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Fairytale

das Leben ist ein Märchen- oder auch nicht
von

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Begegnungen

Womit hatte er das verdient? Er hatte doch nur seine Kopfschmerzen auskurieren wollen und war deswegen gelaufen, anstatt sich wie sonst in seinem Auto fahren zu lassen. Und nun so etwas! Blöde Kopfschmerzen!

Als er durch die Straße gegangen war waren seine Gedanken in eine andere Richtung abgedriftet und so hatte er das sich öffnende Gartentor erst zu spät bemerkt. Bei dem Versuch auszuweichen waren zwei Dinge passiert: Er hatte das Gleichgewicht verloren und war während seines Sturzes an einem rostigen Nagel hängen geblieben. Das hässliche Geräusch von reisendem Stoff war zu hören gewesen und im nächsten Moment saß Alexander Trenchard, zukünftiger Lord, mit zerrissener Designerhose auf seinem Allerwertesten und verfluchte den Nagel, das Gartentor, die Person die das selbige geöffnet hatte, seine Kopfschmerzen, seine Hose und zur Sicherheit den Rest der Welt gleich mit. Warum war er überhaupt aufgestanden? Schmerzen an seinem Knie machten ihn darauf aufmerksam, dass beim Zusammentreffen mit dem Nagel nicht nur seine Hose gelitten hatte. Als er den losen Stofffetzen zur Seite strich sah er einen langen dünnen Kratzer, aus dem ein wenig Blut sickerte.

Und so kam es, dass Alex, mit mittlerweile verpflastertem und desinfiziertem Knie, im Badezimmer einer wildfremden Frau stand und eine Hose anzog, die er von ihr bekommen hatte. Zu seiner Überraschung passte sie ihm recht gut, auch wenn es ein recht billiges Teil war.

Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer kam er an einem kleinem Tisch vorbei, auf dem ein recht hoher Stapel Papier lag und wie das Schicksal so spielte wurden einige durch den von ihm verursachten Luftzug auf den Boden geweht. Gut erzogen wie er war sammelte er sie wieder ein und versuchte dabei nicht den Inhalt zu lesen. Allerdings sprang ihm trotz aller Mühen mehrmals der fett gedruckte Begriff Mahnung ins Auge. Offenbar hatte die Frau Geldprobleme. Aber was um alles in der Welt kümmerte ihn das? Er legte den Stapel zurück und machte das er ins Wohnzimmer kam. Die Frau musterte ihn. „Scheint ja ganz gut zu passen.“ „Wenn man davon absieht, dass ich die sonst niemals tragen würde...“ Ihr rechtes Auge blitzte ihn wütend an. „Sie müssen sie nicht tragen! Lassen sie sie einfach da und gehen, wenn ihnen das lieber ist!“ Sie schien sich die Haare aus dem Gesicht streichen zu wollen, ließ die Hand aber kurz davor wieder sinken und ihre linke Gesichtshälfte blieb weiterhin hinter den blonden Strähnen versteckt.

Die Frage warum sie so rumlief wurde genauso schnell wieder verdrängt, wie sie gekommen war. Stattdessen bedankte er sich und machte das er wegkam. Allerdings stolperte er auf dem Weg nach draußen über eine auf dem Boden liegende Puppe und hätte beinahe auch noch den Boden im Haus näher kennen gelernt. Seine Laune sank langsam aber sicher auf den Tiefpunkt. Viel schlimmer konnte der Tag ja nicht mehr werden!
 

Hatte er das wirklich gesagt? Genau diese Frage stellte Alex sich zum wahrscheinlich... äh zum wievielten mal eigentlich? Er hatte irgendwann bei fünfzehn oder so aufgehört zu zählen.

„Und warum?“ fragte er seinen Gesprächspartner bemüht ruhig und freundlich. „Nun, ihre vielen... wie soll ich sagen... Liebeleien sprechen nicht gerade für einen standfesten Charakter. Und dann ist da natürlich noch diese Sache mit Herrn Schübel... Sie verstehen doch sicherlich, das ich meine Firma keinem Mann anvertraue, der nicht in der Lage ist sie gut zu führen!“ Alex verdrehte innerlich die Augen. Diese Sache würde man ihm wahrscheinlich für den Rest seines Lebens unter die Nase reiben. „Und wie soll ich ihnen bitte beweißen dass ich geeignet bin?“ „Nun ja, diese Fehleinschätzung bezüglich des Charakters von Herr Schübel können sie natürlich nicht wieder rückgängig machen...“ „Das war keine Fehleinschätzung!“ So langsam reichte es ihm. Warum musste diese olle Kamelle immer wieder aufgewärmt werden? “Nicht? Nach meinen Informationen hat er eine nicht unerhebliche Geldsumme unterschlagen!“ „Haben ihre Informationen ihnen auch gesagt, dass seine Frau schwer krank war und das Geld ausschließlich für ihre Behandlung verwendet wurde? Bis zu dem Zeitpunkt an dem sein Privatvermögen aufgebraucht war hat er nie auch nur einen Cent von den Firmengeldern angefasst!“ Der zukünftige Lord unterdrückt den Drang sein Gegenüber am Kragen zu packen und diesen alten Sturkopf mal kräftig durchzuschütteln. Aber auch nur, weil das seinen Chancen auf eine Firmenübernahme den Gnadenstoß verpasst hätte. Er wusste ja schließlich selbst, dass kein noch so edles Motiv einen Betrug rechtfertigte.

Sein Gegenüber schien diese Meinung zu teilen. „Wie ich schon sagte: Es kann nicht mehr rückgängig gemacht werden und aus Fehlern lernt man ja schließlich. Aber mir ist immer noch nicht wohl bei dem Gedanken die Führung meiner Firma einem Frauenhelden, entschuldigen sie diese Ausdrucksweise bitte, zu überlassen.“ „Die Arbeit kommt immer an erster Stelle. Was muss ich tun um sie davon zu überzeugen?“ „Zeigen sie mir das sie auch Standfest sein können! Soweit ich weiß waren sie mit kaum einer Frau länger als zwei Monate zusammen. Ich selbst bin seit dreißig Jahre glücklich verheiratet und würde deswegen gerne sehen ob sie Durchhaltevermögen haben und es länger mit einer Frau aushalten. Sagen wir mindestens ein halbes Jahr?“ „In Ordnung!“ Die Antwort kam, bevor Alex Zeit zum nachdenken hatte. „Noch lieber wäre es mir natürlich, wenn sie heiraten würden. Dann gäbe es jemanden, der ein Auge auf sie hätte... Aber lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach, nicht wahr? Wir sind uns also einig?“ Alex nickte und nach einem kurzem Händeschütteln verabschiedete sich Herr Koch kurze Zeit später.

Kaum war er zur Türe hinaus sank Alex auch schon zu einem Häufchen Elend zusammen. Wie hatte er nur zustimmen können? Ein halbes Jahr mit ein und der selben Frau? Du lieber Gott, welcher Teufel hatte ihn denn da geritten? Wie sollte er da wieder rauskommen?

Er atmete tief ein und richtete sich wieder auf. Es gab für ihn nur eine Option: Augen zu und durch! Das würde er schon schaffen! Blieb nur noch die Frage woher er eine Frau nehmen sollte. Sarah? Zu anhänglich! Rebecca? Hübsch aber dumm wie Bohnenstroh! Kathrin? Zu gierig! Und auch keine seiner anderen Exfreundinnen kam in Frage. Die wollten alle gleich heiraten oder lebten auf seine Kosten in Saus und Braus. Er musste jemanden finden, der ihm half ohne dafür groß etwas zu fordern! Aber wer sollte das sein? Die Antwort sollte ihm von ganz allein in den Schoß fallen. Mehr oder weniger...
 

Am nächsten Tag schlenderte er über den Jahrmarkt um seinen Kopf freizubekommen. Manchmal kamen die besten Ideen, wenn man nicht zu viel nachdachte.

Wo sollte er hingehen? Es war ewig her, seit er das letzte mal auf einem Jahrmarkt gewesen war. Sollte er zum Schießstand oder Dosenwerfen? Oder doch lieber erst etwas essen...

Jemand zupfte ihm am Ärmel. Ein kleines Mädchen, etwa sechs oder sieben Jahre, schaute ihn aus großen grasgrünen Augen an. „Suchst du etwas?“ „Ja! Eine Frau zum heiraten!“ meinte er scherzeshalber. Das Kind schaute ihn hocherfreut an. „Dann heirate doch Mama!“ Wie bitte? Das hatte sie nicht wirklich gesagt, oder? Heiraten? Er? Eine Frau mit Kind? „Bist du verrückt?“ gab jemand anders seinen Senf dazu. „Dem Typ überlass ich Mama nicht!“ Der Junge, etwa im selbem Alter, hatte offenbar eine völlig andere Meinung zu diesem Thema als seine Schwester. Seine Augen, leuchtend dunkelblau, funkelten misstrauisch und er machte den Eindruck, als wolle er Alex am liebsten sein im schmelzen begriffenes Eis an den Kopf werfen. Allerdings nahte Hilfe.

„Kito? Lalita? Wo seid ihr?“ Die Stimme klang schon leicht panisch. „Hier Mama!“ Keine zwei Minuten später kam eine junge Frau angelaufen. Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah die beiden einfach nur an. Ziemlich vorwurfsvoll, um genau zu sein. Und es zeigte offenbar mehr Nutzen als jede Moralpredigt, denn die Kinder schrumpften unter ihrem Blick fast noch schneller als ihr Eis in der Sonne.

„Seien sie ihnen nicht böse! Ihre Tochter wollte mir nur Hilfe anbieten.“ „Na dann... Ihr wisst doch, dass ihr keine fremden Leute ansprechen sollt!“ „Tut uns leid! Dürfen wir Dosenwerfen?“ Dieser, zugegebenermaßen nicht besonders elegante, Themenwechsel brachte sowohl Alex als auch sein weibliches Gegenüber zum schmunzeln. Ein Geldschein wechselte den Besitzer und der Junge düste sofort ab zum Stand. Das Mädchen schaute seine Mutter aus großen Augen an und fragte ob sie nicht mitkommen wolle. „Nein, geh schon mal vor! Ich werde mich noch kurz mit dem Herrn hier unterhalten, dann komme ich nach.“ Der Kleinen passte das offenbar gar nicht und sie versuchte ihre Mutter durch Quengelei zum mitkommen zu überreden, womit sie aber wenig Erfolg hatte.

„Weißt du was? Wir laufen einfach langsam hinter dir her. Was hältst du von diesem Vorschlag?“ Das Kind war entzückt und zeigte seine Begeisterung, indem es dem auf dem Boden knienden Alexander um den Hals fiel und ihm einen dicken Kuss auf die Wange gab. Eine für ihn völlig neue Erfahrung. Verdattert stand er wieder auf und wandte sich der Mutter zu. Ein kleines Schockerlebnis folgte als er sie erkannte. Honigblondes Haar, das die linke Gesichtshälfte bedeckte und ein funkelndes graues Auge. Die Frau von gestern! Schockschwere Not! Verfolgte die ihn etwa? Und warum hatte die Frau Kinder? Er hatte sie auf höchstens ein paar Jahre jünger als sich selbst geschätzt, also Anfang oder Mitte Zwanzig! Was heißen würde, dass sie im „besten“ Fall mit achtzehn Mutter geworden war.

„Ich hoffe die beiden haben sie nicht auf irgendeine Weise belästigt.“ Ihre Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Was dachte er da schon wieder? Die Frau war anscheinend nicht gut für ihn. Er machte sich einfach viel zu viele Gedanken über sie. Und das, obwohl er sie erst zum zweiten mal traf! Das war doch einfach zum Haarausraufen!

„Nein natürlich nicht!“ beeilte er sich zu sagen während sie hinter Lalita hergingen. Dabei viel ihm auf, dass sie ihn mit einem ziemlich verwunderten Blick bedachte. „Ist irgendwas? Sie schauen so komisch!“ „Nein, es ist eigentlich nichts. Nur..“ „Ja?“ „Ich wundere mich nur, dass Lalita so aufgeschlossen ihnen gegenüber ist. Normalerweise bringt sie Fremden gegenüber keinen Ton raus.“ „Dafür scheint mich ihr Sohn überhaupt nicht zu mögen...“ „Kito? Der sieht jedes männliche Wesen als Bedrohung.“ Sie lachte leise wurde aber sofort ernst als sie ein Schluchzen hörte. Ihre Tochter versteckte sich hinter ihrem Bruder und schien Todesangst vor dem Mann im Stand zu haben.

„Ich habe nichts gemacht!“ versicherte er panisch als Alex und die Frau bei seinem Stand ankamen. Die Kleine warf sich sofort in die Arme ihrer Mutter und vergrub ihr Gesicht in ihrem Pullover. „Das glaube ich ihnen!“ Sie begann ihrer Tochter beruhigend über das kastanienfarbene Haar zu streichen. „Sie fremdelt nur ziemlich. Tut mir leid, ich wollte ihnen keine Schwierigkeiten machen!“ „Macht fast nichts! Ihr Sohn hat übrigens richtig abgeräumt!“ Stolz hielt Kito den Plüschtiger hoch den er gewonnen hatte, worauf deine Schwester zu quengeln begann, weil sie auch einen wollte. Da sie sich allerdings permanent weigerte zu werfen erbarmte sich Alex schließlich und versuchte sein Glück. Tatsächlich gewann er sogar ein Plüschherz, was der Kleinen ein entzücktes Kreischen entlockte und dazu führte, dass Alex zum zweiten mal an diesem Tag in den Genuss eines feuchten Kusses kam. So langsam gewöhnte er sich daran. Woran er sich aber wohl nie gewöhnen würde waren die Mörderblicke aus den saphirfarben Augen ihres Bruders...

