Orthogonalität am Beispiel des virilen Objekts von Kirschbaum ================================================================================ Eine Entschuldigung, der man nicht widerstehen kann --------------------------------------------------- Von draußen drangen Motorengeräusche vieler Autos in mein Zimmer, alle fünf Minuten bimmelte eine Straßenbahn und dämliche Vögel zwitscherten vergnügt, um ihre Freude über den neuen Tag zum Ausdruck zu bringen. Ich zog die Nase hoch, seufzte missmutig und zog die Bettdecke noch enger über meinen Kopf. Dann klopfte es an der Tür, meine Mutter kam ins Zimmer und sagte: „Tim? geht’s dir besser?“ sie kam zu meinem Bett, setzte sich auf die Kante und zog die Decke von meinem Gesicht. Ich sah sie aus müden Augen heraus an, so leidig, wie ich nur konnte und zog nochmal theatralisch meine Nase hoch und tat, als könne ich nur durch den Mund atmen. „Mein Armer“, sie strich mir über die Stirn und seufzte mitleidig „hat es dich voll erwischt, hm? Willst du noch zu Hause bleiben?“ Ich nickte und kuschelte mein Kinn enger an die Decke, die sie weggezogen hatte. „Nagut, Liebling“, Mama tätschelte noch mal meine Stirn, dann stand sie auf und ging zu meinem Fenster, um es zu schließen „Dann ruh' dich noch ein bisschen aus. Ich komm erst heute Abend nach Hause, hab eine 12-Stunden Schicht, meinst du, du schaffst das allein?“ „Ich werd eh nur schlafen“, antwortete ich träge, als ich mich im Bett umdrehte und mich viel mehr in meine Decke kuschelte. „Gut, ich bring dir was von der Arbeit mit. Schlaf dich schön aus, hab dich lieb.“ Sie beugte sich über mich, drückte mir einen Kuss aufs Ohr und ging dann zur Tür und bevor sie die von außen wieder schloss, antwortete ich noch „Ich dich auch, Mama.“ Nachdem ich mir irgendwann in den letzten Tagen eine Erkältung eingefangen hatte, die aber sehr schnell abklang, hatte ich es dennoch irgendwie geschafft, dass ich nicht mehr zur Schule musste. Und ich wollte auch gar nicht mehr dahin zurück, nie wieder am liebsten. Ich wollte auf keinem Fall Herrn Branner begegnen, nachdem Ray-Ray und Pat mich am vergangenen Freitag so oberpeinlich geoutet hatten, und noch viel weniger wollte ich Ray oder Pat oder Joe sehen, und Lilly oder Julie oder Flo auch nicht, da sie nämlich nur blöd rumdrucksend da neben gestanden, aber nichts getan hatten. Meine Mutter war die hübscheste Frau der Welt, Anfang Vierzig, sah aus, wie Zwanzig, uns hielten alle für Geschwister, hatte schöne, lange, glatte, blonde Haare, ein wohl geformtes Gesicht und war dazu noch sehr attraktiv. Und das konnte ich alles natürlich aus rein objektiver Sicht sagen, Töchter durften Mütter so betrachten, so auch schwule Söhne. Auch, wenn Mama nichts davon wusste. Sie arbeitete als Krankenschwesteer in der alten Klinik Blankenstein und verdiente angeblich so wenig, dass sie immer darüber jammerte. So auch, als ich ihr den Zettel über die Stufenfahrt gegeben hatte. „100 Euro?“, hatte sie überrascht gesagt „das ist aber viel.“ „Ist doch erst im Dezember“, hatte ich geantwortet und war davon ausgegangen, dass man hundert Euro in drei Monaten hätte zusammen sparen können. „Ja, schon, aber du weißt, unser Monatsgeld ist haarklein abgestimmt... wir müssten...“ Ich unterbrach sie mit einem genervtem Seufzer „Mama, rauch einfach weniger, dann geht’s schon!“ Sie kniff die Augen zusammen und schielte zu ihrer Zigarettenschachtel, die auf dem Küchentisch lag, seufzte dann, strich mir über den Kopf und nickte: „Du hast recht, ich muss aufhören.