Reneé von fastcaranbethrem ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Wann begann meine Geschichte? Mit dem Tag meiner Geburt, in dem kleinen Ort Herblay oder in den trostlosen Jahren meiner Kindheit, als ich bei meiner Tante und ihrem Mann leben musste? An dem Tag, als ich Francois kennenlernte, oder die Nacht wo ich ihn und meine Träume verlor? Ich beginne mit der Nacht, als ich weglief. Rückblickend habe ich das Gefühl, dass hier mein Leben neu begann. Es war eine bitterkalte Nacht. Am Tag war frischer Schnee gefallen. Um Montlucon verlassen zu können, musste ich durch den Wald. Auf der Straße hätten sie mich schnell entdeckt und wieder zurückgebracht. Doch der Wald ist endlos, finster und unheimlich. Hohe Bäume mit dichtem Unterholz. Im Sommer treiben hier Räuber und Raubtiere ihr Unwesen. Der strenge Winter hält sie fern. Ich bin meilenweit das einzig lebendige Wesen, was mich keineswegs beruhigt. Noch nie habe ich mich derart gefürchtet. Jeder Schritt kostete Überwindung noch tiefer in den Wald einzudringen. Doch was ich im Haus meines Onkels zurückgelassen habe, erscheint mir weitaus schlimmer, als hier zu verhungern, oder zu erfrieren. Sie waren erst zufrieden als ich schrie, als mein Gesicht vor Tränen und Schweiß überströmt war. Egal wie ungewiss und gefährlich die Zukunft ist die vor einem liegt, manchmal ist die Alternative einfach zu schrecklich um zu bleiben und dann wachsen kleine Mädchen wie ich, über sich hinaus. Aber eine andere Wahl habe ich ohnehin nicht mehr. Ich finde den Weg nicht zurück! Der Schnee durchdringt die dünnen Sohlen meiner Stiefel. Trotz all meiner Kleidungsschichten friere ich und zittere am ganzen Leib. Die kalte Luft brennt beim Einatmen. Auf tauben Füßen schleppe ich mich vorwärts, den Blick stur geradeaus gerichtet. Ich will die Geister rechts und links nicht sehen. Eine weitere Stunde irre ich durch den Wald. Gut, ich weiß jetzt, dass ich sterben werde. Ich falle ständig hin und bald werde ich nicht mehr die Kraft haben, um mich wieder hochzuziehen und weiterzustolpern. Ich habe sie jetzt schon nicht mehr. Ich werde einfach liegenbleiben und einschlafen, um nie wieder aufzuwachen. So unangenehm ist der Gedanke nicht. Nicht mehr zu leben, heißt auch nicht mehr zu leiden. Kein Kummer, kein Scham, keine Albträume. Ich will sterben, aber sterben heißt, dass sie gewonnen haben. Die Hütte tauchte so unvermittelt vor mir auf, dass ich beinah in sie hineingelaufen wäre. Es ist ein kleines Haus, das Haus eines Bauern. Alles ist dunkel, aber hier leben eindeutig Menschen. Ich kann das Vieh in der Scheune blöken hören. Vor Erleichterung beginne ich zu schluchzen und Tränen steigen in meine Augen. Sie wollen gar nicht mehr aufhören. Ich hämmere gegen die Tür. Wenn mir keiner hilft, ist mein kurzes Leben hier zu Ende. Vielleicht will ich ja doch noch nicht sterben. Die Tür öffnet sich und ein Mann mustert mich misstrauisch. Er erscheint mir uralt, doch er ist erst Mitte vierzig. Er hat ein wettergegerbtes Gesicht, ist ärmlich und einfach gekleidet und seine Schultern sind nach vorn gebeugt, als würde er eine unsichtbare Last durch das Leben tragen. Er will die Tür wieder zuschlagen. Ich wimmere verzweifelt und schiebe trotzig den Fuß dazwischen. So leicht wird er mich nicht los. „Was?“, fragt er barsch und mustert mich von oben bis unten. Ist es nicht offensichtlich? Ich brauche Hilfe. Ein verirrtes Mädchen alleine, in einer eisigen Winternacht. Ich stehe nur da und glotze ihn stumm an. Tränen laufen über mein Gesicht. „Junge, sprich!“, brummt er unwirsch. Der kalte Wind zieht in die Hütte ein. Da fällt es mir wieder ein. Er sieht kein Mädchen. Was er sieht ist ein schlaksiger Junge, der nicht aufhören kann vor Erleichterung zu heulen. Was sieht er in meinem Gesicht?. Früher war es einmal ein hübsches Gesicht. Statt einer Antwort ziehe ich die Tränen und den Schnodder geräuschvoll durch die Nase hoch, was so gar nicht zu meiner Erziehung passt und zittere so stark, dass meine Zähne laut im Mund klappern. Er betrachtet mich eingehend und scheint mit sich selbst zu ringen. Soll er mir helfen, oder nicht. Ich kann nicht erkennen, wie er sich entscheiden wird. Irgendwo im Inneren winselt ein Hund und scharrt mit den Krallen. Das Tier kommt näher und schmiegt sich an mein Bein. Es ist ein riesiger Hund, die Silhouette zottig und wolfsartig. Ich verharre reglos, obwohl ich weglaufen will. Der Mann sieht seinen Hund an. „Gastro, mag die meisten Menschen nicht.“ „Aber mich mag er“, flüstere ich heiser. „Wohl deinem Meister davongelaufen, hä?“ Er tritt beiseite, um mich einzulassen. „Die haben dich ganz schön übel zugerichtet! Komm rein!“ In dieser Nacht bekomme ich den harten, aber warmen Schlafplatz vor dem Kamin. Er ist genauso wortkarg wie ich und immer wieder merke ich, wie er mich beobachtet. Sicher fühle ich mich nicht. Was wenn er entdeckt, dass ich eine Frau bin? Auf dem Kaminsims liegt ein Spiegel, ein merkwürdiger Gegenstand für einen alleinlebenden Mann. Als mein Gastgeber das Zimmer verlässt, nehme ich ihn und werfe einen Blick hinein. Ich sehe ein spitzes Gesicht, mit kurzen fürchterlich schief geschnittenen Haaren, als hätte jemand mit einer Schere blind drauflos geschnippelt. Was meinen Gastgeber verunsichert hat, sind die verblassenden Blutergüsse im Gesicht und die aufgeplatzte Haut auf der linken Augenbraue. Vielleicht sind es auch die Augen, die fast gläsern wirken, mit dem Ausdruck eines gehetzten Tieres, das jederzeit damit rechnet wieder eingefangen und gequält zu werden. Es raschelt und ich lege den Spiegel schnell wieder beiseite. Er bringt mir eine Decke und mustert mich mit dem freudlosen Lächeln eines Menschen, der denkt, sich gerade richtigen Ärger einzuhandeln. Auf dem Boden vor dem Kamin ist es unbequem, aber es rettet mein Leben. Ich blicke hinauf zur Decke und sehe den Schatten der Flammen im Kamin beim Tanzen zu. Meine Finger wandern über die Schwellung am Auge. Hier liege ich nun und denke über meine Zukunft nach. Ich weiß nicht, was mich erwartet. Ich weiß nicht, wie ich aller Welt glaubhaft den Jungen vorspielen und damit durchkommen soll. Ich weiß nicht, ob die Albträume irgendwann aufhören werden, oder der Schmerz in meinem Herzen. Ich weiß nicht, ob ich je wieder das Bedürfnis haben werde zu lachen. Ich weiß nicht, ob ich je wieder andere Menschen unbefangen ansehen werde, ohne Angst verraten, entdeckt, oder gar geschlagen zu werden. Aber immerhin, hier liege ich und lebe noch! Kapitel 1: Die Nacht vor der Schlacht ------------------------------------- Acht Jahre waren seit der bitterkalten Winternacht vergangen und ihre Geschichte hatte in jener Nacht wirklich neu begonnen. Obwohl die Zeit die Erinnerungen an Demütigung, Angst und Leid verblassten, verschwanden sie nie ganz. Neue Erinnerungen nahmen den Platz neben alten ein und löschten das blässliche Mädchen aus, um der Frau die