Game over von Silverdarshan (SetoxJoey) ================================================================================ Kapitel 2: Level 1 - Tempura und verschlossene Türen ---------------------------------------------------- Hallo meine Lieben! Neues Jahr, neues Kapitel :) Ohne viele Worte, geht es nun weiter in die nächste Runde (wie versprochen natürlich vieeel länger, als die Einführung :]) Viel Spaß wünscht euch eure .★....★....★....★....★....★....★....★....★....★....★....★. Level 1: Tempura und verschlossene Türen Heiß dampfend lagen die leckeren Köstlichkeiten fein säuberlich angerichtet auf den Tellern und Schalen des Tisches und stießen verheißungsvolle Dunstwolken gen Decke, welche mit verführerischem Duft die Nasen der Anwesenden verwöhnten. Ein leichtes Lächeln erschien auf Joeys Lippen. Mokuba hatte einmal mehr bewiesen, dass er jeder akribischen Hausfrau locker die Stirn bieten konnte. Obwohl bei diesem Mahl die Küche einem Schlachtfeld hätte gleichen müssen, waren sämtliche Tatwaffen und Essensreste bereits verschwunden und hatten (bis auf einen dampfenden Topf) keine weiteren Spuren zurückgelassen. „Hast du das Essen bestellt?“, glitt es Joey reflexartig über die Lippen, doch die Quittung für diese Frechheit erhielt er sofort. „Du meinst weil es hier nicht aussieht wie in einem Schweinestall? Naja, ich dachte mir, dass ein bisschen Ordnung diesem Haushalt nicht schaden würde“, entgegnete Mokuba spitz und nahm gegenüber von Joey grinsend platz. „Touché!“ Ein Lächeln. Eine freudige Geste. Kurz… so kurz waren diese Momente. Denn nun begann das, was für Mokuba allabendlich schier unerträglich war. Das gemeinsame Essen bei Tisch. Joey betrachtete den Jungen bedacht und seufzte lautlos, denn nichts erinnerte nun mehr an die wenigen sorgenfreien Augenblicke und die sonst so offene Art des kleinen Kaibas. Auch wenn „kleiner Kaiba“ nicht mehr ganz dem Sinn der Zeit entsprach. Denn dieser war in den letzten Jahren enorm gewachsen. Lediglich wenige Zentimeter trennten ihn noch von Joey. Die kindlichen Züge waren kaum mehr zu erkennen und auch sonst bemühte sich Mokuba um ein beherrschtes Auftreten. Doch sobald Erinnerungen an seinen geliebten Bruder zutage traten, brach die Mauer, die der Junge um sich herum hart erarbeitet hatte. So auch jetzt… Mokubas Miene verdunkelte sich zusehends und der Blick auf das frisch zubereitete Menü ließ in ihm bereits die ersten Tränen heranwachsen. Joey, fest entschlossen, den Jungen nicht in seinem Elend ertrinken zu lassen, griff beherzt nach den Stäbchen und schnupperte besonders genüsslich an dem sich Bietenden. „Ist es das, was ich glaube, dass es das ist?“, gab er jauchzend von sich und erntete dafür einen zunächst sichtlich irritierten Blick von Mokuba. „Tempura mit Reis, Miso-Suppe, Tentsuyu und frittiertes Gemüse… ja.“ „Wahnsinn… ein richtiges Menü… Futter aus der Heimat! Ich wusste gar nicht, dass du so gut kochen kannst, Moki!“ „Ich… habe gern für… für Seto gekocht und… das hier war… das hier ist unser Lieblingsessen…“, erwiderte Mokuba leise und hatte Mühe, seine Stimme nicht erzittern zu lassen. Krampfhaft umklammerte er die beiden Stäbchen in seinen Händen, bis diese bereits bedrohlich zu knacken begannen. Es tat weh an Seto zu denken… Joey sah die Qual, die in Mokubas Augen tobte und stand diesem Schmerz dennoch hilflos gegenüber. Egal was er versuchte… egal wie sehr er sich um den Jungen bemühte, alles was er tat, erinnerte Mokuba früher oder später an seinen Bruder. Innerlich schlug er sich die flache Hand auf die Stirn. Er war aber auch ein Idiot und hatte das Talent dazu, Mokubas Aufmerksamkeit auch noch mehr oder weniger indirekt in diese Bahnen zu lenken… Geknickt ließ er die Stäbchen sinken und tastete behutsam nach Mokubas bebender Hand. Mit sanfter Gewalt löste er die die verkrampften Finger und legte die bereits ein wenig malträtierten Stäbchen zurück auf den Tisch, ehe sie dem Druck der filigranen Finger nicht mehr standhalten konnten. „Ich weiß, dass dir das alles hier nicht leicht fällt.“, begann er sanft und suchte den traurigen Blick des Jungen. Nur mit Mühe gelang es ihm, die mit Tränen gefüllten Augen auf sich zu richten. Die Unterarme weiterhin auf der kühlen Tischplatte abstützend, strich er mit dem Daumen beruhigend über die kalten, bebenden Hände seines Sorgenkindes. „Auch ich finde schrecklich, was mit dir und deinem Bruder passiert ist. Aber ich konnte nicht mehr tun, als dich zu mir zu holen, um euch zu helfen.“ „Und was ist mit Seto?! Er weiß nicht mal, dass du es bist, der mich bei sich aufgenommen hat! Ich brauche keine Hilfe, er braucht sie! Er ist ganz allein in unserem großen Haus und hat niemanden mehr! Seine Firma ist bankrott und keiner versucht ihm zu helfen und ich darf nicht zu ihm! Die Kaiba Corporation war sein Leben, Joey! Ich habe Angst um ihn! Und ich kann ihm nicht helfen… ich kann ihm einfach nicht helfen…“ Tränen rannen nun unablässig Mokubas Wangen hinab und schützend begrub er sie in seinen Händen, nachdem er sich wüst aus Joeys tröstendem Griff befreit hatte. Dieser schwieg betroffen und starrte leer auf seine geöffneten Handflächen. Blinde Wut kochte in ihm hoch. Nun hatte er Macht. Nun hatte er Geld… viel Geld… und dennoch war er Machtlos jenen gegenüber, die Seto und Mokubas Leben zerstörten. Sicher, er hatte zwei der besten Detektive Amerikas angeheuert, dennoch waren bisher nur recht magere Informationen über die Drahtzieher dieser Verschwörung ans Tageslicht gelangt. Und ohne schlagfertige Hinweise, wollte er keine Hoffnungen in Mokuba wecken, einfach, um zu verhindern, dass diese am Ende wieder gnadenlos zerbrachen. Umso hilfloser saß Joey ihm nun gegenüber. „Mokuba… ich bin sicher, dein Bruder ist ein zäher Bursche. Er wird einen Ausweg finden.