisch entrüstetes Räuspern hinter uns. Verstört drehte ich mich um und erblickte Zac Efron im Wohnzimmertürrahmen stehen „Noch ein Zac?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)