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Death is just another chapter.

So let's rip out the pages of yesterday.
von

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Death is only a horizon.

Das harsche Schließen der Haustür schallte durch die leeren Flure bis hinauf in mein Zimmer und schreckte mich aus meinem Schlaf, als es an meine Ohren drang.

Irritiert kniff ich die Augen zusammen und knurrte leise. Gerade als ich dabei war mich erneut auf die Tiefschlafphase einzustellen, machte sich ein ungutes Gefühl in meiner Magengegend breit.

Ungut, und nur allzu vertraut. Ruckartig riss ich die Augen auf und ließ meinen Blick zu dem Analogwecker auf meinem Nachttisch schnellen.

„Shit.“, presste ich mit schlaftrunkener Stimme zwischen meinen Zähnen hervor und kämpfte mich aus meiner Bettdecke frei, um mit panischen Schritten ins Badezimmer zu taumeln.

Als ich meine Blase entleert und mich mit ein einer Handvoll kalten Wassers halbwegs wach gerüttelt hatte, rauschte ich durch mein Zimmer, auf meinem Weg Schulzeug in meine Tasche werfend und auf der Suche nach frischen Klamotten. Gerade als ich meinen Schrank nach einem halbwegs ansehnlichen T-shirt, das nicht seit zwei Wochen in dem geordneten Chaos meines Zimmers dahin gammelte, suchte, spürte ich eine kalte Brise auf meinem nackten Oberkörper und fröstelte.

Verwundert suchte ich nach der Quelle des fröstelnden Durchzugs und bemerkte mein sperrangelweit geöffnetes Fenster.

„Was zum..?“ Verwundert schloss ich es und starrte es irritiert an. Ich schlief nie mit geöffnetem Fenster, meine Gesundheit war dafür schon angeschlagen genug. Wahrscheinlich hatte meine Mum es geöffnet, nachdem sie spät von ihrer Arbeit als Stewardess gekommen war und den Mief meines lang nicht geputzten, geschweige denn aufgeräumten, Zimmers bemerkt hatte.

Achselzuckend wand ich mich von dem Fenster ab und beschloss diese Angelegenheit in meinen Hinterkopf zu rücken und mich lieber darauf zu konzentrieren nicht allzu spät zur Schule zu kommen. Dienstags hatten wir die ersten beiden Stunden Mathe und Gott allein wusste, warum Jemand Mutes genug war Herrn Johnson Teenager unterrichten, nein, auf sie los zu lassen. Der Mann hatte den sanftmütigen Charakter einer Bulldogge und die Methoden eines Gefängniswärters. Unter seiner Fittiche wurden selbst die großschnauzigsten Muskelprotze zu glubschäugigen Chihuahuas.

Ich fröstelte erneut, doch diesmal nicht von der Kälte. Ich zog mir ein schwarzes T-shirt meiner Lieblingsband Iron Maiden über und schlüpfte in eine Röhrenjeans, bevor ich meine Schultasche über die Schulter warf und die Treppen hinunter in die Küche stürmte.

Mit der Absicht mir hastig einen Munterwacher zum Mitnehmen zu machen schaltete ich die Kaffeemaschine ein und stopfte mir ein paar Kekse in den Mund, die meine Mutter auf der Theke abgestellt hatte. So wie sie schmeckten scheinbar schon vor ein paar Tagen, ohne das ich sie bemerkt hatte.

In der Woche verbrachte ich tagsüber kaum Zeit bei mir Zuhause, meistens lungerte ich bei meinem besten Freund Ray herum und wir spielten Left For Dead bis in die Nachtstunden und ernährten uns von geliefertem Junkfood. Unnötig zu erwähnen, dass darunter auch meine Schulnoten litten. Nicht selten flatterten hübsch verpackte Ermahnungszettel meiner Schule in den Briefkasten, da meine Mutter jedoch kaum daheim war, war es ein Leichtes diese verschwinden zu lassen, bevor sie sie in die Finger bekam.

Als ich das frisch gebrühte, schwarze Gebräu in eine Thermoskanne füllte bemerkte ich einen blauen Zettel, der mit einem gelben Entenmagneten an den Kühlschrank geheftet war. Vorsichtig schüttete ich Milch in die Thermoskanne nach, als ich den Zettel in die Hand nahm und rasch überflog. Leise stöhnte ich und knüllte den Zettel zusammen, um ihn daraufhin achtlos hinter mich zu schmeißen. Es war eine Nachricht meiner Mutter, die besagte, dass sie für ein paar Tage auf Geschäftsreise sein würde. Mal wieder. Umso besser, das heißt weniger Rumgejammer und mehr Left For Dead,dachte ich mir mit einem bitteren Gesichtsausdruck, der meine Freude ein wenig überschattete. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal ein Gespräch mit meiner Mutter geführt hatte, das aus mehr als einer Begrüßung und Verabschiedung bestand.

Die Thermoskanne in der Hand ging ich in den Flur und zog mir eine Jacke über, zwar war es Frühling, aber das hatte in New Jersey wenig zu bedeuten. Hier schien alles auf ewig trübe und grau zu sein, so auch die frischen Frühlingstage, die die Sonne nur selten hervorlockten.

Während ich in meine roten Chucks schlüpfte überprüfte ich kurz mein Aussehen in dem großen Spiegel, der über der Flurkommode hing. Mit raschen Fingern versuchte ich meinen durcheinandergebrachten Halbiro zu glätten, versuchte ihn sogar mit ein wenig Speichel zu bändigen, doch gab es nach einer Weile auf und trat seufzend vor die Haustür. Ich schloss ab, nahm ein Schluck von meinem Kaffee und joggte los.

Während ich schnellen Schrittes den Weg zur Schule ging fingerte ich meine Zigarettenschachtel aus meiner Tasche, klopfte eine Zigarette heraus und schob sie mir zwischen die Lippen. Gerade als ich sie anzünden wollte, hörte ich das vertraute, ratternde Geräusch eines Busses hinter mir. Verwundert drehte ich mich um und sah tatsächlich das gelbe Gefährt herannahen.

Nicht lange zögernd rannte ich die wenigen Meter zur Bushaltestelle und kam schwer atmend an, als der Bus schnaufend neben mir hielt.

Quietschend öffnete sich die Vordertür und ich ging schwer atmend die Treppen hinauf.