“ Fast hätte Joey über diese Worte selbst gelacht. Ein kläglicher Versuch Mut zu spenden… Wie würde er sich wohl fühlen, wenn man ihm alles nähme? Wenn man ihm sogar Serenity entreißen würde und er nichts, absolut gar nichts dagegen unternehmen könnte? Ein eiskalter Schauer rann ihm zwischen den Schulterblättern entlang. Allein der Versuch Kaibas Leid nachzuempfinden, trieb ihm schon einen Dolch ins Herz. Und dennoch konnte er nur erahnen, welche Qualen Seto wirklich durchlitt. Niemand konnte diese Schmach, diesen Schmerz nachempfinden… Und Seto Kaiba hatte diese Last ganz allein zu tragen… „Er ist ganz allein, Joey… ganz allein…“, schluchzte Mokuba herzerweichend und schien die letzten Worte Joeys nicht bemerkt zu haben. „Ist… ist nicht euer Chauffeur bei ihm? Roland?“, versuchte es Joey weiter, erntete jedoch nur ein heftiges Kopfschütteln. „Roland lässt er niemals an sich heran. Niemanden… Ich kenne Seto… er wird ihn sicher entlassen haben… er kann doch niemanden mehr beschäftigen… außerdem hat Roland selbst eine Familie, um die er sich kümmern muss…“ Trotz der Worte gab Joey nicht auf. „Denkst du denn, dass der gute alte Roland sich so einfach von deinem Bruder abwenden würde? Ich habe den alten Kauz nur ein paar mal erlebt, aber ich glaube nicht, dass er sich so einfach abspeisen lässt. Selbst, wenn dein Bruder ihn entlässt. Ich glaube dafür liegt ihr ihm zu sehr am Herzen. Er versucht ihn bestimmt trotzdem zu unterstützen.“ Mokuba schniefte leise, schluckte die nächsten Tränen tapfer hinunter und rieb sich die bisherigen verräterischen Spuren von den Wangen. Er wusste das Joey nicht aufgeben würde und ebenso spürte er die ehrlich gemeinte Sorge, die ihm innerlich den Halt gab, den er in jenem Moment so dringend brauchte. Erneut rief sich Mokuba die Tatsache ins Gedächtnis, dass Joey für Seto und ihn so viel getan hatte, wie noch niemand jemals zuvor. Selbstlos hatte er für Mokuba gekämpft und ihn bei sich aufgenommen und natürlich entging ihm nicht, dass Joey insgeheim noch weitere Fäden im Hintergrund zog. Und das alles nur, für ihn und Seto. „Danke, Joey…“ „Danke, wofür denn?“, blinzelte jener sichtlich verwirrt und stützte den Kopf leicht schräg, um Mokuba spielerisch eine Antwort zu entlocken. Ein leichtes Lächeln huschte über die Lippen des jungen Kaibas, welches er daraufhin einfach nicht länger verbergen konnte. Joey war eben einfach einzigartig in seiner Person. „Danke für alles, was du für mich und Seto getan hast.“ Es schien als habe Joey nicht mit diesen Worten gerechnet. Nun selbst um einiges verdutzt, besah sich Mokuba das Gesicht des anderen, welches binnen weniger Sekunden eine außerordentlich gesunde Röte annahm. Sich verlegen hinter dem Kopf kratzend, lachte Joey beschämt und grinste unsicher. „Ach das… schon gut“, stotterte er ungewohnt wortkarg zusammen und zuckte schließlich sorglos mit den Schultern. „Ich habe dir und deinem Bruder auch viel zu verdanken. Durch das Preisgeld geht es Serenity wieder gut und ihr habt mich damals behandelt, als ich beim Battle City-Turnier im Koma lag. Ehrensache, dass ich euch helfe.“ Typisch Joey… dachte Mokuba kopfschüttelnd und nickte dennoch verstehend. Als ob diese beiden Beispiele Grund genug dazu wären… immerhin hingen diese beiden Fakten unmittelbar mit den Kartenduellen zusammen und hatten nichts, aber auch gar nichts mit Seto und ihm zu tun. Dennoch ließ Joey nichts unversucht, um von seinem Großmut und der offenen Liebenswürdigkeit abzulenken. Und doch war es gerade diese Bescheidenheit, die Joey einfach liebenswert machte. Nur allzu gut erinnerte sich Mokuba noch daran, dass Seto sich damals sehr um Joey gesorgt hatte. Nicht umsonst hatte er die besten Ärzte auf das Schiff geholt, um ihn behandeln zu lassen. Flüche und Schuldgefühle hatten damals von Seto besitz ergriffen. Kein Wunder, dass sein Bruder eine gewisse Abneigung Joey gegenüber entwickelt hatte. Seto, so wusste Mokuba, hasste Leichtsinnigkeit und diese offene herzensgute Art Joeys, trug ihr übriges dazu bei, dass Seto sich vehement von ihm distanzierte. „Weißt du“, begann Mokuba plötzlich und spielte gedankenverloren mit seiner Kette, an der das Kartenamulett mit Setos Foto hing. „Seto ist… Seto ist nicht so kalt wie alle glauben.“ Joeys Verlegenheit verschwand im Nichts. Augenblicklich horchte er auf, als Mokuba urplötzlich das Thema wechselte und ihm Dinge gestand, die Seto aus einem völlig anderen Blickwinkel beleuchteten. Einem Blickwinkel, aus dem Joey ihn noch nie betrachtet hatte. „Weißt du, aufgrund seiner Position musste Seto immer unnahbar wirken. Sein Image und sein Selbstbewusstes, stolzes Auftreten, half ihm immer neue Verträge an Land zu ziehen. Er hat hart für seine Firma gearbeitet. Eigentlich nur… Ständig hat er neue Systeme entwickelt und gleichzeitig versucht mich nicht zu lange allein zu lassen und für mich da zu sein. Damit er wegen mir die Kaiba Corp. nicht unnötig aus den Augen lassen muss, habe ich ihn so oft es ging begleitet und er hat mir viel beigebracht. Seto verlangt viel von seinen Mitarbeitern, aber er hat auch immer gut bezahlt. Aber die Medien sehen das alles nicht. Es ging niemandem schlecht, aber seine abweisende Art war vielen immer unheimlich. Die Schlagzeilen die in den Zeitungen standen und die Berichte, in denen man ihn verhöhnt hat, weil er so distanziert und kalt ist, haben ihn sehr verletzt. Er hat sich das nicht anmerken lassen, aber ich kenne ihn und wusste, dass diese Behauptungen schwer an ihm kratzen. Häufig hat er sich abends in sein Büro zurückgezogen und niemand, nicht einmal ich, durfte ihn stören. Meistens wollte er ungestört arbeiten, hat er gesagt, aber ich…“ Mokuba unterbrach sich kurz. Rasch wischte er sich die verräterischen Tränen von den Wangen und lächelte schief. „Oft kam er mitten in der Nacht in mein Zimmer, wenn er dachte ich schlief. »Ich mache das