Orthogonalität am Beispiel des virilen Objekts von Kirschbaum ================================================================================ Joshs Suche nach seinen Wurzeln ------------------------------- Als ich aufwachte, kroch mir ein seltsam unangenehmer Geruch in die Nase. Es war kalt und dunkel außerhalb meines Bettes, sodass ich nur widerwillig daraus kroch, zum Schalter bei der Tür krabbelte und das Licht an machte. Hier war der Geruch viel beißender. Ich sah mich verschlafen und verwirrt im Raum um, doch nichts war ungewöhnlich oder anders, als gestern Abend. Erst, als ich die Tür öffnete, bemerkte ich auf eine höchst unangenehme Weise, dass der Gestank aus der Küche kam. „Puh“, sagte ich laut „wasn das ey.“ Ich stieß die nur angelehnte Tür zur Küche auf. In der Dunkelheit sah ich nichts und als das Licht an war, fiel mir beim ersten und zweiten Hinsehen nichts ungewöhnliches auf. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass meine Mama in ungefähr zehn Minuten von der Arbeit kommen würde. Wir hatten kein Auto oder so was und um diese Uhrzeit kamen die Busse eigentlich sehr pünktlich, dass ich mich gut darauf verlassen konnte. Ich schloss die Tür zur Küche, ging zurück in mein Zimmer, schloss auch die Tür und öffnete das Fenster. Die kalte Morgenluft weckte mich endgültig und erfrischender. Ich atmete tief ein, dann suchte ich meinen Kram für den Dienstag zusammen und freute mich auf Mathe. Pünktlich wie erwartet hörte ich, dass die Wohnungstür aufgeschlossen wurde, zurück ins Schloss fiel, der Schlüssel in den Schlüsselkasten gehängt wurde und wie meine Mutter mit müder, entnervter Stimme sagte: „Tim, was hast du gemacht?“ Dass sie mich verdächtigte, etwas getan zu haben, was den Geruch verursachte, kam mir vorhin nicht in den Sinn, jetzt aber dachte ich, hätte ich damit rechnen sollen. „Nischts, Mama!“ antwortete ich ihr, stieß die Badezimmertür auf, nahm die Zahnbürste aus dem Mund und sagte: „Das war schon so als ich aufgestanden bin, das kommt aus der Küche!“ „Scheiße“, nuschelte sie wenig später. „Was ist denn los?“ rief ich ihr entgegen, als ich die restlichen, wichtigsten Dinge in meinen Rucksack räumte: meine Stifte und mein Collegeblock. „Der Kühlschrank ist kaputt gegangen.“ entgegnete sie gestresst. Der Tag fing beschissen an und machte auch im Matheunterricht keine Anstalten, sich zu verbessern. Zwar hatte Herr Branner Guten Morgen zu mir gesagt und gelächelt, aber er hatte uns auch unsere Klausuren zurück gegeben und mich dabei wieder so mitleidig angestarrt. Lilly beugte sich über mich, um meine Note sehen zu können und quietschte vergnügt auf, als sie das mit grüner Tinte geschriebene „Mangelhaft Plus“ unter meinen schmierigen Rechnungen erblickte. „Das ist doch super, Tim!“ sagte sie und umarmte mich kurz aber fest. Ich nickte, wusste aber nicht, ob ich das wirklich super finden sollte. Es war immerhin drei Notenpunkte besser als bei der ersten Klausur, aber es waren immer noch zwei Punkte zu wenig und Herr Branner hatte daran bestimmt gemerkt, dass ich Joe nie gefragt hatte, ob er mir mit Mathe helfen konnte. Nach dem Unterricht bat Herr Branner mich, wie letztes Mal, noch um ein kurzes Gespräch „Hast du kurz Zeit?“ Ich war verwirrt, nickte aber „Ja, hab jetzt eh nur ne Freistunde.“ „Gut“, er lächelte. Das schöne Lächeln. Lilly sagte, sie würden in der Pausenhalle auf mich warten, zwinkerte grinsend und ging dann mit den anderen runter. „Keine Angst“, sagte Herr Branner lächelnd, als er seine Sachen in seinen Rucksack packte „es ist nichts Schlimmes.“ Er zog den Reißverschluss zu und sah mich dann lächelnd an. Herr Branner lächelte unglaublich viel. „Bei deiner Klausur kann man wohl von Fortschritt reden, nicht?“ sagte er. Und er grinste. Ich nickte verstört „ähm.