„Haste aber Glück gehabt, Junge. Gab'n Unfall vorne an der Kreuzung.“

Ich nickte abwesend und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. „Danke.“, sagte ich, noch immer leise keuchend, ein leichtes Stechen in meinen schwachen Lungen spürend.

„Nu' aber rein, sind schon spät genug dran.“, brummte der gealterte, übergewichtige Mann hinter dem Steuer unter seinem Schnurrbart und schloss die Tür hinter mir.

Mit wackelnden Schritten bahnte ich mir einen Weg durch die Gänge und musste mich kurz an einem der Sitze abstützen, als der Bus zur Weiterfahrt ansetzte.

Als ich mich auf einen der freien Sitze begeben wollte, sah ich eine mir allzu vertraute Haarpracht im hinteren Teil des Busses und kurz darauf ein freches Grinsen, das sich auf dem zu der Mähne gehörenden Gesicht breit machte. Meinerseits mit einem leichten Lächeln auf den Lippen ging ich weiter den Gang hinunter und ließ mich erschöpft neben den Jungen mit der beträchtlichen Frisur fallen.

„Morgen, Frankie.“, begrüßte er mich grinsend und hielt mir eine geballte Faust entgegen. Ich berührte sie kurz mit meinen tätowierten Fingerknöcheln und antwortete: „Morgen, Ray-ray.“

Ray verzog sein Gesicht kurz aufgrund des verhassten Kosenamen, aber entspannte sich schnell wieder.

„Spät dran, mh?“, fragte er mich, während er nebensächlich eine Zeitschrift über Schlagzeuge durchblätterte.

„Yea, ziemlich. Mein Wecker hat nicht geklingelt.“, murmelte ich, während ich meine Tasche auf meinen Schoß verlegte und es mir etwas gemütlicher machte.

Während ich an meinem Kaffee nippte, sagte Ray: „Na ja, diesmal hast du echt Schwein gehabt.“ „Hab es schon gehört, Unfall, eh?“ Rays Gesicht leuchtete sofort auf und er begann mir in einem überschwänglichen Tonfall und in den kleinsten Details den Unfall zu beschreiben.

Terror, Zerstörung und Gemetzel - die Welt des Ray Toro. Na ja, solang es sich dabei um Videospiele auf seinem Fernseher handelte. Sonst war er eine der nettesten und mitfühlendsten Personen, die ich je kennengelernt hatte. Und der Einzige mit dem man über die Misfits und Horrorfilme diskutieren konnte ohne dämliche Antworten zu bekommen.

Während Ray mir über die Positionen der einzelnen Autoteile berichtete schweifte ich ein wenig ab und sah mit einem verträumten Lächeln aus dem Fenster.

Nachdenklich betrachtete ich die Menschen, die wie verwischte Farbkleckse an den Fenstern des Busses vorbeizogen. Ein paar kindische auf und ab hüpfende Highschoolmädchen in kurzen Röcken, alternde Männer mit grauen Bärten, Grundschüler, die in Gruppen den neuen Schulweg zusammen liefen... Alle waren sie gleich. Und doch so anders als ich.

Schon immer habe ich mich von der Masse abgehoben, schon immer war ich anders als alle, die ich kannte. Nicht, weil ich wollte. Nicht, weil ich rebellieren wollte. Einfach, weil ich es.. war.

Es war ein beruhigendes Gefühl zu wissen, dass man nicht zu der tristen Masse der Allgemeinheit gehörte, dass man seine eigenen Gedanken und Gefühle haben konnte.

Eine der unerwünschten Nebenwirkungen der Individualität war das Alleinsein. Ich war allein, manchmal mehr, manchmal weniger. Das Gute daran war, dass man sich daran gewöhnte. Irgendwann gewöhnte man sich an die Blicke, das angeekelte Geflüster hinter deinem Rücken, die nassen Papierkugeln in deinen Haaren. Der Hass kam mit dem Anderssein. Ich hatte gelernt ihn zu ignorieren, ihn wie einen unerwünschten Mitesser zu ignorieren, bis er irgendwann vorbei ging, verheilte.

Ich seufzte leise und schreckte zusammen, als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte.

„Hey, Frankie, alles klar?“ Ruckartig hob ich meinen Blick und sah in die besorgten, schokoladenbraunen Augen meines besten Freundes. Schnell schob ich die tristen Gedanken beiseite und rang mit ein Lächeln ab. „Yea, alles in Ordnung.“

Ray beäugte mich skeptisch. Wir gingen nun seit zwei Jahren in dieselbe Klasse und waren seitdem erst gute und später beste Freunde. In diesem Zeitraum hatten wir die Stärken und Schwächen des Anderen kennengelernt, wussten, wann der Jeweilige etwas zu verbergen hatte, und wann er log.

Das wusste er genauso gut, wie ich. Ich seufzte und rieb mir die bleiernen Augen.

„Nah, nur ein paar trübe Gedanken, nichts Weltbewegendes.“ Ich hörte Ray ebenfalls seufzen und bemerkte, als ich aufsah, dass sein besorgter Blick sich vertieft hatte. Ich kannte den Grund dafür und versuchte ihn mit einem laschen Wedeln meiner Hand davon abzubringen. „Oh komm schon, es ist alles okay.“ Noch immer sah er etwas skeptisch aus, widmete sich aber wieder seiner Zeitschrift, trotzdem blieben mir seine Seitenblicke nicht unbemerkt.

Ich schüttelte leicht den Kopf und ließ mich zurück in das Sitzpolster fallen.

Vor etwa einem Jahr durchlebte ich eine harte Periode meines jungen Teenagerlebens. Ich litt unter starken Depressionen und mein Alltag bestand lediglich aus wilden Feiern und Drogenexzessen.

Bis meine Mutter meinen Zustand nicht mehr ignorieren konnte und mich mithilfe Rays in eine Entzugsklinik einweisen ließ in der ich die grausamsten Tage meines Lebens verbrachte.

Das Unding an diesem, meinem Zustand war, dass ich mich nicht an den Grund dafür erinnern konnte.

Es war, als ob mich Jemand in ein tiefes Loch gestoßen hatte ohne mir einen Grund für sein Tun zu nennen. Vor den Erinnerungen an meinen Absturz war ein tiefes, schwarzes Loch, dessen Ursache ich nicht erkennen konnte. Ich wusste, dass es einen Grund geben musste, ich war nicht die Sorte Mensch, die ihr Leben behandelten, wie ein nutzloses Stück Dreck und es achtlos verschwendeten.