alles doch nur für uns« hat er… hat er einmal leise vor sich hingemurmelt. Seto ist der beste Bruder der Welt. Er hat mich nie im Stich gelassen und jetzt wird ihm unterstellt, er hätte mich vernachlässigt. Sie haben ihm seinen Lebensinhalt genommen, Joey. Alles wofür er gearbeitet hat! Die Kaiba Corporation hat er gegründet, damit er mir ein gutes Leben ermöglichen kann. Gozaburo unser Stiefvater hat ihn immer darauf gedrillt eiskalt und machthungrig zu sein. Aber genau das ist er nicht geworden. Seit Jahren werden ihm aber diese Dinge unterstellt und nun hat genau das dazu geführt, dass… dass ich hier bin. Joey du hast Seto die letzten Monate nicht erlebt er…“ Mokuba schluckte hart. „Seit diese Gerüchte im Umlauf sind, hat er mich nicht mehr an sich rangelassen, hat sich in sein Arbeitszimmer eingesperrt und…. Joey, er gibt sich für all das die Schuld! Ich weiß es!“ „Aber das ist Unsinn…“ Joeys Konter war schwach… kaum zu hören und nur ein leiser Hauch, der in der Fülle an Hilflosigkeit in Mokubas Stimme gnadenlos unterging. Natürlich wusste Joey, dass auch Seto… einige menschliche Empfindungen besaß. Das mochte auf den ersten Blick regelrecht bösartig wirken, doch Joey konnte diese eiserne Beherrschtheit, mit der Seto seine Gefühle anderen gegenüber (bis auf seinen Bruder) verheimlichte, nicht anders beschreiben. Umso erschütternder war es für ihn nun, einen winzigen Einblick in Setos Inneres zu erhaschen. Aber was hatte er auch erwartet? Das Mokuba ihm gestand, dass Kaiba das alles egal war? Für einen erschreckenden Moment, durchfuhr Joey, das er bis dato im Grunde tatsächlich so gedacht hatte. Stets war Mokuba an erster Stelle gewesen. Doch während der kleine Bruder bei ihm wohnen durfte und jemandem zum reden hatte, verbrachte der große Bruder seine Zeit wahrscheinlich ganz allein in dem großen Haus in Domino City… Weit weg von der Person, um die sich sein Leben bisher gedreht hatte… „Gibt es denn keine Möglichkeit, ihm irgendwie zu helfen, Joey?“, brach es plötzlich hilflos aus Mokuba heraus. Trauer und Wut vermischten sich zu einem bunten Strudel aus negativen Empfindungen, die in dem Jungen stetig ihre Bahnen zogen. Ja… genau diese Frage stellte sich Joey auch gerade. Ein wenig trostlos starrte ihn das nur noch gering dampfende Menü zu seinen Händen an. Der schmeichelnde Duft des Tempura und der Miso-Suppe hatte für ihn gerade nur einen sehr geringen Reiz. Nach all den niederschmetternden Worten war ihm der Appetit vergangen. Die angeheuerten Detektive taten schon alles in ihrer Macht stehende. Sie forschten nach neuen Informationen und ließen Joey regelmäßig ihre neuen Erkenntnisse zukommen. Doch in all dem Trubel hatte Joey die Person vergessen, um die es sich handelte: Seto. Nein… nein, es gab keine Möglichkeit… Joey wusste nicht wie… wusste nicht was er hätte tun können… außer… „Fliegen…“ „Was?“ Mokuba schreckte augenblicklich zusammen, als Joey sich ruckartig erhob und aus der Küche stürmte. „Joey…?“, rief Mokuba und konnte gerade noch ein kurzes „Warte!“ hinterher rufen, ehe Joey sich in sein Jackett geschwungen und ein paar Happen des Abendessens zwischen die Zähne geschoben hatte und mit einem kurzen „Bin bald wieder da!“, erneut aus seiner Wohnung stürzte. ******* Ein seichter Gong ertönte und wurde von einer sanften Frauenstimme abgelöst. Joey begrüßte die Tatsache, dass das monotone Brummen der Flugzeugmotoren endlich unterbrochen wurde. „Sehr geehrte Damen und Herren. In wenigen Minuten werden wir Domino City erreichen. Wir befinden uns derzeit im Landeanflug und bitten Sie daher, die Sicherheitsgurte noch angelegt zu lassen, bis wir die endgültige Parkposition erreicht haben und die Anschnallzeichen erloschen sind. Vielen Dank!“ Endlich! Genüsslich begann Joey seine müden Muskeln zu strecken und warf lächelnd einen Blick aus dem Seitenfenster der Maschine. Unter sich sah er seine ehemalige Heimatstadt… Bei genauerem Betrachten sah er bereits den Shop von Yugis Großvater. Die wenigen Wolkenkratzer boten dagegen kein Vergleich zu den monströsen Bauten in Chicago. Lediglich das imposante Gelände der Kaiba Corp. hätte mit ihnen mithalten können. Wer hätte gedacht, dass ich noch einmal hierher zurückkehren werde? Unter anderen Umständen hätte sich Joey gefreut. Noch immer kamen die vergangen Zeiten mit Yugi, Tristan und den anderen in ihm hoch, wurden jedoch sogleich von dem eigentlich Grund seiner Reise überschattet. Das kleine Päckchen in seiner Hand fest umklammernd, schloss Joey die Augen und wartete, bis die Räder des Flugzeuges den Boden berührten und die Insassen an Bord sicher zum Flughafen brachten. ******* „Sir? Wir sind da. Sir?“ „Hm? Oh! Verzeihen Sie bitte.“ Entschuldigend den Kopf senkend, übergab Joey dem verstimmten Taxifahrer das nötige Geld und verabschiedete sich höflich. Frischer Wind schlug ihm entgegen, als er die Tür des Autos aufstieß. Die Mittagssonne stand hoch am Himmel und vereinzelt nahm er das muntere Gezwitscher der beheimateten Vögel wahr. Neugierig betrachtete er sich die Gegend in der er sich befand. Viele kleine Einfamilienhäuser reihten sich aneinander, wurden lediglich ab und an durch kleinere oder größere Gärten unterbrochen. Kinder spielten abseits der Straße und zwei Häuser weiter lag ein schwarzer Hund schlafend vor einer Haustür. Alles in allem eine sehr idyllische Gegend. Seltsam… irgendwie hatte Joey vermutet, dass er ihn in einem kleinen Apartment in der Stadt antreffen würde. Aber das hier… Fehlte nur noch, dass er mit Badehose und Badeschlappen fröhlich pfeifend den Rasen mähte. Sich ungewollt schüttelnd, verkniff sich Joey das anbahnende Gelächter und steuerte stattdessen das Haus direkt vor seiner Nase an. Die wenigen Treppenstufen bis zur Tür waren für Joey jedoch schier unüberwindbare Hindernisse. Nun erst wurde ihm bewusst, dass