Aramis heute war Platz zu machen. Das Feuer das im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation wütete, hatte 1636 Frankreich erreicht. Seit 28 Jahren kämpften die europäischen Großmächte gegeneinander, um Macht und Einfluss. Es war ein Krieg, in dem es schon lange nicht mehr um Religion ging, auch wenn dies der Funke war, der den Flächenbrand entfacht hatte. Für das urkatholische Frankreich, waren die spanischen Herrscher die größte außerpolitische Bedrohung und Grund genug, ein Bündnis mit den protestantischen Schweden einzugehen. Als die Schweden 1634 vernichtend geschlagen wurden, war ganz Süddeutschland den Habsburgern ausgeliefert. Frankreichs Grenzen waren fast lückenlos von Feinden bedroht. Da beschloss Frankreich direkt in den Krieg einzugreifen. Im Mai 1635 erklärt Ludwig XIII. auf Anraten Kardinal Richelieus dem spanischen König Philipp IV. den Krieg. Richelieus erstes Ziel war die Eroberung der spanischen Niederlande. Seit 1568 kämpfte ein Teil der niederländischen Provinzen um ihre Unabhängigkeit vom spanisch-habsburgischen König. Der Krieg war für Frankreich ein Wagnis. Noch war das französische Heer klein und so schwärmten die Anwärteroffiziere aus, um Männer in ihren Dienst zu pressen. Die armen Rekruten, geprellt und betrogen, kämpften noch immer mit dem Kater vom Schnaps des Anwärteroffiziers, als sich Ludwigs Herr in Richtung Flandern in Marsch setzte. Im Frühjahr 1636 zogen sie los. Drillsergeant, die wahre Wunder waren, verwandelten den Abschaum den sie bekamen, durch Schikane, Flüche, Zuckerbrot und Peitsche in prächtige Kampfwerkzeuge, die von inkompetenten Offizieren auf dem Schlachtfeld verpulvert wurden. Der Rest starb an Krankheiten. Wer sehr viel Glück hatte, überlebte die Krankheiten und den Krieg und wurde danach für den kläglichen Rest seines jämmerlichen Lebens auf die Straße zurückgeworfen, um für seinen Lebensunterhalt zu betteln. Richelieu und Ludwig waren voll Übermut zu diesem Feldzug aufgebrochen, um endlich die Macht Habsburgs zu brechen und die Vormachtstellung Frankreichs als Großmacht zu sichern. Aus schieren Mutwillen und viel Unverständnis, begingen sie den Fehler, die Spanier zu unterschätzen und die Proviantvorräte zu überschätzen. Frankreichs Soldanten begannen Hunger zu leiden. Für die französischen Soldaten war es ein komplizierter Krieg, der aus noch komplizierteren Gründen stattfand. Sie litten unter dem Hunger, dem Wetter in einem Land, das nur aus Niederschlag zu bestehen schien und der Inkompetenz ihrer Offiziere. Von Offizieren mag man ja mit einer gewissen Inkompetenz rechnen, man bringt ihnen ja nichts bei, aber bei den Franzosen kam noch ein besonderes Maß an Hochmut und Pietätlosigkeit gegenüber dem gemeinen Soldaten hinzu. Mit den anfänglichen Erfolgen war es bald vorbei. Es war schon nach Mitternacht und es regnete wieder. Niemand im Lager schlief. Die Männer gruben an der Frontlinie noch immer die Schützengräben aus. Die Artilleristen zwangen ihre tonnenschweren Kanonen durch den aufgeweichten Boden in ihre Stellungen, die Dragoner verharrten schweigend mit ihren Pferden in den Verstecken zwischen den Bäumen. Vor den Zelten der Priester und Huren standen die restlichen Männer Schlange, um sich jeder auf seine Art die Absolution zu holen. Einige beteten im stummen Entsetzen, andere polierten ihre Waffen mit grimmiger Entschlossenheit. Der Eine sann über die begangenen Sünden seines Lebens nach, der Andere bedauerte die Sünden, welcher er nun nicht mehr begehen konnte. Ab und zu knallte ein Pistolenschuss durch die Nacht, da das spanische Heer nur vier Kanonenschüsse entfernt lagerte. Athos lag in seinem Zelt und lauschte in die Dunkelheit. Obwohl er für eine Militärlaufbahn erzogen worden war und seit über zehn Jahren als Musketier im Dienst des Königs stand, hatte er noch nie in einer richtigen Schlacht gekämpft. Vor neun Jahren war La Rochelle belagert worden. Fast ein ganzes Jahr war die Stadt angegriffen worden, bis nicht Richelieus Heer, sondern der Hunger sie zur Aufgabe zwang. Aber der Eroberungsfeldzug von La Rochelle war kaum mehr als das beharrliche Anrennen gegen Steinmauern und er selbst war erst Musketieranwärter gewesen. Das hier, war etwas vollkommen anderes. Der Regen plätscherte auf das Zeltdach, doch er konnte noch die Schlachtrufe der Spanier hören, mit dem sie ihre Feinde einschüchtern versuchten. Im Lager der Franzosen sang niemand. Die Spanier hatten die Franzosen überrascht und sie wussten, dass der Feind zahlenmäßig unterlegen war. Deshalb hatte Oberfeldmarschall Bernards von Sachsen-Weimar befohlen, in aller Eile die Schützengräben auszuheben und die Artillerie in Position zu bringen. Für Athos hieß das warten bis der Morgen anbrach. Kurioserweise wanderten seine Gedanken zu Aramis. Wie so oft in letzter Zeit. Athos wusste nicht wann es begonnen hatte. Sieben Jahre waren vergangen, seit Aramis zu den Musketieren gekommen war und alles schien wie immer zu sein. Vielleicht hatte es schon viel früher begonnen, aber erst an dem einen Regentag im September erinnerte er sich bewusst daran. Auch an jenem Tag, hatte es den ganzen Tag geregnet. Mal war es ein leichtes Tröpfeln, dann wieder Bindfäden die zur Erde prasselten. Der Tag wurde zum Abend und am westlichen Horizont brach die Abendsonne durch die Wolkendecke und tauchte die Welt in ihr unvergleichliches, goldenes Licht. Die Luft war klar und gewaschen vom langen Regen. Sie hatten sich im Gasthaus verabredet. Er sah seinen Freund durch den Regen rennen. Als Aramis bei ihm ankam, lachte er und schüttelte den Regen aus den nassen Haaren. Das Licht tanzte in Aramis Augen und der Regen lief ihm über das Gesicht. Warum kam ihm Aramis Haut mit einem mal so zart vor? Er erstarrte, als Aramis plötzlich einen der Regentropfen sich von den Lippen leckte. Auf eine ihm erschreckende Art und Weise, reagierte plötzlich sein Körper sehr eindeutig. Aramis hatte nichts von alle dem bemerkt und war in das Gasthaus getreten, um Porthos und D`Artagnan zu begrüßen. Die Kleidung dampfte in der bedrückenden Wärme im Schankraum. Sämtliche Tische waren belegt und der Raum lärmerfüllt. Sie nahmen an der Seite von ihren Freunden Platz. Wieder registrierte Athos mit einem merkwürdigen Ziehen im Bauch, wie Aramis das nasse Haar aus dem Kragen hob und den langen Hals nach hinten bog. Wieder erschien ihm Aramis mehr weiblich als männlich. Er rief sich selbst zur Vernunft. Das war doch nur Aramis. Nur ein Stückchen Haut, zwischen Schultern und Kopf. Was passierte mit ihm? „Athos, alles in Ordnung mit dir?