Reneé von fastcaranbethrem ================================================================================ Kapitel 6: Machtkampf --------------------- Die Stille des Todes lag über dem Schlachtfeld. Selbst Vögel flogen nicht darüber hinüber. Die Felder waren verwüstet, die Straßen zerstört, große Teile vom Wald gerodet. Es würde Jahre vergehen müssen, bis die Gegend wieder aussah, wie vor dem Einfall der beiden Armeen. Hier und da stöhnte ein Sterbender und hier und da fanden die Sanitäter noch einen Verwundeten. Plünderer krabbelten über die Leichen und durchsuchten sie. Ein Trupp Artilleristen versuchte ihre Kanone zurückzurollen, aber als zwei von ihnen hinterrücks erschossen wurden, suchten sie ohne ihre Kanone das Weite. Mehr als 3000 Männer waren gefallen. Bernhard von Sachsen-Wismar hatte keinen Meter vom Mittelfeld preisgegeben, aber nicht mehr die Kraft für einen Gegenangriff gehabt. Die Schlacht hatte neun Stunden gewütet und beide Seiten beklagten hohe Verluste. Athos kämpfte sich durch die erschöpften Männer, welche sich müde und niedergeschlagen zum Lager zurückschleppten. Wenn der Tot so allgegenwärtig war, wie in einem Gefecht, da wusste man plötzlich wie sehr man am Leben bleiben wollte und wie nahe einem seine Freunde und Kameraden standen. Athos hatte Männer fallen sehen, in denen er die Gesichter von Aramis, Porthos und D’Artagnan sah. Natürlich wusste er, dass es Porthos gut ging. Nachdem sie Aramis verletzt gefunden hatten, waren sie einander nicht von der Seite gewichen. Aber er wusste nicht, ob D’Artagnan noch lebte und wie es Aramis erging. Vor Ungewissheit kämpfte er halbherzig, immer mit den Gedanken bei Aramis und dem was vielleicht gerade passieren mochte. Kaum das Frankreich seine Niederlage erklärte und seine Soldaten zurückzog, ritt er so schnell er konnte los, um zum Lagerlazarett zu kommen. Athos fluchte. Das ganze Lager schien ihm vor die Füße zu springen. Er sprang von seinem Pferd und ließ es an Ort und Stelle zurück. Porthos hechelte hinter ihm her und versuchte mit ihm Schritt zu halten. Seine Rufe nach ihm, ignorierte Athos wortlos. Endlich erreichte er das Stallgebäude, welches dem französischen Heer als Lazarett diente. Als er die Verwundeten sah, blutverschmiert und mit ihren klaffenden Wunden, die Versorgten, mit frisch verbunden Arm- und Beinstümpfen wurde ihm das wirkliche Ausmaß einer Schlacht bewusst. Porthos ächzte und würgte, als eine Barre mit einem Mann, dessen Bauchdecke aufgeschlitzt war, an ihnen vorbeigetragen wurde. Teile seines Darms waren zu sehen und der offene Bauch verströmte den Geruch von Exkrementen und Fäulnis. Athos hörte Porthos würgen. Der große Musketier war merklich blasser geworden. „Geh du D’Artagnan suchen!“, sagte er. Porthos nickte erleichtert und eilte so kopflos davon, dass er mit einem Sanitäter zusammenstieß. Als er sah, dass der Mann trug, einen Korb mit amputierten Körperteilen, lief er grün an und floh würgend in das Lager. Auch Athos graute es davor, dass Lazarett zu betreten. Wie würde er Aramis vorfinden? Ohne Bein? Entstellt? Hatte man ihr Geschlecht, ihr wahres Geheimnis entdeckt? Er verspürte bei dem Gedanken Angst und Übelkeit. Als er durch das Stalltor das Lazarett betrat, empfing ihn im dämmrigen Halbdunkel, der Geruch von Blut und abgestandener