er im Begriff war, einen Schritt zu tun, den er so schnell nicht wieder Rückgängig machen konnte. Ob es das richtige war, was er tat…? Der Augenblick des Zögerns währte nur kurz. Das Päckchen in seinem Jackett wog schwer und erinnerte Joey rasch daran, dass der Sinn seines Handelns die womöglich einzige Chance für jemanden war. Den Gedanken fest umklammernd, überwand Joey die letzten Meter und stand schließlich vor verschlossener Türe. Ein wenig verdutzt besah er sich das Namensschild unterhalb der Klingel. Erst jetzt wurde Joey klar, dass er den Nachnamen von Roland noch nie erfahren hatte. Mokuba hatte ihm die Adresse des treuen Mitarbeiters gegeben und mehr auf die Adresse, als auf den Namen geachtet. Roland Kimonura… Mehr als ungewohnt klang der Name in seinen Ohren. Aber gut. Gerade was Nachnamen anging, war Joey nunmehr sehr Tolerant. Immerhin hatte er seinen ja mehr oder weniger freiwillig gewechselt. Auf geht’s Joey! Vom herumstehen allein wird nicht viel passieren! Nun doch ein wenig unruhig, betätigte Joey mit bebenden Fingern die Klingel und fuhr bei dem schrillen Geräusch unnatürlich heftig zusammen. Ganz ruhig, Alter… du bist nur bei Roland! Keine Panik. Seine Aufregung nahm jedoch zu seinem Leidwesen noch zu, als er Schritte vernahm, die sich rasch der Tür näherten und nur wenig später tat diese sich auf. „Ja, bitte?“ Eine Frau, wahrscheinlich Mitte vierzig, stand fragend vor ihm und lächelte freundlich. Ihre langen braunen, zum Teil bereits mit leichten Grausträhnen durchsetzen Haare, waren zu einem kunstvoll geflochtenen Zopf zusammengefasst, der geschickt am Hinterkopf fixiert war. Eine hellblaue Bluse, gepaart mit einem schwarzen Rock, über dem eine weiße Schürze gespannt war, ließ darauf schließen, dass Joey die Dame gerade aus der Küche hervorgelockt hatte. „Verzeihen Sie die Störung, Mrs. Kimonura. Mein Name ist Joey A-… Wheeler. Ich bin ein Freund von Mokuba Kaiba und auf der Suche nach Ihrem Mann. Ist er zu sprechen?“ Nur schwer gelang es Joey seinen alten Nachnamen über die Lippen zu bringen. Doch hatte er die berechtigte Sorge, dass Roland ihn sonst womöglich nicht empfangen würde. Von Mokuba wusste er, dass auch Roland die Wucht der Medien zu spüren bekommen hatte. Laut dem kleinen Kaiba hatten viele Fernsehsender Interesse an einem Interview mit Roland, um näheres über Seto herauszufinden. Mrs. Kimonura zögerte einen kleinen Augenblick, ehe sie nach ihrem Mann rief. „Joey Wheeler? Was machen Sie denn hier?“ Sichtlich verblüfft bat Roland Joey um Einlass und nahm diesem zuvorkommend den Koffer ab, den Joey mit seinen wenigen Utensilien darin, mit sich herumtrug. „Schon gut, Liebling. Ich kenne den jungen Mann. Sei so gut und mach uns einen Kaffee.“, erklärte Roland an seine Frau gewandt und führte Joey in das geräumige Wohnzimmer. „Bitte setzen Sie sich doch. Ich habe lange nichts von Ihnen gehört.“ Dankend nahm Joey das Angebot an und ließ sich seufzend auf der dargebotenen Couch nieder. Roland nahm ihm gegenüber platz und musterte ihn unverhohlen neugierig. Joey jedoch war nicht minder an der äußeren Erscheinung seines Gegenübers interessiert. Der sonst stets einen penibel sauber gehaltenen Anzug tragende Roland saß ihm nun mit lässiger Jeans und weißem Hemd gegenüber. Die braunen Augen, welche meist von der klassischen Sonnenbrille verdeckt wurden, blitzten nun freundlich, waren jedoch auch von einer Spur Verwunderung durchzogen. Joey grinste keck. „Ich nehme an, Sie fragen sich, warum ich hier bin?“ Roland nickte bestätigend und deutete mit seinem Zeigefinger bewundernd auf das teure Jackett, welches Joey noch immer trug. „Sie scheinen in den letzten Jahren zu Geld gekommen zu sein. Sie sehen gut aus... Amerika scheint Ihnen gut zu tun?“ Das freche Grinsen wurde breiter, nahm zugleich an aufrichtigen Emotionen zu. „Ja, das tut es. Ich habe endlich mein richtiges Zuhause gefunden. Ich nehme an, Sie wissen nicht wer ich bin?“ Der Blick Rolands wurde skeptisch. Die kräftigen Augenbrauen zogen sich nachdenklich zusammen und die Haltung des Mannes spannte sich leicht. Ein wenig geistesabwesend nahm er die Tassen Kaffee entgegen, die ihm seine Frau auf einem Tablett servierte und reichte eine davon seinem Gast, der diese dankend entgegennahm. „Nun“, begann er schließlich und sah Joey offen an. „Um ehrlich zu sein, nein. Ich weiß nur von Mr. Kaiba, dass sie nach ihrem Abschluss in die Staaten gegangen sind. Die Gründe und den Ort ihres Verbleibs sind mir nicht bekannt.“ Diese Tatsache erstaunte Joey nicht. Auch während der Verhandlung, in der Mokubas Verbleib besiegelt wurde, hatte Joey alles daran gesetzt, vor Kaiba zu verheimlichen, dass er es war, der sich in ihre Angelegenheiten einmischte. Nun hieß es also, die Karten offen auf den Tisch zu legen. Joey gönnte sich einen Schluck des heißen Getränkes und genoss die wohlige Wärme, die sich sogleich in seinem Körper auszubreiten begann und seine aufgewühlten Nerven ein wenig beruhigte. Die Tasse auf dem Glastisch vor sich abstellend, beantwortete er die Fragen, die Roland offen ins Gesicht geschrieben standen. „Kurz nach meinem Abschluss erfuhr ich, dass mein leiblicher Vater auf der Suche nach mir war. Er fand mich und nahm mich mit in die Staaten. Seitdem lebe ich bei ihm. Matthew Andrews ist sein Name.“ „Matthew Andrews?!“ Rolands Gesicht erbleichte. Fassungslos besah er den Jungen vor sich und traute seinen Ohren kaum. Joey Wheeler war der Sohn des Inhabers von AC-Industries?! Des mächtigsten Automobilkonzerns der Welt? „Der Name ist Ihnen wohl ein Begriff?“, schmunzelte Joey und winkte lässig ab, als Roland nur trocken bejahte. „Wie dem auch sei. Es fiel mir zu Beginn nicht unbedingt leicht mit dieser neuen Position umzugehen, aber wie sich herausstellte, war diese Fügung mehr als nützlich für die Kaiba-Familie…“ „Für… ich verstehe nicht.