„Kriegen wir... diese... diese braunen viereckigen Dinger? Die in der dreieckigen Tüte?“ Ein Glück lenkte diese Frage die Gedanken des Jungen in andere Bahnen, sonst hätte er Alex vermutlich tot gestarrt. „Ihr hattet doch erst ein Eis.“ „Biiiitteeee!“ „Nein! Jetzt guck nicht so! Hör sofort damit auf! .... Na gut. Aber nur eine kleine Tüte!“ Bettelnde Blicke von kleinen Kindern waren eben nur schwer zu ertragen, wie Alex feststellen musste.

Fünf Minuten später kaute Lalita zufrieden auf einem Stück Magenbrot herum und bot ihm auch eins an. „Wie heißt du eigentlich?“ fragte sie plötzlich zusammenhangslos. „Alex.“ „Ich bin die Lalita, das da ist der Kito und das ist Mama.“ „Hat Mama auch einen Namen?“ fragte er der Höflichkeit halber. Es wunderte ihn sowie so schon das er noch nicht wieder verschwunden war. Sie gehörte eigentlich nicht zu der Art von Frau mit der er normalerweise zu tun hatte. „Amber. Ich heiße Amber.“ „Sind sie Engländerin?“ „Nur zur Hälfte.“

Irgendetwas hielt ihn davon ab weiterzufragen. Was genau konnte er nicht sagen. Vielleicht ihr Tonfall? Oder die Art wie sie den Blick abwandte? Egal, ein anderes Thema musste auf den Tisch! „Schönes Wetter heute nicht wahr?“ Das hatte er jetzt nicht wirklich gesagt oder? Ein blöderer Klischeespruch war ihm wohl nicht eingefallen oder? Aber der Themenwechsel war ihr offenbar willkommen, da sie sofort darauf einging. „Ja. Aber ich befürchte, dass es regnen wird. Wollt ihr Karussell fahren?“ Die beiden waren sofort Feuer und Flamme und nach einem weiterem Anfall von Fremdelei seitens Lalita drehten die Kinder glücklich ihre Runden auf den Pferden.

Immer wenn die beiden vorbeikamen winkten sie ihrer Mutter begeistert zu, welche lächelnd zurückwinkte. Zumindest bis Amber aus heiterem Himmel plötzlich umkippte. Beim Versuch sie aufzufangen ging Alex mit ihr zu Boden. Das schien langsam zur Gewohnheit zu werden jedes Mal den Boden zu küssen, wenn er diese Frau traf.

„Tut mir leid! Es hat mir nur den Kreislauf zusammengehauen! Es geht schon wieder!“ Ihr Versuch aufzustehen scheiterte kläglich. „Sind sie sicher?“ „Ja. Ich habe nur zu lange nichts getrunken.“ Er brachte sie zu einer schattigen Bank in der Nähe. Bis er sie abgesetzt hatte waren auch schon ihre Kinder da. Mit der Anweisung auf sie aufzupassen lies Alex die drei allein und machte sich auf ihr etwas zu trinken zu besorgen. Keine fünf Minuten später trank sie brav ein Glas Wasser leer, was ihr tatsächlich gut zu tun schien.

Allerdings bestand Alex trotz aller Beteuerungen darauf, sie nach Hause zu fahren, bzw. fahren zu lassen.
 

In dieser Nacht schlief Alex schlecht. Er hatte immer noch keine Lösung für sein Problem und als ob das nicht schon genug wäre, träumte er auch noch von Mahnungen, zerrissenen Hosen und verängstigten und wütenden Kindern. Einen Vorteil hatte das ganze aber doch! Als er aufwachte hatte er die Lösung für sein Problem gefunden.

Vom Aschenputtel zur Prinzessin?

Für shinichi_san, die sich bisher tapfer jedes noch so schlechte Kapitel durchgelesen hat!
 


 

Amber saß mit geschlossenen Augen und ineinander verkrampften Händen auf dem Rücksitz und betete, dass die Fahrt bald zu ende wäre. Sie hasste Autos, genauso sehr wie sie auch Krankenhäuser und Feuer hasste.

Noch vor einiger Zeit hatte sie beim bloßen Anblick eines Autos beinahe einen Herzinfarkt bekommen. Inzwischen hatte sie das, dem Psychiater sei dank, wieder halbwegs im Griff. Sprich, sie konnte in einem Auto sitzen, solange die sie Augen geschlossen hielt und an etwas anderes dachte. Immerhin etwas, oder?

Leider konnte sie sich keine weiteren Sitzungen leisten. Kassenpatienten waren eben Menschen zweiter Klasse! Da sie wieder in die Nähe eines Autos konnte sah die Krankenkasse keinen Bedarf für weitere Therapiestunden. Und den Versuch das ganze selbst zu zahlen konnte sie knicken. Wie denn auch, ohne einen gut bezahlten Job?

Zwei kleine Hände legten sich auf ihre und dankbar griff sie nach ihnen. Eigentlich kaum zu glauben, wie rücksichtsvoll ihre Kinder waren. Und das, trotz ihrer erst knapp sieben Jahre.

Erst als das Auto anhielt und der Motor gestoppt wurde wagte sie es, sie zu öffnen. Sofort begann ihr Atem zu rasen und als die Tür endlich aufging wäre sie beinahe noch einmal gestürzt, so eilig hatte sie es aus dem Auto zu kommen.

Ihre neue alte Bekanntschaft, die sie wiedereinmal aufgefangen hatte, musste leise lachen. Hitze breitete sich über ihrem Gesicht aus und am liebsten hätte sie ihn stehen gelassen. Einfach rein ins Haus, Tür zu und sich für den Rest des Tages im Bett vergraben. Toller Plan! Sollte sie doch glatt machen.

Stattdessen setzte sich natürlich mal wieder die Kinderstube durch. Man wollte sich ja schließlich nicht komplett zum Affen machen. „Tut mir Leid!“ murmelte sie und senkte den Kopf, damit Alex nicht das verräterische Rot sah. Warum eigentlich? So was wäre schließlich jedem peinlich!

„Bin ich so ein unangenehmer Zeitgenosse das man gleich Hals über Kopf davonstürzen muss?“ „Nein! Natürlich nicht.“ Ihre Gesichtsfarbe machte inzwischen bestimmt einer Tomate Konkurrenz. „Na dann bin ich ja beruhigt.“ Er fing an zu lachen und nach kurzem Zögern kicherte Amber einfach mit. Wenigstens lenkte sie das von ihren Panikzuständen ab. Warum hatte dieser Kerl auch darauf bestehen müssen, dass sie mitfuhr?

Sie war heilfroh, als er endlich wieder in sein Auto stieg und wegfuhr.
 

Piep...piep...piep

Ein fünfzehnjähriges Mädchen saß völlig in sich zusammengesunken auf einem unbequemen Plastikstuhl. Die einzigen Geräusche waren das monotone Piepsen der Apparate und ihre eigenen trockenen Schluchzer. Von Zeit zu Zeit kamen große, bedrohlich wirkende Personen in weißen Kitteln herein. Die Gesichter konnte sie nicht erkennen, genauso wenig was sie taten und warum sie es machten. Sie wusste nur eins: sie machten ihr Angst!

Piep.....piep.......piep

Irgendetwas schien sich an den Piepstönen zu ändern. Panisch sprang sie auf, rannte zu den weißen Gestalten. Sie mussten kommen. Etwas stimmte nicht. Doch so sehr sie auch an den Ärmeln zerrte, bat und bettelte, sie wurde ignoriert. Sahen diese Leute sie überhaupt? Sie wurde mehrmals fast umgerannt, keiner schien Notiz von ihr zu nehmen. Sie stürzte zurück ins Zimmer.

Piiiiieeep

Dauerpiepen. Das war nicht gut. Konnte nicht gut sein. Irgendjemand fing an zu schreien. Gellend, panisch. Sie hielt sich die Ohren zu, aber sie hörte das Geräusch immer noch. Erst als die Tür geöffnet wurde und jemand fragte was los sei bemerkte sie, dass sie selbst schrie.

Im nächsten Moment füllte sich das Zimmer noch einmal mit den weißen Kitteln. Sie rannten hier hin und dort hin, aber das Dauerpiepen blieb. Immer noch schreiend sank sie auf dem Boden zusammen.

Sie erschrak fast zu Tode, als sie von hinten gepackt und auf die Beine gezerrt wurde. Sie wehrte sich, aber es kamen immer mehr Hände die sie festhielten. Ihr rechter Arm wurde gestreckt, nach vorne gehalten und gestützt. Ein kurzes Pieksen, dann wurde alles schwarz.

Schwärze. Samtig, still, wohltuend. Und beängstigend. Keine Geräusche, kein Licht. Nur...nichts. Das änderte sich schlagartig. Meterhohe Flammen loderten plötzlich hoch, fraßen die Schwärze und alles andere...
 

Mit einem leisen Schrei setzte Amber sich auf. Sie warf gehetzte Blicke in alle Richtungen, ihr Atem raste. Sie war zuhause. Alles war gut. Sie schaltete das Licht ein und strich sich eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie war klatschnass. Genau wie ihr Schlafanzug.

Ruhig. Sie musste sich beruhigen. Sie zog die Beine an, schlang die Arme um ihre Knie und begann sich sanft hin und her zu wiegen. „Es ist nicht meine Schuld! Es ist nicht meine Schuld!“ Diesen Satz sagte sie wie ein Mantra immer wieder.

Schlafen würde sie in dieser Nacht nicht mehr viel, das war sicher. Sie hätte nicht in dieses verdammte Auto steigen sollen! Leise schluchzend kauerte sie sich auf dem Bett zusammen. „Es ist nicht meine Schuld!“ Wie lange sie so dalag wusste sie nicht, aber irgendwann schlief sie wieder ein.
 

Der nächste Morgen kam viel zu früh. Am liebsten hätte sie ihren Wecker auf den Boden geworfen und mit einem Hammer bearbeitet. Kaum zu glauben, dass sie mal ein Morgenmensch gewesen war. Allerdings war das gewesen, bevor sie jede Nacht Albträume bekam. Nach so einer Nacht gute Laune zu haben war ein Ding der Unmöglichkeit.

Der Blick in den Spiegel bestätigte diese These. Blass, übermüdet, das Gesicht total verquollen. Die Dusche musste heute wohl besonders kalt sein, sonst würde sie darunter einschlafen.

Eine dreiviertel Stunde später weckte sie die Kinder. Frühstück machen, Schulranzen richten, Vesper einpacken, der typische Morgen einer Mutter. Anstrengend, aber um nichts in der Welt würde sie es eintauschen. Diese Kinder waren ihr Lebensinhalt, das Zentrum ihres Universums.

Ein Blick auf die Uhr unterbrach diesen Gedankengang. Kito und Lalita mussten los.

Kaum waren die beiden aus dem Haus ging es schon weiter. Schnell aufgeräumt, dann ab ins Bad. Zähne putzen, die Haare zu einem Zopf zusammenbinden, die obligatorische Haarsträhne über der linken Gesichtshälfte. Erst jetzt schaute sie wieder in den Spiegel. Seit fast einem Jahr mied sie Spiegel wie die Pest. Seit Matteos Tod sah kaum jemand ihr ganzes Gesicht. Und das würde auch so bleiben. Komische Blicke hin oder her.

Sie musste langsam los. Wie immer lief sie zur Arbeit. Ein Halbtagsjob als Putzfrau. Was für ein Karrieresprung! Aber wer stellte schon jemanden ein, dessen Gesicht hinter den Haaren kaum zu sehen war? Den meisten Leuten war es unangenehm, sich mit ihr zu unterhalten. Wenn sie ihr Gesicht allerdings sahen, ergriffen sie schnellstmöglich die Flucht. Also blieb nicht viel. Und die Rechnungen mussten ja irgendwie gezahlt werden.

Vier Stunden später wurde der Putzeimer erleichtert in die Besenkammer gepfeffert. Ab nach hause. Die Kinder hatten bald Schulschluss und sie musste noch kochen.

Im Briefkasten steckten zwei Briefe. Mahnungen, was auch sonst? Woher sie allerdings das Geld nehmen sollte blieb schleierhaft. Also konnte sie sich auch genauso gut mit dem Essen beschäftigen.

Gesagt getan. Sie schnitt gerade Zwiebeln, als es an der Türe klingelte. Seltsam. Die Kinder waren aber früh dran. Vor der Tür standen aber nicht wie erwartet die Zwillinge, dafür aber ein großer Kerl mit dunkelbraunem Haar und einem Zahnpastalächeln im Gesicht. Über seinem Arm hing eine Hose, die ihr wohl bekannt war. „Die wollte ich ihnen zurückbringen.“ Wow. Sie hätte nie gedacht, dass dieses Lächeln noch breiter werden konnte. Artig bedankte sie sich und wollte die Türe schon wieder schließen, aber etwas hielt sie davon ab. Dieses Etwas war ein schwarzer Lederschuh, der auf mysteriöse Weise zwischen Tür und Rahmen gelangt war. „Könnte ich kurz mit ihnen reden?“ Sie hatte ein mieses Gefühl bei der Sache, lies ihn aber trotzdem rein.