Luft zu vieler kranker Menschen. Noch schlimmer waren das Stöhnen und Wimmern und die Schreie, die immer höher und schriller wurden, bis sie abrupt erstarben. Athos musste sich zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sein Gesicht verbarg nicht das Entsetzen, dass er empfand, als er an den langen Reihen, der verwundeten Soldaten vorbeilief, die dicht an dicht am Boden lagen, die Augen beharrlich abgewandt, um den Anblick der blutbesudelten Tische, auf denen operiert wurde zu meiden. Am hinteren Ende des Stalls fand er Aramis. Fast hätte er sie übersehen und wäre vorbeigegangen, wenn ihm nicht das nackte Bein zwischen all den Beinstümpfen ins Auge gestochen wäre. Er hockte sich neben ihr Lager, unendlich erleichtert, dass er sie gefunden hatte und dass sie ihr Bein noch besaß. Sie lag wie alle anderen Patienten auf einer Decke am Boden. Niemand schien ihr wahres Geschlecht bemerkt zu haben, obwohl ihr Hosenbein fast ganz aufgeschnitten worden war und ihr rechtes Bein, bis auf den einbandagierten unteren Oberschenkel und dem getrockneten Blut nackt war. Ihr blasses Gesicht zeigte die Schmerzen, die sie durchlitt. Sie wirkte so zerbrechlich und hilflos, dass es Athos vor unerwarteter Zärtlichkeit die Kehle zuschnürte. Wie konnte er so lange, so blind gewesen sein. Er erinnerte sich an das Gefühl ihrer Haut unter seiner Hand. Plötzlich war er wieder alleine mit ihr in seinem Zelt und die Luft die knisterte. Neben ihr dämmerte ein Soldat mit einem verbunden Armstumpf. Fliegen tummelten sich auf seinen Verband, durch dessen Lagen langsam das Blut hervorsickerte. Durch die dreckigen Strohreste am Boden huschten Schaben. Athos sah den Dreck und das Blut. Er hörte die Schreie und das Stöhnen. Es schmerzte ihn, sie hier liegen zu sehen. Er strich ihr über die Wange, so behutsam, als wäre sie aus Glas. Sie öffnete die Augen und sah ihn mit so fiebrig glänzenden Augen an, dass es ihn erschreckte. Ihre Lippen waren blutleer und eingefallen. Sie versuchte ihm mit ihren Augen etwas zu sagen, doch sie sprach zu leise und ihre Lippen zitterten so sehr, dass er nichts verstand. Er hörte nur ihr Wimmern. Es zerriss ihm das Herz. „Was?“, fragte er und beugte sich noch näher, dass sein Ohr ihren Mund berührte. „Kalt“, wisperte sie. „Kalt.“ Hilfesuchend sah sich Athos um, fand aber nichts mit dem er ihr helfen konnte, als bei ihr zu sein und seine Hand an ihre Wange zu legen, um ihr seine Wärme zu geben. Zu viele Menschen waren hier, als das er es gewagt hätte, mehr Intimität zu zeigen. Jemand räusperte sich in seinem Rücken und Athos zog schnell die Hand zurück. Wortlos richtete er sich auf. Er bemerkte den Gesichtsausdruck, mit denen der Mann ihn musterte. Irgendetwas schien ihm nicht zu gefallen. „Ich bin Doktor Montfort“. „Athos“, Athos besann sich. „Leutnant d’Autevielle!“, korrigierte er. Beide Männer musterten sich abschätzend. „Ihr seid wegen ihm hier?“, fragte Montfort und wies mit dem Kinn auf Aramis. „Einer Eurer Hauptmänner?“ Sein Ton verriet, was er von höheren Offizieren zu halten schien. Nun gut, er flickte die Reste der Gefreiten zusammen, die sie in den Kampf schickten. „Mein Freund!“ „Ich habe sein Bein operiert.“ Athos nickte bedächtig. „Dann muss ich Ihnen danken.“ „Warum?