“ Einen kurzen Moment schloss Joey die Augen, fragte sich, wie Roland wohl reagieren würde. Die Arme auf den Knien abstützend, suchte Joey nun instinktiv den Blick des anderen. „Ist Ihnen mein Name nicht noch anderweitig bekannt? Andrews…? Kennen Sie diesen Namen nicht auch aus den Medien? Er stand in allen Zeitungen, als-“ „SIE!“, entfuhr es Roland japsend. Keuchend schreckte er in den Stand und starrte fassungslos auf den blonden Mann hinab. Der Versuch, einige Schritte zurückzutaumeln, scheiterte dabei kläglich. Stattdessen landete er erneut unsanft auf der weichen Garnitur, die Augen weiterhin vor Entsetzen und Unglauben unnatürlich stark geweitet. „Sie haben Mokubas Sorgerecht erhalten?! Mokuba ist bei Ihnen? Am anderen Ende der Welt?!“ Joey nickte verhalten und die heitere Miene verschwand aus den tiefbraunen Augen. Ernsthaftigkeit durchzog die dunklen Seen und ließ Joey erwachsener wirken denn je . „Ja… Ich habe mich für Mokuba eingesetzt und den Prozess gewonnen. Wir wohnen in Chicago.“ „Ich kann es nicht glauben… Sie haben ihn? Sie? Er ist bei Ihnen?“ Roland wiederholte diese knappen Sätze mit mantraähnlicher Besessenheit. Joey wusste nicht wie ihm geschah, glaubte er zunächst bereits leichte Sehstörungen zu entwickeln, doch mit wachsendem Entsetzen bemerkte er die Tränen, die sich in den Augenwinkeln des anderen gebildet hatten. Auch die Lippen bebten verdächtig… Nur mit Mühe gelang es Joey einen verstörten Gesichtsaudruck zu unterdrücken, als Roland sein Gesicht schluchzend in seiner rechten Armbeuge vergrub. Die sonst so reglose Gestalt schüttelte sich am ganzen Leib und nur mit Mühe gelang es seiner Frau den aufgelösten Mann zu beruhigen. Sanft tätschelte sie seinen Rücken und warf einen entschuldigenden Blick in Richtung Joey. „Bitte verzeihen Sie, Mr. Andrews. Er ist ein wenig angeschlagen. Die letzten Monate waren auch für meinen Mann sehr hart. Mokuba und sein Bruder sind für ihn wie seine Kinder. Wir alle leiden unter den momentanen Umständen…“ Bleierne Gewichte legten sich um Joeys Herz und schnürten diesem allmählich die Luft ab. Hatte er geglaubt hier wäre die Stimmung ausgelassener? Roland war ein treuer Mitarbeiter und wie er nun wusste, hing ihm mehr an Seto und Mokuba, als Joey bisher auch nur ahnen konnte. Beschämt und ein wenig peinlich berührt, wartete Joey geduldig, bis Roland sich wieder einigermaßen gefasst hatte. Dankend hauchte er seiner Frau einen seichten Kuss auf die Wange, welchen diese mit einem aufmunternden Lächeln erwiderte. „Danke dir Betty. Es geht schon wieder. Verzeihen Sie meinen kleinen… Ausbruch. Wie meine Frau schon erwähnte, bin ich… ebenso bestürzt wie Sie über die Situation.“ „Ja…“, krächzte Joey und räusperte sich. Seine Stimme klang rau, kraftlos und nun fühlte er sich wieder ähnlich hilflos wie an jenem Abend zu Tisch. „Mokuba leidet unter der Trennung und er… hat Angst um seinen Bruder. Große Angst. Ich weiß nicht inwieweit seine Sorgen berechtigt sind, aber er hat mich angefleht etwas zu unternehmen. Ich weiß, es ist nur ein schwacher Trost, aber ich bin hier um mit Seto zu sprechen. Ich möchte ihm erklären, wie es Mokuba geht und dass er vorläufig bei mir lebt und… ich habe etwas für ihn. Ich hatte gehofft, dass Sie mir helfen könnten, mich zu ihm zu bringen.“ „Ja… ja, das sieht dem kleinen Mr.Kaiba ähnlich…“, seufzte Roland leise und rieb sich mit der linken Hand erschöpft über das Gesicht, die Schultern deprimiert hängen lassend. „Seto Kaiba hat mich zwei Tage nachdem seine Firma offiziell als Bankrott galt, entlassen. Ich habe ihm gesagt, dass ich auch ohne Bezahlung weiterhin an seiner Seite bleibe, aber er hat meiner Bitte kein Gehör geschenkt. Natürlich weiß ich, dass ich für meine Frau und meine Tochter Geld verdienen muss. Meine Tochter studiert in Oxford, wissen Sie? Nicht gerade billig dort und Seto hat ihr Studium finanziert. Da ihr nur noch ein Semester fehlt, können wir das Geld gerade noch auftreiben und sparen deswegen zurzeit bei uns ein wenig.“ Traurig lächelnd zog Roland seine Frau zu sich und legte ihr stützend eine Hand auf die Schulter, drückte sie eng an sich. „Wir kommen schon über die Runden, aber Mr. Kaiba… lebt nun völlig allein in dem großen Haus, seit man ihm seinen kleinen Bruder genommen hat. Betty hat ihm angeboten bei uns einzuziehen, aber… nun… ich denke Sie kennen ihn ein wenig. Er hat natürlich abgelehnt. Seitdem kehre ich zwar jeden Tag in die Villa zurück, halte den Garten in Ordnung und koche eine Kleinigkeit, soweit die Zeit es mir erlaubt, aber gesehen habe ich ihn seitdem kaum. Er ist abweisender denn je und… ohne ihnen Angst machen zu wollen, Mr. Whee- Mr. Andrews… ich befürchte, dass Mokubas Sorge berechtigt ist.“ Joey fühlte sich schlecht. Grottenschlecht. Der stolze und unnahbare Seto Kaiba sollte als gebrochener Mann zurückgezogen in seiner Villa hausen? Hatte er am Ende zu lange gewartet? Hätte er viel früher nach Domino City aufbrechen müssen, um Seto die Wahrheit zu sagen? Vielleicht hätte Seto nicht so sehr gelitten, wenn er gewusst hätte, dass Mokuba bei ihm war? Dass Mokuba bei seinen „kleinen Freunden“ war? In Sicherheit. Außerhalb der Verschwörung und in guten Händen? Schuldgefühle brachen auf Joey ein, wie eine Last, die auf seinem Rücken zerbrach, weil die Stricke sie nicht mehr halten konnten. Kraftlos sank er in den weichen Polstern zusammen und stöhnte leise. Am Flughafen hatte Joey nach der Landung Mokuba eine SMS geschickt. ‚Bin gelandet, mach dir keine Sorgen, ich bieg das schon wieder zurecht.’ War er zu optimistisch gewesen? Definitiv ja! „Bleiben Sie eine Weile bei uns?“, erkundigte sich Betty plötzlich und ließ Joey abrupt aufsehen. „Bei Ihnen?“, echote er und blinzelte die ältere Dame irritiert an. „Naja, ich dachte ich komme in einem Hotel in der Nähe unter. Machen Sie sich wegen mir bitte keine Umstände, ich finde schon-“ „Papperlapapp!