Bittersüßer Sommer von Karma (Jean x Robin) ================================================================================ Kapitel 1: Ein Anfang ... ------------------------- "Er ist da! Er ist tatsächlich gekommen!" In meinem Gesicht, davon war ich überzeugt, musste gerade ein unglaublich breites, dümmliches Grinsen kleben. Höchstwahrscheinlich sah ich aus wie ein grenzdebiler Vollidiot, aber das war mir ebenso egal wie dass ich klang, als hätte ich Helium inhaliert. Mich kümmerte es nicht mal, dass ich den Arm meiner besten Freundin Bina gerade vor lauter Überschwang halb zerquetschte. Mir war nur eins wichtig: Er war tatsächlich gekommen! Ja, er. Jean. Der Traum meiner schlaflosen Nächte – und auch der Traum der Nächte, in denen ich schlief. Kurz und gut, mein absoluter Traum, egal ob im wachen oder unwachen Zustand. Seinen Namen hatte ich vor gut drei Wochen aufgeschnappt, als ich ihn und den anderen Jungen, mit dem er immer abhing, wieder einmal rein zufällig belauscht hatte. Ja, gut, zugegeben, ein wirklicher Zufall war das nicht gewesen. Seit ich Jean vor mittlerweile gut vier Monaten das erste Mal gesehen hatte, war ich praktisch zu einem Stalker mutiert. Ich verbrachte seitdem jeden Nachmittag nach der Schule in der Stadt – immer in der Hoffnung, Jean dort zu sehen und ihn ein bisschen aus der Ferne anhimmeln zu können. Ihn anzusprechen traute ich mich nämlich nicht. Ich bekam ja schon immer Herzrasen und feuchte Hände, wenn ich mich im Schutz irgendwelcher Klamottenständer in diversen Geschäften in seine unmittelbare Nähe geschlichen hatte und er so nah an mir vorbeiging, dass ich ihn hätte berühren können, wenn ich nur die Hand nach ihm ausgestreckt hätte. Natürlich tat ich das nie und er hatte auch bis heute noch nichts von mir, seinem heimlichen Fan, bemerkt. Aber das war auch besser so. Wenn er jemals merken sollte, wie ich ihm hinterher hechelte und ihn praktisch verfolgte, dann würde er mich sicher hassen oder verachten. Und das wollte ich nicht. Um keinen Preis der Welt wollte ich jemals Abscheu in seinen dunklen Augen, die meiner bescheidenen Meinung nach die schönsten Augen der Welt waren, erkennen oder sehen müssen, wie diese tollen Lippen, die wie zum Küssen gemacht zu sein schienen, sich verächtlich verzogen. Da blieb ich lieber weiterhin ein peinlicher, verknallter Stalker, den er nicht wahrnahm, als zu riskieren, dass er mich hasste. Ich war sechzehn, ich durfte peinlich und verknallt sein. "Träum nicht, steig ein, Robin. Und hör endlich auf, die Blutzufuhr in meinem Arm abzuschneiden." Bina löste ihren Arm aus meiner Umklammerung, gab mir einen Stoß in die Rippen und ich merkte erst jetzt, dass wir beide die Letzten waren, die noch auf dem Parkplatz neben dem Bus standen. Alle Anderen waren bereits eingestiegen. Nur der Busfahrer und Sandra, eine der Betreuerinnen unserer Gruppe, standen noch mit uns draußen und warteten darauf, dass ich mich endlich mal in Bewegung setzte. "Tschuldigung", nuschelte ich beschämt, kletterte mit hochrotem Kopf in den Bus und ging so weit wie möglich nach hinten durch. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich bemerkte, dass sowohl in der letzten als auch in der vorletzten Reihe noch ein paar Plätze frei waren. In der Reihe davor saßen Jean und sein Begleiter, unterhielten sich und schienen mich nicht mal zu bemerken. Um ein Haar wäre ich wie angewurzelt mitten im Gang stehen geblieben, aber Bina, die immer noch hinter mir war, drängte mich unbarmherzig weiter und nahm mir auch gleich die Entscheidung darüber, wo ich mich denn nun hinsetzen sollte, ab, indem sie mich kurzentschlossen auf den Fensterplatz direkt hinter Jean schubste. Sie selbst machte es sich neben mir bequem und grinste, als ich sie dankbar und panisch zugleich ansah. "Gib's zu, das wolltest du doch", flüsterte sie, zwinkerte mir zu und lachte, als ich nur ertappt den Kopf einzog und mal wieder rot wurde. Allerdings leugnete ich es nicht. Das wäre auch zwecklos gewesen, denn immerhin wusste Bina genau, was mit mir los war. Gleich nach meiner ersten Begegnung mit Jean war ich schließlich total aufgekratzt zu ihr gerannt und hatte ihr ausführlich und mit viel wildem Herumgefuchtel von diesem damals noch namenlosen Schönling erzählt, der mir schon mit dem ersten Lächeln, das ich von ihm gesehen hatte, vollkommen den Kopf verdreht hatte. Genau aus diesem Grund waren Bina und ich schließlich auch hier in diesem Bus auf dem Weg in Richtung vier Wochen Ferienfreizeit mit einer Gruppe annähernd Gleichaltriger, von denen wir niemanden kannten. Nachdem ich bei einem meiner ›Lauschangriffe‹ erfahren hatte, dass Jean und sein Freund – nein, nicht so ein Freund, einfach nur ein Freund – bei dieser Reise mitfahren würden, stand für mich fest, dass ich auch mitmusste. Unbedingt. Und weil ich einfach zu feige war, alleine zu fahren, hatte ich erst Bina angefleht, mitzukommen, nur um dann gemeinsam mit ihr ihre und meine Eltern so lange anzubetteln, bis sie uns schließlich völlig entnervt ihre Erlaubnis gegeben hatten. Und das alles für einen Jungen, von dem ich nichts wusste außer seinem Vornamen. Aber der Gedanke daran, ihn vier ganze Wochen lang nicht zu sehen, hatte mich fast wahnsinnig gemacht und mir ungewohnte Beredsamkeit verliehen. So etwas kannten meine Eltern von mir gar nicht. Eigentlich war ich auch nicht so, aber dieses eine Mal war alles anders. Es war zwar bei weitem nicht so, als hinge mein Leben wirklich davon ab, dass ich diese Reise machen konnte, aber zumindest für mich fühlte es sich eindeutig so an. Wie hätte ich denn vier Wochen ganz ohne Jean überleben sollen? Nein, das erschien mir einfach unmöglich. Ich wusste, dass das albern war, aber das war mir egal. Ich hatte mir etwas in den Kopf gesetzt und dieses eine Mal tat ich wirklich alles, um mein Ziel auch zu erreichen. Jeans Lachen vom Sitz vor mir holte mich wieder in die Realität zurück und entlockte mir ein unhörbares Seufzen. Vier Wochen lang würde ich ihn jetzt wirklich jeden Tag sehen. Ich könnte ihn anhimmeln, wann immer ich wollte, könnte vielleicht sogar mal ein "Hi" von ihm bekommen, wenn ich mich denn endlich mal traute, ihn anzusprechen ... Der Gedanke war aufregend und beängstigend zugleich und hielt mich den Großteil der Fahrt beschäftigt – zu beschäftigt, um mit Bina zu quatschen, aber nicht zu beschäftigt, um meinen Kopf gegen die Fensterscheibe zu lehnen und Jeans Spiegelung im Glas zu beobachten. Jedes Lächeln von ihm ließ mein Herz einen Salto schlagen und als er schließlich irgendwann an die Schulter seines Freundes gelehnt einschlief, seufzte ich lautlos und wünschte mir, mit seinem Freund zu tauschen und Jean wenigstens ein einziges Mal auch so nah sein zu können. Als der Bus endlich das Ziel erreichte, fühlte ich mich ziemlich zerschlagen. Die ganze Fahrt über hatte ich so getan, als würde ich aus dem Fenster schauen, aber statt der vorbeiziehenden Landschaft hatte ich nur den schlafenden Jean beobachtet. Er sah so friedlich aus, dass ich tatsächlich einen Moment lang vollkommen unberechtigterweise wütend wurde, als sein Freund ihn wachrüttelte und ihm mitteilte, dass es Zeit zum Aussteigen war. Eilig schüttelte ich diese Gedankengänge ab und kletterte hinter Bina, die mir mein Ignorieren ihrer Person während der letzten Stunden glücklicherweise nicht nachtrug, aus dem Bus. Dabei war mir die ganze Zeit über bewusst, dass Jean und sein Freund direkt hinter mir waren – eine Gewissheit, die mein Herz zum Rasen brachte und mich beinahe zu einem Opfer der Schwerkraft werden ließ. Nur mit allergrößter Mühe gelang es mir, unfallfrei aus dem Bus zu kommen und mich gemeinsam mit Bina zum Rest der Gruppe zu gesellen, die ungefähr zu gleichen Teilen aus Jungs und Mädchen bestand. Kaum dass alle ausgestiegen waren, riefen Sandra, Martina, Frederic und Marc, unsere Betreuer für die nächsten vier Wochen, uns zu sich und erklärten uns, dass es zwei Bungalows gab – einen für die Mädchen und einen für die Jungs. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, als Sandra uns die Regeln vorzubeten begann, denn ich war viel zu sehr damit beschäftigt, Jean, der keine zwei Meter von mir entfernt stand, aus dem Augenwinkel zu beobachten und zu hoffen, dass das niemandem auffiel. Nur am Rande bekam ich mit, dass die Bungalows ausschließlich über Zweierzimmer verfügten. Ich kam erst wieder richtig in der Realität an, als Bina mich antippte und mir mitteilte, dass wir unser Gepäck holen und in unsere Zimmer bringen sollten. "Du hast übrigens ein Zimmer ganz für dich alleine, weil ihr Jungs zu neunt seid und du dich nicht gemeldet hast, als gefragt wurde, wer sich mit wem ein Zimmer teilen will. Die Chance, mit ihm in einem Zimmer zu pennen, hast du also verpasst", teilte sie mir unterwegs mit und reichte mir meine Reisetasche, ehe sie ächzend ihre eigene hochwuchtete. "Ich hatte nicht so viel Glück. Mir haben sie eine Zimmernachbarin aufs Auge gedrückt. Aber egal. Vielleicht ist sie ja ganz okay", schnaufte sie, doch ich nickte nur etwas abwesend. Mein Blick war fast unbewusst schon wieder zu Jean geirrt, der gerade mit seinem Freund diskutierte. Dieser trug zwei große Reisetaschen, von denen scheinbar eine Jean gehörte, und er war offenbar nicht gewillt, ihn diese selbst tragen zu lassen. "Ich bin kein kleines Kind mehr, Phil!", beschwerte Jean sich und warf in einer frustrierten Geste die Hände in die Luft, ehe er seinem Freund, den dieser Ausbruch sichtlich unbeeindruckt gelassen hatte, leise murmelnd folgte. Ich verabschiedete mich kurz von Bina, die meine Zerstreutheit nur mit einem Kopfschütteln quittierte, und schleppte meine Reisetasche dann in die gleiche Richtung wie Jean und Phil. Am Bungalow wurden wir alle von Frederic und Marc in Empfang genommen, die uns unsere Zimmer zuwiesen und uns wissen ließen, dass wir, sobald wir uns eingerichtet hatten, doch bitte wieder nach draußen kommen sollten, um uns alle gegenseitig erst mal ein bisschen besser kennen zu lernen. Leise ächzend hievte ich meine Reisetasche zu dem Zimmer, in dem ich die kommenden vier Wochen wohnen sollte, und erlitt einen halben Herzinfarkt, als ich sah, wie Jean und Phil gemeinsam das Zimmer neben meinem bezogen. Du liebe Güte, wie sollte ich denn die nächsten vier Wochen praktisch Tür an Tür mit meinem Traummann überleben? Erstaunlicherweise – wohl am meisten für mich selbst – schaffte ich es tatsächlich, die erste Woche rumzukriegen, ohne mich vor Jean unsterblich zu blamieren. Noch immer nahm er nicht wirklich Notiz von mir, aber ich verbuchte diese erste Woche trotzdem als persönlichen Erfolg. Ich wurde ja schon nervös und fiel