Fünf Minuten später hätte sie ihn am liebsten wieder vor die Tür gesetzt. Warum hatte sie nicht auf ihren Bauch gehört? „Nur das wir uns richtig verstehen. Sie wollen, dass ich ihre Freundin spiele, möglicherweise kommt noch eine Hochzeit dazu... und das nur, weil sie irgendeine bankrotte Firma aufkaufen wollen?“ „Das wäre die Kurzzusammenfassung.“ Er nickte und sah sie an als erwartete er, dass sie ihm jubelnd um den Hals fiel. „Wohl zu geizig um genug zu zahlen, oder?“ Mit dieser Antwort hatte er offenbar nicht gerechnet. Ebenso wenig mit ihrem gereizten Ton. „Und da dachten sie wohl, sie heiraten einfach mal die nächst Beste! Ist ihnen ihre Freundin bei diesem Angebot davongelaufen oder was soll das?“ „Nein, ich habe meine Freundin gar nicht erst gefragt.“ „Und dürfte ich fragen warum nicht?“ „Sie hätte Bedingungen gestellt, mit denen ich nicht einverstanden gewesen wäre!“ „Und ich soll meinen Kopf umsonst herhalten?“ „Nicht ganz. Der Deal ist folgender: Sie spielen meine Freundin oder meine Braut, falls es die Situation erfordert, dafür zahle ich ihre Schulden. Und wenn ich mir den Berg da draußen so ansehe, haben sie das bitter nötig.“

Amber schluckte. Wo er recht hatte, hatte er recht. Die Sache wuchs ihr langsam über den Kopf. Aber sich verkaufen? So wertlos war sie doch nicht, oder etwa doch?

Sie schüttelte kurz den Kopf. Sie würde das nicht machen, für kein Geld der Welt. „Vergessen sie es! Und jetzt gehen sie bitte, ich hab zu tun!“ Sie wurde aus großen schokobraunen Augen angesehen. Hatte dieser aufgeblasene Wichtigtuer etwa im Ernst angenommen, dass sie auf dieses Angebot eingehen würde? „Sind sie sicher? Denken sie doch an ihre Kinder!“ Sie atmete tief ein, hielt die Luft ein paar Sekunden lang an und ließ sie langsam wieder entweichen. „Halten sie die beiden da raus!“ Ihre Stimme und ihre Hände zitterten. Ihr Gegenüber schien das zu bemerken und fuhr gnadenlos fort. „Nun, wenn sie mir nicht helfen wollen, sehe ich gezwungen einen Anruf beim Jugendamt zu machen. Und dann können sie den beiden Kleinen „Lebewohl“ sagen.“

Luft. Sie brauchte Luft. Nackte Angst schien ihr die Kehle zuzuschnüren und sie hatte das Gefühl zu ersticken. Erst eine gefühlte Ewigkeit später hatte sie sich wieder so weit beruhigt, dass sie eine zusammenhängende Antwort geben konnte. „D... das können sie nicht machen! Was glauben sie eigentlich wer sie sind?“ Ärgerlicherweise klang ihre Stimme um etliche Oktaven höher und zu allem Überfluss zitterte sie auch noch. Amber Falluci, die Selbstsicherheit in Person!

Alex verschränkte die Arme und grinste überlegen. „Nun, was meine Peron angeht, ich bin Alexander Trenchard und werde irgendwann den Titel meiner Familie übernehmen. Und was das mit dem können oder nicht können betrifft, meine Familie ist so einflussreich, dass ich ihre Kinder ohne große Probleme in die Antarktis umsiedeln könnte.“

Er kam näher und zwang sie ihn anzusehen, indem er ihr Kinn mit der Hand nach oben drückte. „Überlegen sie es sich gut! Ihre ganzen finanziellen Probleme wären auf einen Schlag gelöst.“ Er drückte ihr eine Karte in die Hand. „Rufen sie mich an, wenn sie es sich anders überlegen!“ Als nächstes war zu hören wie die Tür ins Schloss fiel.

„Mama, Mama!“ Lalita stürzte ins Wohnzimmer. „Ich hab eine tolle neue Puppe gesehen!“ „Ach wirklich? Ich werde mal sehen, was sich machen lässt.“ Amber versuchte ein Lächeln, allerdings war ihr klar, dass dafür kein Geld vorhanden war. Und in ihrem heutigen Brief hatte die Bank mit der Pfändung des Hauses gedroht. Sie fuhr ihrer Tochter mit einer Hand über die roten Locken. „Kommt, es gibt Essen.“

Während ihre Kinder mit Heißhunger über die Spaghetti herfielen stocherte sie nur lustlos in ihrem Teller herum. Sie hing ihren eigenen Gedanken nach. Geld musste her und zwar schnell. Ansonsten würden sie bald alle unter einer Brücke schlafen müssen. Sie unterdrückte einen Seufzer. Da blieb wohl nur noch der Anruf bei „Herrn Von und Zu“. Das arme Mädchen heiratet einen reichen Kerl. Warum nicht? Hatte bei Aschenputtel ja schließlich auch geklappt! Allerdings würde sie vorher noch ein paar Infos über diesen Typ zusammentragen.

Aus diesem Grund saß sie zwei Stunden später am Computer der Bücherei und durchforstete das Internet nach Alexander Trenchard. Reich, adelig und einen größeren Frauenverbrauch als Casanova persönlich. Na das war ja ganz große Klasse. Hätte es kein netter und durchschnittlicher Mann sein können? Allerdings hätte so jemand garantiert keinen Bedarf für eine falsche Freundin gehabt. So oder so, sie hatte wohl einen Anruf zu machen.

Nach einem fünfminütigen Telefonat knallte sie den Hörer wieder aufs Telefon. „Übermorgen stelle ich dich meinen Eltern vor. Zieh was anständiges an!“ Was glaubte dieser Kerl eigentlich? Das sie in Lumpen da antanzen würde? Obwohl, so schlecht war die Idee gar nicht. Sein Gesichtsausdruck wäre bestimmt göttlich! Und der Deal schneller geplatzt als eine Seifenblase. Also sollte sie schon mal anfangen, ihren Kleiderschrank zu durchforsten. Wahrscheinlich würde sowieso nichts darin in die Kategorie „anständig“ fallen.

Eine Stunde später hatte sie sich endlich entschieden. Eine klassische Kombination aus Hose und Bluse. Wahrscheinlich bei weitem nicht, was Alex unter anständig verstand, aber was sollte sie den sonst tun? Klamotten aus den Rippen schneiden ging ja schlecht. Also musste herhalten was da war.

Seufzend rieb sie sich die Augen. „Operation Aschenputtel“ konnte beginnen. Wenn auch ohne gute Fee und Kleid. Aber man konnte ja nicht alles haben, oder?

Vorstellungsrunde

Oder auch: Alex und das Fettnäpfchen
 

„Jetzt beruhige dich und setzt dich einfach hin, Darling!“

Ein Schnauben war das einzige, das David als Antwort erhielt. Seine Frau zog es vor, weiter durch die kleine Bibliothek zu tigern.

„Du weißt doch, wie Alex ist!“ brach es schließlich aus ihr heraus.

„Seine Freundinnen sucht er doch immer nach dem Motto ‚der schöne Schein ist alles’ aus. Wer weiß was er diesmal anschleppt?“

„Vielleicht überrascht er uns ja mal positiv. Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zu letzt!“ Er lachte. Gott, sie liebte dieses Geräusch. Sie hatte sich schon in sein Lachen verliebt, bevor sie ihn überhaupt gesehen hatte.

„Immerhin muss er es ein Jahr lang mit der Dame aushalten.“ Lady Anna Trenchard zuckte mit den Schultern und nahm ihre Wanderung wieder auf. Wenn das so weiterging, wäre der Teppich unter ihren Füßen bald durchgelaufen.

Dazu kam es aber glücklicherweise nicht, da der Besuch kurze Zeit später eintraf. Stattdessen stürzte Anna dermaßen Hals über Kopf aus dem Zimmer, dass sie beinahe gegen die geschlossene Türe geknallt wäre. Ja ja, wer zu blöd war eine Klinke zu erwischen...

An der Treppe hielt sie an, um erst einmal in Ruhe einen Blick auf die neuste Eroberung ihres Sohnes zu werfen.

Das konnte doch nicht wahr sein, oder? Die junge Frau hatte Kinder dabei! Zwei süße kleine Knirpse, die sie nach Strich und Faden verwöhnen konnte. Ein dickes, fettes Plus! Anna wünschte sich Enkel und das wie verrückt.

„Wenn du dich noch weiter vorlehnst, brauchst du die Treppe nicht zu benutzen.“ Dieser Weg wäre zwar schneller, aber auch schmerzhafter gewesen und deswegen wurde gesittet die Treppe benutzt.

„Guten Tag! Ich bin Anna, die Mutter von Alex und das ist mein Mann David.“ Der Händedruck der jungen Frau war angenehm warm und fest.

„Ich bin Amber Falluci und das sind die Zwillinge Kito und Lalita.“ Ihre Stimme war hell wie ein Glockenspiel und klang genauso angenehm.

Lady Trenchard musterte sie genau. Sie war groß, mindestens einen Meter siebzig und hatte ein schönes Gesicht. Wenn man von der Strähne davor mal absah. Aber es waren die Augen, oder besser das Auge, das sie fesselte. Es war leicht schlitzförmig, als hätte es irgendwann in ihrer Familie mal einen Asiaten gegeben und die Iris war von einem außergewöhnlichem Grau, das fast silbern glänzte. Aber da war noch etwas anderes, etwas, dass sie nicht greifen konnte.

Sie wandte sich, immer noch grübelnd, den Kindern zu. Das Mädchen klammerte sich an dem Bein ihrer Mutter fest und blickte ängstlich in die Runde, während der Junge misstrauisch zwischen Anna und David hin und hersah.

„Entschuldigt, bin ich zu spät?“ die Reaktion der Kinder über Alex’s Erscheinen hätten nicht unterschiedlicher sein können. Das Mädchen rannte freudig auf ihn zu und umarmte ihn, während bei ihrem Bruder der Gesichtsausdruck von misstrauisch zu finster wechselte.

Anna musste wegen des Ausdrucks auf Ambers Gesicht lachen. Als wäre ihr eine Heilslehre offenbart worden.

„Ich habe schon lange nicht mehr gesehen, dass Lalita einem Fremden gegenüber so aufgeschlossen war.“ Sie schüttelte den Kopf und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Himmel, ein Grübchen, wie niedlich!

Da Alex jetzt auch anwesend war, konnte man sich dem Essen widmen. Und wie man das eben so tat, wurde während dem Essen über alles mögliche gesprochen und so war es nicht weiter verwunderlich, dass das Gespräch auf Ambers Familie kam.

„Amber Falluci ist eine seltsame Namenskonstellation. Gibt es in deiner Familie einen Engländer?“ fragte David neugierig.

„Meine Mutter.“ Sie sah nicht vom Teller auf.

„Und dein Vater ist Italiener?“ riet Anna. Falluci hörte sich ziemlich italienisch an.

„Nein, mein Mann.“ Der Dessertlöffel blieb auf halben Weg zum Mund stehen.

„Du bist verheiratet?“ in was war ihr Sohn da nur reingeraten?

„Verwitwet.“ Der Löffel sank zurück auf den Teller.

„Das tut mir Leid. Ich hätte nicht gedacht, dass jemand in deinem Alter... Verzeihung!“ sie hielt wohl besser den Mund, bevor sie noch ein Fettnäpfchen traf.

„Schon in Ordnung. Ich scheine das Pech gepachtet zu haben.“

„Wie meinst du das denn?“ nur mit eiserner Selbstbeherrschung konnte Anna sich davon abhalten, ihrem Sohn die Schüssel mit der Schokocreme auf den Kopf zu klatschen. Wie konnte man nur so unsensibel sein?

„Es gehört schon eine Menge Pech dazu, mit vierundzwanzig Witwe, alleinerziehende Mutter und Vollwaise zu sein, meinst du nicht auch?“ sie hob den Kopf, sah ihn an und in diesem Moment erkannte Anna, was ihr schon vorher aufgefallen war: Ihre Augen wirkten alt, so als hätte sie Dinge gesehen, die man in ihrem Alter nicht gesehen haben sollte. Armes Ding!

„Dürfen wir spielen gehen?“ fragte Lalita in die unangenehme Stille hinein, wofür alle dankbar waren. Das Thema „Familie“ wurde für den Rest des Abends vorsorglich auf Eis gelegt.

Kaum waren Amber und die Kinder aus dem Haus, stellte Anna ihren Sohn zur rede.

„Dürfte ich mal erfahren was das soll? Wie kannst du nur so unsensibel sein? Es war doch offensichtlich, dass sie nicht darüber reden wollte!“

„Ich wollte doch nur wissen, was sie damit gemeint hat! Woher sollte ich das alles denn wissen?“ ihr blieb der Mund offen stehen.