“, ging Betty entschieden dazwischen und erhob sich. Ungeniert nach Joeys Koffer greifend, den Roland vorsorglich im Türrahmen abgestellt hatte, zwinkerte sie ihm zu. „In unserem Haus ist genügend Platz. Seien Sie unser Gast, solange sie hier in Japan sind. Sie gedenken doch eine kleine Weile zu bleiben oder?“ „Also, ich… ähm… eine Woche dachte ich. Sollte etwas dazwischen kommen kann ich auch noch etwas länger bleiben. In der Firma ist für Ersatz gesorgt und Mokuba kommt solange bei meinem Vater unter.“ „Das ist schön. Wissen Sie, wir hatten schon lange keinen Besuch mehr und ich denke dass Sie Mr. Kaiba gut tun werden.“ Joey errötete augenblicklich. Die offene Art von Betty stieß bei Joey auf weiche Hindernisse. Im Grunde hatte die kleine Dame sein Herz bereits im Sturm erobert. Roland konnte sich wirklich glücklich schätzen. Nickend bekräftigte er ihre Entscheidung und lenkte Joeys Aufmerksamkeit rasch auf sich zurück. „Ich kann Ihnen nichts versprechen, Joey. Ich darf Sie doch Joey nennen? Aber wenn sie darauf bestehen, können wir gleich aufbrechen. Ich war heute noch nicht bei ihm und Mr. Kaiba isst –wenn überhaupt- nur abends. Ich werde also einige Stunden dort sein. Ich kann Sie mitnehmen oder Sie kommen nach. Mr. Kaiba wohnt nur zehn Minuten zu Fuß von hier entfernt.“ Was? So schnell? Ein imaginärer Eimer voll von Eiswasser schien sich in jenem Moment über Joeys Kopf zu ergießen. Eigentlich lächerlich, doch aus irgendeinem Grunde fürchtete er die Begegnung mit Kaiba. Was, wenn er etwas sah, dass seine Grundsätze über diesen Kerl über den Haufen warf…? „N-Nein… schon in Ordnung, Roland. I-Ich komme mit Ihnen.“ Roland maß Joey noch einen langen Blick. Er war nichtssagend und dennoch so unglaublich tiefgehend, dass Joey noch Minuten danach eine heftige Gänsehaut verspürte. ******* „Da wären wir.“ Leise knirschte der Schotter unter den schweren Rädern des Wagens, als Roland ihn zielstrebig die schmale Einfahrt hinauffuhr. Joey hätte nie gedacht, sich einmal so sehr über getönte Fensterscheiben zu freuen. Reporter und allerlei Paparazzi tummelten sich zu Hauf vor dem riesigen Tor, welches –verbunden mit einer zwei Meter hohen Mauer- das Gelände der Villa abgrenzte. Routiniert lenkte Roland den Wagen durch die aufschreiende Menge, die sich sogleich auf das anbahnende Auto stürzte. „Mr. Kimonura! Nur eine Frage!“ „Wissen Sie etwas über den Zustand des gefallenen CEO?“ „Mr. Kimonura! Nur ein Foto!“ „Wie ist es, an der Seite eines gestürzten Firmenchefs zu arbeiten? Kann er Sie denn überhaupt bezahlen? Mr. Kimonura!!“ „Scheiße… Das ist ja schlimmer als ich dachte!“, entfuhr es Joey unkontrolliert, als sie die rufende Menge endlich hinter sich gelassen hatten. Joey konnte sich nun erklären, warum Roland nie auf seine Sonnenbrille verzichtete. Die bebenden Hände am Lenkrad waren ihm Beweis und Grund genug… „Betty und ich hatten gehofft, dass der Rummel langsam nachlässt, aber die Presse hält Mr. Kaiba nach wie vor für ein gefundenes Fressen. Ein Gerücht nach dem anderen bricht zutage. Jeder versucht so viel Geld aus seinem Elend zu schöpfen, wie möglich.“ Zorn entflammte in Joey. Als hätte Seto nicht schon genug Probleme! Die Presse zeriss sich das Maul über ihn und niemand dachte auch nur für eine Sekunde an den Menschen, der hinter all dem stand. Das mulmige Gefühl im Bauch nicht unterdrücken könnend, öffnete Joey die Wagentür, nachdem Roland diesen zuvor direkt vor die prächtige Haustür gefahren hatte und staunte nicht schlecht über den offen gezeigten Reichtum. Wie nicht anders zu erwarten, flankierten zwei mächtige Marmorstatuen weißer Drachen den Eingang, fletschten furchteinflößend die Zähne und hielten ihre breiten Schwingen weit auseinander, sodass sie sich fast gegenseitig berührten und als eine art Vordach über der Tür fungierten. Relativ zügig trat Roland an seine Seite und öffnete die Tür. „Schnell, gehen Sie. Die Paparazzi haben in der Regel gute Objektive. Morgen wird ein Aufschrei durch die Presse gehen, wenn ein gutes Foto dabei sein sollte, dass sie als Andrews-Spross enttarnt.“ Joey nickte beklommen, kam sich nunmehr vor wie der sprichwörtliche Affe im Zoo. Erleichtert atmete er auf, als die wuchtige Tür sich hinter ihnen schloss und eine tödlich anmutende Stille im Raum einkehrte. Nichts regte sich. Die monströse Eingangshalle war wie leer gefegt. Lediglich ein steinerner Wächter begrüßte die beiden Männer mit seinem finsteren Blick. Ein dritter, mächtiger weißer Drache stand erhobenen Hauptes im Zentrum des Raumes und wurde von zwei geschwungenen Treppen flankiert, die je zu seiner Linken und zu seiner Rechten in die oberen Etagen führten. Kaltes Weiß und kühles Blau waren die dominierenden Farben in diesem Haus. Teppiche und allerlei kleinere Statuen verschiedener Duel-Monsters zierten die Wände und wirkten wie so manche Wasserspeier der Notre-Dame. In Verbindung mit der hier herrschenden Leere, begann Joey leicht zu frösteln. Die Atmosphäre in diesem Haus war einfach zu bedrückend und schwer. „Möchten Sie mir Ihr Jackett geben?“, erkundigte sich Roland und entledigte sich zugleich galant seines eigenen Mantels. „Nein… nein, mir ist ein wenig kalt. Danke.“, winkte Joey ab und erntete dafür einen seltsamen Blick. „Ja… selbst wenn hier ein Feuer lichterloh brennen würde, wäre einem zum frieren zumute, nicht wahr? Es gab Zeiten, da war das anders… Sie finden mich in der Küche. Erdgeschoss dritte Tür im rechten Flügel. Mr. Kaibas Zimmer liegen im Obergeschoss. Viel Glück, Joey und… seien Sie bitte vorsichtig.