Da ich zu diesem Zeitpunkt noch keinen engen Kontakt mit Ray hatte wie heute und meine Mutter nur am Rande ihres Arbeitsalltags von meinem Tun erfuhr, konnte mir auch niemand sonst auf die Sprünge für die fehlende Erinnerungen helfen. Irgendwann hatte ich damit abgeschlossen, es aufgegeben mir das Hirn zu zermartern und einfach die Einsicht erlangt, dass ich mir die Menge an Koks und Wodka meine Erinnerungen wahrscheinlich genommen hatten.

Wieder ließ ich meinen Blick aus dem Fenster schweifen, der Bus hielt gerade an einer Haltestelle und ich konnte die tiefe Stimme des Busfahrers hören, der eine zeternde, ältere Dame entschuldigend über den Grund der Verspätung informierte.

Auf die Weiterfahrt wartend ließ ich meinen Blick erneut an Ray vorbei über die Menschenmassen außerhalb des Busses wandern und ließ in Gedanken ein paar Kommentare über diesen oder jenen Kleidungsstil ab.

Während ich so über die bunt gekleideten Leiber blickte fiel mir aus dem Augenwinkel ein schwarzer Punkt auf.

Neugierig konzentrierte ich mich genauer und bemerkte einen Jungen, komplett in schwarz gekleidet, der den Fußweg in langsamen, dennoch irgendwie elegant anmutenden Schritten entlang lief.

Etwas an ihm ließ meinen Blick sich nicht von ihm abwenden, wie gebannt folgte ich dem schlanken Jungen und nahm jedes mir erkennbare Detail auf.

Er war unglaublich blass, seine Haut schien fast zu leuchten, hervorgehoben durch die halblangen, schwarzen Haare, die seicht im Wind wehten. Sie schienen wirr durcheinander, als wäre er gerade eben erst, wie ich selbst, aus dem Bett aufgestanden und wollte sich nicht die Mühe machen sie zu richten. Dennoch hatten sie einen sanften, weichen Schimmer, der in mir das Bedürfnis erweckte, sie zu berühren, meine Finger durch die kohlschwarzen Strähnen fahren zu lassen.

Ich errötete aufgrund dieses Gedanken etwas und spürte meinen Herschlag beschleunigen, dennoch konnte ich meinen Blick noch immer nicht von dem Jungen weichen lassen.

Etwas an ihm ließ ihn von der Masse hervorstechen, auch wenn er nicht weiter auffallend war. Nichts an seiner Kleidung oder seinem Aussehen ließ ihn von der Masse abheben, aber hätte er einen pinken Overall getragen und einen Moonwalk über den Fußweg hingelegt, er wäre nicht weniger auffällig für mich gewesen. Waren es vielleicht seine weichen, fast femininen Gesichtszüge, die spitze Nase, die ihn fast feenartig, märchenhaft, wirken ließen?

Ich konnte es nicht sagen, und dennoch... dennoch war Etwas an diesem Fremden mir seltsam vertraut, als hätte ich ihn schon einmal gesehen.

Als wären wir uns bereits begegnet, vielleicht in der Mall, vielleicht waren wir bereits unbeteiligt aneinander vorbeigegangen, nur einen kurzen Blick teilend?

Eigentlich war es mir egal, ich wollte mich nur weiterhin auf die hübschen Züge und den weichen Gang des mysteriösen Jungen konzentrieren, bevor der Bus weiterfuhr und ich ihn aus den Augen verlieren würde.

Als er eine Kreuzung überqueren wollte, stockte sein Gang etwas und ich kniff die Augen zusammen, um sehen zu können, was ihn plötzlich aufgeschreckt hatte. Als er seinen Blick ohne Vorwarnung in die Richtung des Busses wand.

Ich atmete scharf ein, als ich bemerkte, dass er nicht nur in die Richtung des Busses schaute, sondern direkt in meine Augen.

Es war ein Ding der Unmöglichkeit, dass er bemerkt hatte, wie ich ihn aus der Ferne bewundert hatte, geschweige denn, dass er wusste woher es kam.

Dennoch waren unsere Blicke fest miteinander verankert, es war mir unmöglich meinen Blick abzuwenden, als er ihn einmal gefangen hatte. Er stand ungefähr zehn Meter von mir entfernt, trotzdem spürte ich die Schamesröte unter meine Wangen kriechen, als ich die Intensität seines Blickes mit jeder Sekunde förmlich steigen fühlen konnte.

Ich zuckte heftig zusammen, als der Motor des Busses aufjaulte und zur Fahrt ansetzte.

Oh nein,dachte ich ohne direkt zu wissen, warum.

Schnell sah ich wieder zu dem Jungen und bemerkte, dass er weiterhin in meine Richtung blickte und ich spürte eine tiefe Bitterkeit keimen, als er von Mal zu Mal mehr meiner Sicht entschwand. Ich hatte das Bedürfnis auszusteigen, zu ihm zu gehen und einfach.. bei ihm zu sein.

Davon abgesehen, dass ich in einem fahrenden Bus saß, wäre das wahrscheinlich eine peinliche und ziemlich dumme Aktion gewesen. Trotzdem konnte ich nichts gegen den Drang tun zu ihm zu gehen, ihn kennenzulernen, bei ihm sein zu wollen.

Eine kleine Fröhlichkeit durchflutete mich, als ich sah, wie der fremde Junge langsam vorwärts ging, den Blick weiterhin auf mich gerichtet. Ich schwor beinahe dasselbe Verlangen in seinem Blick zu sehen, das Bedürfnis zu bleiben und mich nicht gehen zu lassen.

Ich beugte mich nach vorne, um jede Sekunde unseres Blickkontaktes genießen zu können.

Zu spät sah ich das Auto.

Zu spät bemerkte er, dass er sich in unserer blick verschmolzenen Trance direkt auf eine befahrene Straße begeben hatte.

Mit Horror sah ich das Auto mit der grazilen Figur des Jungen kollidieren und hörte beinahe seine zarten Knochen brechen.

Der Bus in dem ich saß war noch immer in Bewegung und ich bemerkte Rays Stimme an meinem Ohr, die mir besorgt etwas zuflüsterte. Ich konnte ihn nicht verstehen, seine Stimme kam von hoch über einer Wasseroberfläche zu mir zu gedrungen, während ich in Schockstarre im Wasser trieb, der Druck auf meinen Ohren mich taub machend.