„Willst damit sagen, dass du nichts über sie weißt?“

„Nichts, außer dass sie massig Schulden und zwei Kinder hat.“ Himmel, was war mit dem Jungen los? Nicht nur, dass er eine Frau aussuchte, die überhaupt nicht zu seinem sonstigen Schema passte, nein er lies auch noch die Durchsuchung ihres Hintergrundes weg. Normalerweise recherchierte er immer genau, bevor er sich einer Frau näherte.

„Du solltest sie fragen! Wenn die Presse von ihr erfährt, werden sie sich wie die Geier darauf stürzen, dass weißt du genau. Ich lasse nicht zu, dass sie eine dieser Hetzkampagnen durchmachen muss!“

„Das wird er nicht zulassen oder?“ David mischte sich ein.

„Er würde niemals ein junges Mädchen so etwas aussetzen insbesondere, wenn sie sich in der Welt der High Society nicht auskennt.“

„Natürlich nicht! Ich passe schon auf, dass die Paparazi sie nicht in die Finger bekommen!“ Alex klang ziemlich selbstsicher. Zu selbstsicher für Annas Geschmack.

„Und wie willst du das anstellen?“ spöttisch zog sie die Augenbrauen hoch.

„Sie einsperren oder ihr eine Maske aufsetzen? Gott Alex, durch deine Abstammung und noch mehr durch deine bisherige Lebensweise stehst du dauernd im Zentrum der Aufmerksamkeit! Wie willst du sie raushalten? Sie ist das alles nicht gewöhnt, sie weiß nicht, auf was sie sich eingelassen hat.“ Alex zog den Kopf ein.

„Das hatte ich nicht bedacht.“ Für einen Moment sah er ehrlich geknickt aus, wie er auf seiner Unterlippe herumkaute.

„Tu der Welt einen Gefallen und denke nächstes Mal bitte nach, bevor du eine Erpressernummer startest!“

„Leichter gesagt als getan!“ grummelte Alexander so undeutlich, dass ihn seine Eltern fast nicht verstanden.

„In ihrer Nähe scheint mein Gehirn nicht richtig zu arbeiten. Wenn ich nur an die Diskussion über das Wetter denke...“ den Rest des Satzes verstand keiner der beiden, da Alex eher mit sich selbst sprach und außerdem auf dem Weg aus der Eingangshalle war.

„Diesen Blick kenne ich. Was hast du vor?“ David musterte seine Frau, die den gleichen Blick aufgesetzt hatte wie damals, als sie ihn „überredet“ hatte als Weihnachtsmann verkleidet durch den Kamin zu kommen.

„Ich habe beschlossen, die beiden zu verkuppeln!“ Kollektives Augenverdrehen seitens des Lords.

„Ganz große Klasse! Und wie stellst du dir das vor?“

„Keine Ahnung!“ meinte Anna fröhlich.

„Wenn mir nichts besseres einfällt, sperre ich die beiden einfach in eine Besenkammer!“

„Eine Besenkammer? Warum das denn?“

„Weil Wäscheschränke seit Boris Becker einen schlechten Ruf genießen! Und wir wollen doch nicht, dass ihre Beziehung genauso endet, oder? Enkelkinder, juhu!“ David schüttelte nur den Kopf. Manchmal benahm sich seine Frau wirklich wie eine zwölfjährige!
 

Kaum hatte Alex die Halle verlassen sank er auf der nächsten Sitzgelegenheit, einem Ledersessel, zusammen und starrte in den kalten Kamin des Wohnzimmers.

Er war wirklich ein Idiot! Nicht nur, dass er in ihrer Nähe sinnlose Diskussionen über das Wetter führte, nein er erpresste sie auch noch. Dabei war das nicht geplant gewesen.

Er würde zwar einiges tun, um sein Ziel zu erreichen, aber einer Mutter die Kinder wegnehmen? Niemals! Es war ihm einfach rausgerutscht, bevor er darüber nachdenken konnte.

Und jetzt verstand er auch, warum sie zugestimmt hatte. Sie musste panische Angst haben, auch noch ihre Kinder zu verlieren. Das er nichts über ihren Hintergrund wusste war auch keine Entschuldigung und Erpressung war kein Kavaliersdelikt. Gott, er musste sich entschuldigen!

Zwei Anrufe später hatte er sowohl für den nächsten Abend einen Tisch reserviert als auch Amber und die Zwillinge zum Essen eingeladen.

Versnobte Kellner, verhunzte Entschuldigungen und Vergangenheit

Wie konnte es eigentlich sein, dass man seine besten Kleider trug und sich trotzdem fühlte, als wäre man ein Penner und gerade unter einer Brücke hervorgekrochen?

Diese Frage stellte Amber sich, seit sie das Restaurant betreten hatte. Der Kellner hatte sie angesehen, als ob er sie und die Kinder am liebsten wieder vor die Tür gesetzt hätte. Das vermutlich einzige das ihn davon abhielt war Alex, der vor der Tür auf sie gewartet hatte und den der Kellner offenbar kannte.

Jetzt saß Amber ihrem derzeitigen „Freund“ gegenüber und traute sich kaum etwas zu essen, vor lauter Angst sie könne einen Fleck auf der blütenweißen Tischdecke hinterlassen.

Die missbilligenden Blicke der anderen Gäste waren keine große Hilfe. Dabei hatte sie ihre Bluse aus lila Satin eigentlich immer sehr schick gefunden.

Tja, so konnte man sich irren! Mit diesem Gedanken aß sie noch einen Bissen... ja was aß sie da eigentlich? Irgend etwas französisches. Die Auswahl hatte sie Alex überlassen, da sie sowieso keine Ahnung hatte, wie Trüffel, Kaviar und Co überhaupt schmeckten. Und einen guten Geschmack hatte er offenbar, das Essen war wirklich gut. Sogar die Kinder wirkten zufrieden, ganz im Gegensatz zum Kellner, der bei der Bestellung von „zweimal Nudeln mit Soße“ offenbar am liebsten tot umgefallen wäre. So was affektiertes! Erwartete der Kerl etwa, dass Kinder sich Tunfischsteaks mit Kaviar bestellten? Da lernte man MacDonalds wirklich ganz neu zu schätzen.

Aber wenn man von dem ganzen mal absah, fand Amber es eigentlich gar nicht mal so schlimm. Angestarrt werden war sie schließlich gewohnt, ob das nun an dem Ring am linken Ringfinger, den Kindern oder den Haaren vor dem Gesicht lag. Sie bekam sogar eine Unterhaltung mit Alex zu Stande, auch wenn größtenteils belangloses das Hauptthema war.

Zumindest solange, bis Lalita von der Toilette zurückkam und eine Spinne an der Wand sitzen sah.

Die einzige Spinne weit und breit in diesem blitzblanken Nobelschuppen und Lalita fand sie. Das Mädchen hasste Spinnen! Und aus genau diesem Grund begann sie zu schreien wie am Spies, worauf ein Herr am Nebentisch aufsprang und ihr helfen wollte. Leider machte der ihr noch mehr Angst. Ein Teufelskreis, der erst durchbrochen wurde, als Amber sich einmischte und ihre Tochter in den Arm nahm, sich bei dem Mann bedankte und Lalita zum Tisch zurückbugsierte.

Dort angekommen drängte sich ihr erneut eine Frage auf: Wer sah angepisster aus, der Kellner (schon wieder), Alex oder doch die ältere Dame am Nebentisch, die gerade etwas murmelte, das sich verdammt nach „ungezogene Gören“ anhörte? Schwierige Entscheidung!

„Was sollte das denn?“ zischte Alex, als sie sich wieder setzten.

„Musste sie dieses Theater ausgerechnet hier machen?“

„Ja musste sie, weil genau hier die Spinne saß!“ gab Amber zuckersüß zurück.

„So ein Theater wegen einer Spinne?“ Seine zukünftige Lordschaft sah aus, als verstünde er die Welt nicht mehr.

„Sie hat Angst vor Spinnen.“

„Und?“

„Was und?“

„Das war es schon? Sie stellt sich hin und schreit, nur weil sie Angst vor einer Spinne hat?“

„Ist das etwa nicht Grund genug?“ Alex sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, was in Amber den Wunsch weckte, ihm die Faust ins gutaussehende Gesicht zu knallen.

„Sie ist gerade mal sieben Jahre alt und sie hat Angst. Was sollte ein Kind deiner Meinung nach tun?“

„Vielleicht solltest du sie besser erziehen?“ Platsch.

Okay, ihm ein Glas Wasser überm Kopf auszuschütten war ungefähr genauso befriedigend wie ihm eine reinzuhauen und der entsetzte Gesichtsausdruck war Gold wert.

„Ich hoffe mal, dass dich das abkühlt! Und wenn du mir Erziehungstipps geben willst: Komm wieder, wenn du selbst zwei Kinder großgezogen hast!“ Ihre grauen Augen sprühten dermaßen Funken, dass Alex sich fragte ob sie damit etwas in Brand setzten wollte, beziehungsweise konnte.

„Kinder, wir gehen!“ mit diesen Worten schnappte sie sich die Kinder, stürmte aus dem Raum und hinterlies einen Haufen völlig verdatterter Leute, die ihr ungläubig nachstarrten.

„Junge, da hast du dir eine mit Feuer unterm Hintern ausgesucht!“ meinte der Herr mit Vollbart, der versucht hatte Lalita zu helfen.

„Und was für ein Hintern!“ meinte ein junger Mann mit etwa siebzehn Jahren und pfiff anerkennend. Und ehe Alex sich versah gab es eine restaurantweite Diskussion über Hintern und Kindererziehung, wobei es sich einige nicht nehmen ließen, ihn mit Beziehungsratschlägen zu überhäufen, wobei von „sei toleranter“ bis zu „zeig ihr wer der Boss ist“ wirklich alles dabei war.

Der Angesprochene selbst schaltete einfach auf Durchzug und versuchte, seine Füße aus dem Fettnäpfchen zu ziehen, in dem er gelandet war. Obwohl, vielleicht wäre „Fass mit Walfischtran“ die bessere Bezeichnung?
 

Immer noch vor Wut kochend stapfte Amber, an jeder Hand ein Kind, über den Parkplatz zum nächsten Taxi und platzierte sich auf dessen Rücksitz. Phobie hin oder her, mit dem Taxi war sie wesentlich schneller als zu Fuß.

„Wo soll’s denn hingehen Fräulein?“ Im ersten Augenblick wollte sie ihre Adresse nennen, aber dann fiel ihr siedend heiß ein, dass Alex eine ganze Armee Bauarbeiter dorthin geschickt hatte, die das Haus sanierten, was es auch wirklich nötig hatte. Das führte leider dazu, dass das Haus vorübergehend unbewohnbar war, was wiederum dazu führte, dass sie bei Alex wohnten.

In Gedanken derbe Verwünschungen ausstoßend nannte sie die Adresse und kramte ihren Geldbeutel hervor.
 

Als Alex gefühlte hundert Stunden später endlich zu hause ankam, wollte er eigentlich nur seine Ruhe. Er vollgetextet worden wie noch nie in seinem Leben (und das in einem Restaurant, in dem normalerweise Gespräche im Flüsterton und nur den eigenen Tisch betreffend geführt wurden!) und als einige der älteren Herrschaften auch noch anfingen, über ihre Jugend zu erzählen („also zu meiner Zeit...“), nahm er beherzt Reißaus.

Er öffnete eine Tür, betrat den Raum und erstarrte. Amber und die Kinder saßen in einem der Sessel und schliefen.

Lalita saß auf dem Schoß ihrer Mutter und kuschelte sich an ihre Brust. Kito saß auf der breiten Lehne, sein Kopf ruhte auf Ambers Schulter. Amber selbst hatte je einen Arm um jedes Kind gelegt, ihre Wange schmiegte sie an Kitos dunklen Lockenkopf.

Die ganze Szene strahlte eine unglaubliche Wärme und Geborgenheit aus. Leise, um ja keinen der drei zu wecken, verlies er das Zimmer, ging in sein eigenes und schnappte sich den ersten Block, den er in die Finger bekam. Noch Bleistift und Radiergummi dazu und nichts wie zurück.

Im Halbdunkeln zu zeichnen war gar nicht so einfach, aber er wollte kein Licht machen. Zu groß war die Wahrscheinlichkeit, dass jemand aufwachen könnte und dann wäre das Motiv dahin.

Etwa eine halbe Stunde später hatte er die Skizze fertig und legte Block und Stift beiseite, worauf letzterer sich selbstständig machte, über den Tisch rollte und klackernd zu Boden viel. Das leise Geräusch lies Amber aus dem Schlaf hochfahren.

Für einen Moment schien sie nicht zu wissen wo sie war, dann funkelte sie ihn wieder an.

„Was willst du?“ Er ging nicht weiter auf die Frage ein, sondern zeigte auf die schlafenden Kinder.

„Brauchst du Hilfe?“ Ohne auf eine Antwort zu warten hob er Lalita vorsichtig hoch, bemüht sie nicht zu wecken. Kurz dachte er, sie würde eine Szene machen, dann aber stand sie mit Kito auf dem Arm auf und wandte sich ohne ein Wort zu sagen zur Tür um.