beinahe in Ohnmacht, wenn wir uns auf dem Weg zum Gemeinschaftsbad auf dem Flur begegneten und er mir einen "Guten Morgen" wünschte. Mehr als ein knappes Nicken und ein flüchtiges Lächeln in seine Richtung brachte ich nie zustande aus Angst, mich zu verraten. Aber ich hätte sowieso keine Chance gehabt, in seine Nähe zu kommen, denn wo immer Jean war, war Phil nicht weit. Ich war zugegebenermaßen ganz schön eifersüchtig auf ihn, aber Bina, der das natürlich nicht entging, beruhigte mich immer wieder und erzählte mir irgendwann sogar, dass Phil definitiv nur ein Freund von Jean war und nicht mehr. "Woher willst du das wissen?", hatte ich sie am ersten Dienstag beim Frühstück angezischt, aber sie hatte sich davon nicht beeindrucken lassen. Sie kannte mich ganz genau und wusste, wie zickig ich mitunter sein konnte – ganz besonders dann, wenn ich verknallt war. Und bei Jean war das Ganze noch eine Spur schlimmer. So verliebt wie in ihn war ich vorher noch nie gewesen. "Ich hab Augen im Kopf, Robin. Ich weiß, dass Tessa", das war Binas Zimmerkameradin, mit der sie sich wider Erwarten ziemlich gut verstand, "total auf ihn abfährt. Sie hat auch schon ziemlich eindeutig mit ihm geflirtet", führte sie weiter aus, aber das überzeugte mich nicht. "Ja, und?", konterte ich daher missmutig. Das musste noch lange nichts bedeuten. "Und er ist darauf eingegangen. Und dein Sweetheart, der das Ganze mitgekriegt hat, hat nur gelächelt. Keine Spur von Eifersucht oder so. Glaub mir, Robin, zwischen den beiden läuft rein gar nichts. Sie sind wirklich einfach nur Freunde, genau wie du und ich." Mit den Gedanken wohl zum tausendsten Mal bei diesem Gespräch stieß ich am Freitagmorgen die Tür zum Gemeinschaftsbad auf und erstarrte. Direkt vor mir an einem der Waschbecken stand Jean, nur bekleidet mit einer schwarzen Jeans. Das Shirt, das er wohl noch anziehen wollte, lag auf dem Waschbeckenrand. Seine Haare waren ein bisschen feucht und ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden. Ganz offensichtlich hatte er mich bis jetzt noch nicht bemerkt. Ich wusste nicht, wie lange ich ihn einfach nur anstarrte wie eine Erscheinung, aber als mir das endlich auffiel, verpasste ich mir selbst mental einen Tritt, betrat das Bad und schloss die Tür etwas nachdrücklicher hinter mir, als es nötig gewesen wäre. Dabei bemühte ich mich zu verbergen, dass ich Jean gerade noch angehimmelt hatte wie ein verliebtes Schulmädchen. Dass mein Lächeln, als ich mich doch endlich wieder zu ihm drehte, etwas verlegen war, konnte ich allerdings nicht verhindern. "Oh, guten Morgen." Jean lächelte mich an und mein Hirn verwandelte sich in Sekundenbruchteilen in eine schwammige Masse. "Hrmpf", gab ich zurück, nicht fähig zu einer vernünftigen Erwiderung. Ich war, wie mir gerade bewusst wurde, zum allerersten Mal mit meinem absoluten Traummann ganz alleine in einem Raum. Zum ersten Mal sah er mich wirklich an und ich schaffte es nicht, mich verständlich zu artikulieren. Toll, wirklich. Ganz, ganz toll. Am liebsten hätte ich mich im nächstgelegenen Waschbecken ertränkt. Jean musste mich doch für einen Idioten halten. Ich war mir absolut sicher, er würde mich gleich lauthals auslachen und auch seinem Freund erzählen, was für ein peinlicher Loser ich war. Ich wartete, aber nichts dergleichen geschah. Jean lachte nicht. Stattdessen legte er den Kopf schief und sah mich fragend an. "Alles okay mit dir?", wollte er wissen und der winzige Hauch von Besorgnis in seiner Stimme ließ mich fast kollabieren. "J-Ja, i-ich .. wollte d-duschen." Willkommen zurück, Hirn. Lange nicht gesehen. Ich dachte schon, du hättest deinen Job an den Nagel gehängt. Scheinbar hatte es das doch nicht getan, aber ich hatte auch schon mal eloquentere Antworten gegeben. Wie peinlich war das denn bitte? Und musste Jean mich eigentlich noch immer so ansehen? Das war unfair! Wie sollte mein Hirn unter diesen Umständen denn je wieder seinen normalen Dienst aufnehmen? "Okay, dann lass ich dich jetzt wohl besser alleine." Jean schnappte sich sein Shirt, zog es über und machte dann Anstalten, das Bad zu verlassen. Da mein Hirn aber noch immer nicht so richtig funktionierte, blieb ich natürlich erst mal mitten im Weg stehen und blinzelte irritiert, als Jean mich auffordernd ansah. "Du musst mich schon durchlassen", machte er mich aufmerksam und sein leises Lachen, das mein sicherlich unglaublich dummer Blick zur Folge hatte, brachte alles in mir zum Kribbeln. "Ähm ... klar", stammelte ich und wollte einen Schritt zur Seite machen, trat aber stattdessen nach vorne – genau in dem Moment, in dem auch Jean einen weiteren Schritt in Richtung Tür machte. Und so kam es, wie es kommen musste: Ich rempelte Jean und riss ihn halb von den Beinen bei dem Versuch, mein Gleichgewicht zu halten. Irgendwie gelang es mir, nicht umzukippen, aber Jean hatte weniger Glück. Er rutschte seitlich weg und schlug unter meinem entsetzten Blick mit der Schläfe gegen die gekachelte Badezimmerwand. "Scheiße!", war das Erste, was mir dazu einfiel. "Oh scheiße. Das wollte ich nicht, wirklich. Tut mir lei-", stotterte ich, brach aber ab, als mich die roten Schlieren auf den weißen Kacheln sah. "Du ... du blutest ja! D-Das wollte ich nicht, ehrlich! Tut mir leid, ich ...", versuchte ich mich erneut zu entschuldigen und wollte Jean, der noch immer an der Wand lehnte, hochziehen, doch er schlug meine Hand weg und richtete sich ohne Hilfe wieder auf. "Entschul-" Wieder schaffte ich es nicht, meine Entschuldigung über die Lippen zu bringen. Dieses Mal war es Jeans Blick, als er sein eigenes Blut an der Wand sah, der mich zum Verstummen brachte. Sein Gesicht wurde totenblass beim Anblick der winzigen roten Spuren und als er sich halb zu mir umdrehte, lag in seinen dunklen Augen eine Panik, die ich nicht verstand. "Geh Phil holen. Sag ihm, was passiert ist", verlangte er, doch ich rührte mich nicht von der Stelle. "Ich ... kann das auch wegwischen", setzte ich an und wollte den Beweis für diese Behauptung auch sofort antreten, wurde aber von einem scharfen "Nein!", unterbrochen, das mich zusammenzucken ließ. "Du darfst nicht mit meinem Blut in Berührung kommen, Robin. Bitte geh Phil holen", wiederholte Jean seine Aufforderung, aber ich bewegte mich noch immer nicht. "Warum?", fragte ich leise, denn ich verstand sein Verhalten einfach nicht. Was war denn an einem bisschen Blut so schlimm, dass er sich so seltsam aufführte? Die Antwort, die ich jedoch auf diese Frage bekam, schnürte mir die Luft ab und zog mir beinahe den Boden unter den Füßen weg. "Ich bin HIV-positiv", erklärte Jean vollkommen ruhig. "Und ich will nicht, dass du dich ansteckst. Gehst du jetzt bitte Phil holen?", bat er mich dann ein drittes Mal und ich stürzte fast schon fluchtartig aus dem Bad in Richtung des Zimmers, das Jean sich mit seinem Freund teilte. Dabei hallten seine Worte wie eine Endlosschleife in meinem Kopf wieder. "Ich bin HIV-positiv." Das konnte doch nicht sein Ernst sein, oder? Ohne auch nur einen Gedanken ans Anklopfen zu verschwenden, riss ich die Tür auf, sobald ich Jeans und Phils Zimmer erreicht hatte. Zu meinem Glück war Phil tatsächlich da. Er lümmelte gemütlich auf seinem Bett und hatte ein Buch in der Hand, in dem er offenbar gerade noch gelesen hatte. Jetzt jedoch setzte er sich auf und starrte mich über den Einband eben dieses Buches hinweg irritiert an. "Was ...?", wollte er wissen, aber ich ließ ihn gar nicht richtig zu Wort kommen. "Jean ist verletzt. Im Bad. Er hat sich den Kopf gestoßen und blutet." Weiter kam ich nicht. Phil ließ das Buch sofort fallen, war mit einem Satz vom Bett und am Schrank. Aus diesem kramte er eine Kulturtasche hervor und drängte sich dann auch schon an mir vorbei in Richtung Bad. In Ermangelung einer Alternative – und weil ich mir Sorgen um Jean machte – folgte ich ihm und fand ihn und Jean vor dem Waschbecken, vor dem Jean vorhin schon gestanden hatte. Offensichtlich hatte er seine Wunde in der Zwischenzeit schon selbst ausgewaschen. Phil kramte gerade ein Paar Einmalhandschuhe, wie auch Ärzte sie benutzen, aus der mitgebrachten Tasche und zog sie über, ehe er sich an die Versorgung der Verletzung machte. "Wie ist das passiert?", wollte er dabei wissen. "Ich bin weggerutscht und mit dem Kopf gegen die Fliesen geknallt", erklärte Jean ihm und suchte im Spiegel mein Gesicht, aber ich wich seinem Blick aus und starrte stattdessen die roten Schlieren auf den Kacheln an, bis mir übel wurde. Ich hatte bisher eigentlich noch nie Probleme damit gehabt, Blut zu sehen, aber diese wenigen Tropfen reichten aus, dass mir zum ersten Mal in meinem Leben wirklich schlecht wurde. "Ich bin HIV-positiv." Wenn Jean die Wahrheit gesagt hatte, dann war das, was da vor meinen Augen langsam zu verschwimmen begann, praktisch der Tod auf Raten. "Shit", kommentierte Phil Jeans ›Unfall‹ und ich nickte abwesend, noch immer ohne meinen Blick von den Kacheln zu nehmen. Ich konnte Jean ganz plötzlich nicht mehr ansehen. Irgendwo ganz tief in mir war noch immer die irrwitzige Hoffnung, dass ich gerade nur einen Alptraum hatte. Als ich mich jedoch kniff und trotzdem nicht aufwachte, musste ich mich an den Türrahmen lehnen, denn meine Beine waren mit einem Mal so weich wie Wackelpudding. "Ich bin HIV-positiv", hörte ich wieder und wieder Jeans Stimme in meinem Kopf und mir drehte sich der Magen um. War ich gerade noch praktisch paralysiert gewesen, so stürzte ich jetzt förmlich an Phil und Jean, die mittlerweile mit dem Versorgen von Jeans Wunde fertig waren, vorbei, riss den Klodeckel hoch und war während der nächsten zehn Minuten erst mal vollauf damit beschäftigt, mir buchstäblich die Seele aus dem Leib zu kotzen. Irgendwann mittendrin spürte ich, wie mir jemand über den Rücken strich und mir meine Haare aus dem Gesicht hielt, aber ich hatte nicht die Kraft, den Kopf zu heben und nachzusehen, wer das war. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit hörten meine Magenkrämpfe wieder auf und ich ließ mich einfach neben dem Klo auf den Boden fallen, denn ich konnte noch nicht aufstehen. Ich fühlte mich schwach und hilflos, aber bevor mir von dem widerlichen Geschmack in meinem Mund wieder übel werden konnte und ich mich noch mal übergeben musste, tauchte in meinem Blickfeld eine Hand auf, die ein Glas Wasser hielt. Dankbar nahm ich es entgegen, spülte mir gründlich den Mund aus und als ich danach aufsah, blickte ich genau in Phils Gesicht. "Geht's wieder?", fragte er und ich zögerte einen Moment, dann nickte ich matt. Noch immer wagte ich es nicht, zu Jean, der sich mittlerweile so an den Türrahmen gelehnt hatte wie ich vorhin, hinüberzusehen. Ich spürte, dass er mich beobachtete, aber ich konnte ihn einfach nicht ansehen. Dafür schämte ich mich viel zu sehr für meine peinliche Reaktion auf sein Geständnis. Was musste er jetzt von mir denken? Bestimmt hielt er mich spätestens jetzt für eine absoluten Volltrottel. Nur zu gerne wollte ich ihm irgendwie erklären, dass ich mich sonst eigentlich nicht so unglaublich dämlich aufführte, aber ich brachte kein Wort heraus. "Behalt's für dich, okay, Kleiner?" Phil sah mich eindringlich und auch ein bisschen einschüchternd an. Wieder nickte ich nur, doch das schien ihm zu reichen, denn er nahm mir das Glas wieder ab und wandte sich dann zum Gehen. Ich wollte es eigentlich nicht, aber meine Augen wanderten trotzdem wie ferngesteuert zur Tür und ich hielt unwillkürlich den Atem an, als mein Blick dem von Jean begegnete. Auf seinen Lippen lag ein entschuldigendes und auch eine Spur trauriges Lächeln, aber es war der Ausdruck in seinen Augen, der mein Herz praktisch gefrieren ließ. Ich konnte seinen Blick nicht richtig deuten, aber ich bekam auch keine wirkliche Gelegenheit dazu. Vorher hatte Phil Jean erreicht, legte ihm einen Arm um die Schultern und zog ihn so aus dem Bad, ohne sich noch mal zu mir umzudrehen. Jean jedoch blickte mich über seine Schulter und Phils Arm hinweg an und murmelte ein tonloses, fast unhörbares "Entschuldige" in meine Richtung, ehe er die Augen niederschlug und die Tür hinter den beiden ins Schloss fiel. Ich brauchte noch mal wenigstens zehn Minuten, bis ich mich wieder so weit im Griff hatte, dass ich vorsichtig aufstehen konnte. Gegen meinen Willen irrte mein Blick zu den Kacheln, an denen Jean sich vorhin verletzt hatte. Obwohl das Blut dort schon längst weggewischt war, sah ich die roten Spuren noch immer vor meinem inneren Auge und mich überlief eine Gänsehaut. "Ich bin HIV-positiv." Mein Verstand weigerte sich, das, was diese Worte aussagten, zu begreifen. Das konnte einfach nicht wahr sein. Jean konnte nicht ... Er konnte einfach nicht die Wahrheit gesagt haben! Er durfte einfach nicht ... HIV-positiv sein. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich es schaffte, das Badezimmer wieder zu verlassen. Das Frühstück hatte ich dadurch verpasst, aber das war mir nur recht. Ich hätte sowieso nichts essen können, denn mir war immer noch übel. Am liebsten hätte ich mich in meinem Zimmer verkrochen, den Rest der Welt ausgesperrt und auch Jeans Worte aus meinem Kopf verbannt. Stattdessen schleppte ich mich in den Frühstücksraum, ließ mich auf den freien Platz neben Bina fallen und vergrub mein Gesicht in meinen Armen, die ich auf dem Tisch abgelegt hatte. "Du bist kalkweiß", teilte Bina mir mit, was ich selbst schon wusste, und sah mich besorgt an. "Ist alles okay mit dir, Robin? Was ist los?" "Mir ist schlecht", antwortete ich ihr, gab aber keine weitere Erklärung ab und blieb auch für den Rest des Tages sehr einsilbig und in mich gekehrt. Bestimmt hundertmal verfluchte ich mich selbst für die Idee, mit auf diese Ferienfreizeit gefahren zu sein. Hätte ich das nicht getan, dann hätte ich nie diese schreckliche Wahrheit über Jean erfahren, die ich eigentlich gar nicht wissen wollte. Ich hätte alles dafür gegeben, seine Worte wieder vergessen zu können, aber das gelang mir nicht. Immer und immer wieder spulte sich die Szene vor meinem inneren Auge ab. Jean, wie er sein Blut an der Wand entdeckte und mir dann sagte, dass er ... dass er diese furchtbare Krankheit hatte, die ihn irgendwann umbringen würde. Ich konnte an nichts anderes mehr denken, konnte mich auf nichts konzentrieren außer auf diese grässliche Erkenntnis. Zwei Tage lang drehte ich mich praktisch nur im Kreis. Nachts konnte ich nicht schlafen, so dass ich morgens grundsätzlich aussah wie der Tod auf Latschen. Nicht nur Bina, auch unsere Betreuer merkten, dass mit mir etwas nicht stimmte, aber ich redete mich mit einer leichten Sommergrippe heraus. Auf keinen Fall wollte ich über das reden, was ich jetzt wusste – mit niemandem, auch nicht mit meiner besten Freundin. Der Grund dafür waren jedoch nicht Phils Blicke, die mal skeptisch, mal unübersehbar drohend auf mir ruhten, wann immer er mich sah. Ich schwieg auch nicht wegen Jean, den ich immer noch nicht offen ansehen konnte. Ich schwieg, weil ich die Worte einfach nicht über die Lippen brachte. Ich konnte "Jean ist HIV-positiv" einfach nicht laut aussprechen, denn das hätte es noch realer gemacht. So verschwieg ich den Grund für mein seltsames Verhalten, zog mich mit jedem Tag noch weiter in mich selbst zurück und wurde immer stiller. Bina versuchte mehrmals, mich zum Reden zu bringen, aber schlussendlich gab auch sie auf und ließ mich in Ruhe, nachdem sie mir vorher an die zwanzig Mal versichert hatte, dass ich immer zu ihr kommen könnte, wenn ich reden wollte – auch mitten in der Nacht. Ich zwang mich zu lächeln und zu nicken, schwieg aber weiterhin und atmete insgeheim auf, als sie ging, denn eigentlich wollte ich einfach nur alleine sein. Während der ersten zwei Tage versuchte ich nur zu verdrängen, was ich jetzt wusste, aber in der dritten Nacht, die ich teils wach und grübelnd, teils von Alpträumen geplagt verbrachte, kamen die Fragen. Wie lange hatte Jean diese Krankheit schon? Wo und wie hatte er sich angesteckt? Seit wann wusste er davon? Und wie in aller Welt schaffte er es, trotz dieses Wissens noch immer zu lächeln? An diesem Morgen war ich zwar nicht besonders fit, aber ich stand nicht mehr ganz so sehr neben mir wie in den beiden Tagen davor. Noch immer fiel es mir schwer, Jean direkt anzusehen, aber ich zwang mich beim Frühstück, dass ich dieses Mal sehr zu Binas Beruhigung nicht wieder kommentarlos ausfallen ließ, doch einen Blick zu riskieren. Phil und er saßen wie vom ersten Tag an nebeneinander und benahmen sich, als wäre alles ganz normal. Als hätte nicht einer von ihnen eine ansteckende, tödliche Krankheit, die mir einen Schauer über den Rücken jagte, wann immer ich auch nur daran dachte. Phil schien jedoch keine Angst davor zu haben, sich bei Jean anzustecken, denn er hatte keine Scheu, ihn zu berühren. Für einen Moment vermutete ich, er hätte es auch, doch diesen Gedanken verwarf ich gleich wieder. Warum hätte er sonst Handschuhe tragen sollen, als er sich um Jeans Verletzung gekümmert hatte? Nein, er hatte die Krankheit nicht. Aber warum hatte er keine Angst, sich anzustecken? Was wusste er, was ich nicht wusste? Als meine Gedanken bei dieser Frage ankamen, fasste ich binnen Sekunden einen Entschluss. Ich wusste, dass die Betreuer in ihrem Büro wenigstens einen PC mit Internetanschluss hatten. Zwar durften wir dort eigentlich nicht rein und die Rechner benutzen, aber ich beschloss, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Ich verließ meinen Platz, ging zu Marc, den ich für denjenigen hielt, der mir am ehesten die Erlaubnis geben würde, mich kurz an den PC zu setzen, und versuchte, ihn zu überzeugen, dass es wirklich dringend war. Er sagte zwar beim ersten, zweiten und dritten Mal Nein, aber ich blieb hartnäckig und nach einer knappen Stunde hatte ich ihn schließlich doch so weit weichgekocht, dass er nachgab und mich mit zum Büro nahm. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als Marc den Platz für mich freimachte, nachdem er den Rechner hochgefahren und das Internet gestartet hatte. Mit einem gewaltigen Kloß im Hals setzte ich mich, griff mit zitternden Fingern nach der Maus und gab schließlich mit angehaltenem Atem die drei Buchstaben H, I und V in die Suchleiste von Wikipedia ein. Für einen Moment verschwamm alles vor meinen Augen, aber ich riss mich zusammen und verdrängte auch die Erinnerung an Jeans Blut auf den Kacheln, das ich immer noch jedes Mal zu sehen glaubte, wenn ich das Gemeinschaftsbad betrat. Noch einmal tief durchatmend begann ich zu lesen und verstand nach den ersten zwei Zeilen nur noch Bahnhof. Retroviren? Lentiviren? Pandemie? Ich hatte keine Ahnung, wovon in diesem Artikel die Rede war, zwang mich aber trotzdem zum Weiterlesen und war froh, als ich das Inhaltsverzeichnis erreichte. Schnell klickte ich auf Übertragung und atmete auf, denn zumindest dieser Teil des Artikels war so geschrieben, dass auch ich ihn verstand. Mit dem Ausdruck Liquor cerebrospinalis verband ich zwar nichts, aber einen kurzen Klick später wusste ich, was damit gemeint war und auch, dass das für mich nicht besonders wissenswert war. Die Information über die häufigsten Infektionswege ließ mich rot werden, aber ich las trotzdem weiter und verdrängte die Frage danach, auf welchem der beschriebenen Wege Jean sich wohl infiziert haben mochte. Er machte nicht den Eindruck, als hätte er jemals Drogen genommen, aber konnte ich mir da so sicher sein? Ich kannte ihn ja schließlich kaum, wusste so gut wie nichts von ihm – nur, dass er eben der Grund war, warum ich jetzt hier saß und diesen Artikel las. Als ich beim Abschnitt über Zungenküsse und Ansteckungswahrscheinlichkeit ankam, verdunkelte sich meine Gesichtsfarbe erneut und mein Herzschlag beschleunigte sich rasant. ›Eine Möglichkeit, sich durch Zungenküsse anzustecken, besteht nur dann, wenn blutende Wunden, beispielsweise Verletzungen des Zahnfleisches, im Mund vorhanden sind. Die HIV-Konzentration in Tränen, Schweiß und Speichel reicht für eine Ansteckung nach heutigem Erkenntnisstand nicht aus.