Erst als der schwarze Haufen aus Stoff, weißer Haut und, zu meinem tiefen Schrecken, roten Farbtupfern meiner Sicht verschwand kehrte all mein Verstand auf einen Schlag zu mir zurück und ich schrie so laut ich konnte, mit gebrochener Stimme: „STOP!“

Alle im Bus Anwesenden wandten ihre geschockten, erschreckten und verwirrten Blicke zu mir, es war mir egal. Es war mir egal, als ich meine offene Thermoskanne aus meinen Fingern gleiten ließ und ihr Inhalt sich über den Gang ergoss, es kümmerte mich nicht, als meine Tasche von meinem Schoß fiel, als ich mich ruckartig erhob und entwand mich Rays schlüpfrigen Fingern, die nach mir griffen und seinen Worten, die hohl nach mir riefen.

Ich lenkte all meinen Verstand, all mein Denken und Handeln darauf zu dem verletzten Jungen zu kommen und ihm zu helfen.

Warum hatte niemand sonst den Unfall gesehen? Warum waren alle noch so ruhig und taten nichts? Es war mir egal, ich würde ihm helfen, ich musste.

Wie von Sinnen stürmte ich zur Kabine des Busfahrers und spürte Ärger in mir aufsteigen, als ich bemerkte, dass er den Bus noch immer nicht angehalten hatten. „Hören sie nicht?! Ich habe gesagt 'Stop'! Halten Sie an!“

Ich klammerte mich an eine der grau lackierten Stangen und lehnte mich zu dem alten Mann herunter, mein Blick ihn förmlich aufspießend.

Verwirrt ließ er seinen Blick zwischen mir und der Straße hin und her wandern. „Junge, bist du von Sinnen? Was ist denn los?“, fragte er mich mit großen, glasigen Augen.

„Dahinten ist ein Unfall passiert! Ein Junge ist verletzt, wir müssen ihm helfen!“, in meiner Verzweiflung erhob sich meine Stimme um ein paar Oktaven und ich klang wie ein Teenager am Rande seines Stimmenbruches, obwohl ich diese Hürde schon längst überwunden hatte.

Der Busfahrer ließ einen schnellen Blick zum Seitenspiegel des Busses wandern. „Verdammt.“, flüsterte er, machte dennoch keine Anstalten den Bus zum Stehen zu bringen.

Ich wartete ein paar Momente, bevor mir klar wurde, dass er dies auch nicht vor hatte.

„W-was tun sie denn? Wir müssen ihm helfen!“, meine Stimme zitterte stark unter meiner Aufregung und ich spürte meine Lunge unter dem Druck schmerzen, es war mir egal.

Der Busfahrer sah mir kurz besorgt und ein wenig schuldig in die Augen, dann wieder auf die Straße.

„Hör mal, Junge. Ich bin spät genug dran, ich bin kein Unmensch, aber die Ambulanz wird jeden Moment hier sein und-“ „Lassen sie mich raus.“

Ich schnitt seinen Satz mit meinen wütendenden, durch meine Zähne geknurrten Worten ab.

Erstaunt sah der alte Mann mich an. „Was redest du denn d-“

„Sie haben richtig gehört, lassen sie mich raus!“ Ich wurde ungeduldig und dadurch lauter. In der Zeit in der wir hier diskutieren könnte der Junge sterben!, dachte ich mir verzweifelt und spielte unruhig mit meinem metallenen Lippenring. Das tat ich immer, wenn ich aufgeregt oder nervös war. Im Moment war ich beides, dazu wütend und besorgt.

„Shit verdammt, jetzt machen sie schon!“ Verdattert und leicht besorgt sah der Busfahrer mir ins Gesicht, drückte dann jedoch wortlos einen Knopf und öffnete die Tür hinter mir.

Ich sprang die Treppen hinunter auf die Straße, noch bevor sie ganz geöffnet war. Ich schwörte Rays Rufe hinter mir zu hören, ignorierte sie aber.

Jetzt wo ich draußen war, kannte ich nur ein Ziel. Hastig sah ich mich um, der Unfallort lag ein paar Meter zurück, aber ich konnte anhand ein paar Menschen, die versammelt standen, erkennen wo genau.

Ohne Rücksicht auf Verluste oder meine schmerzenden Lunge sprintete ich los.

Ich war noch nie so schnell gerannt, wie in diesem Moment. Ich war unübertrieben ein fauler Mensch, ich mied jede Sportstunde und bezeichnete mein Bett als meine halbe Welt. In diesem Moment jedoch hätte ich locker die Silbermedaille bei den olympischen Spielen gewinnen können.

Meine Sicht war gestochen scharf und ich wich jedem stehenden Auto gekonnt aus, auch wenn ich einmal kurz stocken musste, als ein Auto mich selbst fast überrollt hätte.

Ich hörte meinen eigenen, pfeifenden Atem in meinen Ohren, achtete jedoch nicht weiter darauf, sondern nur auf das Ziel vor meinen Augen.

Nach ein paar Metern erkannte ich das bereits vertraute Bündel schwarzen Stoffes auf dem Boden und zog während des Rennens besorgt die Augenbrauen zusammen.

Ein paar weitere Momente gazellenartigen Sprints vergingen, bis ich schließlich an den Ort des Geschehens ankam. Ich drückte mich durch ein paar hoch gebaute Leiber hindurch zu dem Mittelpunkt des Schauplatzes. Ich wollte sie alle am Liebsten zu Boden werfen, sie ins Gesicht schlagen und brüllen Warum starrt ihr nur nutzlos? Warum tut ihr nichts, Idiotenpack??

Doch dafür war mein Verstand in diesem Moment nicht klar genug.

Als ich in den Kreis trat und verzweifelt versuchte meinen Atem zu artikulieren wurde mir für einen Moment schwummrig vor den Augen und ich musste mich auf meinen Knien aufstützen. Ich schnappte wie ein Ertrinkender nach Sauerstoff, bis der Schweiß auf meiner Stirn halb getrocknet war und ich mich nicht mehr fühlte, als müsste ich mich vor allen Augen übergeben.

Als meine Gedanken wieder auf den Jungen zurück kamen, schöpfte ich neue Kraft und taumelte auf gallertartigen Beinen in die Richtung des schwarzhaarigen Jungen.