“ „Na ja, deshalb wollte ich nicht mit dir reden“, erklärte er und nahm sich wieder den Kugelschreiber. „Du scheinst aus dem Dreier Kurs der Einzige zu sein, der das Geld für die Stufenfahrt noch nicht überwiesen hat.“ Erklärte er. „Ach so“, sagte ich leise und fummelte an meinen Fingern. „Wenn du irgendwie Förderhilfe brauchst“, fing er dann an „dann musst du uns das auch mitteilen. Tim!“ Herr Branner zog eine Augenbraue hoch und sah mich weiterhin bedauernd an. Ich schüttelte jedoch nachdenklich den Kopf: „Nein, nein, das ist es nicht. Ich... ähm, ich weiß nicht, ich muss mit Mama... ähm, also meiner Mutter reden. Ich werd's ihr heute sagen. Gleich, nach Spanisch, sie ist zu Hause.“ „Okay“, er nickte und lächelte. Ich nickte und lächelte zurück, dann drehte ich mich um und ging verstört die Treppe zur Pausenhalle runter. Als ich nach Hause kam, lag noch ein Hauch des Gestankes vom Morgen in der Luft, doch war es nun deutlich angenehmer in der Wohnung. „Mama?“ rief ich, sobald ich die Wohnungstür offen hatte und aus meinen Schuhen schlüpfte. „In der Küche!“ antwortete sie mir, ich warf den Rucksack in mein Zimmer und ging zur ihr. Auf der Anrichte und in der Spüle lagen Tupperdosen, Gefrierbeutel und Konserven, frisches und weniger frisches Gemüse und verschiedene Gläser mit Soßen oder etwas, was mal eine Soße sein wollte, drinnen. „Was ist denn hier?“ fragte ich verwirrt, noch bevor ich mich erinnerte, dass sie etwas vom kaputten Kühlschrank geredet hatte. Meine Mama kroch von hinter dem Schrank hervor, wo sie sich befunden hatte, ihre Haare hässlich mit einem Haarband aus dem Gesicht haltend uns sah mich müde an: „Was gibt’s, mein Junge?“ „Ähm“, sagte ich, sah Mama dann an und erklärte ihr mit angesäuertem und enttäuschtem Ton mein Problem: „Das Geld, Mama! Für die Stufenfahrt! Das sollte schon längst überwiesen sein!“ „Oh“, entgegnete sie und klang dabei verboten desinteressiert, dann kroch sie wieder hinter den Schrank. Was auch immer sie da tat. „Oh, Mama!“ sagte ich „du hattest drei Monate Zeit dazu. Willst du nicht, dass ich mit nach Aachen fahre? Dass ich mich gut in meine Klasse integriere? Willst du, dass ich verstoßen werde und deshalb sitzen bleibe und Alkoholiker werde?“ Gut, ich wurde etwas pathetisch, aber in etwa traf das das, was ich sagen wollte. Sie antwortete mit einem leisen Lachen, dann wurde ihre Stimme ernst: „Nein Tim, das will ich nicht. Aber wie es dir wahrscheinlich aufgefallen ist“, sie hielt kurz inne, um irgendetwas sehr anstrengendes hinterm Schrank zu machen „ist unser Kühlschrank kaputt gegangen!“ Sie kam wieder hervor und sah mich an „Das Geld für deine Klassenfahrt brauchte ich für den neuen Kühlschrank, aber frag doch einfach Papa! Der überweist dir das schon.“ „Hm“, ich presste die Lippen aufeinander und verfluchte den alten Kühlschrank. Angesäuert riss ich den Informationszettel von der Magnetwand in der Küche und ging zurück zu meinen Schuhen, um sie wieder anzuziehen. „Was machstn jetzt?“ fragte Mama und ich hörte, wie sie wieder hinter den Schrank kroch. „Ich fahr zu Papa! Hier stinkst nach deinem Käse!“ „Du kannst ihn auch anrufen“, hatte sie mir noch hinter her gerufen, aber ich ignorierte das; vergrub meine Hände stattdessen tief in meinen Jackentaschen, zog die Schultern hoch und strapfte durch die kalte Novemberluft zur Straßenbahnhaltestelle. Mein Vater wohnte mitten in der Innenstadt, oberhalb des Bermuda Dreiecks in einer sehr großen Wohnung, die sich über das ganze letzte Stockwerk erstreckte und einen Balkon hatte, von dem aus man alles mitbekam, was unten in der Kneipenmeile passierte. Er arbeitete als Schauspieler am Schauspielhaus; wenn Theateraufführungen waren, vorwiegend Abends, während der Proben Vormittags bis Nichmittags. Nach den Herbstferien im Oktober waren