“ Aramis Frage riss ihn aus seinen Gedanken. Alle sahen ihn an. Das Schankmädchen kam mit vollen Bierkrügen an ihren Tisch und enthob ihn von einer Antwort. Der schmale Spitzenbesatz ihrer Bluse spannte sich über ihrem Busen und wie um es sich selbst zu beweisen, ruhte sein Blick ausgiebig auf der ihm dargebotenen Pracht. Eigentlich war sie zu jung und derb für ihn, aber sie bedachte ihn mit einem lockenden Lächeln und strahlte so viel Weiblichkeit aus, mit ihren zarten Gesichtszügen und weichen Rundungen. Das Schankmädchen entfernte sich mit einem verheißungsvollen Blick und Athos fand sich plötzlich Auge in Auge, mit den verblüfften Blicken seiner Freunde. Ein derart scharmloses Verhalten waren sie von ihrem zurückhaltenden Freund nicht gewohnt. Für den Rest des Abends versuchte er aufmerksam zu bleiben und nicht zu sehr Aramis anzustarren. Dabei wanderte sein Blick automatisch zu ihm. Plötzlich faszinierte ihn etwas in Aramis Gesichtszügen, dessen Gesicht ihm vorher als völlig normal erschienen war. An diesem Abend sprach er dem Wein zu reichlich zu. Die Luft wurde plötzlich zu heiß, der Kragen zu eng und er verspürte das dringende Bedürfnis mit einer Frau Zusammensein zu müssen. Athos begann, sehr zur Verwunderung seiner Freunde, mit dem Mädchen zu schäkern. Eine Schankmagd gehörte normalerweise nicht zu den Frauen, mit denen er verkehrte. Allerdings konnten Aramis, Porthos und D`Artagnan nicht wirklich von sich behaupten, Athos Geschmack in Bezug auf Frauen zu kennen. Dafür war Athos zu diskret. Plötzlich lachte Athos zu laut, sein Blick wurde zu forsch und der anzügliche Ausdruck auf seinem Gesicht, schien so gar nicht dem Athos zu passen, den sie zu kennen glaubten. Das Verlangen nach dem Mädchen verging sofort, als er Aramis Gesichtsausdruck bemerkte. Er sah sich in Aramis Mine selbst. Befremdend, verstörend und fast verletzlich. Das Verhalten eines betrunkenen Mannes. Für diesen Abend reichte es ihm. Er erhob sich und schwankte leicht. Aramis war mit ihm aufgesprungen und hatte ihn besorgt am Arm festgehalten. Aramis Hand brannte durch den Stoff auf seiner Haut. Beinah grob, hatte er die Hand abgeschüttelt und war die Treppe hinauf, zur Tür hinaus, in die kalte Abendluft gestürmt. Später schrieb er sein Verhalten dem Alkohol zu. Aber es waren nur wenige Wochen vergangen, als Aramis ihn erneut aus der Fassung brachte. Die beiden Musketiere waren nach Dienstschluss auf den Weg nach Hause. In der Nähe der Hallen, bei den Marche Maubert begannen die Händler und Bauern ihre Waren zusammenzupacken und heimzufahren. Plötzlich wurde erschrockene Schreie laut und das nervöse Wiehern eines erschreckten Pferdes. Sie waren gerade in die Rue des Rennes eingebogen, als Athos aus dem Augenwinkel das in Panik geratene Pferd sah. Der Wagen riss eine Schneise der Zerstörung dorthin, wo das Pferd ihn zerrte und es kam direkt auf sie zu. Mehr aus Reflex, als aus bewusstem Handeln, stieß er Aramis an die Hauswand und drückte sich gegen hin. Er spürte die zerstörende Gewalt, mit der das Pferd die Hufe in den Boden versenkte und an ihm vorbeigaloppierte, den schweren Wagen hinter sich herziehend. Zuerst war da der Schreck des Augenblicks, doch dann registrierte er nach und nach, dass sich sein Körper gegen Aramis Rücken presste. Sein Gesicht war an Aramis Nacken. Er konnte den Geruch riechen, der seiner Haut und seinem Haar verströmte. Er spürte Aramis Atemzüge an seiner Brust und fühlte seinen Hintern an seiner Körpermitte. Aramis stöhnte vor Schmerz leise auf, weil er gegen die harte, raue Wand gedrückt wurde, aber trotzdem erregte Athos der Laut. Sein Körper begann unmissverständlich zu reagieren. Fast panisch sprang er zurück und brachte schwer atmend genügend Abstand zwischen sich und Aramis. Was eben mit seinem Körper geschah, hätte nicht passieren dürfen. Egal wie dramatisch der Augenblick war, oder wie schnell das Adrenalin durch seine Adern rauschte. Nicht bei einem anderen Mann hätte ihm das passieren dürfen. Und wieder war er einfach vor Aramis und seiner Verwirrung geflohen. Darüber dachte er nach, als der Regen gleichförmig an das Zeltdach klopfte. Er wusste nicht warum er sich plötzlich daran erinnerte. Bisher hatte er einfach nicht näher darüber nachgedacht, hatte es verdrängt, so wie er alle Gefühle weg schob, die ihn beunruhigten. Er war nach Hause gegangen und hatte das merkwürdige Gefühl gehabt, dass das alles nicht wirklich ihn betraf. Er hatte begonnen, sich anders in Aramis Gegenwart zu fühlen und nicht verstanden, dass es Sehnsucht war. Sehnsucht danach bei ihm zu sein und ihn zu berühren. Es raschelte vor seinem Zelt und die Zeltplane wurde zurückgeschlagen. Athos bekam unerwarteten Besuch. Kapitel 2: Enthüllungen ----------------------- „Athos, kann ich mit dir reden?“, fragte Aramis. „Sicherlich, komm rein!“ Aramis kroch in das Zelt. Viel Platz war nicht. Auf dem Boden lag eine Matte, auf der Athos schlief und seine Ausrüstung. Damit war der ganze Platz auch schon aufgebraucht. Athos wartete geduldig, bis sein Besucher das Wort ergriff. Aramis brauchte anscheinend einige Zeit, um das sagen zu können, weswegen er gekommen war. „Zwischen uns hat es in letzter Zeit einige Spannungen gegeben.“ Athos fühlte sich ertappt, er schluckte. „Wie kommst du darauf?“, fragte er mit belegter Stimme. „Du gehst mir aus dem Weg!“, sagte Aramis bekümmert. „Das war früher nicht so. Es ist irgendetwas passiert.“ Aramis machte eine Pause und fuhr dann fort: „Morgen werden wir vielleicht sterben, oder verletzt werden, oder in Gefangenschaft geraten.“ Athos nickte. Ja, das war bei der Überzahl der Spanier und der schlechten Vorbereitung der Franzosen nicht von der Hand zu weisen. Man musste kein Orakel sein, um den Ausgang der Schlacht zu wissen. Jeder Franzose spürte es. Das bedrückende Gefühl der Niederlage lag über dem gesamten Feldlager. Aramis Stimme wurde leise und ein wenig zittrig. „Dies ist vielleicht die letzte Gelegenheit die wir haben, um Dinge auszusprechen und richtig zu stellen.“ Athos fühlte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. Aramis hatte es also doch bemerkt. Ihm, den steht`s disziplinierten, zurückhaltenden und diskreten Mann, war das was mit ihm passierte zutiefst peinlich. Er hatte gedacht, seine Gefühle genügend unter Kontrolle gehabt zu haben. Aramis Gegenwart begann ihm unter die Haut zu gehen. Dieses Zelt war einfach zu eng für sie. Unwillkürlich rutschte er zurück um Abstand zwischen ihnen zu bekommen, nur um mit dem Rücken gegen die nasse Zeltwand zu stoßen. „Und ich bin schuld daran, weil ich es euch nie gesagt habe“, sagte Aramis. Athos stutzte. „Du weißt es, nicht wahr“, fragte Aramis und Athos glaubte, den bohrenden Blick im Dunkeln spüren zu können. Er grübelte. Wenn er nur gewusst hätte, was Aramis meinte und weil er schwieg, nahm Aramis sein Schweigen als Zustimmung. „Ich habe euch nie etwas gesagt, weil ich wusste, dass dann unsere Freundschaft beendet ist. Dann wäre alles was ich erreicht habe vorbei gewesen.“ „Woher willst du das wissen?