“, Montfort hob eine Augenbraue. „Ich weiß, wie wichtig es ihm ist, sein Bein nicht zu verlieren. Er wäre sehr unglücklich gewesen.“ Montfort runzelte bei seinen Worten die Stirn. „Ich habe nur meine Arbeit getan“, murmelte er unwirsch und beugte sich zu Aramis runter, um ihr die Hand auf die Stirn zu legen. Sie zitterte. „Ihm ist sehr kalt!“ sagte Athos. „Er hat Fieber! „Ist Fieber nicht etwas Schlechtes, in seinem Zustand?“, fragte er besorgt. Montfort zuckte die Schultern. „Es könnte ein Zeichen dafür sein, dass sein Blut vergiftet ist und es zu Wundbrand kommt.“ „Wundbrand?“, fragte Athos besorgt. „Nun, am besten ich sehe mir die Wunde an. Wenn ich merke, dass Wundbrand einsetzt, kann ich ihn noch immer zur Ader lassen, um das vergiftete Blut abzuleiten oder das Bein abnehmen.“ „Dann tun Sie es!“ Montfort kniff missbilligt die Augen zusammen, wagte aber nicht, etwas zu sagen. Er hob Aramis Bein an, um die Binde abzuwickeln. Athos verfolgte angespannt jeden seiner Handgriffe, um sicherzugehen, dass die Hand des Arztes dort blieb, wo sie bleiben sollte. Er selbst musste sich zwingen nicht auf die Stelle zu sehen, die Aramis Geschlecht verriet. Der Arzt fühlte sich sichtlich unbehaglich unter Athos wachsamen Blick. „Habt Ihr noch andere Freunde hier, die Ihr besuchen wollt?“ „Nein, nur diesen hier!“ Montfort hob eine Augenbraue. Der Mann hatte eindeutig etwas gegen Athos. Beide Männer begannen zu schwitzen. Sie drehten Aramis auf den Bauch, um die Unterseite des Unterschenkels zu sehen. Athos zog scharf die Luft durch die Zähne ein, als er die vernähte und blutverkrustete Wunde sah. Montfort begann vorsichtig das Blut über der Wunde fortwischen. Aramis stöhnte vor Schmerzen. „Es ist kein Wundbrand zu sehen“, sagte Montfort zufrieden und verband die Wunde neu. Sie drehten Aramis wieder auf den Rücken. „Was mit Eurem Freund weiter passiert, hängt von seiner Konstitution und seinem Lebenswillen ab und nun muss ich Euch bitten, zu gehen! Wir haben hier jede Menge zu tun und kaum Platz!“ Athos sah zögerlich zu Aramis. „Ich bitte Sie, kümmern Sie sich gut um ihn! Ich komme bald wieder.“ „Ist das eine Drohung?“ fragte Montfort spöttisch. „Olivier d’Autevielle, sieh an sieh an.“ Vicomte des Bracelonnes Stimme donnerte über den Platz. Athos überlegte schon, ob er den Vicomte einfach ignorieren sollte, aber der Vicomte war kein Mann, den man einfach so übersah, selbst kurzsichtig nicht. Deshalb blieb er stehen und sagte mit einem abgrundtiefen Seufzer. „Vicomte, schön Euch zu sehen.“ Der Vicomte lachte dröhnend, dass sein feister Körper zitterte. „Ja, darauf wette ich, mein Junge.“ Er baute sich mit seiner imposanten Gestalt vor ihm auf und musterte ihn. “Na, dass ist jedenfalls nicht der Aufzug, von dem dich dachte, dass ich dich je darin sehen werde. Du bist also bei den Musketieren?“ „Scheint so!“, äußerte Athos erschöpft. „Wenn dein Vater dich so sehen könnte.“ „Lieber nicht, Sir. Er hält nichts von den Musketieren!“ Der Vicomte grinste breit. „Ich auch nicht, mein Junge! Was macht ihr schon, außer schwanzwedelnd vor eurem König zu stehen.“ „Mh, mit Schwanzwedeln kennt Ihr und mein Vater euch sicherlich besser aus. Kann ich jetzt gehen?“, Der Vicomte bellte laut in seiner empörend wiehernden Lache. „Da magst du durchaus Recht haben. Aber mit dem Alter wird man ruhiger, mein Junge.