„Tschuldigung“ murmelte er auf dem Weg zum Zimmer der Zwillinge plötzlich, worauf Amber beinahe ihre Tochter fallen gelassen hätte.

„Wie bitte?“ ihr Auge weitete sich ungläubig.

„Ich habe gesagt, dass es mir Leid tut! Ich bin einfach nicht an Kinder gewöhnt...“ den Rest des Weges schwiegen beide.

„Darf ich dich etwas fragen?“ Kito wurde vorsichtig abgelegt.

„Was denn?“

„Könnten wir vielleicht ins Wohnzimmer gehen? Dann müssen wir nicht flüstern.“ Sie nickte, drückte ihrem Sohn einen leichten Kuss auf die Stirn und nahm ihm Lalita ab.

„Möchtest du vielleicht einen Kaffee?“

„Tee wäre mir lieber.“ Zumindest das sollte er hinbekommen. Die Haushälterin war zwar schon weg, aber Tee lag ihm Bereich seiner Möglichkeiten. Im sehr begrenzten Bereich seiner Möglichkeiten...

Als er eine viertel Stunde später das Wohnzimmer betrat war Amber schon da und gerade damit beschäftigt, sich die Nadeln aus dem Haarknoten zu ziehen, weswegen Alex fast das Tablett hätte fallen lassen. Die üppige Pracht reichte ihr fast bis zu den Knien.

„Also, was wolltest du fragen?“ Alex klappte den Mund wieder zu und räusperte sich.

„Also... du musst darauf nicht antworten, wenn du nicht willst!“ meinte er obwohl er es eigentlich wissen wollte, während er Tee einschenkte und ihr eine Tasse reichte.

„Jetzt stell erst mal deine Frage!“ meinte sie, gab einen Zuckerwürfel hinein, setzte sich auf einen Sessel und schlug die Beine unter.

„Wann und warum sind deine Eltern gestorben?“ Sie zuckte zusammen und er wollte sich schon entschuldigen, aber sie hob nur die Hand und so schwieg er.

„Wenn ich deine Frage beantworte, darf ich dann auch eine stellen?“ Wortlos nickte er. Was sie wohl wissen wollte? Dank der Presse gab es wenig, dass der Öffentlichkeit nicht bekannt war. Andererseits hatte sie ihn aber auch nicht erkannt...

Sie nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und seufzte, bevor sie zu erzählen begann.

„Ich war damals fünfzehn Jahre alt...“ erschrocken schnappte Alex nach Luft. Fünfzehn? Gott, sie war noch ein halbes Kind gewesen!

„... und machte eine Sprachreise nach England. Während ich weg war haben sich meine Eltern und meine kleine Schwester einen Grippevirus eingefangen. Wäre eigentlich nicht weiter schlimm gewesen, wenn sie zum Arzt gegangen wären. Sind sie aber nicht.“ Ihre Stimme klang plötzlich bitter und sie umklammerte die Tasse so fest, dass ihr Knöchel weiß wurden.

„Das ist eine blöde Angewohnheit von uns gewesen. Wir sind immer erst zum Arzt, wenn wir schon mehr tot als lebendig waren. Und als sie dann endlich gingen war es schon zu spät...“ Ihre Stimme brach und sie wischte sich eine Träne weg, die ihre Wange hinunter rollte.

„Eine Grippe an sich ist eigentlich recht harmlos, aber sie schwächt das Immunsystem erheblich, wenn man sich nicht schont...bei Ruby entzündete sich der Herzmuskel, meine Eltern bekamen eine Hirnhautentzündung...“

Jetzt weinte sie wirklich. Zusammengesunken saß sie auf dem Sessel, die Tasse noch in beiden Händen. Alex saß neben ihr bevor er überhaupt wusste was er tat und nahm sie in den Arm. So blieben sie eine Weile und er suchte fieberhaft nach einem Thema um sie abzulenken.

„Deine Eltern hatten es mit Edelsteinen, oder? Amber und Ruby... ein drittes Kind hätten sie vermutlich Sapphire oder Gem genannt...“ am liebsten hätte er seinen Kopf gegen eine Wand geschlagen. Ein blöderes Thema hätte ihm nicht einfallen können, oder? Zu blöd, dass keine Wand da war. Zumindest keine, die er hätte erreichen können ohne die Frau in seinen Armen loszulassen, was er aber aus irgendeinem Grund nicht wollte.

„Den Namen habe ich ihr verpasst. Eigentlich hieß sie Rebekka.“ Sie lachte leise bei der Erinnerung an ihr quirlige Schwester, die ihr überallhin gefolgt war.

„Amber bedeutet ja Bernstein und das war für mich ein Edelstein. Und ich fand es unfair, dass ich wie ein Edelstein hieß und sie nicht. Also bin ich in die Bücherei, habe mir ein Buch über Edelsteine ausgeliehen und einen passenden Namen für sie gesucht. Sie trug immer eine rote Schleife, deswegen habe ich mich für den Rubin entschieden. Und weil mir das englische Wort Ruby besser gefiel wurde aus Rebekka Ruby. Bald nannten sie alle so, später sogar die Lehrer. Für ihren richtigen Namen war sie praktisch taub...“ sie verstummte, verloren in Erinnerungen an glückliche Zeiten.

„Was wolltest du mich eigentlich fragen?“ meinte er etwas später. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter.

„Warum ist dieses Geschäft so wichtig für dich? Warum gehst du so weit dafür?“ Diesmal war er es, der seufzte.

„Es geht mir gar nicht so sehr um den Deal... Ich will der Welt, und noch mehr mir selbst, beweisen, dass ich es schaffen kann.“

„Und warum musst du das beweisen?“ in ihren grauen Augen stand Verwunderung.

„Ich war immer ein sehr guter Schüler, weißt du? Aber in der Schule kursierte das Gerücht, die Lehrer würden mich bevorzugt behandeln. Und das schlimmste war, dass ich nicht wusste ob das stimmte oder nicht. Meine Familie ist sehr einflussreich und die meisten Lehrer hätten sich wahrscheinlich nie getraut mich streng zu bestrafen, selbst wenn ich ein Unruhestifter gewesen wäre, aus Angst vor den Konsequenzen.“

„Aber das heißt noch lange nicht, dass es wahr ist!“ meinte Amber entrüstete.

„Solche Vermutungen nur wegen deinem Familiären Hintergrund anzustellen ist doch... „

„Wenn man einem Kind eine Lüge lange genug erzählt glaubt es sie irgendwann. Und im Berufsleben wurde es auch nicht besser. Zwar sagt das niemand laut, aber die meisten glauben, ich würde meine Kontakte ausnützen.“

„Tust du das denn?“ sie drehte den Kopf, sodass sie zu ihm hinaufschielen konnte, ohne ihn von seiner Schulter zu nehmen.

„Nein! Und das will ich jetzt ein für allemal beweisen. Herr Koch war mir bis vor kurzem noch völlig unbekannt, ich habe keinerlei Verbindung zu ihm.“

„Das wird das Gerede aber nicht stoppen.“

„Aber wenigstens weiß ich dann sicher, dass es nur Gerede ist.“

Einen kurzen Moment schwiegen beide, verwundert darüber, soviel von sich preisgegeben zu haben. Dann streckte Amber ihm plötzlich die Hand hin.

„Na dann: auf gute Zusammenarbeit!“ Ein Lächeln huschte über Alex’s Gesicht. Vielleicht würde die nächsten Monate doch nicht so schlimm werden, wie er befürchtet hatte.

Familienfest

Als er aufwachte roch es nach Kaffee. Wie jeden Morgen. Schon seltsam, wie schnell man sich an etwas gewöhnen konnte. Bei diesem Gedanken musste Alex schmunzeln. Es war gerade einmal eine Woche vergangen und er hatte sich schon daran gewöhnt, jeden Morgen einen gedeckten Tisch vorzufinden.

Als er in die Küche kam war Amber gerade mit Tischdecken fertig. Auf seinem Platz stand schon eine Tasse Kaffee, ohne Milch und Zucker, das Nutellaglas stand auch schon in der nähe seines Tellers. Komisch, noch vor einer Woche hatte er überhaupt nicht gefrühstückt...

„Kinder, kommt ihr?“ Okay, an diese Lautstärke hatte er sich noch nicht gewöhnt.

Keine drei Minuten später kamen die beiden Kinder in den Raum getrabt und begrüßten ihn jeweils auf ihre eigene Weiße. Lalita strahlte ihn an, Kito zog eine Unwettermiene.

Noch so etwas, an das er sich noch nicht gewöhnt hatte. Was hatte der Junge bitteschön gegen ihn?

„Ach übrigens, am Sonntag ist bei uns Grillfest und du bist eingeladen!“

„Gibt es denn irgendwas zu feiern?“ Vielleicht hatte ja jemand Geburtstag?

„Nein!“ Amber blickte etwas verwirrt drein.

„Wir laden nur einmal im Jahr die ganze Verwandtschaft ein. Man sieht sich ja sonst nur an den Geburtstagen und an Weihnachten und selbst da nicht immer... aber den dritten Sonntag im Juli halten wir uns immer frei!“ sie lächelte und sein Blick wurde magisch von dem Grübchen in ihrem Mundwinkel angezogen.

„Wenn Grillfest ist, dann sind bald Ferien!“ jubelte Lalita und erschreckte Alex damit so sehr, dass es sich beinahe an seinem Kaffee verschluckt hätte. Das kam davon, wenn man mit den Gedanken wo anders war!

„Richtig Süße!“ Amber strich ihrer Tochter über die Locken, die im Licht kirschrot glänzten.

Fünf Tage später stand Alex in legerer Freizeitkleidung im Hausflur und wartete. Die Kinder schnatterten ohne Punkt und Komma, was ihn zu seiner Verwunderung aber kaum störte. Im Gegenteil, er musste sogar schmunzeln. Wenn die beiden wirklich so viel und so durcheinander aßen, würden sie heute Abend bestimmt Bauchschmerzen haben.

„Also, sind alle fertig?“ Amber trug ein kaffeefarbenes Sommerkleid, ihr langes Haar hatte sie zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengefasst. Warum trug sie eigentlich immer diese blöde Strähne vor dem Gesicht? Wollte sie vielleicht etwas dahinter verstecken?

„Von mir aus kann es losgehen!“ mit diesen Worten wollte er eigentlich nach den Autoschlüsseln greifen, aber die junge Frau schüttelte den Kopf.

„Wir nehmen die Fahrräder!“ mit einem zuckersüßem Lächeln hob sie die Helme hoch und schob sich an ihm vorbei zur Tür hinaus.

„Warum will sie unbedingt Fahrrad fahren?“ fragte er mehr sich selbst aber Lalita hatte ihn offenbar trotzdem gehört.

„Mama hasst Autofahren!“ Er erinnerte sich daran, wie sie bei ihrer ersten Begegnung beinahe aus seinem Auto gestürzt wäre. Das verlieh der Situation eine ganz andere Bedeutung. Und zum Restaurant war sie ja auch gelaufen...

Mit einem letzten bedauernden Blick auf seinen Mercedes schnappte er sich sein Fahrrad und schob es aus der Garage.

Das Haus von Ambers Tante war ziemlich klein, dafür war der Garten riesig! Allerdings musste er das auch sein, denn auf dem Rasen tummelten sich um die zwanzig Leute, überall standen Biertische und –Bänke und ein riesiger Grill schien nur noch darauf zu warten, dass ihn jemand anzündete.

„Da sein ihr ja!“ eine Frau um die fünfzig kam lächelnd auf sie zu.

„Ich hoffe, du hast den Kartoffelsalat dabei?!“ lachend holte die Angesprochene eine große Plastikschüssel aus ihrem Fahrradkorb.

„Tante Susa, ich würde mich doch niemals trauen ohne hier aufzutauchen! Das ist übrigens Alex!“ sie deutete mit der freien Hand auf ihn und er streckte ihr die Hand entgegen.

„Nett dich kennen zulernen, ich bin Susan, Ambers Tante.“ Sie lächelte und auf ihren Wangen erschienen die selben Grübchen wie bei ihrer Nichte.

„Und wie geht es meinen beiden Kleinen?“

„Ich bin nicht klein!“ protestierte Lalita prompt.

„Ich bin mindestens einen halben Meter gewachsen!“ Amber lachte, schnappte sich Alex und zog ihn hinter sich her.

„Komm, ich stelle dich den anderen vor!“ Das Vorstellen dauerte einige Zeit, vor allem da einige ein Gespräch anfingen. Und so kam es, dass sie sich gerade mit einem etwa zwanzig jährigen Mädchen unterhielten, dass sie als ihr Cousine Laura vorgestellt hatte, als das Unglück seinen Lauf nahm.

Der Mann von Susan, er hieß Peter, zündete den Grill an. Kleine rotgelbe Flammen züngelten hoch, fraßen sich durch Papier und dünne Holzstücke, wurden schnell größer.

„Amber?“ rief jemand von der anderen Seite des Gartens aus. Die Angesprochene, die bisher mit dem Rücken zum Grill gestanden hatte, drehte sich um und sah die Flammen.