Ich hörte gedämpftes Murmeln hinter und neben mir, doch ich ignorierte es. Ich war gut darin geworden Tratschereien und Beleidigungen auszublenden und sie durch schöne Gedanken zu ersetzen. Mein einziger Gedanke war in diesem Moment der geheimnisvolle, schöne Fremde, der jetzt blutend und verletzt wenige Meter von mit entfernt lag. Wie seine bloße Anwesenheit mich in bloßes Erstaunen versetzen konnte, seine seltsame Vertrautheit...

Ich taumelte weiter vorwärts und erkannte am Rande meines leicht verschwommenen Blickfelds ein Büschel rabenschwarzer Haare, und zuckte leicht zurück, als ich das dunkel glänzende Blut darin wahrnahm.

Meine Schritte festigten sich und ich überbrückte die letzten Meter zu dem Jungen. Bevor ich ihn komplett erreicht hatte, hob ich meinen Blick, und gefror in all meinen Bewegungen.

Mein Atem stockte in meiner Kehle und meine blutunterlaufenen Augen weiteten sich in Erstaunen und tiefem Schock.

Trotz des tiefsitzenden Erstaunens blickte ich näher darauf. Als mein Entsetzen sich gelegt hatte, hob ich kurz meinen Blick und sah in die Gesichter der ungefähr zehn Menschen, die um mich und den Jungen versammelt standen und mich allesamt anstarrten.

Doch warum sahen sie mich an? Sahen sie sie nicht?

Ich wand meinen Blick zurück auf das, was mein Erstaunen geweckt hatte und noch immer Unglaube in mir verursachte.

Diesmal war es nicht der Junge, der mich fesselte, nicht sein Aussehen, seine perfekte Haut oder sein weiches Haar.

Es waren seine Flügel.

In diesem Moment völliger Verwirrtheit und dem Gemisch anderer Gefühle, die mein Herz zum Klopfen brachten, war das Einzige, was mir in den Kopf schoss: Wie konnte ich sie vorhin nicht bemerkt haben?

Übersehen haben konnte ich sie nicht. Sie waren, nun ja... riesig.

Sie schienen direkt aus den Schulterblättern des auf dem Bauch liegenden Jungens zu kommen und erstreckten sich gut je drei Meter zu beiden Seiten seines Körpers.

Sie sahen aus wie die normalen Flügel eines Vogels, nur in größerer Ausstattung.

Oder wie die eines Engels., sagte ich mir selbst ohne großartigen Grund und blinzelte über die Unsinnigkeit meiner Gedanken. Natürlich, ein Engel. Natürlich war es völlig sinnvoll, dass ein Engel auf die Erde kam und kurz darauf von einem Auto überfahren wurde. Wo bleibt da all diese Göttlichkeit? All die... Engelmagie? Engel wurden nicht einfach von Autos überfahren.

Wäre es nicht so unheimlich und verwirrend, hätte ich über mich selbst gelacht. Doch in diesem Moment konnte ich meinen Blick nicht von den weißen, fast silbern schimmernden, Federn abwenden und vergaß fast den verletzten, blutenden Jungen, der zu den weißen Schwingen gehörte.

Ich schüttelte ruckartig meinen Kopf und ging auf die Knie, ich beschloss zunächst alle Gedanken bezüglich der Flügel auszublenden und mich vorrangig auf die Versorgung des schwarzhaarigen Engel... Jungen zu konzentrieren. Verdammt.
 

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Ende 1. Kapitel - Death is only a horizon. To be continued.
 

Hope you liked.

And I'm ready for my sun to set.

Ich beugte mich über das Büschel schwarzer, blutverschmierter Haare. Für einen kurzen Augenblick befürchtete ich, dass ich zu spät war, das der Junge bereits... Doch dann hörte ich ein leises Geräusch, das den schmalen Lippen des Jungen entfleuchten, einem leisen Wimpern gleich.

Ich reagierte sofort und legte meine Fingerspitzen an seine Wange.

„Hey...“, ich flüsterte leise, fast ängstlich ihm mehr Schmerzen zu bereiten, als er offensichtlich schon hatte. „Hey, bist du okay?“

Dies war wahrscheinlich die dämlichste und letzte Frage, die man in solch einer Situation stellen sollte, aber ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte, um meine Anwesenheit zu bekunden.

Noch einmal wimperte der Junge, diesmal lauter, gefolgt von einem zittrigen Seufzen.

Seine Augenlider öffneten sich langsam, als wäre er gerade aus einem tiefen Schlaf erwacht. So wie er auf der geteerten Straße lag hätte man das tatsächlich denken können, wäre nicht all das Blut.

Ich robbte vorsichtig an die Seite des Jungen, um seine Wunden zu begutachten.

Seine schwarze Kleidung hatte zahlreiche Risse, ein paar aus denen Blut sickerte oder Schnittwunden teilweise verdeckten.

Sein rechter Arm war in einem seltsamen Winkel verdreht und zum Teil von seinem Oberkörper verdeckt und unter seinem Kopf bildete sich eine immer größer werdende Blutlache, wahrscheinlich durch eine Platzwunde verursacht. Mit jeder Wunde, die ich entdeckte wurde mein Blick besorgter, mein Herz schwerer.

Mein Blick wanderte erneut über die weißen Schwingen, die hier und da ebenfalls etwas abbekommen hatten. Der Sturz hatte ein paar dunkle Schmutzflecken und Schleifspuren auf den schimmernden Federn hinterlassen, ich bemerkte das der linke Flügel ebenfalls ab etwa der Mitte in einem ungesunden Winkel gekrümmt war. So zerbrechlich, wie seine Schwingen aussehen, hätte es mich nicht gewundert, wenn nur ein harter Griff die Flügelknochen unter den Federn hätte brechen können. Vorausgesetzt es waren echte Flügel und keine Attrappen, wovon ich noch immer stark ausging. Auch wenn mir der Sinn hinter dem Grund, sich meterlange Flügel auf den Rücken zu schnallen und damit durch eine gut belebte Straße zu laufen, sich mir noch nicht ganz aufschloss.

Ich wurde zurück in die Realität, die sich mir in einem blutenden Engel vor meinen Augen bot, geholt, als dieser vorsichtig begann sich zu bewegen. Er rollte sich unter zusammengebissenen Zähnen und gehissten Flüchen, dürfen Engel fluchen?, ein wenig mehr auf die Seite und ich sah hilflos zu wie er Schmerzen leiden musste, ohne das ich etwas tun konnte.

Ich beugte mich näher zu ihm herab und wagte es ein paar der schweißnassen, schwarzen Strähnen von seinen hohen Wangenknochen zu streichen. Als ich sein Gesicht so nah vor mir sah, nahm es mir fast den Atem.