“, fragte er. Aramis lachte freudlos. „Ach Athos, man muss doch kein Hellseher sein, um das zu wissen. Wie kann ich behaupten, ein Mann zu sein, dass ist anmaßend; -Und dazu noch ein Musketier, dass ist empörend. Nur die besten Kämpfer, richtige Männer können Musketiere werden. Irgendwas muss mit mir doch nicht stimmen, dass ich es dennoch geschafft habe. Da geht irgendetwas nicht mit rechten Dingen zu. Und die ganze Zeit bin ich von Männern umgeben. Wer weiß, was ich unanständiges mit ihnen treibe? Was für ein abartiges Ding, dass versuche wie ein richtiger Mann zu sein. Auf den Scheiterhaufen!“ Die Worte sprudelten sarkastisch und bitter aus Aramis heraus. „Übertreibst du nicht ein wenig.“ „Oh nein Athos, ich habe die Menschen studiert. Ist jemand anders als sie verurteilen sie schnell und gerne. Du hast dich doch schon von mir abgewendet. Seit Wochen gehst du mir aus dem Weg. Du weichst mir aus, wenn ich dich nur kurz berühre und siehst mir nicht mehr ins Gesicht. Kannst du denn nicht verstehst, dass ich es euch nicht sagen konnte, weil ich dann eure Freundschaft verloren hätte … deine Freundschaft“, fügte Aramis fast flüsternd hinzu. „Und darunter würde ich leiden, weil sie mir so wichtig ist. Aber so bin ich nun mal. Ich weiß selbst, dass ich kein richtiger Mann sein kann, aber vielleicht lernst du mit der Zeit, darüber hinwegsehen?“ Athos glaubte zu verstehen, was Aramis ihm sagen wollte. Aramis Worte tanzten Ringereihe in seinem Kopf. Nie im Leben wäre er darauf gekommen, dass Aramis ihm gerade gesagt hatte, dass sie nur vorgab ein Mann zu sein. Vielmehr bezog er ihre Worte darauf, dass mit Aramis Männlichkeit etwas nicht stimmt, denn er zweifelte wie so viele Menschen nicht daran, was seine Augen ihm zeigten; -Aramis als Mann. Er glaubte zu verstehen, dass Aramis Männer liebte, aus dem einfachen Grund, weil er plötzlich Aramis begehrte. Aber weil er bis zu diesem Zeitpunkt ein für ihn vollkommen normales Liebesleben geführt hatte, bei dem Männer nie eine Rolle gespielt hatte, musste die Schuld folglich bei Aramis liegen, wenn er sich plötzlich zu diesem hingezogen fühlte. Diese Denkweise war zwar ziemlich verquer, sehr simpel und sehr männlich. Oh ja, Aramis war schon immer anders gewesen. Androgyn und weich. Ein Mann der sich betont von allen körperlich freizügigen Aktivitäten wie das Badehaus, das Baden im Fluss, den Ringerclub und Bordellbesuchen fern hielt. Aber ab und zu, suchte ein bestimmter Typ Mann seine Nähe. Unwillkürlich stellte er sich Aramis in den Armen eines Mannes vor und es lief ihm heiß und kalt den Rücken hinunter, weil es ihn eigentlich anwiderte und doch erregte. Das Zelt schien immer kleiner und enger zu werden. Die Haare auf seinen Unterarmen stellten sich auf. Er saß im gefährlichen Zwiespalt seiner eigenen, widersprüchlichen Gefühle fest. „Vielleicht werde ich das“, sagte er verhalten und kämpfte gegen die eigene Sünde in ihm. „Gut!“ Aramis klang schon viel glücklicher. Athos versuchte Aramis Gesicht im Dunkeln zu erkennen, während er den Geräuschen vor dem Zelt lauschte. Dort draußen schienen andere Probleme zu herrschen, als die in seinem kleinen Zelt. Aber waren es wirklich Probleme, oder die Ansichten der Gesellschaft? War Aramis ein schlechter Mensch, nur weil er sich von anderen unterschied? Athos räusperte sich. "Es muss hart gewesen sein, uns gegenüber sich als jemand anderer auszugeben, der man nicht ist." "Ja". Aramis schien in Gedanken versunken. "Und auch nein. Ich wurde schließlich dadurch zu dem Menschen der ich jetzt bin". "Ich bin froh, dass du dieser Mensch geworden bist". Athos dachte an die vereinzelten Augenblicke zurück, als er anderen Männern begegnet war, die sich zu Männern hingezogen fühlten. Bei manchen war es so offensichtlich gewesen, dass es nicht verwunderlich gewesen war, als die Inquisition plötzlich vor deren Türe stand. "Es war vielleicht ganz klug, dass du dich nicht zu erkennen gegeben hast. Sie würden dir nicht erlauben, weiter Musketier zu bleiben.“ „Das weiß ich.“ „Und du solltest die Gefühle unterdrücken. Vielleicht musst du dir öfters eine Frau nehmen!“, riet er Aramis vorsichtig, etwas gutväterlich und vollkommen überfordert. „Ich versteh nicht, was du meinst“, erwiderte Aramis offenkundig verwirrt. „Ich soll mir eine Frau nehmen?“ „Wovon redest du?“, fragte er zurück. „Aber ich bin doch eine Frau.“ Die Antwort war langes, unbehagliches Schweigen. Athos konnte nicht glauben, was er da gerade gehört hatte. Aramis Worte hatten ihn wie ein Hammerschlag getroffen. „Du wusstest es nicht?“, stotterte Aramis unsicher. Athos schwieg noch immer, weil er einfach keinen klaren Gedanken fassen konnte. Nein, dass konnte nicht sein, dachte er immer und immer wieder. So etwas konnte er nicht übersehen haben. Sie hatten so viele Stunden miteinander verbracht, waren in so vielen unterschiedlichen Situationen zusammen gewesen. Er hätte etwas merken müssen. Niemand konnte für so viele Jahre alle Menschen in seiner Umgebung täuschen. Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. „Athos, sag etwas, bitte!“ Athos schwieg schon zulange. „Du bist also eine Frau!“, wiederholte er tonlos. „Du hast mich belogen“,sagte er so langsam und überrascht, als ging ihm die Bedeutung dessen erst jetzt auf. „Du hast uns alle belogen.“ Wut begann in seinem Magen zu brodeln und war jetzt deutlich aus seiner Stimme herauszuhören. „Ja“, erwiderte sie leise, „aber ich musste es tun, um mich zu schützen, weil es für mich außerhalb des Musketierchors kein anderes Leben mehr gibt. Und ich habe wirklich alles getan, um ein vollwertiges Mitglied der Musketiere zu sein.“ „Du meinst, ein vollwertiger Mann“, korrigierte er bissig und hart. „Das ist also dein oberstes Ziel, ein Mann zu sein? Darum bemühst du dich? Nun hast du es sogar hierher geschafft. Du musst stolz auf dich sein.“ Sie schwieg gekränkt, weil sie wusste, dass es als Beleidigung gedacht war. „Oh ja, das bin ich“, konterte sie stolz. „Wenn ich Glück habe, sterbe ich gleich und muss nicht verletzt auf die Schande warten, entdeckt zu werden.“ Aramis richtete sich zornig und enttäuscht auf, um das Zelt zu verlassen. „Und genau deshalb habe ich all die Jahre nichts gesagt!“, warf sie ihm als Abschiedsgruß entgegen. „Aramis“, hielt er sie zurück. „Komm wieder zurück!“ Ja, er war wütend und verletzt, aber zu allererst war er unglaublich erleichtert. Er spürte förmlich, wie ihm ein Stein von der Seele glitt. Jetzt konnte er Aramis Wirkung auf ihn verstehen und zulassen. Sie kam zögerlich zurück und ließ sich auf ihre Knie nieder. „Warum hast du es mir dann trotzdem gesagt?“ „Das habe ich doch schon gesagt. Wir könnten morgen sterben.“ „Dann hättest du dein Geheimnis mit ins Grab genommen, oder ich wäre unwissend gestorben.“ „Das wollte ich nicht. Ich wollte nicht sterben, ohne dir vorher gesagt zu haben, dass ich kein Mann bin.“ „Warum?“ Sie zuckte die Achseln. „Es war mir eben wichtig.“ „Und warum gerade ich?“ Aramis räusperte sich. „Da gibt es noch etwas, um was ich dich bitten wollte!