“ Ich hatte am Montag schon eine SMS von Lilly bekommen, in der sie fragte, wo ich denn sei, und mir kurz mitteilte, dass wir den Alki-Titel bekommen hätte und sie am Nachmittag im ICQ online sei. Ich blieb offline. Denn mein Sauersein erstreckte sich über Tage hinweg und ich schaffte es nicht so einfach, ihr oder Ray oder den anderen zu verzeihen, dass sie sich so bescheuert aufgeführt hatten. Natürlich kam ich nicht im geringsten auf die Idee, dass ich derjenige war, der sich jetzt bescheuert aufführte. Mittlerweile war es Donnerstag und da ich mich nicht einmal bei Lilly oder Ray oder den anderen gemeldet hatte, machte sich Sorge im Freundeskreis breit. Wobei die natürlich wesentlich krasser ausgefallen wäre, wenn am Freitag nicht dieser Vorfall gewesen wär. Sie dachten sich wahrscheinlich, dass ich peinlich berührt, gedemütigt und deprimiert in meinem Bett lag und über die Hoffnungslosigkeit der Liebe zu älteren Lehrkörpern oder entfernten Disney Channel Schauspielern nachdachte und machten deshalb nicht einen so penetrant extremen Wind um meine Abwesenheit in der Schule. Unter normalen Umständen wären Lilly und Ray schon am Dienstag vor der Wohnungstür gestanden und hätten Sturm geklingelt, jetzt kam nur täglich eine SMS in der sie fragten, wie es mir ginge. Und am Mittwoch entschuldige sich Ray sogar. Nichts desto Trotz schoss mir das Blut schon in die Wangen und ich fing an, zu zittern, wenn ich nur daran dachte, Herrn Branner über den  Weg zu laufen. Ich machte mir einen gemütlichen Tag, hörte über den iPod im Bett Placebo, aß eine Tafel Milka Traube Nuss und schaute Scrubs auf DVD. Gegen halb vier klingelte es dann tatsächlich an der Wohnungstür. Ich schaute auf die Uhr an meinem Computer und stellte fest, dass das nicht meine Mutter sein konnte. Gähnend stand ich auf, warf beim Vorbeigehen am Bad ein Blick in den Spiegel, ignorierte, dass ich noch meine Schlafhose und ein altes, buntes T-Shirt aus meinen Kindertagen (ich war so schmächtig, es war mir nur etwas zu kurz, nicht aber zu eng) trug, war mir egal; nur meine durcheinander gebrachte Frisur beunruhigte mich etwas. Ich strich die blonden Strähnen unsanft über meine Stirn, dann ging ich zur Wohnungstür und öffnete sie. Ray-Ray war genau fünf Centimeter größer als ich, und das reichte schon, dass ich zu ihm aufschauen musste. „Was willstn du hier?“ sagte ich, und bemühte mich, dabei vollkommen gleichgültig zu klingen. Rays Schultern zuckten „Du hast dich sechs Tage lang nicht gemeldet, ich wollte wissen, wie es dir geht.“ Er lächelte so lieb und herzerweichend und starrte mich aus seinen dunklen Augen so unglaublich liebevoll an, dass ich ganz vergessen hatte, wieso ich ihm aus dem Weg ging. Ich seufzte erfreut auf und ging zur Küche. Ray kam in die Wohnung, schloss die Tür, zog seine Schuhe aus, pfefferte sie in die Schuhecke und folgte mir dann. „Ich mach mir gerade essen“, erklärte ich und befreite Minipizzen von der Plastikfolie „willst du auch?“ „Und wie, hab n Bombenhunger, Frau Hoppe hat uns tierisch dran genommen in Sport.“ Antwortete Ray und machte es sich auf Mamas Platz am kleinen Küchentisch gemütlich, nahm seinen Collegeblock aus seiner Tasche und ließ diese dann auf die Fliesen fallen „ich hab alle Arbeitsblätter für dich und Mitschriften aus den wichtigen Fächern. Wir haben in spanisch eine neue Lektion angefangen und müssen die Vokabeln bis nächste Woche gelernt haben“, erklärte Ray und blätterte blöd in seinem Block rum, doch ich ignorierte ihn, denn als sein Rucksack auf dem Boden gekippt war, war etwas äußerst reizvolles für mein Auge heraus gerutscht. Ich schob das Blech mit den zwanzig Pizzen in den Ofen, bevor ich mich zur Tasche bückte und eine weiße DVD-Hülle griff. Es war also Herr Branners Gesicht gewesen, das mich von da unten angestarrt hatte. Ich war entzückt und strahlte wahrscheinlich über das ganze Gesicht bis nach Norwegen und Griechenland über diese Entdeckung. „Was ist denn das?“ fragte ich und drehte mich vergnügt zu Ray um. Der hielt in seinem Geschwafel inne und sah mich zuerst fragend, dann lächelnd an. „Ach so, hm, die hab ich dir gekauft“, er deutete mit seinem Stift verlegen auf die DVD in meiner Hand „das ist doch Zac Efron, auf den stehst du doch. Sein neuer Film.