‹ Obwohl ich es nicht wollte, drängte sich mir beim Lesen ungebeten ein Gedanke auf, den ich einfach nicht abschütteln konnte: Es war also unwahrscheinlich, dass ich mich ansteckte, wenn ich Jean küsste. Einerseits machte mich diese Erkenntnis unglaublich froh, aber andererseits verstörte sie mich auch ungemein, denn sie machte mir mit einem Schlag klar, was ich während der vergangenen Tage nach Kräften zu verdrängen versucht hatte: Nämlich dass meine Gefühle für Jean sich durch das, was ich jetzt über ihn wusste, keinesfalls geändert hatten. Ich war noch immer ganz schrecklich in ihn verliebt und wünschte mir nichts sehnlicher als ihm nahe zu sein und ihn zu küssen, obwohl ich gleichzeitig auch panische Angst davor hatte. Mein Gefühlschaos musste sich wohl auf meinem Gesicht widergespiegelt haben, denn mit einem Mal stand Marc, dessen Anwesenheit ich über das Lesen und meine Gedanken total vergessen hatte, schräg hinter mir und legte mir eine Hand auf die Schulter. Zu Tode erschrocken blickte ich zu auf und er ließ mich wieder los, um sich einen Stuhl heranzuziehen. "Es ist wegen Jean, oder?", fragte er und machte damit meine Hoffnung, dass er nicht gesehen hatte, was ich gerade noch gelesen hatte, zunichte. Mein Gesicht lief knallrot an, aber ich nickte trotzdem und senkte den Blick, denn es war mir peinlich, so ertappt worden zu sein. "Dann hat dich das also in den letzten Tagen so beschäftigt", vermutete Marc ganz richtig und ich nickte wieder, noch immer ohne ihn anzusehen. "Ja, ich ... Er hat's mir erzählt und ich ..." Ich konnte nicht in Worte fassen, was diese Erkenntnis alles in mir ausgelöst hatte, aber das musste ich auch gar nicht. Marc verstand auch so, was in mir vorging – zumindest zum Teil, denn von meinen Gefühlen für Jean wusste er nichts. Und wenn es nach mir ging, dann sollte er das auch nie erfahren. Diese Gefühle waren ganz allein meine Sache und gingen sonst niemanden etwas an. "Es gibt keinen Grund, dir Sorgen zu machen, Robin. Solange du nicht mit Jeans Blut in Berührung kommst, kannst du dich nicht anstecken", versuchte Marc mich durch das zu beruhigen, was ich durchs Lesen schon wusste. Wieder nickte ich, doch dann entfuhr mir ein Seufzen. Mir war klar, dass Marc und die anderen Betreuer über Jeans Zustand Bescheid wussten – so etwas mussten sie schließlich wissen –, aber meine drängenden Fragen danach, woher Jean die Krankheit hatte und wie lange er schon davon wusste, konnte mir sicher keiner von ihnen beantworten. Diese Antworten kannten nur Jean und vielleicht auch noch Phil, aber ich wusste, ich würde keinen von ihnen danach fragen. Das traute ich mich einfach nicht. "Danke", nuschelte ich in Marcs Richtung, ohne ihn wirklich anzusehen, und quetschte mich dann an seinem Stuhl vorbei, um aus dem Büro herauszukommen. Draußen vor der Tür atmete ich erst einmal tief durch, ehe ich mich auf die Suche nach Bina machte. Ich war immer noch durcheinander ohne Ende und auch meine Gefühle waren zwiespältiger denn je, aber ich wollte jetzt einfach nicht schon wieder grübeln. Was ich jetzt brauchte war Ablenkung. Ich fand Bina und Tessa, mit der sie sich in der Zwischenzeit angefreundet hatte, gemeinsam auf der Wiese in der Nähe des kleinen Sees, der zwischen den Bungalows lag. Beide trugen nur Bikinis und ihre nassen Haare zeigten, dass sie wohl gleich nach dem Frühstück zum Schwimmen losgezogen waren. Als ich ankam, kicherten die beiden gerade über irgendetwas, aber ich unterbrach sie nicht, sondern hockte mich einfach nur neben Bina ins Gras. Das Kichern stoppte abrupt, Bina wandte sich mir zu und sah mich fragend an, aber ich winkte nur ab. "Ich kann euch gerne allein lassen, wenn ihr reden wollt", bot Tessa an, ehe ich etwas sagen konnte, aber ich schüttelte den Kopf, bevor sie aufstehen und gehen konnte. Ich wollte im Moment nicht reden, aber ich wollte auch nicht alleine sein. Das schienen die Mädchen problemlos zu verstehen, denn sie nahmen ihr Gespräch wieder auf. Mich banden sie hin und wieder ein und störten sich nicht daran, dass meine Antworten recht kümmerlich ausfielen. Ich war froh, dass Bina sich so gut mit ihrer Zimmernachbarin verstand, denn im Moment war ich definitiv nicht der beste Freund und schon gar nicht der beste Unterhalter. Tessa war jedoch wirklich nett und im Gespräch mit Bina und ihr verflog der Vormittag wesentlich schneller, als es in den letzten Tagen der Fall gewesen war. Gemeinschaftlich brachten die beiden es nicht nur fertig, mich ein bisschen von meinen Grübeleien abzulenken; sie schafften es auch, dass ich ab und zu über die ältesten und dümmsten Witze zumindest grinsen oder kurz kichern musste. All die verwirrenden Gedanken und Gefühle verschwanden zwar nicht komplett, aber Binas unerschöpflicher Vorrat an Witzen und Tessas Talent, wirklich komische Grimassen zu schneiden, ließen meine Probleme wenigstens für ein paar Stunden in den Hintergrund rücken. Erst als die Zwei sich etwas überzogen und mich aufforderten, mit reinzukommen zum Mittagessen, landete ich etwas unsanft wieder in der Realität. "Geht nur. Ich ... hab keinen Hunger", murmelte ich und log damit noch nicht mal direkt, denn ich war wirklich nicht hungrig. "Ich bleib hier und halte euch den Platz frei", schob ich noch hinterher, als Bina mich besorgt ansah. Ich schenkte ihr ein schiefes Grinsen, das wohl nicht besonders überzeugend ausfiel, denn ihr Blick wurde nur noch skeptischer. Auch Tessa schien sich Sorgen zu machen, obwohl sie mich eigentlich gar nicht kannte. Trotzdem schnappte sie sich nach einem letzten Blick in mein Gesicht Binas Arm und zog sie mit sich in Richtung des Speisesaals, nachdem ich den beiden noch einmal versichert hatte, dass es mir gut ging und dass ich wirklich einfach nur keinen Hunger hatte. Bina und Tessa waren die letzten Nachzügler und so blieb ich ganz alleine draußen am See zurück, aber das störte mich nicht. Ganz im Gegenteil. Die Ruhe war wirklich angenehm, auch wenn sie meine Grübeleien eher förderte als verhinderte. Aber im Moment war das nicht so schlimm, denn es war ja niemand in der Nähe, der mich so sehen und mir Fragen stellen konnte, die ich nicht beantworten wollte. Seufzend zog ich die Beine an, stützte mein Kinn auf meine Knie und starrte blicklos auf das blaugrüne Wasser des Sees. Das, was ich nach dem Frühstück gelesen hatte, lag mir ziemlich schwer im Magen, aber noch schwerer wog die Erkenntnis, dass all mein neues Wissen absolut gar nichts an meinen Gefühlen geändert hatte. Ich war immer noch total verliebt, aber irgendwie konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass meine Alpträume noch lange nicht Geschichte waren. Ob ich je wieder ruhig würde schlafen können? Allein die Vorstellung erschien mir in diesem Augenblick absolut utopisch. Wie lange ich einfach so dasaß, grübelte und vor mich hin starrte, hätte ich nicht sagen können. Ich wurde erst wieder aus meinen Gedanken gerissen, als ich von hinter mir Schritte näherkommen hörte. Jemand setzte sich neben mich, aber ich nahm meinen Blick noch immer nicht vom Wasser. Mir stand nicht der Sinn nach Reden und ich hoffte, mein Verhalten wäre deutlich genug. Das war es jedoch offenbar nicht, wie mir nach kurzem Schweigen eindrucksvoll bewiesen wurde. "Ich hab dich ganz schön geschockt, oder?", kam es von neben mir und ich konnte ein Zusammenzucken nicht verhindern, als ich die Stimme erkannte. Jean! Sofort wurden meine Handflächen feucht, während mein Herz zu rasen begann und meine Kehle so trocken wurde, dass ich ganz genau wusste, ich würde kein einziges Wort herausbringen. "Neulich im Bad, meine ich. Du weißt schon", sagte Jean leise und ich wünschte mir auf der Stelle ein Loch im Boden, in dem ich verschwinden konnte. Er hatte also doch gemerkt, dass ich seit dieser Sache wie ein Zombie durch die Gegend lief! Das war mir entsetzlich peinlich, aber alles, was meinen Mund verließ, war ein ersticktes Krächzen, das alles und nichts hätte bedeuten können. Ich schämte mich unsäglich und wagte jetzt erst recht nicht mehr, Jean anzusehen. Sehr zu meiner Erleichterung – und auch ein wenig zu meiner Verwunderung – schien er mir das jedoch nicht übel zu nehmen. Er stand auch nicht auf und ging, sondern blieb weiterhin neben mir sitzen. Ich hatte das Gefühl, dass er auf irgendetwas, vielleicht eine richtige Reaktion von mir wartete. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis ich es doch endlich schaffte, etwas zu sagen. "Ich hab's niemandem erzählt", hörte ich mich statt einer Entschuldigung nuscheln und hätte mich am liebsten selbst getreten. "Ich weiß", gab Jean zurück und als ich nun doch aus dem Augenwinkel einen Blick riskierte, bemerkte ich, dass er mich ansah. Sofort wurde ich rot, aber ehe ich noch etwas Dummes sagen konnte, kam er mir zuvor. "Es tut mir wirklich unglaublich leid, dass ich dich damit belastet habe, Robin", entschuldigte er sich leise bei mir und mein Herz legte noch einen Zahn zu aufgrund der simplen Tatsache, dass Jean meinen Namen kannte. In dieser einen Sekunde fühlte ich mich, als würde ich fliegen, aber als mir wieder einfiel, worum sich dieses Gespräch hier eigentlich drehte, legte ich eine äußerst unsanfte Bruchlandung hin. "Das ... muss dir nicht ... leid tun", stammelte ich und schluckte hart, um die blöde Übelkeit zu vertreiben, die mich bei der Erinnerung an Jeans Worte im Bad gleich wieder zu überfallen drohte. Ich wollte nicht, dass er mich für einen totalen Versager hielt, obwohl er genau das ganz sicher sowieso schon von mir dachte. Immerhin brachte ich es nur unter Aufbietung all meiner Willenskraft überhaupt fertig, ihm ins Gesicht zu sehen. Wenn mich das nicht zum Vollidioten abstempelte, dann wusste ich auch nicht. Jeans zögerliches Lächeln, das auf meine Worte folgte, brachte mich vollkommen aus dem Konzept. Warum lächelte er denn, anstatt mich auszulachen? Ich verstand das einfach nicht, aber einem Teil meines Hirns war das auch völlig egal. Dieser Teil war vollauf damit beschäftigt, das Lächeln in sich aufzusaugen, es zu speichern und Jean anzuschmachten. So peinlich das auch war, ich konnte einfach nichts dagegen tun, dass dieses Lächeln und seine Nähe mich einerseits total kribbelig machten, während ich andererseits am liebsten aufgesprungen und weggelaufen wäre. "Das hat dich ganz schön mitgenommen, oder?" Besorgnis lag in Jeans Stimme und unter dem eindringlichen Blick seiner schönen dunklen Augen konnte ich nur nicken. "Ja, ich ... Das hat mich echt geschockt", gab ich zu und knibbelte an dem Loch herum, das meine Hose am Knie hatte. "Ich meine, Du bist gerade mal siebzehn und dann ... Du solltest ein tolles Leben haben und nicht ... nicht diese ... tickende Zeitbombe in deinem Körper. Das ... das ist unfair", plapperte ich einfach weiter und spürte zu meinem Entsetzen, wie sich meine Gesichtsfarbe schon wieder verdunkelte. Ich schluckte hart und versuchte, mich noch ein bisschen kleiner zu machen als ich sowieso schon war. Verdammt, was redete ich hier eigentlich für einen Stuss? Jean musste mich ja für total bescheuert halten. "Daran ist aber nichts mehr zu ändern." Jeans Worte ließen mich blinzeln. Zögerlich sah ich ihn an und das melancholische Lächeln, das auf seinen Lippen lag, versetzte mir einen Stich. Diese Lippen sollten lächeln oder lachen, aber nicht so traurig wie gerade, sondern fröhlich. Jean sollte nicht traurig sein müssen. Nie. Diese Gedanken waren unsinnig, das war mir klar, aber nichtsdestotrotz wünschte ich mir ganz genau das für Jean. Ich wollte, dass er glücklich war. Immer, für den Rest seines Lebens – das, wenn es nach mir ging, noch sehr, sehr lang sein sollte. "Wie …?", wagte ich zu fragen und Jean seufzte leise. Ich befürchtete schon, dass ich mit meiner Frage vielleicht zu weit gegangen war, weil er erst einmal schwieg, aber dann rutschte er ein wenig herum, so dass er mich besser ansehen konnte. "Das ist eine ziemlich blöde Geschichte", begann er und strich sich ein paar störende Strähnen aus dem Gesicht, ohne mich aus den Augen zu lassen. "Weißt du, wie man sich infizieren kann?", wollte er dann von mir wissen und ich nickte zögerlich, während mir die Erinnerung an das, was ich gelesen hatte, gleich noch mehr Blut ins Gesicht trieb. Immerhin hatte ich mich ja erst vor ein paar Stunden darüber informiert. Allerdings brachte ich die Frage, wie das bei ihm genau passiert war, einfach nicht richtig über die Lippen. Durfte ich das überhaupt fragen? Das ging mich doch gar nichts an. Jean schien das jedoch anders zu sehen, denn er machte tatsächlich den Eindruck, als würde er es mir von sich aus erzählen wollen. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich das wirklich hören wollte – was, wenn Jean sich wirklich wegen Drogen oder, schlimmer noch, durch ungeschützten Sex angesteckt hatte? –, aber ich schaffte es einfach nicht, meinen ohnehin nur schwachen Protest überhaupt laut auszusprechen. Und ein Teil von mir war zugegebenermaßen auch wirklich neugierig. Ich wollte wissen, wie Jean so etwas Schreckliches widerfahren war, und doch wollte ich es eigentlich nicht wissen. Ich machte für mich selbst keinen Sinn, aber Jean schien mein Schweigen als Aufforderung zu nehmen, weiterzusprechen. "Angesteckt habe ich mich vor etwas mehr als zwei Jahren", fing er an und ich grub meine Zähne in meine Unterlippe. Ich wagte kaum, ihn anzusehen, aber ich konnte und wollte auch nicht wegsehen. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich so viele widersprüchliche Gefühle zur gleichen Zeit gehabt. Neugier, Wut, Angst, Trauer, Hoffnung … Die Mischung war so verwirrend, dass mir förmlich der Kopf schwirrte. Ich konnte nichts anderes tun als einfach nur dazusitzen und zuzuhören, ob ich wollte oder nicht. "Ich war mit Phil und unseren Eltern im Urlaub und hatte einen Unfall." Jeans Worte durchdrangen mühelos das Gewirr in meinem Kopf und ich merkte, dass ich jedes seiner Worte aufsaugte wie ein Schwamm. So viel dazu, dass ich eigentlich gar nicht so genau wissen wollte, wie Jean sich angesteckt hatte. "Ich bin beim Klettern auf den Klippen abgestürzt und hatte, bis ich im Krankenhaus ankam, so viel Blut verloren, dass ich eine Transfusion brauchte", fuhr er fort und obwohl es total unangebracht war, fiel mir ein riesiger Stein vom Herzen. Ich hatte die wildesten Theorien gehabt, wo und wie genau Jean diese schreckliche Krankheit bekommen hatte. Das, was er mir gerade erzählt hatte, beruhigte meine aufgewühlten Nerven jedoch wieder – zumindest so lange, bis mir bewusst wurde, dass die Art, wie er sich infiziert hatte, nichts am Ergebnis änderte. Jean war und blieb HIV-positiv, und früher oder später würde er an dieser Krankheit oder dem, was sie nach sich zog, sterben. "U-Und dieses Blut w-war …?", stammelte ich. Ich schaffte es nicht, meine Frage komplett auszusprechen, aber das musste ich auch nicht. Jean nickte und schenkte mir dann wieder ein Lächeln von der Art, das mir förmlich den Atem raubte. Wie konnte er mit diesem Wissen immer noch lächeln? Ich verstand das einfach nicht. "Ja, es war kontaminiert", bestätigte Jean meine Vermutung. "Das haben wir aber erst ein paar Monate später erfahren. Damals war ich auch ziemlich geschockt", murmelte er leise und ließ seinen Blick kurz in Richtung See schweifen. Ich begann wieder an meiner Unterlippe zu nagen, denn ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte. Wie kam man mit so einer Eröffnung klar? Wie konnte man lernen, mit diesem Wissen zu leben? Und wie konnte man trotzdem immer noch so umwerfend lächeln, wenn man wusste, dass diese grässliche Krankheit einen irgendwann das Leben kosten würde? "Kann ich mir vorstellen", hörte ich mich selbst nuscheln und blinzelte irritiert, als Jean neben mir leise zu lachen begann. "Du bist wirklich niedlich, Robin", sagte er und ich fühlte mich, als stünde mein Kopf in Flammen und mein Herz kurz vor der Explosion. Hatte Jean – mein absoluter Traummann Jean – mich, ausgerechnet mich, gerade wirklich als niedlich bezeichnet? Gut, eigentlich mochte ich es ganz und gar nicht, wenn mich jemand so nannte – Bina tat das manchmal, wenn sie mich ärgern wollte, weil sie ganz genau wusste, wie sehr ich das hasste –, aber bei Jean machte es mir komischerweise ganz und gar nichts aus. Eher sogar im Gegenteil. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich jeden Moment schwerelos davonschweben. Und daran war nur Jean schuld, der noch immer neben mir saß, noch immer so wahnsinnig bezaubernd lächelte und mich damit wieder einmal davon überzeugte, dass er der schönste Mensch sein musste, den es auf der Welt gab. Erst Jeans nächste Worte schafften es, mich wieder etwas unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. "Die erste Zeit war wirklich hart. Ich war ziemlich … schwierig", erzählte er und als das Lächeln von seinen Lippen verschwand, hatte ich für einen Moment das vollkommen verrückte Gefühl, als würde die Sonne mit einem Mal ein kleines bisschen weniger hell strahlen. "Mein damaliger Freund ist damit nicht besonders gut zurechtgekommen, aber das kann ich ihm nicht verdenken", fuhr Jean fort und ich brauchte einen Moment, bis ich den Sinn seiner Worte begriff. Dann jedoch ruckte mein Kopf zu ihm herum und ich starrte ihn aus großen Augen ungläubig an. Hatte ich mich gerade verhört oder hatte Jean wirklich von seinem damaligen Freund gesprochen? Von einem Freund, mit dem er sicher nicht nur irgendwelche Gesellschaftsspiele gespielt hatte? Das hieß ja dann wohl, dass er ... "Du bist schwul?", hörte ich mich selbst piepsen und hätte mich am liebsten geohrfeigt, als Jeans Gesichtsausdruck sich veränderte. Er sah mich einen Moment lang einfach nur seltsam an, dann nickte er langsam. "Ja, bin ich", bestätigte er und legte fragend den Kopf schief. "Ist das ein Problem?", wollte er wissen und ich schüttelte so hektisch den Kopf, dass mir schwindelig wurde. "Nein!", quiekte ich und verspürte den dringenden Wunsch, meinen Schädel gegen den Baum zu schlagen, in dessen Schatten wir saßen. Wahlweise konnte ich mich natürlich auch gleich im See ertränken – vorausgesetzt, meine Gummibeine würden mich die zehn Meter bis zum Ufer tragen. Irgendwie bezweifelte ich das allerdings sehr stark. Höchstwahrscheinlich würde es mir im Augenblick noch nicht mal gelingen, überhaupt aufzustehen. Das war doch wirklich erbärmlich. Warum musste so was eigentlich immer mir passieren? Was hatte ich der Welt denn getan? "Nein, das ist ... Also ... überhaupt ... und so ...", stammelte ich in dem vergeblichen Versuch, mich irgendwie zu erklären, um vielleicht ein bisschen weniger dumm dazustehen. Dankenswerterweise unterbrach Jean mich, bevor ich meine Blamage noch verschlimmern konnte. Jedenfalls dachte ich das, aber seine nächsten Worte machten mir klar, dass ich mich schon längst sehr viel schlimmer blamiert hatte, als ich es mir je hätte träumen lassen. "Weißt Du, Robin, ich hab dich in den letzten Wochen in der Stadt gesehen. Mehrmals", teilte Jean mir nämlich mit und ich wurde erst blass, nur um im nächsten Moment flammend rot anzulaufen. Er hatte mich gesehen? Er hatte mich wiedererkannt, wusste vielleicht sogar, dass ich ihn wochenlang praktisch gestalkt hatte? In dem Moment, in dem mir das klar wurde, wünschte ich mir nichts mehr als auf der Stelle tot umzufallen. Ich war mir so sicher gewesen, dass ich mich unauffällig verhalten hatte, aber das hatte ich ja wohl offensichtlich total vergeigt. Wären meine Beine nicht immer noch weich wie Pudding gewesen, wäre ich spätestens jetzt aufgesprungen und geflüchtet, aber ich konnte mich nicht rühren, sondern Jean nur aus großen Augen geschockt anstarren. Er hatte es gewusst? Er hatte es die ganze Zeit über gewusst? Aber warum hatte er nichts gesagt? Warum hatte er sich nichts anmerken lassen? Warum hatte er mich nicht zur Rede gestellt? Meine Ratlosigkeit war mir offenbar nur allzu deutlich anzusehen, denn Jean seufzte leise, ehe sich ein entschuldigendes Lächeln auf seine Lippen legte. "Du bist hierher mitgefahren, weil du mich mochtest, nicht wahr, Robin?", fragte er. Mein heftiges Erröten schien ihm Antwort genug zu sein, denn er nickte ganz leicht. "Das dachte ich mir", murmelte er und senkte kurz den Blick, sah mich aber gleich darauf so intensiv an, dass mein Herz beinahe stehen blieb. "Das ist keine gute Idee, Robin", sagte er dann leise, aber eindringlich. Ich versuchte vergeblich, irgendetwas zu erwidern, aber meine Stimme wollte einfach nicht so wie ich. Stumm starrte ich Jean an und fand meine Sprache erst wieder, als er Anstalten machte, aufzustehen und zu gehen. "Ich ... mag dich immer noch", hörte ich mich selbst nuscheln und Jean hielt mitten in der Bewegung inne. Vollkommen fassungslos blickte er mich an und ließ sich dann wieder ins Gras fallen. Dabei öffnete er den Mund, um etwas zu sagen, aber dieses Mal kam ich ihm zuvor. Ich wusste nicht, woher mein Mut so plötzlich kam, aber mir war klar, wenn ich Jean jetzt nicht alles erzählte, dann würde ich das nie tun. Und ich war wirklich lange genug feige gewesen, fand ich. Damit musste endlich Schluss sein. "Das alles ... Das hat mich echt geschockt und ich hab auch irgendwie immer noch Schiss, aber ... ich weiß auch nicht ... Das ändert alles nichts daran, dass ich dich mag. Sehr mag. Sehr, sehr, sehr mag." Ich redete mich hier um Kopf und Kragen, das war mir klar, aber es war mir egal. Jetzt, wo ich einmal angefangen hatte, konnte ich einfach nicht mehr aufhören. Jedenfalls nicht, bevor ich Jean nicht alles gesagt hatte, was es zu sagen gab. "Ich hab mich in den letzten Tagen so mies gefühlt, weil ich mich so blöd benommen hab und weil ich dich nicht mal richtig ansehen konnte. Ich musste die ganze Zeit daran denken, was ... was du da im Bad gesagt hast. Das war echt ein Schock, aber es tut mir trotzdem leid, wie ich reagiert hab. Das wollte ich dir die ganze Zeit schon sagen, aber ich hab mich einfach nicht getraut. Und vorher hab ich mich auch nie getraut, dich anzusprechen, weil du so hübsch bist und weil Phil immer dabei war und weil ich dachte, er wäre dein Freund. Bina hat mir zwar gesagt, dass das nicht stimmt, aber ich hab ihr nicht geglaubt und ..." Weiter kam ich nicht. "Hör auf!", unterbrach Jean mich scharf, aber im Gegensatz zu seinem harschen Tonfall wirkte sein Gesicht gequält, beinahe sogar verzweifelt. "Bitte hör auf, Robin! Sag so was nicht!", flehte er mich geradezu an und die Tränen, die ihm in die Augen stiegen, wirkten auf mich wie eine Ohrfeige. Was hatte ich getan? Ich hatte ihn doch nicht zum Weinen bringen wollen! "Vergiss das alles ganz schnell wieder. Bitte, Robin. Das ist besser