“ Sie holte tief Luft, „Als mir bewusst wurde, dass ich morgen so leicht sterben könnte, dachte ich daran, was ich alles noch nicht kennengelernt habe und dann auch nie kennenlerne werde.“ Ihre Stimme stockte. „Vor allem diese eine Sache nicht.“ Sie beließ es vorübergehend bei einer bedeutungsvollen Pause. „Welche Sache?“ „Nun ja, bei einem Mann zu liegen.“ Athos zog verblüfft die Luft ein. Er hätte ja viel erwartet, aber nicht das. „Was?“ „Nun, viele Frauen tun das.“ „Das ist sicherlich richtig … „ wandte Athos ein. „Aber du?“ „Versteh mich bitte nicht falsch“, fügte sie schnell hinzu, „ich weiß, dass ich die letzte Frau bin, für die sich ein Mann interessieren könnte. Dazu müsste er ja erst einmal wissen, dass ich eine Frau bin. Als ich mich entschlossen habe, als Mann zu verkleiden, wusste ich, dass ich mich immer bedeckt halten muss und möglichst niemanden nahe an mich heranlassen darf, aber dann traf ich euch. Ich hätte nur nicht gedacht, wie einsam man sein kann. Selbst wenn ich ständig mit euch zusammen bin, bin ich alleine, weil ich mich immer verstellen und verstecken muss.“ Ja, manchmal war auch Athos einsam. Das war der Preis, wenn man niemand in seine Seele einließ. „Als ich sah, wie die Männer alle zu den Feldhuren rannten, weil sie morgen sterben könnten, dachte ich mir …“, wieder stockte sie und rang mit ihrer Bitte. „… es gäbe schlechtere Möglichkeiten als die letzten Stunden bei einer Frau zu verbringen und du würdest vielleicht auch …“ Ihre Stimme erstarb. „Und du willst dich zur Verfügung stellen“, vollendete Athos ihr Gestotter. „Nun ja, ich weiß, ich bin nicht das, was ein Mann unbedingt unter einer Frau versteht, aber so wählerisch scheint ihr oft nicht zu sein.“ „Mach ich solch einen Eindruck auf dich?“ Sie verstummte verlegen. „Nein!“ Aramis erhob sich. „Es war ein dummer Gedanke. Vergiss ihn, daran ist der Rum schuld. Ich gehe besser!“ Nein, nein, schrie etwas sehr laut und panisch in ihm. “Nein, geh nicht!“, forderte er sie leiser und nun schon das zweite Mal an diesem Abend auf. „Komm her!“ Und er klopfte auf den Platz unmittelbar neben seiner Matte. „Wirklich?“, fragte Aramis „Wirklich“, erwiderte Athos. „Kannst du vergessen, dass ich wie ein Mann aussehe und mich so benehme?“, flüsterte sie, als sie zu ihm hinkroch. Er sagte nichts, sondern schluckte nur. Seine Kehle war wie ausgedörrt. Er war noch immer hin- und hergerissen zwischen Fassungslosigkeit und Verlangen. Was sie hier taten, würde ihr Verhältnis zueinander für immer verändern. Aber Athos Körper hatte ohnehin schon entschieden, was der Verstand noch abwägte. Denn obwohl es im Zelt muffig roch, es kalt war, der Regen unaufhörlich gegen die Plane prasselte und man kaum die Hand vor Augen sah, war er noch nie in einer erotischeren Situation gewesen. Seit Aramis ihm offenbart hatte, dass sie eine Frau war, hatte es ihm den Atem verschlagen und er war noch immer nicht zu Luft gekommen. Ihm drängten sich unentwegt Fantasien auf, wie Aramis unter ihrer Uniform aussehen mochte und er war jetzt schon ungemein erregt. Sie waren sich jetzt so nah, obwohl sie sich im Dunkel kaum sahen. „Soll ich die Jacke ausziehen?“ „Warum nicht!“ Sie saß jetzt neben ihn, berührte ihn und wartete. Ihr Atem ging schneller, er konnte ihn hören und warm auf seinem Gesicht fühlen. Er spürte ihre körperliche Gegenwart, die ihm seit so vielen Jahren vertraut war, so deutlich, dass sein Magen sich zusammenkrampfte. Er hatte eine Frau noch nie so begehrt und für so unerreichbar empfunden. Dies und seine längere Enthaltsamkeit, machte Athos später für alles weitere verantwortlich. Er hob die Hand zu ihrer Wange, um sie zu küssen und gleichzeitig auf die Matte niederzudrücken. Er war so erregt, dass es schon schmerzte. Athos küsste sie. Erst weich mit geschlossenen Lippen, ihre Unterlippe zwischen der seinen. Sie hatte wirklich getrunken. Er konnte den Rum in ihrem Atem riechen und in ihrem Mund schmecken, als sie ihn öffnete. Ihre Lippen waren weich, die Mundhöhle schmeckte nach Rum und Aramis, ihr Körper unter ihm war weich, warm und anschmiegsam. Er drückte sie mit seinem ganzen Gewicht nieder, um jeden Zentimeter von ihrem Körper zu spüren. Seine Küsse wurden fordernd und leidenschaftlich. Mit der rechten Hand fuhr er Aramis Hüfte herab und streichelte ihr Hinterteil. Aramis schmiegte sich in seine Arme und ihr leises Stöhnen zeugte von ihrer Lust. Athos kämpfte jetzt mit ihrem Hosenbund, während sich sein hartes Glied an ihrem Bein rieb. Endlich gelang es ihm die Hose über die Hüften nach unten zu schieben. So viel Ungeduld, so viel Neugier, so viel angestaute Lust. Seine Hände fuhren über ihre Haut und das seidig glatte Gefühl unter seinen Fingern, ließ ihn alle Zurückhaltung vergessen. Mit einer raschen Bewegung streifte er seine Hose herunter und drang in Aramis ein. Seine Bauchmuskeln spannten sich an, jeder Muskel seines Körpers war versteift, er versuchte sich zu zügeln, doch nach wenigen Stößen war er zum Höhepunkt gekommen. Schwer atmend blieb er auf ihr liegen und vergrub den Kopf in ihrem Haar. Das Blut rauschte in seinem Kopf, sein Herz hämmerte im Schnelltakt in seiner Brust und seine Kehle rau und trocken. Das war ihm das letzte Mal als junger Mann passiert. Er hatte immer seine Bettpartnerinnen verführt und gekonnt zu ihrer Lust geführt. Aber noch nie war er derart ungestüm über eine Frau hergefallen. Doch Athos brauchte nur Aramis Körper unter sich, ihren warmen Atem in seinem Nacken und das Gefühl der nackten Schenkel an seinen Oberschenkeln fühlen und er spürte seine Erregung und die Lust erneut. Aramis klopfte leicht an seiner Schulter. „Athos!“, flüsterte sie leise. Er benötigte einen Moment, bis er begriff, dass sein Name vor dem Zelt gerufen wurde. „Ja!“ rief er zurück und wartete, ohne sich von der Stelle zur rühren. Alles in ihm, weigerte sich Aramis loszulassen. Athos seufzte, er wurde zum König gerufen. „Geh!“, flüsterte sie. „Ich warte kurz und folge euch.“ Athos nickte widerwillig und zog sich aus Aramis zurück. Er zog seine Hosen hoch und kämpfte sich mühsam aus dem Zelt. Mit dem Beiseiteschieben der Plane, schob er alle Gefühle, die gerade ihn ihm wüteten beiseite und konzentrierte sich auf die vor ihm liegenden Aufgaben. Kapitel 3: Vorbereitungen ------------------------- Aramis richtete sich auf und zog sich die Hose hoch. Sie tastete blind nach ihrem Wams und strich die Haare glatt. Die blonden Haare standen in krausen Büscheln ab. Sie sah bestimmt aus, wie ein zerrupfter Löwenzahn in Blond. Sie seufzte resigniert und unbefriedigt. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Es war zu schnell gegangen, so hektisch und unpersönlich. Kein zärtliches Streicheln, kein langsames Erkunden, kein gegenseitiges Entkleiden. Die Wirkung des Alkohols war verflogen und zurück blieb mit ihr im Zelt die Leere. Was hatte sie sich denn erhofft, fragte sie sich ironisch. Dass Athos allein durch die Tatsache, dass sie sich ihm offenbarte, übersah wer sie war? Ein hosentragendes, kämpfendes Mannsweib, die so gut darin war den Mann zu spielen, dass niemand es durchschaute? Sie war der Begleiter, den man im Kampf gern an seiner Seite hatte, sie war der Zuhörer für derbe Sprüche, sie war der Freund, vor dem man über seine neueste Eroberung prahlte und ein willkommener Duellierpartner. Aber ganz sicher keine Frau, die begehrt wurde. Aramis rümpfte die Nase. Bei der Damenwelt sah das anders aus. Zu ihrer eigenen Verblüffung, empfanden die Frauen sie als sehr gutaussehenden Mann. Aber eben nur die Frauen. Aus tiefstem Herzen hatte sie sich etwas MEHR von Athos erhofft. Wir Frauen und unser dummes Herz, dachte sie, so schnell kann unser rationaler Verstand gar nicht arbeiten, wie wir das Hoffen anfangen. Aramis verfluchte den Rum und diesen Krieg, mit seinen Schrecken und dem ewigen Warten. Schuld an all dem, war das nerv tötende Kampfgejohle der Spanier. Seit Stunden hallte es schon durch die Wand aus Nebel und Regen zu ihrem Lager herüber und demoralisierte die ohnehin schon bedrückten Franzosen. Seit Wochen beobachtete sie, wie dieser undisziplinierte, überhebliche Haufen von Offizieren, versuchte unwissende Bauern zu Soldaten zu drillen und einen Krieg zu führen, von dem sie nichts verstanden. Dieser Feldzug verlangte einfach zu viel ab von ihr. Noch bevor es zu einer großen Schlacht kam, litt sie an den ständigen Menschen um sich herum, dem Lärm, den Dreck, der Rohheit. Das einzig Positive war die Aussicht gewesen, Tag und Nacht in Athos Nähe zu sein. Doch dann musste sie hilflos mit ansehen, wie er sich von ihr fernhielt und ihr auswich. Er und Porthos waren so etwas wie ihre zweite Familie geworden. Zwar nicht über Blutbande mit ihr verbunden, wohl aber durch die Jahre als Musketiere und Freunde. Sie hatte das nicht so gewollt, aber es war dazu gekommen und jetzt sah sie sich gezwungen, die Beiden Tag für Tag aufs Neue zu belügen. Sie vertrauten einander ihr Leben an, aber nicht die Wahrheit. Doch warum war sie bei Athos gewesen und nicht bei Porthos, um zu gestehen? Weil Porthos eben nicht so tiefgründige graue Augen besaß und Lippen die sie küssen wollte. Aramis seufzte erneut. Was hatte sie sich nur gedacht? Nun hatte sie einen Schritt in eine Richtung gemacht, der sie vielleicht für immer von Athos entfernen würde. Zu deutlich wurden ihr plötzlich die Konsequenzen ihrer Entscheidung bewusst. Wenn die Sache hier, wider erwarten, doch glimpflich für sie alle ausgehen würde, hatte sie die falsche Entscheidung getroffen und würde für den Rest ihres Lebens dafür büßen müssen. Der Alkohol hatte bei ihrem Entschluss zu Athos zu gehen und ihm alles zu gestehen, eindeutig zu viel mitzureden gehabt und sie zum Leichtsinn verführt. Oder war es doch ihre Einsamkeit und eine wirklich schwere Form von verliebtsein? Ich trinke nie wieder, dachte sie und verließ Athos Zelt. Und doch hatte Athos sie geküsst. Aramis blieb kurz stehen und strich sich lächelnd über die Lippen. Vor dem Zelt des Königs hielt sie dessen persönlicher Sekretär auf. „Soll ich auch an der Beratung teilnehmen?“ „Ich frage nach!“ Er wandte sich dem königlichen Zelt zu und tat genau dies. Henri d’Effiat hatte ein Organ wie eine Trompete, was man nicht gerade erwartete, wenn man einen menschlichen Kobold vor sich sah. „Sie sollen reingehen!“ Aramis nickte und trat ein. Als sie das Zelt betrat, stand Athos schon längst in der Nähe des Königs, zurückhaltend und souverän wie immer. Sein Gesicht verriet nichts. Sie sah ihn nicht an. Der Offiziersstab des Königs hatte sich zur Bestandsaufnahme im königlichen Zelt versammelt. Porthos war ebenfalls anwesend. Die drei Musketiere hatten es zu Befehlshabern von jeweils einem Bataillon geschafft. Allein, der Rangaufstieg zum Hauptmann, verschaffte ihnen nicht die Ehre, bei der militärischen Beratung des Königs und seinen Feldmarschalle anwesend zu sein. Es war, weil sie die „drei Musketiere“ seiner Majestät waren. Es war aber auch ein Umstand, den die anderen Offiziere nicht ganz verstanden, welche aufgrund ihrer Abstammung hohe militärische Posten innehatten. D`Artagnan litt leider an zu großer Jugend und war in die normale Musketierkompanie verbannt worden. Es war eng, im königlichen Zelt, wobei der breitschultrige Porthos einen nicht unerheblichen Teil davon in Anspruch nahm. Porthos sah ihr entgegen. „Wo warst du denn? Ich habe dich gesucht!“ „Ich bin herumgelaufen“, erwiderte sie und stellte sich neben ihn. Er sah sie lauernd an, dann erhellten sich seine Gesichtszüge. „Du warst bei einer Frau!“ Selbst wenn Porthos zu flüstern versuchte, war er laut. Nun sprach er mit seiner üblichen Lautstärke, worauf sich ihnen sämtliche Köpfe zuwendeten. Aramis entglitten die Gesichtszüge. Er haute ihr kräftig auf die Schulter, so dass sie nach vorne taumelte. „Na, endlich. Wurde auch Zeit!“ „Wie kommst du denn darauf?“ Ihr Gesicht brannte vor Scharm dunkelrot. „Du siehst so aus.“ Aramis sah aus, als bekäme sie ganz böse Kopfschmerzen. Sie strich sich peinlich berührt über ihr filziges Haar und war sich unangenehm der zerknitterten Jacke bewusst. Alle Anwesenden musterten sie pikiert. Nur Athos trug eine unbeteiligte Maske zur Schau. Warum sah Athos immer korrekt aus? „Kannst du das sein lassen?“, unterbrach ihn Aramis barsch. „Du meine Güte“, murmelte Porthos. „Welcher Hund hat dich denn gebissen.“ „Mein Gott, Porthos“ murmelte Aramis erbost zurück, „kannst du nicht einmal ein wenig Benehmen beweisen!“ Der Koloss schwieg beleidigt. „Ja, meine Herren, könnten wir uns jetzt wichtigeren Aufgaben zuwenden“, bemerkte der König ärgerlich und alle Köpfe wendeten sich ihm schuldbewusst zu. Ludwig blickte sorgenvoll, fast ängstlich seine Offiziere an. Er wusste, was für Frankreich auf dem Spiel stand. Neben ihm saß der Mann, der ihn zu diesem Feldzug getrieben hatte, nachdem Diplomatie und Geld versagt hatten. Richelieu war erst fünfzig und sah doch aus wie ein Greis, ausgemergelt, abgemagert und ergraut. Auch jetzt plagte er sich mit seinen Geschwüren und der Übermacht der Spanier. Die grauen Augen über der Habichtnase glänzten fiebrig. Der Kardinal reagierte auf schlechten Nachrichten mit Krankheit. „Was haben wir?“ „10 000 Fußsoldaten, 5 000 Reiter, 23 Kanonen, eure Majestät!“ „Und die Spanier?“ Oberfeldmarschall Herzog Bernard von Sachsen-Weimar räusperte sich. „13800 Infanteristen, 6200 Kavalleristen und 60 Kanonen.“ „Ist das sicher?“ „Ja, die Spanier wollten, dass unsere Spione das sehen. Sie wissen, dass sie in der Übermacht sind und sie wollen, dass wir das wissen.