Sie stieß einen panischen Schrei aus, machte einen Satz nach hinten und stieß mit Laura zusammen. Mit ihren hohen Keilabsätzen fand sie keinen Halt auf dem Rasen, weswegen sie der Länge nach hinschlug, sich auf dem Boden zusammen rollte und zu schreien begann.

„Macht es weg! Macht es weg! MACHT ES WEG!“ Für einen kurzen Moment waren alle unbeweglich wie Steinstatuen, dann reagierte endlich jemand. Ein junger Mann, Alex meinte sich zu erinnern dass ihn jemand Dimitri genannt hatte, hob die junge Frau hoch und trug sie ins Haus.

„Sag mal hast du einen Knall? Du kannst doch nicht einfach den Grill anzünden, wenn sie daneben steht!“ Peter zog den Kopf ein.

„Ich habe einfach nicht mehr dran gedacht...“ seine Frau sah aus, als wolle sie ihm am liebsten eine Kopfnuss geben.

Ein leichtes ziehen an seinem T-Shirt lenkte die Aufmerksamkeit von Alex auf etwas anderes. Lalita sah ängstlich zu ihm auf, ihre grasgrünen Augen schimmerten feucht.

„Ist Mami in Ordnung?“ ihre Stimme zitterte und er wusste nicht, was er tun sollte.

„Ich weiß es nicht!“ antwortete er wahrheitsgemäß, kniete sich vor sie und strich ihr vorsichtig über die Locken.

„Wollen wir reingehen und nachsehen?“ zögernd nickte sie.

„Willst du auch mit?“ die Frage war an ihren Bruder gerichtet. Kito nickte ebenfalls, er war leichenblass und Alex beschlich das ungute Gefühl, dass er irgendetwas wichtiges nicht wusste. Kurz schüttelte er den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben, dann hob er Lalita die Hand hin, die sie auch sofort ergriff. Sie zitterte wie Espenlaub!

„Kommst du?“ zu seiner Überraschung griff auch Kito nach seiner Hand. Himmel, musste der Junge Angst haben!

„Die armen Kleinen!“ Ambers Großmutter schüttelte mit einem traurigen Gesichtsausdruck den Kopf.

„Am besten bringst du sie zu ihr!“ Genau das hatte er vor. Und deswegen machte er sich mit je einem Kind an jeder Hand auf den Weg ins innere des Hauses.

Dort angekommen stand er vor einer neuen Herausforderung: wohin jetzt? Erster Stock? Wohnzimmer?

Die Frage beantwortete sich glücklicherweise von selbst, da Ambers Cousin die Treppe herunter kam.

„Ich habe sie in ihr altes Zimmer gebracht!“ meinte er leise.

„Die Treppe rauf und die letzte Tür links!“ fügte er noch hinzu, als Alex ihn fragend ansah und strich Kito im vorbeigehen kurz über das schwarze Haar.

Vor der Tür angekommen traute sich keiner drei zu klopfen. Unschlüssig standen sie da, bis sich Kito endlich ein Herz fasste und sanft anklopfte. Als keine Reaktion kam öffnete Alex die Tür einfach.

Amber saß auf ihrem alten Bett, in der hintersten Ecke, hatte die Knie angezogen, die Stirn darauf gelegt und die Arme um ihre Beine geschlungen. Die Kinder kletterten neben sie aufs Bett und schlangen die Arme um ihre Mutter, welche die Geste sofort erwiderte. Der junge Mann hingegen erstarrte zur Salzsäule. Irgendwie fühlte er sich außen vor.

Nach kurzem Überlegen setzte er sich auf die Bettkante und beobachtete die eng umschlungenen Personen. Irgendwie erinnerte ihn das Ganze an die Situation damals im Wohnzimmer, nur hatte er diesmal nicht das geringste Bedürfnis, etwas zu zeichnen.

Nach kurzer Zeit hob die Blondine den Kopf und sah ihn an.

„Danke!“ Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und versuchte ein Lächeln, wären Alex sich wunderte, für was sie sich bedankte. Wirklich etwas getan hatte er ja nicht...

Verlegen räusperte er sich und stand auf.

„Ich hole dir ein Glas Wasser!“ sprachs und war zur Tür hinaus. Als er sie aber hinter sich schloss, fiel ihm ein wie dämlich sein Vorhaben war. Er hatte nicht den blassesten Schimmer, wo hier die Küche war. Von Gläsern und Getränken ganz zu schweigen. Allerdings hatte er jede Menge „keine Ahnung“ auf Lager wie ihm ganz neben bei auffiel, als er die Treppe hinunter ging.

Okay, Zeit für Stufe eins seines genialen Plans: „die Küche finden“. Er öffnete einfach die nächstbeste Tür und landete... im Wohnzimmer. Er wollte die Tür schon wieder schließen, als ihm einige Bilder auffielen. Er betrat den Raum und besah sich die Wand gegenüber näher.

Das Photo, dass seine Aufmerksamkeit fesselte, zeigte zwei Mädchen die sich fest umarmten. Beide hatten lange blonde Haare, die ältere graue Augen, in denen silberne Punkte funkelten, während die Augen der jüngeren leuchtend blau waren. Eindeutig Amber und ihre Schwester Ruby. Das Bild war schon älter, Alex schätze dass Amber etwa vierzehn gewesen war als es aufgenommen wurde. Kein Haar verdeckte ihr Gesicht, dass schon damals ungewöhnlich hübsch gewesen war und sie strahlte in die Kamera, als hätte sie keine Sorgen oder Ängste.

Das nächste Bild war das krasse Gegenteil. Es zeigte wieder Amber, diesmal mit etwa sechzehn. Auf ihrem Gesicht war nicht einmal der Ansatz eines Lächelns zu sehen und obwohl sie direkt in die Kamera blickte wirkten ihre grauen Augen leer und es war, als ob sie direkt durch den Beobachter hindurch blicken würde.

„Das Bild wurde ein halbes Jahr nach der... Sache damals aufgenommen!“ Alex zuckte erschrocken zusammen.

„T.. tut mir Leid, ich habe die Küche gesucht...“ stammelte er verlegen.

„Der Verlust ihrer Familie hat sie damals sehr mitgenommen.“ meinte Peter, ohne auf seine Entschuldigung einzugehen.

„Sie hat sich total abgekapselt, niemanden mehr an sich heran gelassen und stellenweiße war sie kaum noch ansprechbar. Besonders nach der Sache mit Ruby. Du weißt davon?“ er sah Alex durchdringend an, hallbraun bohrte sich in schokobraun.

„Was genau meinst du?“ Hatte Amber nicht erzählt, dass sie fast das gleiche erlitten hatte wie ihre Eltern?

„Ralf und Mandy konnten die Ärzte nicht mehr helfen, sie hatten zu lange mit dem Arztbesuch gewartet. Aber bei Ruby...“ er zögerte als überlege er, ob er ihm die Wahrheit erzählen sollte oder nicht.

„Sie versuchten eine Herztransplantation, die anfangs auch erfolgreich verlief. Amber war überglücklich, wenigstens ihre Schwester würde überleben. Doch dann...“ er stockte und fuhr sich mit dem Arm über die Augen.

„Ihr Körper stieß das Herz plötzlich ab. Amber erlitt einen totalen Nervenzusammenbruch, sie drehte total durch und begann, das Zimmer zu demolieren. Sie brauchten vier Schwestern die sie festhielten und ein starkes Betäubungsmittel um sie ruhig zustellen. Danach... änderte sich ihre Persönlichkeit um 180 Grad. Sie verlor das Interesse am Leben und nichts was wir taten half ihr. So ging es fast zwei Jahre. Bis Matteo und die Kinder sie gerettet haben.“ Beide Männer schwiegen und starrten auf das Bild. Von Menschen umgeben und trotzdem allein, so musste es Amber damals vorgekommen sein. Ein Gefühl, das Alex nur zu gut kannte.

„Ach ja Matteo!“ mischte sich nun Susanne ein, die bisher nur schweigend an der geschlossenen Tür gelehnt hatte.

„Als Peter erfahren hat, dass Amber einen Mann heiraten wollte der mehr als zehn Jahre älter war, ist er beinahe durchgedreht. Als Amber ihn uns vorstellen wollte hat er sich allen ernstes unser größtes Küchenmesser geschnappt und neben der Tür Stellung bezogen.“ Sie lachte bei der Erinnerung daran.

„Zumindest solange, bis er die beiden am Fenster hat vorbeilaufen sehen und dabei beobachtet hat, wie Amber ihn anlächelte. Daraufhin hat er das Messer kleinlaut wieder in die Schublade gepackt!“ Peter lief rot an.

„Musst du diese olle Kamelle jedem erzählen, der sie nicht hören will?“

„Ja, das muss ich! Für jemanden der nie Kinder wollte hast du verdammt schnell Vaterkomplexe entwickelt!“ ärgerte sie ihn und die beiden gingen zurück in den Garten, nicht ohne Alex vorher zu erklären, wo er etwas zu trinken finden würde.

Er brachte ihr ein Glas Orangensaft, welches sie brav austrank und blieb mit ihr und den Kindern im Zimmer, bis jemand durchs Haus brüllte dass das Feuer heruntergebrannt wäre und die jetzt mit dem Grillen anfangen würden.

Das Essen war lustig. Es wurde geredet, gelacht und noch mehr geredet. Man erzählte von Kollegen, Betriebsweihnachtsfeiern und nervigen Nachbarn oder rannte zwischen Grill, Salatbuffet und Sitzplatz hin und her, wobei Alex auffiel, dass Amber respektvollen Abstand vom Grill hielt. Offenbar war ich auch die Glut nicht wirklich geheuer, auch wenn sie damit besser zurecht kam als mit den Flammen.

Als alle mit dem Essen fertig waren dämmerte es bereits. Während die Frauen Geschirr und Essensreste in die Küche brachten räumten die Männer die Tische weg und brachte schleppten mehr als ein duzend Stühle durch die Gegend, wobei Kito, der natürlich zeigen wollte dass er auch ein Mann war, mit seinem Stuhl ziemliche Mühe hatte, da er sich den schwersten rausgesucht hatte. Aber schließlich hatte jeder einen Sitzplatz in dem großen Stuhlkreis und der Garten wurde jetzt von unzähligen Lichterketten und Lampions beleuchtet, die überall gespannt, drumherum gewickelt und aufgehängt worden waren, wo man etwas spannen, wickeln oder aufhängen konnte.

„Früher haben wir Fackeln aufgestellt!“ erzählte Lalita aufgregt.

„Aber seit Mami Angst vor Feuer hat gibt es bunte Lichter und Laternen!“ Alex runzelte die Stirn. Amber hatte also nicht immer Angst vor Feuer gehabt? Allerdings riss ihn die Stimme von Ambers Oma aus seinen Gedanken.

„Was willst du denn als erstes singen, Schneckchen?“ Schneckchen? Das war fast noch schlimmer als der Spitzname, den seine Oma ihm verpasst hatte. Und er hatte Mäuschen damals schon schlimm gefunden.

Amber hingegen schien das nicht zu stören. Sie lächelte einfach nur.

„Lass dich überraschen Granny!“ mit diesen Worten räusperte sie sich, holte tief Luft und begann zu singen.
 

He took me to--our favorite spot

A place we go to hang a lot

Something seemed to catch his eye

Oh--oo--oh over my shoulder

Oh--oo--oh over my shoulder
 

Wow! Das war das einzige, dass ihm dazu einfiel. Okay, seine Kinnlade fiel auch und zwar nach unten, aber das stand jetzt eigentlich nicht zur Debatte. Ihre Stimme war unglaublich. Klar wie ein Kristall jagte sie ihm kleine Schauer über den Rücken.
 

I turned around--to see what's up

A pretty young thing sure enough

She was new--he wanted to

Kno--oo--oh--oh--oo--ow her

Kno--oo--oh--oh--oo--ow her
 

Oh--yeah--

then she flicked her hair (yeah!)

Oh--yeah--he began to stare
 

Waiter! (Waiter) Bring me water!

I gotta make him keep his cool

(Waiter) Bring me water!

He's acting like a fool

(Waiter) Bring me water!
 

Irrte er sich oder hatte dieser Liedtext eine gewisse Ähnlichkeit mit der Situation letzte Woche im Restaurant? Ein Glück, oder eher hoffentlich?, wusste hier keiner von dem Zwischenfall.
 

Uh, oh, I did my best--to block his view

But it was like he could see through me

I just knew--he wanted to

Ho--oo--oh--oh--oo--oh--old her

Ho--oo--oh--oh--oo--oh--old her
 

Oh--yeah--I ain't gettin' nowhere (yeah!)

Oh--yeah--she's still standing there
 

Waiter! (Waiter) Bring me water!

I gotta make him keep his cool

(Waiter) Bring me water!

He's acting like a fool

(Waiter) Bring me water!
 

There's gotta be a way to cool this clown--

he's starting to embarrass me

I may even have to hose him down--

bring me water

I don't know what he finds so distracting--

what's so hot about her

I really don't like the way he's acting

Bring me water!
 

Ja, ganz eindeutig! Und Ambers amüsierten Grinsen nach zu urteilen hatte sie das Lied gerade deswegen ausgesucht. Offenbar hatte es die Blondine faustdick hinter den Ohren.