Von der Ferne betrachtet schien der fremde Junge bereits hübscher, als jede männliche Person, die ich je zu Gesicht bekommen hatte.

Von der Nähe betrachtet war seine blasse Haut tatsächlich fast blendend. Seine Haut war rein von jeglichem Makel und erinnerte mich an frisch gefallenen Schnee und ließ die Bluttropfen, die aus seiner Nase tröpfelten, beinahe wie Rubine funkeln. Wäre es nicht so schmerzhaft anzusehen, würde ich es als wunderschön beschreiben. Er war wunderschön, musste ich mir herzklopfend eingestehen.

Ich rüttelte mich selbst aus meiner stillen Anbetung wach und suchte nach einer Weise ihm Hilfe zukommen lassen zu können. „K-kann ich dir helfen? Irgendwie?“

Meine Stimme zitterte unter Anstrengung und allem, was ich innerhalb weniger Minuten durchlebt hatte. Erneut musste ich den Atem halten, als dunkle Augen auf meine Grünen trafen.

Der Junge hatte seine Augen halb geöffnet, kein Ausdruck auf seinem makellosen Gesicht erkenntlich starrte er mich für ein paar Momente nur schweigend an.

Ich fühlte mich etwas unwohl unter seinem Blick und begann mit meiner Zunge an meinem Lippenring zu spielen, als ich sah, wie seine blassen Lippen sich in ein leichtes Lächeln verzogen.

Erstaunt sah ich ihn an. Er wurde so eben von einem Auto durch die Luft befördert und lag aus allen Öffnungen blutend auf einer Straße, es war noch immer keine Hilfe in Sicht und er musste höllische Schmerzen leiden. Und er hatte nichts besseres zu tun, als zu lächeln?

Irritiert legte ich den Kopf schief und wurde nur noch verwirrter, als sein Lächeln sich vergrößerte.

Der Junge gab einen leisen, kehligen Laut von sich, den ich nicht ganz einordnen konnte, es klang beinahe wie ein leises Summen.

Er rollte sich ein wenig mehr auf die Seite und machte Anstalten, sich auf seinem Ellbogen aufzusetzen. Auf halben Weg gab er auf und plumpste mit seiner Schulter voran zurück auf die Straße. Ein schmerzerfülltes Keuchen entwich seinen Lippen.

„Oh, tu das nicht, beweg dich nicht.“, versuchte ich ihm zu befehlen, aber scheinbar hielt er mich in diesem Punkt für Luft und rollte sich auf den Rücken.

Die Flügel auf seinem Rücken raschelten laut, als sie den Bewegungen seines Körpers folgten und den verstreuten Federn auf der Straße folgten mehr und mehr. Ich fragte mich, ob ihm das ebenfalls Schmerzen bereitete.

Ich sah von den Flügeln zurück zu den Menschen um uns herum und noch immer war niemand in Panik ausgebrochen oder hatte den Kirchennotruf oder was auch immer gerufen.

Im Gegenteil, sie schienen immer belangloser und verflüchtigten sich Einer nach dem Anderen.

Jetzt wo sie wissen, was Sache ist ist ihnen das Blutbad wohl nicht mehr spannend genug, eh?, dachte ich wütend und gleichzeitig verbittert.

„Fuckers.“, murmelte ich gereizt und wand mich zurück zu dem Verletzten.

Der trieb das Maß auf die Spitze und kicherte leise. Ich runzelte verwundert die Stirn.

„Was ist so witzig?“, fragte ich den Jungen, der ausgestreckt auf dem Boden lag und aussah, als würde er sich sonnen, statt halb zu verbluten.

„Du.“, antwortete er, gefolgt von einem Kichern. Ich spürte meine Wangen heiß werden.

„W-warum?“, stotterte ich, mühsam meine Scham unter Kontrolle haltend.

Er zuckte mit den Schultern, was er kurz darauf scheinbar bereute und leise aufstöhnte.

„Ich hab dir gesagt du sollst dich nicht bewegen, gottverdammt.“, tadelte ich ihn, fast schon ärgerlich und legte eine Hand auf seine Schulter.

Es schien, als würde er unter meiner Berührung entspannen und schloss erneut die Lider, noch immer ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen verweilend.

„Bist... Bist du okay?“, fragte ich leise und bemerkte am Rande, dass die Frage ein wenig zu spät gestellt wurde.

Das schien auch er zu bemerken und grinste, was erneut eine leichte Röte auf meinen Wangen entfachte.

Der Fremde öffnete die Augen und blickte hinauf in mein Gesicht. „Wie sieht es denn aus?“, fragte er mit einem neckenden Unterton.

„Uhm...“, ich ließ meinen Blick über seinen Körper wandern und fühlte mich wie ein Perverser, als ich in Gedanken bemerkte, wie lang seine Beine waren oder wie gut er gebaut war. Gott, vergib mir.

Mein Blick blieb erneut an den weißen Schwingen hängen, die halb zusammengefaltet unter dem Körper des Jungen lagen. Ein verstohlener Seitenblick sagte mir, dass sie noch immer niemand sah.

Woran lag das? War ich tatsächlich der Einzige, der sie sehen konnte?

„Keine Angst.“ Ich schreckte aus meinen Überlegungen und sah in das warme Gesicht des Fremden. „Du bist der Einzige, der sie sehen kann.“

Meine Augen weiteten sich und mein Mund öffnete sich leicht in Unglaube. Der Anblick amüsierte den Jungen erneut, doch diesmal war es mir egal.

„W-Warum?“, fragte ich atemlos und sah von den Schwingen auf in das Gesicht des schwarzhaarigen Jungen.

„Weil ich wegen dir hier bin.“ Ich sah ihm weiterhin ungläubig in die Augen.

Ich überdachte seine Aussage für einen Moment, um zu einer eigenen Schlussfolgerung zu kommen und nicht vollkommen idiotisch da zu stehen.

Ich erschrak vor der einzigen, logischen Erklärung, die mir in den Sinn kam.

„Werde ich sterben?“, fragte ich mit ängstlicher, dünner Stimme und wich unbewusst vor dem verletzten Engel zurück.

Dieser lachte erneut. Langsam dachte ich, dass das Alles hier nur ein Witz für ihn war, ein Spiel vielleicht. Ich wusste ja nicht, was Engel in ihrer Freizeit so trieben, vielleicht war das ihre Art Spaß zu haben? Unwissende, dumme Menschen an der Nase herum zu führen und sie zu Tode zu erschrecken.