“ Die Musketiergarde begleitete ihren König auf seinen Feldzug und auch Richelieu hatte das Regiment mit seinen Leuten verstärkt. Aber hier stand Ludwig nun, mit einem viel zu kleinem Heer gegen die kriegserprobten Spanier und zerrte an dem Unvermögen seiner unfähigen Offiziere. Ein Teil seines adligen Majordomos hatte sich abgesetzt. In den Jahren seiner Macht als mächtigster Minister des Königs von Frankreich, hatte Richelieu erheblichen Ehrgeiz darauf verwendet, die Macht des Adels, mit seinen zahllosen alten Privilegien zu brechen, um die Autorität und die Macht der Krone zu stärken. Die Adligen nannten ihn das Ungeheuer und obwohl die Maßnahme aktiv in den Krieg einzugreifen mit dem König abgesprochen war, wussten sie, dass es Richelieus Feldzug war und so hatten sie ihm den Rücken gekehrt. Hinzu kam, dass Richelieu einen landlosen deutschen Fürsten den Posten des Oberbefehlshabers angeboten hatte. Mit dem Versprechen, dass Bernard von Sachsen-Wismar den Landteil Elsass einschließlich der Landvogtei Hagenau erhalten sollte, war der Herzog ein Mann von Richelieus Gnaden und damit ein willkommener Feind für den französischen Hochadel. „Wir bräuchten Charles d’Albert de Luynes und seine 1 500 Mann“, warf Richelieu ein. „Aber er ist noch in der Provence. Der Bote wird ihn und seine Männer nicht rechtzeitig zu uns bringen.“ „Können wir die Schlacht noch hinauszögern?“ „Nein, Majestät, die Spanier suchen die Entscheidung.“ „Und nun meine Herren“, fragte der König und ließ seinen Blick über die versammelten Männer schweifen und blieb bei seinem neuen Oberfeldmarschall hängen. Der Herzog bedachte die Anwesenden mit dem lauernden Blick eines Jägers. In jeder anderen Hinsicht, schien er ein Durchschnittsexemplar zu sein. Ein bisschen zu fett, ein bisschen zu kahlköpfig, ein bisschen zu untersetzt, aber ungemein ehrgeizig. „Gut, meine Herren, folgende Aufstellung. Bei der Stadt möchte ich vier Schwadrone Panzerreiter, 14 Kanonen davor, dazwischen Musketiere. Fünf Divisionen zu 1 000 Musketieren und Pikenieren im Zentrum und an ihren Seiten Reiter. Im linken Flügel Kavalleristen und Fußtruppen, sieben Kanonen, vereilt zu einer langen Kette. Reiter und Schützen in zweiter Reihe und ich will eine dritte Reservereihe!“ Dabei sah er sie alle so durchdringend an, dass es schwerfiel dem Blick nicht auszuweichen. Der König nickte. „Wir brauchen jedoch unbedingt einen Ersatz für d’Lynes als Leutnant.“ Sein Blick wandte sich synchron mit dem des Kapitäns der Musketiere Athos zu. Zwischen dem König und D`Treville hatte vorher eine Absprache stattgefunden. „Der Kapitän sagte mir, Ihr seid ein d'Autevielle, Athos.“ Athos schnappte erschrocken nach Luft. Alle Augen wendeten sich dem stillen Musketier zu, dem die Überraschung im Gesicht geschrieben stand. Athos machte den Mund auf und klappte ihn wortlos wieder zu. „Seid Ihr es nun?“, fragte der Ludwig ungeduldig. „Ja“, gestand Athos mit schwacher Stimme und unbehaglichen Gesichtsausdruck. „Aber nicht der älteste Sohn meines Vaters ….“ „ … und damit ohnehin für die Offizierslaufbahn vorgesehen“, mischte sich der Kapitän ein. „Kapitän!“, rief Athos heiser aus. „Ihr hattet mir versprochen, über meinen Namen zu schweigen.“ „Tut mir leid, mein Junge. Schwere Zeiten, erfordern schwere Maßnahmen. Wir brauchen gute Offiziere, aber wir können nicht einfach jeden beliebigen Soldaten ernennen.“ „Und Eure Familie leistet Frankreich schon seit vielen Generationen als Offiziere gute Dienste“, sagte Ludwig. „Ja, das ist richtig, aber …“ „Euer Vater war Leutnant, nicht wahr?“ „Ja“, erklärte Athos hilflos. Der König sah ihn fragend an: “Was habt Ihr, Athos? Warum wollt Ihr Euren Namen nicht tragen? Nur weil Ihr Eurem Vater nicht gehorchen wolltet? Ihr seid nicht der erste Sohn, der etwas anderes für sich will als seine Eltern.“ „Ihr kennt meinen Vater nicht, Majestät. Für ihn gilt nur sein Wort.“ „Nun, auf unser Wort wird er wohl hören! Nun gut, Monsieur d‘Autevielle, Ihr werdet die zweite Division befehlen!“, entschied er. „Hiermit ernenne ich Euch zum Leutnant. Ich brauche Euch als Befehlshaber. Euer Vater wäre sicherlich stolz auf Euch. Wenn diese Sache hier beendet ist, könnt Ihr meinetwegen bei unserer Rückkehr wieder nur Musketier sein.“ „Wie Ihr befehlt, Eure Majestät!“ Athos verbeugte sich leicht. Ludwigs erster Minister hüstelte gequält, wusste aber nichts einzuwenden, da sein eigener Gefolgsmann im letzten Gefecht verwundet wurde. Aramis sah, wie Athos Gesicht sich verschloss und er einen Schritt in den Schatten zurücktrat. Gehorsam, aber resigniert, war er in seine neue Position getreten. Ach, Athos, fragte sich Aramis, zu was wollte dein Vater dich zwingen? Vor welcher Vergangenheit bist du geflohen? Aber wir haben immer gewusst, dass das Musketierdasein zu klein für dich ist. Die Beratung war beendet und alle Anwesenden verließen das königliche Zelt. Es waren nur noch zwei Stunden bis zur Morgendämmerung. Mit Sonnenaufgang, sollte sich das französische Heer in Gefechtsbereitschaft befinden. Es war Anfang Mai und obwohl das Frühjahr 1636 ungewöhnlich kalt und mit späten Frosteinfällen einherging, verschwand die Nacht schon in der fünften Stunde nach Mitternacht. Athos hielt Aramis am Arm fest und zog sie von den Anderen weg. „Flieh!“ Aramis sah ihn verwundert an. Wegen der Dunkelheit konnte sie seinen Gesichtsausdruck nicht richtig lesen, aber seine Stimme klang mehr flehend, als fordernd. „Noch kannst du verschwinden!“ Sie schüttelte den Kopf, doch er unterbrach sie: „Aramis, du kannst sterben da draußen. Oder in deinem Fall noch schlimmer, verwundet oder gefangen genommen werden und was dann? Sie werden entdecken, dass du eine Frau bist.“ Aramis schwieg, mit einem dicken Kloß im Hals. Er sorgte sich um sie. Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Herz vor heimlicher Freude einen Sprung machte. „Ich kann nicht“, flüsterte sie mit brüchiger Stimme. „Außerdem hast du es doch gehört. Meine Einheit wird in der dritter Reihe stehen. Mein Bataillon ist als Reserveeinheit vorgesehen. Genauso gut kannst du dich um Porthos und D`Artagnan sorgen.“ „Das tu ich. Aber du bist eine Frau und um dich sorge ich mich mehr“, beharrte er. Aramis zog ärgerlich die Augenbraue zusammen. Er schloss die Hand fester um ihren Oberarm, „Ich weiß, dass du stur bist, aber du kennst den Krieg nicht. Im Kampf wird etwas in den Männern entfesselt. Sie morden, sie rauben, sie vergewaltigen, sie werden zu Tieren.“ „Athos, du machst dir um mich unnötige Sorgen. Ich werde wahrscheinlich den ganzen Tag hinter einem Pferdehintern stehen und mich fragen, wann die Schlacht zu Ende ist. Ich bin da hinten in der dritten Reihe vollkommen sicher glaub mir. Der Kapitän hat irgendwie dafür gesorgt, dass ich zu einer der Reservetruppen gehöre.“ „Der Kapitän? Weiß, der Kapitän, dass du eine Frau bist“, flüsterte Athos ungläubig. „Ähm, nun ja“, gab sie zu. Athos machte eine Pause. „Das vorhin im Zelt …“ Er unterbrach sich. Aramis hielt den Atem an. „Ja?“, fragte sie vorsichtig. „Du hast mich überrascht. Ich hoffe, wir können noch einmal in Ruhe REDEN, wenn das alles hier vorbei ist.“ Aramis nickte. „Mach dir um mich keine Sorgen und pass auf dich auf.