“ Ein wenig verängstigt sah Joey zu, wie Roland sich von ihm abwandte. Vorsichtig?? War das nun ein gut gemeinter Rat um sein eigenes Leben nicht zu riskieren, oder galten diese Worte vielmehr Setos Befinden? So oder so, dachte Joey, keine Option war die bessere. Mit rasendem Herzen erklomm er die vielen Stufen, näherte sich immer weiter seinem Ziel. Wie sollte er Seto begegnen? Welche Worte waren angemessen für einen gestürzten Mann? Gab es überhaupt Worte, die in diesem Moment eine Bedeutung hatten? Und gab es diese für ihn? Ein wenig verloren stand Joey in dem breiten Korridor der oberen Etage. Links und rechts erstreckten sich lange Gänge mit jeweils vier bis fünf Türen auf jeder Seite. Super… dachte Joey grummelnd und kratzte sich ratlos am Kopf. Der alte Kauz hatte kein Wort darüber verloren, hinter welcher Tür sich Setos Arbeitszimmer befand. Ein wenig ziellos irrte Joey hin und her, ehe er sich für die linke Seite des Flügels entschied. Leise und möglichst keinen Laut erzeugend pirschte Joey an jedem Zimmer vorbei und glaubte schon den falschen Weg eingeschlagen zu haben, als er plötzlich ein leises Geräusch am Ende des Ganges vernahm. Das charakteristische Geräusch von raschelndem Papier hatte für Sekunden sein Gehör gereizt. Als hätte jemand einen Stapel fallen lassen… Schritt für Schritt näherte er sich der verschlossenen Tür, sah das helle Tageslicht unter dem Spalt hindurch dringen und berührte schließlich den kalten Knauf. Beruhige dich… Beruhige dich, Joey…, sprach er auf sich ein und wusste, wenn er den letzten Schritt nicht tat, würde er umkehren. Sich dem Päckchen in seiner Tasche erneut bewusst werdend, übte er zittrig Kraft auf den Knauf aus und spürte schon im nächsten Augenblick, wie die Tür sich leise quietschend öffnete. Für dich, Moki! ******* Warum tat sich dieser Idiot das alles an? Seto verstand es nicht. Er verstand einfach nicht, warum Roland noch immer täglich zu ihm kam. Und das obwohl er ihn entlassen hatte. So wie er alle entlassen hatte. Bittere Galle stieg in seiner Kehle hoch, als er den schwarzen Wagen wie jeden Tag die Einfahrt hinauf kommen sah. Einen verächtlichen Laut ausstoßend wandte er sich von der breiten Fensterfront ab und stützte seine Arme kraftlos auf dem riesigen Arbeitstisch ab. Er braucht keine Hilfe! Denn niemand konnte ihm helfen… und er ertrug keine mitleidigen Blicke. Seine Firma war ruiniert… und… Mokuba war fort… man hatte ihm alles genommen. Setos Augen brannten. Wie so oft in den letzten Monaten hatte Seto kaum mehr als drei Stunden pro Tag geschlafen und die verräterische Nässe in seinen Augenwinkeln tat ihr übriges dazu. Noch konnte er sie zurückhalten… noch hatte er sie im Griff… die Tränen, die er in seinem Leben hätte vergießen müssen. Dünn war die Haut geworden, die Seto einst ein stabiler Panzer gewesen war. Den Verlust seiner Firma hätte er verkraften können… irgendwie… aber dass sie ihm Mokuba weggenommen hatten… Wut und Verzweiflung begehrten auf. Innerlich zerreißend griff sich Seto in einer ohnmächtigen Geste an den Kopf und verkeilte seine grazilen Finger in der braunen Mähne. Seichter Schmerz durchzuckte seine Kopfhaut, doch war der Schmerz nicht einmal annähernd so stark, wie der, er in seinem Herzen tobte und ihn Sekunde um Sekunde ein Stück seiner selbst beraubte. Einmal mehr begann das Zittern in seinen Händen. Rasch ausbreitend, bemächtigte es sich seines ganzen Körpers und ließ den ehemals stolzen Seto Kaiba schutzlos zurück. Kalter Schweiß brach ihm aus und der immer hektischer werdende Atem ließ schon bald schwarze punkte vor seinen Augen tanzen. Nur mit Mühe gelang es Seto die einladende Schwärze zurückzudrängen, die ihn in den letzten Wochen bereits mehrmals heimgesucht hatte. Stolpernd prallte er gegen die durchaus spitze Tischkante und stieß sich schmerzhaft das linke Becken. Fluchend aufzischend, verkrallte er seine Finger in den wahllos verstreuten Dokumenten und atmete schwer. Heiß stieß sein röchelnder Atem an das wehende Papier, den Kopf erschöpft auf der kalten Tischplatte ruhend. Wie einfach wäre es, nun die Augen zu schließen und sie nie wieder öffnen zu müssen… Er hatte doch alles versucht… alles… drei Monate lang hatte er für Mokuba gekämpft… hatte versucht die Drahtzieher hinter diesem Komplott zu finden und gegen die richterlichen Verfügungen anzukämpfen. Und nichts hatte etwas gebracht. Mokuba… Er wusste nicht einmal wohin man seinen Bruder gebracht hatte… die Gegenpartei hatte den Prozess gewonnen… was wenn… Seto wurde schlagartig schlecht. Was wenn sie Mokuba für ihre Zwecke missbrauchten? Er war so schwach… so hilflos… ein Nichts… ein verdammtes Nichts… Und doch… er konnte sich nicht aufgeben… Mokuba… er musste weiterkämpfen. Für ihn! Entgegen der vor Erschöpfung aufschreienden Muskeln, stemmte sich Seto Zentimeter um Zentimeter nach oben, fand sich nach unendlich erscheinenden Minuten in einer fast aufrechten Position wieder. Lediglich seine Arme verweilten noch stützend auf der Arbeitsplatte. Wenn ihn so jemand sähe… Gebrochen… Am Ende… Gestürzt… Gefallen. „Mokuba…“ Ein Wort… Ein Name… Der einzige Mensch, der Setos Gedanken aufrecht erhielt und der ihn zugleich auf verquere Art und Weise in den Wahnsinn trieb. Ich bin ein Schwächling… Nichts Wert… GAR NICHTS! Wild stoben die Blätter auseinander und segelten höhnisch langsam gen Boden. Die Hand noch immer zum Schlag erhoben, mit der er den Stapel von seinem Tisch gefegt hatte, bahnte sich ein trockener Schluchzer seine Kehle hinauf. Heftig ein und ausatmend fuhr sich Seto über die Augen und ließ seinen Kopf sinken. Es war doch alles umsonst… Nichts war für ihn noch von Bedeutung. Und wäre nicht jemand in sein Zimmer eingetreten, wäre auch dieser Tag wie all die anderen verlaufen. Still und Trostlos in der Einsamkeit… ******* Joey blieb starr im Türrahmen stehen. Einen Augenblick schien sein Atem auszusetzen, ehe er mit ungeheurer Wucht zurückkehrte und er in allerletzter Sekunde ein schockiertes Keuchen unterdrückte. Vor ihm stand er… Seto. Den eiskalten Blick auf ihn gerichtet und Joey tödlich durchbohrend. Der erste Schock schien aus der einst so stolzen Gestalt gewichen zu sein, denn nur mehr pure Verachtung und Abscheu schlugen ihm entgegen. Doch all der Hass konnte Joey nicht über die gebrochene Gestalt hinwegtäuschen, die – einem Häufchen Elend gleich – vor ihm an einem Schreibtisch kauerte. „Was… willst DU hier…?