wir einen Abend da gewesen und hatten uns Antigone im Rahmen des Deutschunterrichts angesehen. Ich war fast eingeschlafen, weil Theater so schrecklich langweilig war und war noch nicht mal begeistert vom Sitz gefallen, als ich meinen Vater auf der Bühne erkannt hatte, der die Rolle des Haimons spielte. Ich konnte auch nicht sagen, ob er schlecht oder gut war, davon hatte ich ja keine Ahnung. Was ich aber sagen konnte war, dass er jeden GZSZ-Darsteller um Meilen überbot, immerhin hatte er auch Schauspielerei studiert, aber er war gewiss kein Zac Efron. Und mit ihm wohnte sein ältester Sohn Josh und irgendwie hatte ich immer das Gefühl, dass die beiden eher so etwas wie eine Art Männer-Wohngemeinschaft hatten, anstatt des üblichen Eltern-Kind-Zusammenwohnen. Ich liebte meine Mutter und wir beide waren miteinander total tolerant, aber sie rastete an schlechten Tagen auch gern mal aus, wenn mein Schuh falschrum lag oder ich benutztes Geschirr nur in die Spüle statt in die Spülmaschine stellte. Solche kleinen Differenzen, so stellte ich es mir zumindest vor, schien es bei meinem Vater und Josh nicht zu geben. Aber vielleicht irrte ich mich, vielleicht trog der Schein, vielleicht war ich in diesem Haushalt einfach kein Mitglied der Familie, die hier lebte. Ich lief zielstrebig auf den versteckten Hauseingang in der Seitenstraße zu und drückte auf den Klingelknopf, neben dem in säuberlicher Handschrift die Namen „Jung / Sutherland“ zu lesen waren. Wenig später ertönte das summende Geräusch, welches mir mitteilte, dass ich die Tür auf drücken konnte und ich ging durch den Hausflur und joggte die Treppe hoch bis in den vierten Stock. Völlig außer Atem kam ich oben an, die schwere Tür war nur angelehnt. Offenbar erwartete mein Vater mich schon. Ich betrat die helle, geräumige Wohnung, schloss die Tür und genoss erstmal die angenehme Wärme hier oben. „Papa?“ rief ich durch den Flur, doch niemand antwortete. Ich zog meine Jacke aus und legte sie über die Garderobe, zog die dreckigen Schuhe von den Füßen und stellte sie neben den Chucks von Josh. Er war also da. „Josh?“ rief ich deshalb und als ich zur Wohnesszimmerküche ging, erschien sein Kopf von hinter der halben Trennwand, wo sich die Küchenzeile befand „Was gibt’s, mein kleiner, schwuler Freund?“ Seine Wortwahl ließ darauf schließen, dass mein Vater nicht da war. „Wo ist Papa?“ Joshs Kopf verschwand wieder, ich kam in den großen, hellen Raum und setzte mich auf einen hohen Stuhl an die Küchentheke. „Ist noch arbeiten. Aber Mama“, ich sog scharf die Luft ein und Josh lächelte entschuldigend, als er sich zu mich umdrehte „Tschuldigung, Timmi, Marion, hat gerade angerufen und gesagt, dass du kommen wirst. Sie hat gesagt, dass du nichts gegessen hast und ich soll dich zwingen, wenn es sein muss, dich anketten und gewaltsam einflößen, was zu essen.“ Ich nickte „Alles Klar.“ „Und sie hat gesagt, dass sie mich lieb hat!“ Er zwinkerte, dann drehte er sich wieder um und beschäftigte sich weiter mit dem, wobei ich ihn gestört hatte. „Was wird das?“ fragte ich neugierig. Er ignorierte mich kurz, dann hörte er auf, an etwas rum zufummeln, begutachtete es und trat dann einen Schritt zu Seite, damit ich es sehen konnte „Tadaa.“ Erfreut über sein was auch immer klatschte er in die Hände, dann zeigte er auf das weiße, komische Ding, das aussah, wie ein geschmolzener Schneemann, auf dem jemand seine Goldbärentüte ausgeschüttet hätte und sagte: „Das ist eine Torte. Die hab ich selbst gemacht. Nach originalem, neuseeländischem Rezept.“ „Tz“, ich verdehte genervt die Augen, dann sah ich zur Uhr und fragte „Wann kommt Papa nach Hause? Er muss das Geld für die Stufenfahrt überweisen.“ „Nicht so hastig.