für dich." Noch ehe ich so recht wusste, wie mir geschah, war Jean auch schon weg. Er floh regelrecht vor mir, drängte sich an den Anderen, die gerade den Speisesaal verließen, vorbei in Richtung Bungalow und blieb auch nicht stehen, als Phil seinen Namen rief. Phil warf einen Blick in die Richtung, aus der Jean gekommen war, und als er mich sah, weiteten sich seine Augen und er machte sich gleich an die Verfolgung von Jean. Ich hingegen blieb, wo ich war, und fühlte mich noch grauenhafter als in den letzten drei Tagen. Ich verstand nicht so recht, was ich genau falsch gemacht hatte, aber ich wusste, irgendwie hatte ich Jean wehgetan. Und das war ganz sicher das Letzte, was ich gewollt hatte. Ich wollte ihn glücklich sehen – mit dem, was ich jetzt über ihn wusste, noch mehr als vorher schon –, aber das hatte ich mit meinem Gerede wohl total vermasselt. Warum war ich nur so ein unsäglicher Dummkopf? Die Rückkehr von Bina und Tessa bemerkte ich durch meine trüben Gedanken nur am Rande. Erst als sich ein Arm um meine Schultern legte, sah ich auf und begegnete dem besorgten Blick meiner besten Freundin. "Was ist los, Robin?", wollte sie wissen und über meine Lippen kam ein zittriges Seufzen. "Ich hab's versaut", antwortete ich ihr leise und schüttelte dann den Kopf, um ihr klarzumachen, dass ich jetzt nicht weiter darüber reden wollte. Glücklicherweise drängte Bina mich nicht, sondern nahm mich einfach nur noch fester in den Arm. Tessa setzte sich auf meine andere Seite, strich mir tröstend über den Rücken und ich musste mir auf die Unterlippe beißen, um nicht zu heulen. Der stumme Trost tat gut, aber trotzdem fühlte ich mich immer noch mies wegen Jean. Und dieses Gefühl wollte einfach nicht verschwinden. Auch als es am See wieder leerer wurde, weil es Zeit fürs Abendessen war, hätte ich mich noch immer am liebsten irgendwo verkrochen. Das ließen Bina und Tessa, die mich den ganzen Nachmittag über mal abwechselnd, mal gleichzeitig in den Arm genommen hatten, jedoch nicht zu. Trotz meiner ohnehin recht lahmen Proteste zogen sie mich ohne Gnade hoch, nahmen mich in ihre Mitte und schleiften mich zum Speisesaal. "Du musst was essen. Du hast schon das Mittagessen verpasst", argumentierte Bina und Tessa nickte zustimmend. "Genau. Wenn du so weitermachst, kippst du noch um." Meine Behauptung, dass mir viel zu schlecht war zum Essen, ließen die beiden nicht gelten. Bevor die Zwei mich jedoch mit vereinten Kräften in den Speisesaal schleifen konnten, tauchte Phil urplötzlich auf und stellte sich uns in den Weg. "Kann ich mal mit dir reden, Kleiner?", wandte er sich an mich. Bina und Tessa ignorierte er, als wären sie gar nicht da. "Es ist wegen Jean. Und es ist wichtig", schob er noch hinterher und damit hatte er mich am Haken. "Okay", hörte ich mich selbst murmeln und nickte meiner besten Freundin, die mich skeptisch ansah, kurz zu zum Zeichen, dass sie und Tessa ruhig schon mal vorgehen konnten. Binas Blick blieb misstrauisch und auch Tessa machte für einen Moment den Eindruck, als wollte sie protestieren, aber letztendlich fügten sich die beiden doch meiner unausgesprochenen Bitte und ließen mich mit Phil alleine. Ohne ein Wort zu sagen setzte er sich in Bewegung und dirigierte mich zurück zum See, jedoch nicht an den Platz, an dem ich mit Jean gesprochen hatte. Stattdessen lief er ein ganzes Stück weiter, bis man uns von den Gebäuden aus nicht mehr sehen konnte. Dann blieb er stehen, drehte sich wieder zu mir um und sah mich erst einmal eine gefühlte Ewigkeit lang schweigend an, ehe er mir mit einer Geste in Richtung Gras andeutete, dass ich mich setzen sollte. So geschlaucht, wie ich mich von diesem Tag fühlte, versuchte ich gar nicht erst zu diskutieren, sondern kam seiner Aufforderung nach und ließ mich auf den Boden plumpsen. Phil hockte sich neben mich, sprach jedoch immer noch nicht und sah mich auch nicht mehr an, sondern beobachtete die Wellen, die der leichte Abendwind auf dem See verursachte. Auf mich machte er den Eindruck, als wüsste er noch nicht so genau, wie er das, was er mir zu sagen hatte, am besten in Worte fassen sollte, aber ich war mir nicht sicher, ob ich mich da nicht vielleicht täuschte. "W-Wie geht's Jean?", fragte ich irgendwann, als ich das Schweigen einfach nicht mehr länger ertrug. Phil nahm seinen Blick wieder vom Wasser und sah mich einen Moment lang einfach nur prüfend an, ehe er abgrundtief seufzte. "Beschissen", sagte er dann und sofort fühlte ich mich wieder richtig grauenhaft. Nur zu gut erinnerte ich mich daran, dass Jean meinetwegen angefangen hatte zu weinen, also schlussfolgerte ich sicher nicht ganz zu Unrecht, dass seine momentane Verfassung auch irgendwie mit mir zu tun hatte. "Er ist eingeschlafen, kurz bevor ich rausgekommen bin, um dich zu suchen. Er war total fertig." Phils Worte verursachten einen dicken Kloß in meinem Hals, den alles Schlucken nicht zu beseitigen imstande war. "Das … das wollte ich nicht, ehrlich", stammelte ich und kniff die Augen ganz fest zusammen, um selbst nicht auch zu heulen. Mir war hundeelend zumute. Ich hatte ganz sicher nicht gewollt, dass es Jean mies ging wegen dem, was ich ihm gestanden hatte. "Ich hätte einfach die Klappe halten sollen", nuschelte ich in meinen nicht vorhandenen Bart und biss mir auf die Unterlippe, aber es war schon zu spät. Phil hatte ganz sicher das Zittern in meiner Stimme gehört. "Wär wahrscheinlich wirklich besser gewesen", stimmte er mir zu und ich fühlte mich, als hätte er mich geohrfeigt. Aber das hatte ich wohl verdient. Genau betrachtet hatte ich sogar noch viel Strafe mehr verdient dafür, dass ich Jean so unglücklich gemacht hatte. Im Moment hätte ich es Phil nicht mal übel genommen, wenn er mich einfach in den See geworfen und darin ertränkt hätte. So mies, wie ich mich fühlte, konnte das nur eine Erleichterung sein. "Vielleicht aber auch nicht", unterbrach Phils Stimme meine gedankliche Selbstgeißelung und ich wischte mir schnell mit dem Handrücken über die Augen, ehe ich ihn doch wieder ansah. "Hä?" Irgendwie verstand ich gerade nur Bahnhof. Hatte Phil mir nicht eben noch Recht gegeben, dass es besser gewesen wäre, wenn ich Jean nichts von meinen Gefühlen gesagt und einfach generell die Klappe gehalten hätte? Was genau ging bitte in seinem Kopf vor? Musste er mich so verwirren, wo sich in meinem Kopf doch ohnehin schon ohne Unterlass alles drehte? Abgrundtief seufzend rutschte Phil so lange herum, bis er mir genau ins Gesicht sehen konnte. "Jean hat mir alles erzählt, worüber ihr heute Mittag hier draußen gesprochen habt", eröffnete er mir und ich wurde rot, sagte aber nichts dazu. Irgendwie hatte ich mir das schon gedacht. Und ich konnte es ihm nun wirklich nicht verdenken. "Ich wollte ihn nicht zum Weinen bringen. Ganz bestimmt nicht. Dafür mag ich ihn doch viel zu sehr", hörte ich mich selbst sagen und war ein wenig überrascht davon, wie einfach mir diese Worte plötzlich über die Lippen kamen – und das, obwohl ich Phil einerseits gar nicht kannte und er mich andererseits auch offensichtlich nicht besonders mochte. Aber das war mir im Augenblick egal. Jetzt, wo ich erst einmal angefangen hatte, konnte ich mich – schon wieder – nicht mehr bremsen. "Ich wollte nur, dass er weiß, wie leid es mir tut, dass ich mich so blöd benommen hab in den letzten Tagen, nachdem ich das erfahren hab. Und dann hat er gesagt, dass er weiß, dass ich nur seinetwegen überhaupt mitgefahren bin und da … Ich wollte einfach nur, dass er weiß, dass ich ihn immer noch mag. Diese … diese ganze Sache", ich brachte es immer noch nicht richtig fertig, den Namen der Krankheit auszusprechen, die Jean das Leben kosten würde, "hat absolut nichts daran geändert. Ich … ich hab zwar eine Scheißangst, aber ich … ich … ich …" Etwas hilflos brach ich ab. Phil, der mich während meines ganzen Redeschwalls einfach nur schweigend beobachtet hatte, schüttelte den Kopf und auf seinen Lippen erschien ein winziges Grinsen, das irgendwo zwischen resigniert und amüsiert zu schwanken schien – ganz so, als wüsste er selbst nicht, was er von mir und dieser ganzen Sache halten sollte. "Du bist echt ne Marke, Kleiner", murmelte er nach einer Weile, schüttelte erneut den Kopf und lachte leise auf, wurde aber gleich wieder ernst. "Jean wollte eigentlich nie, dass ausgerechnet du von seiner Krankheit erfährst", erzählte er mir dann und hob eine Hand, als ich den Mund öffnete. Ich schloss ihn also unverrichteter Dinge wieder und Phil sprach gleich weiter. "Es ist nicht so, dass er sich dafür schämt. Nicht mehr. Eigentlich geht er sogar ziemlich offen damit um. Er ist Teil eines Aufklärungsprogramms und war schon in mehreren Schulen, um da über die Risiken und sein Leben mit HIV zu sprechen", fuhr er fort und meine Augen wurden groß. Das hatte ich nicht gewusst. Und dafür bewunderte ich Jean gleich noch mehr. Wie schwer musste es sein, vor wildfremden Menschen darüber zu sprechen, dass man an einer solchen Krankheit litt? Und wie mutig musste man sein, um es trotzdem zu tun – nur, um damit Anderen zu helfen, damit ihnen nicht dasselbe widerfuhr? "Am Anfang hat ihn die Diagnose echt fertig gemacht, aber Jean war schon immer ein Kämpfer. Er hat sich eine Weile sehr zurückgezogen und hatte eine Zeitlang sogar ziemlich schlimme Depressionen – vor allem, nachdem Tim, sein Ex, wegen der Diagnose mit ihm Schluss gemacht hat –, aber er hat sich wieder aufgerappelt und nach einem Weg gesucht, damit umzugehen." Wieder legt sich ein leichtes Lächeln auf Phils Lippen, in dem dieses Mal jedoch eine Spur Stolz zu erkennen war. "Unsere Eltern hatten anfangs etwas Schiss, dass das nicht gut für ihn ist, aber die Zweifel hat Jean schnell zerstreut." "Ihr seid Brüder?", unterbrach ich seinen Redeschwall, doch zu meinem Erstaunen schüttelte Phil den Kopf. "Ja und nein", antwortete er und schien einen Moment mit sich zu ringen, ob er mir diese Antwort noch weiter erklären wollte oder nicht, entschied sich aber, wie seine nächsten Worte bewiesen, doch dafür. "Meine Eltern haben Jean adoptiert, als er gerade erst zwei Jahre alt war. Seine Mutter war die beste Freundin meiner Mutter und ist kurz vorher bei einem Autounfall gestorben. Sie hatte keine Verwandten mehr und über Jeans leiblichen Vater hat sie wohl nie gesprochen. Wir sind zwar wie Brüder aufgewachsen, aber wirklich miteinander verwandt sind wir nicht." "Hm." Mehr wusste ich nicht zu sagen, auch wenn ich jetzt zumindest ein bisschen besser verstand, warum Phil so einen ausgeprägten Beschützerinstinkt an den Tag legte, wenn es um Jean ging. Wenn die beiden praktisch wie Geschwister aufgewachsen waren, war das wohl normal. Mein Cousin