“ Joey schluckte hart. Kaiba richtete sich nun mühevoll zur Gänze auf, stolz wirken wie eh und je. Lediglich seine Augen und die verdächtigen Ringe darunter verrieten ihn. Bedrohlich langsam baute Seto sich vor Joey auf, blieb schließlich nur wenige Schritte von ihm entfernt. „Was… willst du hier… Wheeler…?“ Ein giftiges Fauchen… das Fauchen eines Tigers… einer Bestie… Joey stolperte ungewollt einen Schritt zurück. Seto schien nur auf jemanden gewartet zu haben, dem er für all sein Leid den Kopf abreißen konnte. Und Joey stand nun wie auf dem Präsentierteller vor ihm. „I… Ich muss mit dir reden… Kaiba.“ „GAR NICHTS MUSST DU! VERSCHWINDE!“ „Beruhig dich, Alter!“, entfuhr es Joey entrüstet, nachdem er sich von dem ersten Schock ein wenig hatte erholen können. Entschlossen einen Schritt auf Seto zumachend, entging ihm das entsetzte zusammenzucken Setos keineswegs. „Was machst du hier, Köter?! Wie kommst du hier rein?! Verschwinde… Sofort…“ Trotzig reckte Joey das Kinn und verschränkte die Arme vor der Brust. Warum all die Dokumente wild verstreut auf dem Boden lagen, konnte er sich schon denken. Der nächste Schritt würde schwer, aber er musste ihn wagen. Jetzt. Denn es ging nicht nur um Seto… „Jetzt hörst du mir mal zu, Kaiba.“, begann Joey forsch, überwand die letzten Meter und tippte dem völlig fassungslosen Seto entschieden auf die Brust. „Ich bin vor wenigen Stunden aus Chicago eingeflogen und habe einen Scheiß-Trip hinter mir, wenn du es genau wissen willst. Und weil ich deinen fetten Sturschädel genau kenne, erzähl ich dir jetzt mal was: Während du hier in deinem Selbstmitleid vor dich hinsiechst, macht sich dein Bruder große Sorgen um dich!“ „Mo…kuba…?“, echote Seto tonlos und schwankte plötzlich bedrohlich. Reflexartig umklammerte Joey rasch Setos Arm und hinderte diesen daran, blindlings in sich zusammenzufallen. „Hey… alles okay…?“ Besorgt musterte Joey das viel zu blasse Gesicht und ließ sich vorsichtig neben Seto auf den Boden sinken. „Scheiße… Kaiba… rede mit mir!“ Kein Wort verließ dessen Lippen. Weiß wie der Mantel den er trug, starrte Seto in die braunen Iriden Joeys und keuchte schwer. „Seto… Alter… rede mit mir… ROLAND!“, rief der Blonde verzweifelt aus der Tür und hoffte inständig, dass der Gerufene wusste, wie man mit einem völlig verstörten Seto umzugehen hatte. „Man Kaiba… mach endlich den Mund auf! Mokuba ist bei mir, okay? Er lebt bei mir in Chicago! Ich habe sein Sorgerecht erhalten!“ „Du hast… was…?“ Endlich kam Regung in den Größeren vor ihm. Joey lächelte erleichtert und nickte, nur um einen erstickten Schrei von sich zu geben, als Seto sich wild brüllend auf ihn stürzte. „DU HAST MEINEN BRUDER?! DU HAST MIR MEINEN KLEINEN BRUDER WEGGENOMMEN?!“ Völlig außer sich, riss Seto Joey von den Füßen und pinnte diesen zu Boden. Die Hände fest um den zierlichen Hals den blonden Jungen geschlungen, drückte Seto diesem gnadenlos die Luft aus den Lungen. „Du hast mir meinen kleinen Bruder genommen und wagst es, hier aufzutauchen?!“, fauchte Seto blind vor Wut und reagierte nicht einmal, als Roland die Treppen hinaufgepoltert kam und schlitternd vor dem sich ihm bietenden Szenario stehen blieb. „Um Himmels Willen, Mr. Kaiba! Lassen Sie den Jungen los!“ Roland graute der Anblick, doch Joeys Lippen färbten sich bereits bläulich, während dessen Finger sich schmerzhaft in Setos Arme gruben und diesen erfolglos abzuwehren versuchten. Ohne auf die erzürnten Worte seines ehemaligen Vorgesetzten zu achten, presste sich Roland an Setos Rücken und umklammerte dessen Arme, sodass Seto genötigt wurde, endgültig von Joey abzulassen. Hustend krümmte sich Joey am Boden liegend und sog rasselnd frischen Sauerstoff in seine Lungen. Fassungslos musste er mit ansehen, wie Roland Seto nicht mehr bändigen konnte und einen schmerzhaften Kinnhaken durch Kaibas Ellenbogen kassierte. Stöhnend schlug Roland auf dem Boden auf und nuschelte verständnislose Worte, bemühte sich jedoch sogleich wieder auf die Beine zu kommen, nur um sich schützend vor Joey zu stellen. „Be...ruhigen Sie sich… bitte“, versuchte er es erneut und verfolgte argwöhnisch, wie Seto sich mühevoll mithilfe des Tisches emporzog und nun erhaben den beiden Malträtierten gegenüberstand. Die Beine des jungen Brünetten bebten dabei verräterisch, dennoch gewahrte Seto seine stolze und vor Zorn sprühende Haltung. „Raus…“ Ein Wort… Nur ein Wort verließ Setos Lippen. Und dennoch war es so voll von abgrundtiefem Hass, dass es den Anwesenden eiskalte Schauer über den Rücken trieb. Joeys Hände zitterten unkontrolliert. Derart außer sich, hatte er Kaiba noch nie erlebt. Nichts von der gefassten Art war ihm erhalten geblieben… Kaiba musste völlig am Ende sein, wenn er sich die Blöße gab und sein aufgewühltes Innerstes die Führung übernahm. „Kommen Sie, Joey…“ Roland, der die Gefahr noch immer roch, bugsierte Joey behutsam aus dem Raum und schloss die Tür, den stechenden Blick Setos bis zum Ende deutlich spürend. „Bitte Entschuldigen Sie“, wandte er sich danach an Joey und fuhr sich aufgelöst durch die zerzausten Haare. „Ich hätte sie nie hierher bringen dürfen.“ ******* Seto vernahm die leisen und erschüttert gesprochenen Worte. Hätte ein kleines Fenster Einblick in dessen Seele geben können, so hätten Roland und Joey mit ansehen müssen, dass in jenem Augenblick nicht nur Setos Körper kraftlos zusammenbrach. Fortsetzung folgt! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)