Allerdings war er auch erleichtert, denn inzwischen schien sie den Feuerzwischenfall vollkommen vergessen zu haben. Und wenn es etwas nützte konnte sie sich gerne über ihn lustig machen. Er mochte es wenn sie lächelte.

„Okay, was wollt ihr noch hören?“ und schon wurde sie mit Wünschen bestürmt.

Sie sang wirklich alles. „Weise Rosen schenke ich dir“ (der Wunsch der Oma) hatte noch nie so gut geklungen. Auch wenn Alex zugeben musste, dass er das Lied vielleicht ein bis zweimal gehört hatte, da er um Sender wie SWR4 einen großen Bogen machte.

Sie ging es noch eine ganze Weile, bis die Kinder müde wurden und Amber mit ihnen nach drinnen ging, damit sie sich hinlegen konnten. Sie würden heute nacht alle vier hier schlafen, da es ihr zu riskant war mit zwei müden Kindern im Dunkeln Fahrrad zu fahren.

Kurze Zeit war es ruhig, dann begann ein Mann, Alex meinte es wäre irgendein Onkel, zu sprechen.

„Ich denke ich spreche für uns alle wenn ich sage, dass du gut auf sie aufpassen sollst.“ Zustimmendes Gebrummel von allen Seiten. Toll, da kam man sich doch gleich richtig Umzingelt vor!

„Sie hat schon genug durchgemacht, da braucht sie nicht noch einen Idioten, der ihr das Herz bricht. Klar?“

Alex nickte nur, was hätte er auch sagen sollen? Keine Sorge, ihre Nichte und ich führen sowieso nur eine Scheinbeziehung? Keine Gute Idee!

„Und pass um Himmels willen auf die Kinder auf! Sie sind ihr Lebensinhalt, wenn ihnen was passiert wäre das ihr Ende!“ diese Worte kamen von Laura, die ihn flehend ansah.

Dieses mal kam Alex um eine Antwort herum, weil das Licht im Hausflur anging und Ambers Ankunft ankündigte, weswegen das Thema fallengelassen wurde. Allerdings wurde die Stimmung nicht mehr so gut, weswegen sich die Partygesellschaft schnell auflöste.

„Und hat es die halbwegs gefallen?“ fragte Amber als sie es sich zum schlafen auf den Wohnzimmersofas bequem machten. In Ambers altem Zimmer schliefen die Kinder, ein Gästezimmer gab es nicht.

„Sie können manchmal etwas anstrengend sein.“

„Nein, es hat mir gefallen. Es ist so ganz anders als die Familientreffen die gewohnt bin.“ Wenn seine Großmutter anwesend war saßen alle stocksteif am Tisch und trauten sich nicht einmal etwas zu denken, was der älteren Dame missfallen hätte. Und da sie als Familienoberhaupt bei jedem Familientreffen, Geburtstag oder andern Feierlichkeiten dabei war... waren eben alle Feste... stocksteif.

„Also dann: Gute Nacht!“

„Schlaf gut!“ mit diesen Worten kuschelten sich beide unter ihre Decken.

Als Alexander wieder aufwachte tat ihm alles weh. Die Couch war eben nicht zum schlafen gedacht!

Zuerst dachte er, dass hätte ihn geweckt, doch dann hörte er undeutliche Satzfetzen und leise Schreie.

Entsetzt fuhr er hoch und knipste die Tischlampe, die Susan ihm gegeben hatte an. Amber hatte offenbar einen Albtraum, ihr Gesicht war kalkweiß und sie warf ihren Kopf hin und her, wobei sie immer wieder „nein, nein“ murmelte. Sie hob ihre Hand, als wolle sie irgendetwas greifen.

Bevor er wusste was er tat hatte seine Lordschaft schon die Decke zurückgeworfen und war aufgestanden. Er setzte sich auf die Sofakante und begann, ihr sanft übers Haar zu streichen, wobei er beruhigende Floskeln vor sich hinmurmelte.

Sinnlose Sätze, wie: „alles wird gut“ und „dir kann keiner was tun“. Die Sätze, die seine Mutter immer gesagt hatte, wenn er schlecht geträumt hatte. Warum war ihm das heute Mittag nicht eingefallen?

Eine plötzliche Bewegung lies ihn zusammenfahren. Amber hatte seine Hand ergriffen und hielt sie mit eisenhartem Griff umklammert.

„Lass mich nicht allein!“ murmelte sie im Schlaf.

„Bitte wach auf! Du musst aufwachen!“ Der Griff um seine Hand wurde noch fester.

„Ruhig! Ganz ruhig. Du bist nicht alleine!“ dieser Satz schien sie zu beruhigen, ihre Gesichtszüge begannen sich zu entspannen, ihr Atem wurde ruhiger und nach einiger Zeit lockerte sich ihre Hand.

Alex wartete noch einige Zeit bis er sicher war, das sie wieder schlief, dann kroch er wieder unter seine Decke.

Spielplatz, Photoalbum und Kindheitstrauma

Alex konnte es kaum glauben, als er auf seinen aufgeräumten Schreibtisch starrte. Es war gerade mal zwölf Uhr und er war bereit, sein Büro zu verlassen.

„Es gibt heute keine wichtigen Termine mehr, die ich nicht auch erledigen kann!“ meinte Vincent.

„Danke!“ Alex lächelte seinen besten Freund an. Vin und er kannten sich noch aus der Schule, er war einer seiner wenigen Freunde damals gewesen.

„Bis Morgen!“

In seiner Wohnung wartete Amber schon auf ihn.

„Danke das du auf die beiden aufpasst!“ sie lächelte ihn an und schnappte sich ihre Handtasche.

„Das Essen steht auf dem Herd. Ich habe ihn auf die niedrigste Stufe gestellt, es bleibt also warm. Ihr müsst nur noch den Tisch decken und dann könnt ihr essen. Tschüß!“ und weg war sie.

Alex schluckte. Er als Babysitter... und das, wo er doch eigentlich keine Ahnung von Kindern hatte... was hatte ihn da bloß geritten?

Keine zehn Minuten später klingelte es an der Tür. Er drückte auf den Türöffner und öffnete die Wohnungstür.
 

The nighttime fills the sky

Stars alive, go floating by

So still the evening air

So warm and soft, Peace everywhere.

I see a world in harmony

A world of peace and humanity

Where people walk free like water in a stream

Flowing on forever more…
 

Von wem auch immer Lalita ihr Gesangstalent hatte, es war definitiv nicht von ihrer Mutter! Im Gegenteil, der Vergleich entspräche ungefähr einem Reibeisen und einer Harfe!

Gott sei dank verstummte das Mädchen als er sie begrüßte.

„Hallo Alex!“ sie strahlte ihn an.

Kito grummelte etwas, das sich verdächtig nach „Tag“ anhörte und machte sich direkt auf den Weg in die Küche.

Irrte Alex sich, oder hatte er nicht ganz so böse geschaut wie sonst? Verwirrt kratzte sich der zukünftige Lord am Kopf. Sicherlich bloß Wunschdenken!

„Du singst gerne, oder?“ Lalita lächelte ein ziemlich gequältes Lächeln.

„Ja, aber so schön wie Mami kann ich das nicht...“

„Spaaaghettiiii!“ der verzückte Schrei aus der Küche sorgte für einen unkomplizierten Themenwechsel.

„Echt?“ und schon kam Alexander in den Genuss, einfach stehen gelassen zu werden. Und das wegen einer Portion Spaghetti! Vin würde sich auf dem Boden kringeln, wenn er das sehen könnte!

Allerdings wäre damit das Klischee, dass alle Kinder Spaghetti liebten, ein für alle mal bestätigt.

Vielleicht sollte er machen, dass er in die Küche kam, oder er lief ernsthaft in Gefahr, nichts mehr abzubekommen. Die Fallucis futterten nämlich wie die Scheunendrescher! Alle drei!

Als er das Zimmer betrat war Lalita gerade dabei, einen Stuhl in Richtung Küchenschrank zu zerren.

Hoppla, er hatte vergessen, dass die Teller ja ganz oben standen, da kamen die Kinder nicht hin.

„Ich hole die Teller, übernehmt ihr Gläser und Besteck?“ bot er an.

Das Essen verlief relativ friedlich und danach machte er es sich mit einem Buch auf dem Sofa bequem, während die Zwillinge ihre Hausaufgaben machten. So ein freier Nachmittag hatte schon was!

Er war gerade bei einer besonders spannenden Stelle, als ihm jemand am Ärmel zupfte.

Widerwillig löste er den Blick von der Seite und blickte direkt ihn Lalitas grasgrüne Augen.

„Gehst du mit uns auf den Spielplatz?“

Als Alex nicht gleich antwortete schob sie schmollend die Unterlippe vor und ihre Augen wurden noch größer, auch wenn er nicht gedacht hätte, dass das noch möglich wäre.

Himmel, dieser Blick könnte einen Stein erweichen! Und er stimmte er zu, bevor er überhaupt wusste, dass er etwas gesagt hatte.

Eine dreiviertel Stunde später kam er sich zwischen all diesen Müttern mit Kinderwägen und tobenden Kindern reichlich fehl am Platz vor.

Allerdings schien es den Müttern keinesfalls besser zu gehen, so wie sie ihn anstarrten.

Um dem zu entgehen vertiefte er sich wieder in seine Lektüre. Hin und wieder blickte er auf, um zu sehen was Kito und Lalita so machten.

Momentan schwangen die beiden auf zwei Schaukeln vor und zurück, ihr vergnügtes Lachen freute Alex. Er hatte Ambers Sohn bisher noch nie so unbekümmert erlebt.

Er sah meistens aus, als würde er über etwas brüten, wenn er nicht gerade Leute mit Blicken ermordete.

Apropos Amber... von wem hatten die Kinder eigentlich ihre Augen- und Haarfarben? Auf der Grillparty waren die meisten blond gewesen, manche braun- oder schwarzhaarig... aber dieses leuchtende Mahagoni?

Und dann die Gesichtszüge der beiden. Beinahe völlig identisch, aber keinerlei Ähnlichkeit mit ihrer Mutter... vielleicht kamen beide sehr nach ihrem Vater?

„Lass sofort meine Schwester in Ruhe, du Blödmann!“ Kitos Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, gerade rechtzeitig um zu sehen, wie er auf einen anderen Jungen losging. Lalita stand daneben, eine Hand im Haar und schien nicht zu wissen was sie tun sollte, versuchte dann aber, die beiden Streithähne zu trennen, war damit aber nicht sonderlich erfolgreich.

Einer der wenigen Männer auf dem Spielplatz, Alex vermutete dass er der Vater des Jungen war, mischte sich schließlich auch noch ein, ohne zu Ahnen das er damit alles nur noch schlimmer machte.

Er nahm Lalita am Arm und wollte sie von den Jungs wegziehen, sie aber bekam beim Anblick des fremden Mannes Panik und fing an zu schreien wie am Spies.

Der arme Mann machte einen erschrockenen Satz nach hinten und hob in einer abwehrenden Geste beide Hände, nur um im nächsten Moment von Kito gegen das Schienbein getreten zu werden, weswegen er vor Schmerz aufschrie.

Um schlimmeres zu verhindern sprang Alex auf, lies sein Buch auf den Boden fallen und machte, dass er zum Ort des Geschehens kam.

„Alex!“ rief die siebenjährige mit zittriger Stimme. Sie lehnte sich gegen sein Bein und verkrallte sich mit beiden Händen in seinem T-Shirt.

„Ganz ruhig!“ um seine Worte zu unterstreichen fuhr er ihr mit einer Hand über das rote Haar, das sie zu ihren üblichen hohen Zöpfen zusammengebunden trug.

„Sie sollten ihre Tochter besser erziehen!“ meinte Mister „Ich erschrecke ein armes kleines Mädchen fast zu Tode und rege mich dann darüber auf“ in einem Ton, bei dem Alex ihm am liebsten eine runtergehauen hätte.

„Was heißt hier besser erziehen? Sie kamen von hinten und haben sie am Arm gepackt, da sollte ein Mädchen schreien!“ er wandte sich dem Jungen zu, mit dem Kito sich geprügelt hatte.

„Und was hast du gemacht, dass Kito so auf dich los ist?“

„Gar nichts!“ zischte dieser wütend.

„Stimmt nicht! Er hat Lali ‚olle Karotte’ genannt und sie an den Haaren gezogen, nur weil sie ihm im Weg stand!“ verteidigte Kito sich.

Alex wandte sich mit einem süffisanten Grinsen an den Vater.

„Soso, wer von uns beiden sollte seine Kinder hier noch mal besser erziehen?“ mit diesen Worten drehte er sich um und marschierte zurück zur Bank um sein Buch zu holen.

„Sind das nicht die Kinder von dieser jungen Frau, die vor ein paar Monaten zu euch in die Nachbarschaft gezogen ist?“ fragte eine Frau Mitte fünfzig eine andere etwa im gleichen Alter und das so laut, dass alle umstehenden es hören konnten. Auch die beiden Kinder, die hinter Alex herliefen, da ihnen die Lust auf den Spielplatz vergangen war.