war mit seinen beiden kleinen Geschwistern schließlich auch nicht anders. Er beschwerte sich zwar immer wieder darüber, wie nervtötend die beiden waren, aber trotzdem war er immer da, wenn sie ihn brauchten. Kein Wunder also, dass Phil bei Jean nicht anders war. "Wir sind irgendwie vom Thema abgekommen." Phil zog seine Beine an, bis er im Schneidersitz saß und seine Arme auf seinen Knien abstützen konnte. Dann legte er seinen Kopf in seine Hände und sah mich eindringlich an. "Eigentlich ging's um Jean und dich, nicht um Jean und mich", erinnerte er mich dann und ich konnte nicht verhindern, dass mein Gesicht flammend rot wurde. Jean und ich … wie das klang! Ganz so, als gäbe es tatsächlich so was ähnliches wie Jean und ich – und das sogar in der Realität und nicht nur in meinen Wunschträumen. "Kannst du dir denken, warum Jean nicht wollte, dass du erfährst, dass er HIV-positiv ist?" Phils Frage traf mich einigermaßen unvorbereitet, so dass ich nur den Kopf schütteln konnte. "Nein." Und das stimmte auch. Woher sollte ich auch wissen, warum Jean nicht gewollt hatte, dass ich von seiner Krankheit erfuhr? Immerhin machte das ja nun nicht besonders viel Sinn, wenn es wahr war, was Phil mir gerade erzählt hatte. Wenn Jean sonst doch keine Probleme damit hatte, zu seiner Krankheit zu stehen und darüber zu sprechen, warum hatte er das dann ausgerechnet bei mir nicht gewollt? Darauf konnte ich mir beim besten Willen keinen Reim machen. Phils nächste Worte, mit denen er mir die Erklärung lieferte, zogen mir förmlich den Boden unter den Füßen weg. "Weil er dich mag", sagte er ganz lässig, so als wäre es überhaupt nichts Besonderes. In diesem Moment war ich unsagbar froh darüber, dass ich bereits auf dem Boden saß, denn sonst hätten mich diese Eröffnung unter Garantie umgehauen. Mein zweiter Gedanke war: Jean mag mich? Wirklich? Ich konnte es nicht fassen. Das konnte doch nicht wahr sein, oder? Ganz sicher verarschte Phil mich nur. Das war bestimmt seine Rache dafür, dass ich Jean mit dem, was ich zu ihm gesagt hatte, so unglücklich gemacht hatte. Ich konnte einfach nicht glauben, dass das die Wahrheit sein sollte. Wieso sollte Jean mich auch mögen – vor allem, nachdem ich mich seit Dienstag aufgeführt hatte wie der schlimmste Volltrottel, den diese Welt jemals gesehen hatte? "Das ist die reine Wahrheit." Phil schien meine Gedanken erraten zu können. Vielleicht las er sie auch einfach nur an meinem Gesicht ab. "Ehrlich. Er mag dich wirklich", versicherte er mir und ich hatte das Gefühl, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen. "Eigentlich wollte er nur herfahren, damit du Zeit hast, ihn dir wieder aus dem Kopf zu schlagen. Und trotzdem hat er sich riesig gefreut, als er gesehen hat, dass du auch mitfährst. Ihm ging's richtig beschissen nach dem, was letzte Woche im Bad passiert ist – und das nicht, weil er sich verletzt hat, sondern weil er gesehen hat, wie fertig du wegen dem warst, was er dir zwangsläufig erzählen musste." "Ich …", setzte ich an, klappte den Mund jedoch wieder zu, ohne noch mehr zu sagen. Ich wusste auch gar nicht, was ich hätte sagen sollen. Ich hatte immer noch damit zu kämpfen zu begreifen, dass Phil mich nicht verarscht hatte, sondern dass er es ernst gemeint hatte, als er mir gesagt hatte, dass Jean mich mochte. Einerseits machte mir das eine Heidenangst, aber andererseits machte es mich auch wahnsinnig glücklich. Ich konnte mich nur absolut nicht festlegen, welches dieser Gefühle denn nun überwog. Während ich mit mir selbst und meinen wirren Gefühlen kämpfte, ließ Phil mich nicht eine Sekunde lang aus den Augen. Sein Blick hatte etwas Prüfendes, das ich nicht wirklich deuten konnte und das deshalb meine Verwirrung nur noch steigerte. Was genau mochte gerade in seinem Kopf vorgehen? Was dachte er? Was hielt er von mir? Und warum war er immer noch hier? Fragen über Fragen, aber ich bekam keine Antwort – jedenfalls nicht sofort. Es dauerte eine ganze Weile, bis Phil wieder das Wort ergriff. "Wenn du Jean wirklich magst, dann musst du verdammt stark sein", sagte er leise und eindringlich. Dabei ließ er mich nicht aus den Augen. "Es ist nicht einfach, damit zu leben, das muss dir klar sein. Aber wenn du ihn wirklich magst – wenn du ihn liebst –, dann … Er ist es wert", fügte er noch hinzu und ich nickte, ohne mir dessen wirklich bewusst zu sein. Natürlich war Jean es wert. Und wenn er mich wirklich auch mochte, so wie Phil gesagt hatte, dann … "Ich muss mit ihm reden", beschloss ich und versuchte, mich aufzurappeln. Phil war jedoch schneller als ich und ich staunte nicht schlecht, als er mir seine Hand hinhielt. Ungläubig starrte ich zu ihm hoch, aber als er mich auffordernd ansah, ergriff ich sie und ließ mich von ihm hochziehen. Meine Beine fühlten sich immer noch etwas gummiartig an und ich war auch immer noch nervös und hatte Angst, aber trotzdem war ich fest entschlossen, mit Jean zu sprechen. Ich musste mich einfach davon überzeugen, ob Phil wirklich die Wahrheit gesagt hatte. Und ich wollte Jean auch unbedingt noch einmal sagen, dass ich alles ernst gemeint hatte, was ich zu ihm gesagt hatte – jedes einzelne Wort. Gemeinsam machten Phil und ich uns auf den Weg zum Bungalow, in dem wir schliefen. Unterwegs sprachen wir nicht, aber im Moment war das auch gar nicht nötig. Außerdem hatte ich jetzt gerade sowieso anderes im Kopf als mich mit Phil zu unterhalten. Ich wollte zu Jean, wollte ihn sehen und von ihm selbst hören, ob es stimmte, was Phil mir erzählt hatte. Vor dem Zimmer der beiden angekommen packte mich die Nervosität wieder mit aller Macht, aber dieses Mal kämpfte ich sie erfolgreich nieder und folgte Phil, der die Tür bereits geöffnet hatte, in den Raum hinein. Durch die halb heruntergelassenen Jalousien war es etwas schummrig, aber trotzdem konnte ich Jeans Gestalt im Bett gut genug erkennen, um gleich wieder heftigstes Herzrasen zu bekommen. Er schien noch zu schlafen und ich war kurz davor, mich umzudrehen und wieder zu gehen, aber ein leichter Stoß in den Rücken ließ mich stattdessen ein paar Schritte vorwärts in Richtung des Bettes stolpern. "Geh schon zu ihm", forderte Phil mich auf und ich atmete noch einmal tief durch, ehe ich seiner Aufforderung Folge leistete und leise ans Bett trat. Jean, stellte ich dort angekommen fest, schlief tatsächlich noch. Sein Brustkorb hob und senkte sich im Takt seiner regelmäßigen Atemzüge, seine langen Wimpern ruhten auf seinen Wangen und ich konnte trotz des wenigen Lichts im Zimmer die Tränenspuren auf seinen Wangen und auf dem Kissen so deutlich erkennen, dass mein schlechtes Gewissen sich gleich wieder mit aller Macht zu Wort meldete. Meinetwegen. Nur meinetwegen hatte er geweint. Aber, das schwor ich mir in diesem Moment, das war das letzte Mal gewesen. Ich würde ihn nie, nie wieder zum Weinen bringen. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, setzte ich mich auf die Bettkante und beobachtete ihn eine Weile einfach nur beim Schlafen. Als er sich ein wenig im Schlaf bewegte und seine linke Hand über die Decke ein wenig in meine Richtung schob, ohne zu wissen, dass ich hier war, begann mein Herz wie wild zu pochen. Ich hatte eine Heidenangst vor dem, was ich im Begriff war zu tun. Was, wenn es doch nicht richtig war? Was, wenn Jean das gar nicht wollte? Was, wenn ich ihn dadurch nur noch mehr verletzte? Wieder kochten meine Zweifel in mir hoch, aber ehe ich mich von ihnen überwältigen lassen konnte, streckte ich meine eigene Hand aus und strich mit zitternden Fingern über Jeans warme Haut. Der Körperkontakt, von dem ich schon so unglaublich lange geträumt hatte, durchfuhr mich wie ein Stromschlag. Mein Herz überschlug sich beinahe und ich konnte förmlich fühlen, wie ein Großteil meiner Angst einfach verschwand. Ich war immer noch nervös, aber ich fürchtete mich jetzt gerade nicht vor der Krankheit, die in Jeans Körper lebte, sondern hatte vielmehr Angst vor seiner Reaktion, wenn er aufwachen und mich hier so vorfinden würde. Was würde er dazu sagen? "Kann ich euch beide hier kurz alleine lassen?", riss Phil, dessen Anwesenheit ich völlig vergessen gehabt hatte, mich aus der Betrachtung von Jeans schlafendem Gesicht. Hastig, als hätte ich mich verbrannt, zog ich meine Hand zurück und sah Phil an, der seinerseits mich beobachtete. "Ich wollte was zu essen organisieren. Jean und du, ihr habt beide heute Mittag nichts gegessen und das Abendessen habt ihr auch verpasst. Ich bin gleich wieder da. Pass gut auf ihn auf, okay?", bat er mich, zögerte kurz und verließ dann doch das Zimmer. Scheinbar, ging es mir durch den Kopf, war es für ihn alles andere als leicht, Jean mit mir alleine zu lassen. Aber nach allem, was ich jetzt wusste, konnte ich ihm das nicht mehr verdenken. Im Gegenteil, ich konnte ihn verstehen. Jetzt, wo ich Jean so nah war, spürte ich genau den gleichen Drang, ihn vor allem und jedem beschützen zu wollen. Es war bescheuert, das war mir klar, aber ich konnte nichts daran ändern, dass ich so fühlte. Und eigentlich wollte ich das auch gar nicht. Sobald Phil die Zimmertür hinter sich zugezogen hatte, wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder Jean zu. Er war weder von Phils Stimme noch von dem Klappen der Tür wach geworden, sondern schlief noch immer. Offenbar war er wirklich vollkommen erschöpft. Einen Moment lang verspürte ich den Drang, mich einfach neben ihn zu legen, um ihm so noch näher sein zu können, aber diesen Impuls unterdrückte ich doch lieber. Das wäre ganz sicher zu viel des Guten. So begann ich nur wieder damit, Jeans Hand zu streicheln und nach einer Weile, mutig geworden, verschränkte ich meine Finger vorsichtig mit seinen. Das Kribbeln, das diese Aktion auslöste, zog sich von meiner Hand über den gesamten Arm und breitete sich schließlich in meinem ganzen Körper aus. Wie lange ich so neben Jean auf der Bettkante hockte, seine Hand hielt und einfach nur glücklich und nervös zugleich war, wusste ich nicht. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Phil zurückkehrte. Wie versprochen hatte er etwas zu essen organisiert und obwohl mein Magen beim Anblick des Essens leise zu knurren begann, machte ich keine Anstalten, mir etwas zu nehmen, denn ich wollte um keinen Preis der Welt Jeans Hand loslassen – nicht jetzt, wo ich ihm endlich so nah sein konnte. Phil beobachtete Jean und mich eine Weile schweigend, dann seufzte er abgrundtief und schüttelte den Kopf. "So wird das nichts", murmelte er scheinbar mehr zu sich selbst, trat ebenfalls ans Bett und begann, meinem leisen Protest zum Trotz, Jean leicht an der Schulter zu rütteln, um ihn zu wecken. "Hm?", kam es von Jean und er wischte sich mit seiner freien rechten Hand verschlafen über die Augen. "Wie spät ist es?", erkundigte er sich, ohne die Augen zu öffnen. Mein Herz raste und ich wagte jetzt erst recht nicht mehr, mich zu bewegen oder auch nur zu atmen aus Angst, dass Jean meine Anwesenheit bemerken könnte. "Gleich acht. Das Abendessen hast du also verschlafen", informierte Phil Jean, der darauf nur mit einem leisen, unverständlichen Murmeln reagierte. "Nein, ›Ich hab keinen Hunger‹ zieht bei mir nicht. Du solltest mich besser kennen", konterte Phil ungerührt. "Ich hab was zu essen mitgebracht – nicht nur für dich, auch für Robin. Der hat das Mittagessen und das Abendessen genauso verpasst wie du", schob er noch hinterher und im nächsten Moment setzte Jean sich so hastig auf, dass ich um ein Haar von der Bettkante gefallen wäre. "Robin?", fragte Jean in Phils Richtung, aber bevor er antworten konnte, hatte mein Mund sich schon selbstständig gemacht. "Ähm … hi", hörte ich mich selbst nuscheln. Mein Gesicht begann zu glühen, als Jean vor Schreck meine Finger drückte und dadurch bemerkte, dass ich seine Hand hielt. Seine schönen dunklen Augen sahen mich mit einer Mischung aus Überraschung und … irgendetwas anderem an, das ich nicht deuten konnte, aber zu meiner grenzenlosen Freude zog er seine Hand nicht zurück. "Was machst du hier?", fragte er mich so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. Mein wummerndes Herz drückte jedoch auf mein Sprachzentrum, was verbale Kommunikation meinerseits ungemein erschwerte. Es gab so viel, was ich Jean sagen wollte, aber ich bekam nicht einen einzigen Ton raus und verfluchte mich innerlich dafür. Wie schwer konnte es denn sein, Jean zu sagen, dass ich Hals über Kopf in ihn verliebt war, dass er für mich der schönste Mensch der Welt war und dass ich mir nichts mehr wünschte, als ihn glücklich zu sehen. Und am allerallerliebsten wollte ich derjenige sein, der ihn glücklich machte. Wieso, verdammt noch mal, wollten diese Worte bloß nicht über meine Lippen kommen? Das war einfach nicht fair! Die schönen dunklen Augen Jeans, die mich auf den ersten Blick bereits in den Bann gezogen hatten, wurden noch größer. "Ist das dein Ernst?", wollte er mit zitternder Stimme wissen und mit Schrecken wurde mir bewusst, dass meine eigene Stimme mich offenbar doch nicht so sehr im Stich gelassen hatte wie ich gedacht hatte. Anscheinend hatte ich all das, was ich zu denken geglaubt hatte, auch laut ausgesprochen. Das war mir unsagbar peinlich, vor allem weil nicht nur Jean, sondern auch Phil jedes einzelne Wort gehört hatte. Nur zu gerne hätte ich beschämt abgestritten, überhaupt irgendetwas gesagt zu haben, aber die Hoffnung, die in Jeans Augen aufflackerte, machte mir das unmöglich. Wie hätte ich ihn auch anlügen können? Nein, das konnte ich nicht. "J-Ja. Ich … ja. I-Ist es", stotterte ich also und wurde im nächsten Moment beinahe geblendet von dem strahlenden Lächeln, das sich auf Jeans Gesicht ausbreitete und seine Augen zum Leuchten brachte. Einen Moment lang sah es ganz so aus, als wollte er mich umarmen, aber schlussendlich drückte er doch einfach nur meine Hand, die immer noch die seine umklammert hielt. Ich war absurd erleichtert und unglaublich enttäuscht zugleich. Einerseits hatte ich immer noch eine Heidenangst, aber andererseits wünschte ich mir auch nichts mehr als Jean nahe zu sein – ein Dilemma, das er zu verstehen schien, ohne dass ich es ihm erklären musste. "Wir haben alle Zeit der Welt, Robin", versprach er mir und obwohl ein Teil von mir wusste, dass das nicht wahr war, war ich doch froh darüber, dass Jean so viel Verständnis für mich aufbrachte. "Zeit zum Essen, ihr Zwei", unterbrach Phil den Moment, verteilte seine Mitbringsel auf Jeans Bett und bedachte uns dann beide abwechselnd mit einem auffordernden Blick. Zaghaft griff ich zu und Jean tat es mir gleich. Dabei ließ er meine Hand jedoch nicht los und wann immer er mich während des Essens von der Seite ansah und lächelte, hatte ich das Gefühl zu schweben. Und jetzt, wo ich hier bei ihm war, war ich mir absolut sicher, dass ich meine Angst vor seiner Krankheit auch irgendwie in den Griff kriegen würde – für ihn. Wenn ich wirklich derjenige war, der ihn glücklich machen konnte, dann wollte und würde ich auch alles dafür tun. ~*~ "Tja, das alles ist jetzt etwas mehr als zwei Jahre her." Meine Stimme klingt ein bisschen krächzend und ich genehmige mir einen kleinen Schluck aus dem Wasserglas, das vor mir steht, ehe ich weiterspreche. "Es war nicht immer einfach – und das ist es manchmal auch heute nicht –, aber ich hab gelernt, damit zu leben, dass mein Freund HIV-positiv ist. Wir müssen zwar ein bisschen vorsichtiger sein als die meisten anderen Paare, aber sonst ist bei uns eigentlich alles ganz genauso wie's wahrscheinlich bei den meisten von euch auch ist. Wir streiten uns ab und zu, genau wie jeder andere. Jedes Mal, wenn Jean ins Krankenhaus muss und ich nicht mit kann, drehe ich halb durch und kann mich auf nichts konzentrieren, bis er mir Entwarnung gibt. Ich hab in den letzten zwei Jahren gelernt, diese wirren medizinischen Schreiben zu entziffern und weiß inzwischen ganz genau, ob seine Werte gut oder schlecht sind, wenn ich sie mir ansehe." Ein kurzes Lächeln huscht über mein Gesicht, als ich mich daran erinnere, wie lange ich gebraucht habe, um diesen Zahlenwirrwarr zu verstehen. Phil hat mir das bestimmt an die hundert Mal erklärt und war mehrmals kurz davor, mich zu erwürgen, aber irgendwann haben diese Zahlen für mich doch plötzlich einen Sinn gegeben. Und es gibt mir eine gewisse Sicherheit, wenn ich schwarz auf weiß sehen kann, wie sich Jeans Blutwerte von einem Untersuchungstermin zum nächsten verändert haben. Ich mache mir zwar immer noch jedes Mal Sorgen, wenn die Werte sich verschlechtert haben, aber zum Glück schlagen die Medikamente sehr gut an. Auf dem Stuhl neben meinem raschelt es und als ich einen kurzen Blick zur Seite werfe, begegne ich Jeans strahlendem Lächeln, das mir auch nach über zwei Jahren immer noch den Atem raubt. Er ist und bleibt eindeutig der schönste Mensch der Welt für mich und auch wenn wir wirklich schon ein paar ziemlich schwierige Zeiten hinter uns haben, möchte ich doch keinen einzigen Tag in diesen zwei Jahren missen. Dafür liebe ich ihn einfach zu sehr. Allerdings kann ich ihm das im Augenblick schlecht sagen, denn dafür sind mir hier einfach ein paar Dutzend Ohren zu viel. Aus diesem Grund erwidere ich einfach nur sein Lächeln mit gleicher Münze und drücke kurz seine Hand, die ich unter dem Tisch die ganze Zeit festgehalten habe, ehe ich mich räuspere und mich dann wieder dem Publikum zuwende. Heute ist das erste Mal, dass ich bei einem der Aufklärungstermine von Jeans HIV-Aufklärungstruppe selbst etwas beitrage. Ich war schon ein paar Mal dabei, aber bisher habe ich mich immer im Hintergrund gehalten, während Jean und die Anderen über das Leben mit dieser Krankheit geredet haben. Ich habe mich einfach nie getraut, mich auch hierher zu setzen und mich den Blicken und Fragen der Schüler zu stellen. Aber heute ist das anders. Heute bin ich endlich mutig genug, um über die letzten zwei Jahre zu sprechen, die zu den anstrengendsten und schönsten Jahren meines bisherigen Lebens gehören – und die, wenn es nach mir geht, doch nur der Anfang sind, denn ich habe nicht vor, Jean jemals wieder gehen zu lassen. Ich gebe ihn nicht auf – genauso wenig wie Phil. Wir werden beide um ihn und sein Leben kämpfen, jeder auf seine Art. "Danke, dass du deine Erfahrungen heute auch mit uns geteilt hast, Robin", werde ich von Carla, die diese Veranstaltungen meistens organisiert und auch die Moderation übernimmt, wieder aus meinen Gedanken gerissen. Carla ist selbst ebenfalls positiv und diejenige, die die Gruppe überhaupt erst ins Leben gerufen hat. "So, wenn ihr jetzt irgendwelche Fragen habt, dann könnt ihr sie gerne stellen", wendet sie sich an die Schüler, die hier in der Aula sitzen und, je nach Temperament und Interesse, entweder wirklich aufmerksam zugehört oder uns hier oben einfach ignoriert haben. Wie üblich kommen tatsächlich einige Fragen auf, von denen ich die meisten schon kenne. Immerhin war ich ja schon bei einigen dieser Veranstaltungen. Es ist allerdings schon ziemlich ungewohnt, jetzt mal selbst einer von denen zu sein, die die ganzen Fragen beantworten. Aus diesem Grund bin ich auch mehr als froh, als die Fragerunde irgendwann ihr Ende findet und nicht nur die Schüler alle gehen können, sondern auch wir. Gemeinsam mit dem Rest der Truppe verlassen Jean und ich die Aula, verabschieden uns draußen kurz und schlendern dann gemeinsam und noch immer Hand in Hand in Richtung der Bushaltestelle. "Das war wirklich süß, Robin", spricht Jean mich irgendwann an und kichert leise, als ich knallrot anlaufe. Auch wenn ich mich in den letzten Jahren an vieles gewöhnt habe, wenn Jean mir solche Komplimente macht und mich als ›süß‹ oder ›niedlich‹ bezeichnet, kriege ich immer noch mit schöner – oder eher unschöner – Regelmäßigkeit einen hochroten Kopf. "Es war bloß die Wahrheit", gebe ich defensiv von mir, obwohl es eigentlich nichts gibt, wofür ich mich verteidigen müsste. Immerhin hat Jean mir ja nun wirklich keinen Vorwurf gemacht, sondern ein Kompliment. Aber damit kann ich einfach nicht umgehen – immer noch nicht. "Ich weiß." Jean bleibt stehen und zwingt mich so, es ihm gleichzutun. Ich schmolle ein wenig, aber als er auch noch meine zweite Hand nimmt und mich daran zu sich herumzieht, so dass ich ihn ansehen muss, vergeht mir das Schmollen ganz schnell. Wenn diese wunderschönen dunklen Augen mich so ansehen, kann ich Jean einfach nicht böse sein. Warum auch? Ich habe doch schon längst vergessen, welchen Grund mein Schmollen eigentlich hatte. "Und genau deshalb ist es ja so süß." Oh, stimmt, darum ging es. Jean hat schon wieder eins der bösen Wörter benutzt. ›Süß‹ ist eigentlich tabu, aber bevor ich ihn daran erinnern kann, kommt Jean mir immer näher und drückt unendlich sanft seine Lippen auf meine – ganz genau so, wie er es bei unserem allerersten Kuss vor fast zwei Jahren getan hat. Sofort schmilzt auch noch mein letztes bisschen Widerstand dahin wie Schnee in der Sonne. Wie damals verschränke ich meine Finger auch jetzt wieder ganz fest mit seinen, erwidere seinen Kuss und schwöre mir selbst wieder einmal, dass ich ihn definitiv nie, nie wieder gehen lassen werde. Jean und ich gehören einfach zusammen – ganz egal, wie die Zukunft für uns auch aussehen mag. Die Zukunft ist mir jetzt gerade vollkommen egal. Wichtig ist nur Jean, sonst nichts. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)