“ „Uuuuhm“, machte ich voller Freude, beugte mich vor und umarmte Ray so heftig,  dass ihm der Stift aus der Hand fiel „danke danke danke danke danke!“ rief ich aus und hüpfte vergnügt auf den Zehenspitzen auf und ab. „Die Regeln“, nuschelte er mir ins Ohr, aber ich ignorierte ihn. Wir waren immerhin in meiner Küche und nicht in der Öffentlichkeit, niemand sah uns. Wir aßen die Pizzen, ich ignorierte die Dokumente, die Ray mir brachte und wir schauten uns, er etwas widerwillig, den Film an, den er mir gewissermaßen als Entschuldigung gekauft hatte. Zac Efron spielte den Typen, der durch mysteriöse, magische Umstände vom vierunzdreißigjährigen Versager wieder siebzehn wird und mit seinen verblödeten und hässlichen Kindern wieder zur High School geht. Wobei Ray anmerkte, dass er die, die seine Tochter im Film spielt, ziemlich heiß fand. Am Freitag, nach dem Sommerfest, als Ray Herrn Branner diesen unmissverständlichen Antrag gemacht hatte, hielt der arschbesoffene Pat es für angebracht, ihm noch zu erzählen, dass er „heiß wie Zacfrom!“ war. Herr Branner war total verwirrt, ich war total sauer, da tauchte Joe auf, begrüßte den Lehrer lächelnd, vergnügt, als wenn nichts wäre, legte seinen Arm um meine Taille und drückte mir einen Kuss auf die Schläfe. Sowohl mir als auch Herrn Branner wichen augenblicklich alle Züge aus dem Gesicht, doch, wie immer, sah nur ich das und er schien sich sehr schnell wieder fassen zu können. Er räusperte trocken, befreite sich aus Rays Umarmung, wünschte uns ein schönes Wochenende und ging irgendwie angespannt davon. Nach dem Film erzählte mir Ray, wie wir es geschafft hatten, den Alki-Titel zu bekommen und dass wir es fast ganz allein ihm zu verdanken hätten. „Wobei Steve immer noch findet, dass du den bekommen solltest weil du letztes Jahr Frau Lavie angekotzt hat“, erklärte er auch und schob sich eine Hand voll M&Ms in den Mund. Ich verdrehte die Augen und dachte an diesen Tag zurück. Die Frau war furchtbar erzürnt gewesen, aber das war sie eigentlich immer, also im Grunde kein großes Theater. Ich hatte tagelang danach schreckliche Kopfschmerzen und mir war furchtbar schlecht, im Französischkurs war ich aber der Held. Deswegen war es, obwohl diese Aktion unvoreingenommen wahrscheinlich viel peinlicher war, als ein lächerliches Coming-Out vor einem unglaublich hinreißenden Mathelehrer, letztes Jahr nicht so schlimm gewesen, nach dem Fest wieder in die Schule zu gehen. „Mich allerdings“, erklärte Ray und deutete auf seine Brust „halten die jetzt allerdings für schwul.“ „Was?“ fragte ich aufgeregt und drehte mich ganz zu ihm um „Wieso?“ „Na weil ich Herrn Branner deine Verliebtheit gestanden habe.“ sagte er und rollte genervt mit den Augen „ich hab nicht wirklich gut rübergebracht, dass ich für dich gesprochen habe“, er tippte mit seinem Finger auf meiner Brust herum „und das kam irgendwie so rüber, als würde ich das meinen.“ Ich gluckste „und Herr Branner?“ „Nichts“, er zuckte mit den Schultern „tut so, als sei nichts. Na ja, hat nach dir gefragt und ich könnt schwörn, der hätte mir... eine art betörenden Blick zugeworfen, aber irgendwie schein ich mir das in dieser ganzen Tiefe der Peinlichkeit nur eingebildet zu haben.“ Was ich mysteriös fand, da ich mir scheinbar auch immer eine Menge doch recht eindeutige Blicke, Gesten und Mimiken von und bei Herrn Branner einbildete. „Auf jeden Fall habe ich jedes Recht, sauer auf dich zu sein.“ meinte er dann und ich hob verwirrt eine Augenbraue „wieso denn das?“ „Na, die halten mich wegen dir für schwul!“ „Ich kann ja nichts dafür, wenn im Suff irgendwelchen Kerlen gestehst, dass du sie“ ich gestikulierte Gänsefüßchen „aktaktiv findest.“ Wir sahen uns kurz ernst an, dann lachten wir los. Deshalb war Ray-Ray mein bester Freund. Natürlich könnte er ein noch besserer Freund sein, wenn er mit mir nur einmal High School Musical gucken würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)