„Ja! Ich habe es ja gleich gesagt: So ein junges Ding kann sich niemals richtig um kleine Kinder kümmern! Ich persönlich warte ja nur noch auf einen guten Grund um das Jugendamt einzuschalten...“ zustimmendes Gemurmel wurde laut. Eine alleinerziehende Mutter war in den Augen der Vorstadtklatschtanten schon schlimm genug, aber wenn sie dann auch noch so jung war? Unerhört!

Das Wort „Jugendamt“ brachte etwas in Lalita zum zerspringen. Zu groß war die Angst, nach ihrem Vater auch noch die Mutter zu verlieren.

Und das Jugendamt hatte kurz nach der Sache damals schon einmal ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt, in ihren Augen nur mit der Absicht ihnen auch noch die letzte Bezugsperson zu nehmen die sie noch hatten.

Woher sollte das Mädchen auch wissen, dass die Frau, die zwei Häuser weiter von Amber wohnte, sich nur wichtig machen wollte?

„Ich will nicht ins Heim, du miese Kröte!“ schrie sie so laut, dass jeder auf dem Spielplatz es hören konnte und Alex vor Schreck fast das Buch fallen gelassen hätte.

„Meine Mama ist die beste auf der ganzen Welt! Du... du...“ bevor sie noch mehr sagen beziehungsweise schreien konnte nahm Alex sie auf den Arm und begann, wieder beruhigende Floskeln von sich zu geben.

Die „miese Kröte“ klappte ihren Mund ein paar Mal auf und zu wie ein Fisch, zog es aber dann doch vor zu schweigen, da ihr offenbar nichts dazu einfiel. Ihrem Quasseltantenverein ging es offenbar nicht besser.

Ein Umstand den die drei nutzten um sich aus dem Staub zu machen.

Zuhause angekommen besserte sich die Stimmung nicht wirklich. Kito schien immer noch vor Wut zu kochen, während sein Zwilling ganz offensichtlich mit den Tränen kämpfte.

Die ersten Schluchzer waren zu hören noch bevor die Tür ins Schloss gefallen war.

Mit einer Mischung aus Verzweiflung, Mitleid und blanker Panik sah Alex auf den Rotschopf hinunter. Was sollte er jetzt bloß tun?

Ihre abgehakten Schluchzer waren das einzige Geräusch und sie fuhr sich immer wieder mit den Händen über die geröteten Augen und Wangen, in der Hoffnung, den Tränen irgendwie Herr zu werden.

Ihr Bruder schlang die Arme um sie und zog sie an seine Brust, doch sie stieß ihn weg, nur um mit verquollenen Augen zu dem Erwachsenen aufzusehen.

„Es tut mir Leid! Das wollte ich nicht!“ sie wischte noch mehr Tränen weg und plötzlich wusste Alex, was er zu tun hatte.

Er ging in die Hocke und nahm sie in den Arm, so wie Kito es vorhin versucht hatte. Sie sträubte sich zwar wieder, doch Alex war stärker. Er hielt sie fest, bis sie schließlich aufgab, ihren Kopf an seine Schulter legte und noch lauter weiterschluchzte.

„I...ich will nicht ins H...heim! Wenn wir müssen ist das nur meine Schuld!“

„Quatsch mit Soße! Wegen so etwas kommst du doch nicht in ein Heim!“

„Wirklich?“ sie klang, als hätte er ihr gerade die Heilslehre schlechthin offenbart.

„Und selbst wenn sie es versuchen sollten: wir hauen einfach ab und kommen zurück!“ ihr Bruder schlang bei diesen Worten ebenfalls die Arme um sie und so saßen sie zu dritt auf dem Boden, bis Lalita sich beruhigte.

Etwa eine Stunde später, Alex saß im Wohnzimmer auf dem Sofa und starrte Löcher in die Luft, machte Lalita es sich neben ihm bequem.

Ihre Augen waren immer noch leicht gerötet, aber ansonsten schien es ihr wieder besser zu gehen.

Sie hielt ihm ein beiges Photoalbum vor Gesicht, das mit dunkelbraunen und orangen Ranken verziert war.

„Das ist mein Schatz!“ in ihrer Stimme schwang so viel Stolz mit, dass Alex schmunzeln musste.

Doch schon beim ersten Bild fiel ihm das Lächeln beinahe wieder aus dem Gesicht. Ein Mann Mitte oder Ende zwanzig mit schwarzem Haar und saphirblauen Augen hatte dem Arm um eine Frau im gleichen Alter gelegt. Eine Frau mit kastanienfarbenem Haar und grasgrünen Augen, deren Gesichtszüge mit denen der Zwillinge beinahe identisch waren.

„Wer ist das?“ er zeigte auf die Frau, obwohl er die Antwort eigentlich schon wusste.

„Unsere Mutter!“

„Aber ich dachte Amber...“ er brach den Satz ab.

„Amber ist unsere Mama, aber das ist unsere Mutter. Sie starb als wir noch ganz klein waren. Ich kann mich gar nicht mehr an sie erinnern...“

Mehr Puzzelteile fielen an ihren Platz. Kito und Lalita waren Ambers Stiefkinder... Himmel, wenn das nicht der Beweis war, dass der erste Eindruck täuschen kann!

Das nächste Bild war ein Hochzeitsphoto von Amber und dem Mann vom vorherigen Bild. Das war dann wohl Matteo.

Sie standen dicht beieinander, jeder ein etwa zweijähriges Kind auf dem Arm, während Amber noch zusätzlich einen Straus Rosen hielt.

Bilder von den Kindern, ihrer Einschulung, Geburtstags- und Grillfeiern. Ausflüge. Oder einfach ganz normale Alltagssituationen.

„Das ist mein Lieblingsbild!“ meine Lalita schließlich.

Das Bild zeigte Matteo, der entspannt in einem Sessel saß und mit sanftem Blick auf Amber herab sah. Die saß vor dem Sessel auf dem Boden, den Kopf hatte sie auf seinen Schoß gelegt, ihr blondes Haar fiel über seine Schenkel bis fast auf den Boden. Ihre Augen waren auf einen unbestimmten Punkt im Raum fixiert und ihr Gesicht zierte ein seliges Lächeln, offenbar gefiel es ihr, dass der Mann mit ihrem Haar spielte.

Auf jedem der Bilder war ihr Gesicht vollständig zu sehen, ohne irgendwelche Haare. Was versteckte sie bloß dahinter?

Mit einem leisen „plopp“ wurde das Album zugeklappt.

„Sag mal...“ schnitt er vorsichtig das Thema an, über das er nachgedacht hatte bevor sie gekommen war.

„Warum hast du eigentlich solche Angst vor fremden Leuten?“ wirklich vorsichtig! Er sollte Psychologe werden! Das sanfte heranführen an Themen lag ihm ja offenbar!

Die Miene des Mädchens verfinsterte sich und Alexander hatte schon Angst, er hätte es sich mit ihr verscherzt.

„Sie wollten mir Mama wegnehmen! Die gemeinen Kerle wollten mich nicht zu ihr lassen!“ ihre Hände ballten sich zu Fäusten und ihr Gesicht verzog sich vor Zorn, wie er es bei ihr noch nie gesehen hatte.

„W...was meinst du damit? Was ist passiert?“

„Es war direkt nach der Sache mit Papa...“ nach der er besser gar nicht fragte!

„... Kito und ich waren bei Tante Susa und Onkel Peter. Dann kam ein Anruf und die beiden sind mit uns ins Krankenhaus gefahren. Die Leute dort haben immer wieder über Mama geredet, aber sie war nirgends. Also bin ich los und habe sie gesucht. Ich konnte ja schon lesen und irgendwann fand ich eine Tür auf der ‚Amber Falluci’ stand. Mama war so blass, überall waren so komische Schläuche und es hat dauernd gepiepst...“ sie drückte ihr Album gegen ihre Brust und starrte ins nichts, gefangen in Gedanken und Erinnerungen.

„Sie ist nicht aufgewacht, egal was ich gemacht habe... dann kam so ein Kerl in einem weißen Kittel, packte mich und zerrte mich aus dem Zimmer! Ich hab geschrieen, gekratzt und gebissen, aber der gemeine Kerl hat mich nicht losgelassen!“ sie zitterte, allerdings vor Wut und Angst, nicht aus Trauer.

„Er hat mich zur Tante zurückgebracht und gesagt, ich dürfe nicht mehr herkommen, wenn sie nicht besser aufpassen würde.“ Beide schwiegen.

Daher also diese Angst. Der Arzt war offenbar nicht besonders feinfühlig gewesen und hatte damit unbewusst eine Kettenreaktion ausgelöst: Ihre Angst hatte sich durch Gewalt und Drohung noch verstärkt, sich tief in ihr eingenistet und sie mit kindlicher Logik folgern lassen, dass man ihr die Mutter nehmen wollte. Und das führte zu ihren Panikattacken.

„Hör mal!“ er stand auf und kniete sich vor das Mädchen um mit ihr auf Augenhöhe zu sein.

„Er wollte dich nicht von Amber fernhalten!“

„Aber...“ er lies sie nicht ausreden.

„Du hast es doch selbst gesagt: es hat dir Angst gemacht! Und das wusste er. Er wollte nicht, dass du dich erschreckst!“ er griff nach ihren zitternden Händen.

„Außerdem brauchte sie wahrscheinlich Ruhe um wieder gesund zu werden!“

„Wirklich?“ riesige grüne Augen sahen ihn an und ihre Mundwinkel wanderten nach oben, bis sie ihn anstrahlte.

„Danke!“ sie schlang die Arme um seinen Hals, drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange und hüpfte fröhlich aus dem Zimmer, einen ziemlich stolzen Alex zurücklassend, der das Gefühl hatte die beste Tat in seinem Leben verbracht zu haben.

Sah so aus, als wäre der Tag doch zu etwas gut gewesen. Mit diesem Gedanken widmete er sich erneut dem Werk von Dan Brown.
 

Weder der Song „Waiter! Bring me water!” (Shania Twain) aus Kapitel 5 noch “mizu no akashi” (Tanaka Rie) sind von mir... ebenso wenig wie die Übersetzung von letzterem... Ich finde nur das beide Lieder sehr gut passen!

Danke an alle die das lesen;)



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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  shinichi_san
2011-12-19T13:18:18+00:00 19.12.2011 14:18
Und mal wieder was dazu gelernt: Ärgere keine Mütter! Na gut, das kannte ich schon von meiner eigenen Mutter!!! XDDDD
Ich kann es auch nicht leiden, wenn mich blöde Restaurantangestellte blöd angucken, weil ich mit Bin ich froh, dass ich das nicht mache!
Aber die Entschuldigungen und den Einblick in die Vergangenheit fand ich auch sehr schön!
Wieder einmal ein gelungenes Kapitel!
Bis zum nächsten Mal!
LG
Von:  shinichi_san
2011-10-26T21:15:12+00:00 26.10.2011 23:15
hahaha
sehr schön! Sehr gutes Kapitel, Kleines XD
Die Vorstellungsrunde war ganz amüsant, wenn auch kurz und mit ... ja, wie schon in der Überschrift "Fettnäpfchen"
Aber wundertoll
Und ich mag die Mutter jetzt schon XD Ich hab so eine verrückte Freundin, die will auch immer jeden miteinander verkuppeln^^
Danke für das Kapitel! Ich freue mich auch immer, wenn du mir schreibst, dass ein neues Kapitel online ist. Das sagt mir immer: Du bist doch noch wichtig.

Danke für alles
P.S.: Dragonhunter dauert noch eine Weile, bin grad mitten im Gefühlschaos...
Von:  shinichi_san
2011-06-08T19:46:34+00:00 08.06.2011 21:46
Whoa! Eine Widmung! Für MICH????? Hammer! Cool! Find ich klasse! Danke, danke, danke!^^

Hm, okay, sie hat Angst, in einem Auto zu sitzen, aber Wieso? Hab ich was verpasst??? o.Ò Vielleicht hatte sie ja einen Autounfall, bei dem ihr irgendwas passiert ist?!
Ui, das nenne ich ja mal nen Albtraum! Ist ihr das etwa passiert? Mh, klingt gar nicht gut! Armes Mädchen! So schlimm wars bei mir gott sei dank noch nicht...
Sie hat keine Schuld? Ja, an was denn???
Oh, Matteo. Okay, ist das ihr Mann gewesen? Waren sie vielleicht zusammen bei einem Autounfall, er ist gestorben und sie hat bleibende Schäden in Gesicht und Kopf? Oder war da ein Feuer, sie hat Verbrennungen?
Boah, das ist aber mal gar nicht nett, sie zu erpressen! Nicht freundlich! Nicht der gute Umgangston, den man anschlagen sollte.
Okay, alles in allem: Wunderbares Kapitel: sehr gelungen!
Es hat mir gut gefallen und ja, was soll ich mehr sagen, als; Ich hoffe, meine Fragen klären sich alle noch und schreib fleißig weiter.
Bis zum nächsten Mal!!!
LG^^
Von:  shinichi_san
2011-05-31T14:39:29+00:00 31.05.2011 16:39
hehehe, wie witzig, dass er sich da ne Schramme holt!XD
hm, ich sehe da zwar noch nicht so richtig durch, aber egal. Wer hätte auch gedacht, dass sie noch zwei Mündel mit sich schleift?! Klingt aber ganz unterhaltsam und ich werde weiter dabei bleiben! LG


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