“ entgegnete Josh, er nahm ein Messer aus dem Messerblock und schnitt seine Torte an, schob dann das Messer unter das riesig ausgeschnittene Stück und hievte das auf einen bereitstehenden Teller, den er mir letztendlich vor die Brust stellte „iss ersmal n Stück Pavlova.“ „Aber ich hab Angst, dass ich sterbe, wenn ich das esse!“ Sagte ich und musterte sehr misstrauisch das entstellte Gesicht des Schneemannes vor mir. Josh lachte fröhlich, hatte sich selbst ein Stück seiner Torte abgeschnitten und biss dann genießerisch einen Happen ab. „Hm“, machte er „is n bisschen süß. Wollen wir uns ne Pizza bestellen?“ „Ich bin eigentlich nicht gekommen, um ein auf Freund zu tun.“ „Musst du nicht“, er legte sein Tortenstück zurück auf den Tortenteller und ging zum Telefon „bist ja mein Bruder.“ „Halbbruder!“ Er winkte mich ab, wählte dann (aus dem Kopf!) die Nummer des Pizzaliferservice und bestellte eine mittlere und eine große Pizza Margharita. Als er aufgelegt und sich wieder zu mich umgedreht hatte, musste er meine Stimmung dazu aus dem Gesicht abgelesen haben, denn sofort erklärte er mit sanfter Stimme: „Mensch, Tim, jetzt hab dich nicht so. Papa kommt frühestens in einer Stunde“, er sah zur Uhr, um sich zu bestätigen „und du hast Hunger und zu Hause stinkst nach Mamas Käse. Du bist so wie so viel zu selten hier dafür, dass du zur Familie gehörst. Lass uns Playstation spielen!“ Ich sah ihm widerstrebend zu, wie er sich mit seiner Figur durch eine virutelle Welt kämpfe, bis unsere Pizza kam, die wir dann aßen. Er ermutigte mich, nicht ganz so verkrampft zu sein. Meine Mutter und mein Vater hatten sich getrennt, als ich sechs Jahre alt war und ich erinnere mich nur vage an unsere Zeit als Familie zusammen. Zuerst hieß es, dass Josh und ich bei meiner Mutter blieben, dann kam es aber so, dass Josh, der nun ja nicht Mamas leiblicher Sohn war, doch zu Papa zog. Ich erinnere mich nicht, dass wir beide jemals so richtig dicke Freunde gewesen waren, aber so eine Großer-Bruder-Kleiner-Bruder Beziehung pflegten wir irgendwie schon. Als ich dann in die Schule kam, lernte ich Ray-Ray kennen und meine Abhängigkeit von Josh wurde immer geringer, bis wir uns nachmittags zu Hause schließlich gar nicht mehr sahen. Am Anfang war Josh noch regelmäßig nach der Schule mit zu uns gekommen und Papa hatte ihn Nachmittags nach der Arbeit abgeholt, als er aufs Gymnasium kam, erledigte sich die Sache dann auch und als ich schließlich aufs Gymnasium kam waren wir eher wie zwei flüchtige Bekannte als Geschwister. Niemand schöpfte auch nur den geringsten Verdacht, dass wir Brüder waren, wir wohnten nicht zusammen, sahen uns nicht besonders ähnlich und hatten vollkommen unterschiedliche Namen. Als Papa nach Hause kam, war er sehr überrascht, mich in seiner Wohnung anzutreffen „Tim?“ sagte er „was machst du denn hier?“ „Du musst mir meine Klassenfahrt bezahlen“, erklärte ich ihm sofort und war total froh, von Josh und seinen Fantasy-Fabel-Gestalten los zu kommen. „Wie bitte?“ entgegnete er matt, hängte seine Jacke an die Garderobe und ließ seine Schuhe mitten im Weg im Flur liegen. „Mama wollte das bezahlen, aber sie hat's vergessen, dann ist unser Kühlschrank kaputt gegangen und jetzt haben wir kein Geld mehr. Aber es ist wichtig. Es sollte bis Freitag überwiesen sein.“ Erklärte ich ihm und folgte meinen Vater in die Küche. Er schien nur halbherzig zuzuhören und als er Joshs Schneemantorte erblickte, seufzte er genervt auf. Er drehte sich zu mich um, lächelte mich liebevoll an und deutete auf das Gebäck: „Er backt ständig dieses Pavlovading, dabei schmeckt es uns gar nicht, ist viel zu süß. Ich denke, das hat irgendwas mit seinem plötzlichen Interesse an Neuseeland zu tun.“ Er ließ sich auf einen Stuhl an der Theke fallen und streckte sich „Hm, ich überweis das Geld morgen früh, okay?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)