„Das ist nicht witzig.“, sagte ich in einem leicht säuerlichen Ton und sofort erlosch das Lächeln auf den schmalen Lippen des Jungen. Er seufzte und schloss die Augen für einen kurzen Moment.

„Du hast Recht, Entschuldige. Es ist nicht witzig.“ Er sah mir wieder in die Augen, diesmal vollkommen ernst, tot ernst. Ich schluckte hart.

„Doch, Nein, du wirst nicht sterben.“ Ich ließ einen Seufzer der Erleichterung meine Lippen entfliehen und der Engel lächelte wieder, diesmal beantwortete ich es ebenfalls mit einem kleinen Lächeln.

„Warum bist du dann hier?“

Plötzlich wich der Engel meinem Blick aus und starrte in den Himmel, ein unerfindlicher Ausdruck in seinen perfekten Gesichtszügen.

Ich mochte diesen Ausdruck nicht und wagte näher an ihn heranzurücken.

„Hey... Was ist los?“, fragte ich leise und berührte seine Schulter sachte.

Wie aus dem Nichts schoss seine rechte Hand hervor und nahm meine in einen festen Griff, ich zuckte zusammen, blieb jedoch wo ich war.

Ich spürte seine kalte Haut auf meiner und wieder kroch Schamröte auf meine Wangen, ich senkte meinen Blick zu den Tiefen seiner Augen.

„Genau deswegen.“ Meine Scham wich Verwunderung und ich sah ihm fragend in die Augen.

„Genau deswegen bin ich hier.“, seine Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern.

Ich war gebannt von seinen Augen, viel mehr, von den Emotionen, die ich darin lesen konnte.

Ich sah eine tiefe Trauer aus den dunklen Tiefen seiner Iris sprechen, eine Traurigkeit, die mir die Kehle zuschnürte und mich ihn umarmen lassen wollte, ihn trösten lassen wollte.

Ich spürte, wie er seine Hand von meiner nahm und spürte schon die Enttäuschung aufwallen, als ich seine langen Finger an meiner Wange spürte.

Ich zuckte zusammen und sah ihn aus großen Augen an, meine Verwirrung mit jeder Sekunde steigend.

„Frankie...“ Ich keuchte auf.

Wie war das möglich? Wie konnte dieser Engel meinen Namen wissen? Wahrscheinlich gerade deswegen, er war letztendlich ein verdammter Engel. Was die Absurdität der Situation jedoch nicht minderte.

Noch immer lag seine kalte Handfläche an meiner Wange und ich starrte ungläubig in das noch immer vor Traurigkeit verzogene Gesicht des Engels.

„W-woher weißt du meinen Namen?“, flüsterte ich und lehnte mich unbewusst in die Berührung des Jungen.

Ich spürte es wieder, das seltsame Gefühl der Vertrautheit, das dieser Junge in mit auslöste. Ich konnte es mir nicht erklären, aber es weckte ungeahnte Emotionen in mir.

Es schien etwas in mir langsam zu füllen, ein Loch, dessen Ursache ich schon lange suchte und vielleicht in ihm gefunden hatte. Ich spürte mein Herz schmerzhaft zusammenziehen.

„Wer bist du?“ Meine Worte entwichen nur kläglich meinen zitternden Lippen, ich war mir nicht sicher, ob er sie gehört hatte.

Meine Stimme wurde erdrückt von den Emotionen, die mich gnadenlos überrollten. Ich konnte sie nicht einmal alle einordnen, ich fühlte mich schlagartig überwältigt und alles was ich tun konnte und wollte war zu weinen.

Ich fühlte mich schwach und klein vor dem verletzten Jungen, als ich ein heißes Ziehen in meinen Augen spürte und die ersten Tränen meine Sicht verschwimmen ließen.

Hier war ich, weinte vor einem verblutenden Engel, dem ich eigentlich helfen wollte und nun vor ihm verbittert anfing zu schluchzen.

„Sshhh...“ Nur schwach drangen die beruhigenden Worte des Engels an mein Ohr, als ich wütend über meine eigene Schwäche versuchte die Tränen wegzureiben. „Sssh, Frank, weine nicht.“

Ich gab es auf, immer und immer mehr Tränen rannen meine Wangen hinab, das ziehende Gefühl in meiner Brust nur verstärkt durch die traurige Stimme des Jungen.

Verklärt sah ich in sein verbittertes Gesicht und schluchzte leise. Ich spürte seine Finger tröstend über meinen Hals streichen.

„Bitte, weine nicht.“, flüsterte der Engel und ich antwortete mit einem weiteren, kehligen Schluchzen.

„E-es t-t-tut mir L-leid...“, brachte ich unter leichtem Schluckauf hervor und rieb erneut meine Tränen weg.

Im nächsten Moment spürte ich zwei dünne, aber starke Arme um meinen Hals geschlungen und ich blinzelte verwundert die Tränen weg, als ich den Atem des Jungen an meinem Hals spürte.

Erstaunt versiegten die Schluchzer langsam in meiner Kehle und ich fühlte ein warmes Gefühl von Trost meinen Körper durchsickern, als ich den warmen Körper des Jungen an meinen gepresst spürte.

Wie in Trance brachte ich meine Arme zu dem unteren Rücken des Jungen und zuckte leicht, als meine Hände den sanften Flaum seiner Flügel streiften. Schließlich erwiderte ich die Umarmung des verletzten Jungen ganz und legte meine Stirn in die Kuhle an seinem Hals, die sich seltsam vertraut anfühlte. Wie alles an ihm.

„Wer bist du?“, wiederholte ich meine Frage, gedämpft durch die Heiserkeit meiner Stimme und den Stoff des Hemdes, das der Junge trug.

Für einen Moment verharrten wir schweigend in unserer Umarmung, ich dachte er würde meine Frage übergehen, bis er sich schließlich von mir weglehnte.

Ich sah ihm abwartend in die Augen, doch er ließ seinen Blick gesenkt.

Wieder herrschte Stille, bis der Engel sie mit seiner glockenhellen, gleichzeitig gepeinigt klingenden Stimme durchbrach.

„Um dir zu erklären, wer ich bin, was ich hier tue...“ Er sah zu mir auf und ich erzitterte unter der Intensität seines Blickes. „... muss ich dir etwas zeigen.“, beendete er den Satz leise und sah mich erwartungsvoll an.