“ Ein Mantel mit verdrecktem Hermelinbesatz, bauschte sich um den Vicomte. Die Beine breitbeinig, die Brust stolz gereckt, Essensreste im imposanten Bart. Noch immer Soldat, obwohl das Haar längst weiß war; noch immer aufrecht und arrogant beritten auf seinem Schlachtross, so breit wie ein Bulle und mit dessen Manieren. Genau die Art von Männern, mit denen sein Vater sich gerne umgab, weil sie genauso so waren wie er. Sie waren Reliquien einer alten Zeit, die noch wie mittelalterliche Feudalherren über ihre Leute herrschten, dachte Athos, und über ihre Söhne. Er hatte nicht die geringste Lust, seinen Vater wiederzusehen. Sollte der doch in seiner zugigen Burg versauern. „Wo ist eigentlich mein Vater, warum ist er nicht hier?“ „Tja, die Gicht hat zugeschlagen, Olivier. Auch da zügelt uns das Alter. Gegen die Gicht, kommt nicht einmal er an. Seine Ärzte haben ihre liebe Not mit ihm.“ „Das glaube ich und wie habt Ihr mich eigentlich wiedererkannt?“ „Als ich hörte, dass ein d’Autevielle eine der Divisionen anführte, habe ich mich rumgehört. Und mein Junge, du bist deinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten! Er sah genauso aus, als er jung war.“ Athos schaute säuerlich drein. Der Vicomte haute sich vor Vergnügen auf die breiten Schenkel. „So hat er auch immer ausgesehen, wenn man ihm das gesagt hat. Du bist zum Leutnant befördert worden. Bei dem König scheinst du in ziemlich hoher Gunst zu stehen.“ „Ich bin sein Musketier.“ „Ja! Ich kann mir denken, dass er es als Schmeichelei sieht, dass ein Adliger gegen den Willen seines Vaters in die Garde eingetreten ist, nur um ihm zu dienen.“ Athos schwieg. Der Vicomte schwieg, allerdings nicht für lange. Er war einfach nicht für das Schweigen gemacht. „Weißt du, dass er dich sucht?“ „Kann ich mir denken!“, sagte Athos. „Wirst du nach Hause zurückkehren?“ „Als ich das letzte Mal bei ihm war, hat er mir eins über den Kopf gezogen. Noch einmal und ich bin vielleicht taub. Und ich lasse mir mit über dreißig Jahren nicht mehr gern eins über den Kopf ziehen.“ Wieder erntet er dröhnendes Gelächter. „Willst ihn wohl weich kochen, was, mein Junge?“ Er drohte schelmisch mit dem Finger. „Jetzt wo du Leutnant bist. Du fehlst ihm sicherlich. Ich kenne ihn!“ „Ja, ich leider auch. Und mein Vater hält mich für einen unverbesserlichen Schwachkopf, mit dem ihn Gott ungerechterweise geschlagen hat“, sagte er und fügte trocken hinzu, „einer von Gottes wenigen Fehlern.“ „Ja, das könnten seine Worte sein, mein Junge.“ Das war das Problem mit seinem Vater. Der hielt Gott für fehlbar, aber nicht sich selbst. Der Vicomte schlug ihm kräftig auf den Rücken. Der Mann hatte Hände in Schinkenformat. „Er sagte immer, Gilles, aus Armand, dem Schlappschwanz muss was werden, der Zweite ist hoffnungslos. Und mehr Söhne hat mir meine Frau nicht vermacht. Ich sagte immer, Guillermo, besser zwei Plagen als Söhne, als nur Weiber im Haus, womit ich gestraft bin.“ „Ich bin nicht Euer Junge!“ Athos wurde langsam ungeduldig. Der Vicomte ließ sich von Athos sichtlichen Unmut nicht von seinem Weg der gutgemeinten Taktlosigkeit abbringen. „Bist du immer noch verbittert, wegen der alten Sache zwischen Euch?“ Athos schwieg. Der Vicomte sah ihn lauernd an. „Wenn es wegen ihr ist … sie ist jetzt Witwe.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)