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, also nickte ich bloß schwach.

Der Engel antwortete mit einem Nicken seinerseits, bevor er diesmal beide Hände an mein Gesicht legte.

Verwirrt runzelte ich die Stirn, doch bevor ich etwas sagen oder reagieren konnten, spürte ich die kalten, dünnen Lippen des Engels auf meinen und die Welt explodierte in Licht.

Ich wollte schreien, mich bewegen, irgendetwas, doch alles was ich tun konnte war nichts. Rein gar nichts. Ich spürte nichts um mich herum, ich spürte nicht einmal mehr meinen eigenen Körper.

War ich letztendlich doch tot? Hatte der Engel mich belogen?

Ich fühlte mich wie ein Staubkorn, das in der unendlichen Weite des Universums davongetragen wurde, lediglich umhüllt von Licht. Wenn das Sterben war, dann war es friedlicher, als ich gedacht hatte...

Plötzlich tauchte ich in eine Welt voll Farbe, zunächst verwischt und unerkenntlich, doch dann klärten sich immer mehr Details, bis ich ein Bild meiner Schule erkannte.

Ich sah die uralte Eiche vor der ich in jeder Hofpause mit Ray saß und über jedes Thema redete, das uns gerade einfiel, während wir unsere Sandwiches aßen.

Mit Schrecken erkannte ich tatsächlich mich, vor der Eiche sitzend, ein weites Lachen auf meinem Gesicht. Ich sah glücklich aus, glücklicher, als ich es in der letzten Zeit war. So glücklich, dass ich mich selbst kaum wiedererkannte.

Was war der Grund für mein Glück?

Das Bild klärte sich Stück für Stück mehr und neben mir wurde eine weitere Person sichtbar. Ich war mir sicher, dass es Ray sein würde und fragte mich, was der Engel damit bezwecken wollte mir so etwas zu zeigen, als ich realisierte, dass es nicht Ray war.

Die Person neben mir hatte keine rötliche Afrofrisur und auch nicht Rays Augen oder sein Gesicht, sie hatte kohlrabenschwarze Locken und blasse, perfekte Haut. Es war der Engel.

Nur diese Version von ihm war anders, sie schien menschlicher. Ob es daran lag, dass seine Flügel fehlten?

Meine Verwirrung wuchs und noch immer fragte ich mich, was er damit bezwecken wollte mir so etwas zu zeigen.

Ich bemerkte, das das Bild sich langsam anfing zu bewegen, die Blätter in den Bäumen fingen an zu rascheln, das Gras wiegte sich im Wind und die beiden Personen, ich und der Engel, begannen ebenfalls sich erst langsam, wie in Zeitlupe, zu bewegen, bis das Bild wie ein Film vor meinen Augen ablief. Leise drangen Stimmen an mein Ohr heran und ich lauschte aufmerksam.

„Komm schon, Frank. Es ist Valentinstag.“ Der Engel piekste mich verspielt in die Seite und ich quietschte schrill, bis ich erneut in Gelächter ausbrach.

„Aber... Ich mag es nicht, wenn du Geld für mich ausgibst.“, mein Gesicht verzog sich in eine Art beleidigte Grimasse und diesmal lachte der Engel neben mir.

Der Engel lehnte sich näher zu mir heran. „Für dich würde ich alles geben, was ich habe, Darling.“, hörte ich den Engel leise gegen mein Ohr hauchen und sah mich tief erröten.

Mit einem Seufzen gab ich nach.

„Na schön, okay... jetzt zeig schon her.“, sagte ich und erkannte den gespielt genervten Unterton in meiner eigenen Stimme, den ich immer aufsetzte, wenn ich etwas aus Stolz nicht annehmen wollte, obwohl ich es insgeheim haben wollte.

Der Engel grinste glücklich. „Schließ deine Augen.“

Ich verdrehte die Augen. „Oh, komm schon...“ „Für mich?“, mit großen Rehaugen sah der Engel mich bittend an und ich konnte verstehen, als ich unter diesem Blick nachgab und leise hauchte: „Na schön.“

Mein bildliches Ich verschloss fest die Augen und ich beobachtete den Engel dabei, als er in seiner Tasche herumkramte und schließlich eine kleine, dunkelblaue Box zu Tage förderte.

„Augen auf, Liebling.“, sagte der Engel in einer lieblichen Stimme und hielt mir die geöffnete Box unter die Nase, als ich meine Augen öffnete.

Meine Augen weiteten sich in Erstaunen und ich blickte in die Augen des Engels, der mit dem Rücken zu mir gewandt saß.

Wortlos formte ich ein „Oh mein Gott“ mit meinen Lippen und im nächsten Moment stürzte ich mich in die Arme des Engels, Tränen rannen mein Gesicht hinab, als ich glücklich jauchzte: „Gerard, Gerard, du bist... unglaublich!“

Gerard...

Der Engel, dessen Name offensichtlich Gerard war, lachte hell auf. „Nicht so hastig, mein Schatz, schau ihn dir genau an.“

Der Junge namens Gerard nahm einen silbernen Ring aus der Schatulle und gab ihn mir in zittrige Hände.

Ich beäugte ihn mit einem breiten Lächeln und weitere Tränen der Freude traten in meine Augen.

Ich schlug eine Hand vor den Mund ('Oh man, wie kitschig.') und begann zu meinem Schreck den schwarzhaarigen Jungen nur so mit Küssen zu überhäufen.

Beide lachten glücklich und lagen sich für einen Moment breit lächelnd in den Armen.

„Ich liebe dich, Gerard.“, sagte ich, nicht mehr als ein glückliches Seufzen auf meinen Lippen.

„I mean this, forever.“, antwortete der Engel, nicht minder glücklich.
 

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Ende Kapitel 2 - And I'm ready for my sun to set. To be continued.
 

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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  TheDarkDreamer
2015-09-13T08:06:52+00:00 13.09.2015 10:06
So, dann bin ich jetzt einfach mal die erste, die was zu der FanFiction sagt. :)
Ich finde sie sehr flüssig zu lesen, sowohl von der Wortwahl als auch von der Grammatik und Rechtschreibung her.
Zum Inhalt: Seeehr niedlich. Diese Unschuld von Frank und der andauernd kichernde Gerard.
Bin gespannt, wie es weitergeht.
Ich hoffe, dass du weiterschreibst.
Alles Liebe, TheDarkDreamer.
*zum Abschied knuddel und winken*


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