“ Damit riss sie sich los und ging. Kapitel 4: Die Schlacht beginnt ------------------------------- Aramis trat zu ihrer Gruppe. Es lag diese besondere Stimmung in der Luft, angereichert mit Angst, Testosteron und viel Tatendrang. Eigentlich meldeten sich gerade die Grundbedürfnisse ihres Körpers, - Essen, Schlafen, sofort, doch dafür war nun keine Zeit mehr. Die Sonne ging auf. Die Priester begannen mit der Segnung der Soldaten. Sie musterte ihre Männer. Es handelte sich um ein Bataillon von Infanteristen, bewaffnet mit der anderthalb Meter langen Muskete, dessen Feuer bis zu 250 Meter weit reichte. Ihr Bataillon war mit zwei anderen Einheiten zu einem Regiment zusammengefasst worden. Bei Angriff des Feindes, marschierten die Musketierkompanien als große geschlossene Formation auf das Schlachtfeld. Der Schuss einer einzelnen Muskete war zu ungenau. Deshalb musste eine ganze Einheit bei Angriff gleichzeitig feuern, um die Trefferzahl zu erhöhen. Eine gut funktionierende Einheit feuerte sekundengenau zeitgleich. Die Männer sahen sie vertrauensvoll an. Anfangs hatte sie Sorge gehabt, von den mitunter rauen Männern wegen ihres weibischen Aussehens abgelehnt zu werden, aber dem war nicht so. Die Männer behandelten sie mit Respekt. Vielleicht lag es daran, dass sie den Eindruck erweckte zu wissen was sie tat. Der einfache Soldat wollte Befehle empfangen und darauf vertrauen, dass sie sinnvoll waren. „Hauptmann Aramis?“ Aramis wandte sich um und salutierte, als sie den Leutnant der vierten Division vor sich sah. „Sir?“ „Ihr sollt mit Euren Männer nach vorn an die Frontlinie und das 14. Regiment verstärken. Ihr untersteht jetzt Leutnant Picardie.“ „Aber wir sollen als Schützen die Reserve verstärken!“ „Jetzt nicht mehr! Das ist die direkte Anweisung von Feldmarschall de Gûines. Wollt Ihr Euch dem widersetzen?“, fragte er scharf. „Nein, natürlich nicht!“ sagte Aramis und nickte ihren Männern zu. Brav marschierten sie durch die Reihen der wartenden Musketiere und Kavalleristen, um hinter den Kanonen der Artillerie Stellung zu beziehen. Das Mittelfeld und die rechte Seite waren durch den Wald und hastig ausgehobene Wälle und Gräben geschützt. Doch hier, auf der linken Seite, faserte die Aufstellung auf dem freien Feld aus. Keine Gräben, Wälle, Häuser, Hügel oder Wälder hinter denen man sich verschanzen konnte. Deshalb sollten sie die fordere Reihe verstärken. Hier bestand die Gefahr zurückgedrängt oder seitlich angefallen zu werden, damit der Feind dem Mittelfeld in den Rücken fallen konnte. Vor ihnen standen nur noch die Kanonen, dann freies Feld, über dem der Nebeldunst lag. Hinter seinem grauen Schleier wartete der Feind auf den Angriff. Aramis Herz begann schneller zu schlagen, als sie die weite gespenstig leere Ebene vor sich sah. Es raste vor Angst und Schrecken. Das ganze Heer wartete auf den Beginn der Schlacht, im Nebeln gespenstig verschwommen und vollkommen unbeweglich und still. So wartete es, bis zur sechsten Morgenstunde und weiter, auf einen Gegner, den es nicht sehen konnte, auf ein Zeichen, dass er endlich angriff. Doch die Spanier hatten Zeit und ebenfalls keine Lust, einen unsichtbaren Feind anzugreifen. Das stille Warten zermürbte die Männer, welche diszipliniert in ihren Reihen standen, in die neblige Wand starrten, hinter der zwanzigtausend feindliche Augen lauerten. Der weiße Dunst verzehrte alle Laute und ließ sie von überall und nirgendwo erschallen. Plötzlich löste sich ein einzelner Kanonenschuss und schlug krachend ein. Die Erde bebte. „Wer hat die Kanone abgefeuert?“ brüllte einer der obersten Befehlshaber des linken Flügels. Keine Antwort aus seinen Reihen, dafür die Entgegnung der kaiserlichen Armee, die jetzt das Feuer eröffnete. Der eine Kanonenschuss, wurde zum Startsignal. Es war mittlerweile sieben Uhr. Die Schlacht hatte begonnen. Beide Armeen feuerten ihre Kanonen ab. Wo der Nebel sich lichtete, quoll nun Pulverdampf hoch. Die Angst hatte Aramis jetzt vollkommen in seiner Klaue. Sie benötigte all ihre Kraft, um nicht Hals über Kopf in Panik zu verfallen und zu fliehen. In den Gesichtern ihrer Männer sah sie dieselbe furchtsame Anspannung. Sie waren dazu verdammt bewegungslos zu warten, während die Welt um sie herum erzitterte und sich verdunkelte. Der Rauch brannte in den Lungen, der Staub verklebte die Nasen, die Ohren klirrten von den lauten Explosionen. Als die Kanonen plötzlich schwiegen, hallte es noch immer in ihren Ohren. Dann kam der Befehl zum Angriff. In Reihen stürmten die Pikeniere und Musketiere gegen die kaiserliche Armee los. Die Reiter gaben ihren Pferden die Sporen und preschten los, um aus kurzer Distanz mit Degen oder Pistole dem Feind den Garaus zu machen. Im Rauch erwarteten sie die Spanier. Nach nicht einmal einer Stunde, bedeckten so viele Tote das Feld, dass der linke Flügel sich zurückzuziehen begann. Die Übermacht der Spanier war einfach zu stark für Aramis Regiment. Sie versuchte ihre Männer zusammenzuhalten, geordnet zusammenzuführen und in Salvenfeuer die anrückenden Spanier unter ständigen Beschuss zu halten. Aber die einzelnen Bataillone begannen sich immer mehr zu zerstreuen. Die Kanonen hatten wieder mit dem Beschuss angefangen. Jederzeit könnte eine der Kanonenkugeln zu nah bei ihnen einschlagen. Es war die Hölle, ein Lärmkessel, aus Chaos, Hitze, Staub und Blut. Sie hatte schon aufgegeben sie selbst zu sein. Sie war eine Puppe, dazu erschaffen Befehle auszuführen, mechanisch, taub und gefühllos. Schmerz, wie eine glühende Zange, fuhr plötzlich durch ihren Oberschenkel. Ihr Bein gab augenblicklich unter ihr nach und sie fiel in den Schlamm. „Der Hauptmann ist getroffen!“, schrie einer ihrer Männer. Sie versuchte sich aufzurichten, aber ihr Bein wollte ihr Gewicht nicht tragen. Nach der vergangen Nacht und einem ganzen Morgen im Gefecht, waren ihre Kraftreserven restlos aufgebraucht. Ihre Hände fuhren hilflos durch den Schlamm, in dem sie lag. Sie schaute auf. Sie sah Männer tödlich getroffen zu Boden sinken, sie sah die Leichen die das Feld bedeckten, sie sah das blutverschmierte Eisen in den Händen der Männer, die vor Blutdurst verzehrten Gesichter der Soldaten. Aus Schrecken wurde Panik. Aramis versuchte sich auf den Händen vorwärts zu ziehen, weg von dem Inferno, dem tobenden Abgrund um sie herum. Doch ihre Arme versanken im Schlamm. Sie schluchzte trocken auf. Etwas in Aramis gab auf. Ihre Männer rückten zusammen, um einen Schutzwall für ihren Hauptmann gegen die feindliche Übermacht zu bilden. Ein kleiner Wall, gegen eine Unzahl an feindlichen Angreifern, die sie unbarmherzig bedrängten. Athos Arm schmerzte vom Handgelenk bis zum steifen Schulterblatt. Seit zwei Stunden kämpfte er nun schon ununterbrochen und unermüdlich. Es hatte etwas für sich, nur als einfacher Gefreiter den direkten Gegner zu bekämpfen. Er versuchte abzuschätzen, wie die Schlacht verlief, wo die einzelnen Truppenteile standhielten und wo sie bedrängt wurden, aber um ihn herum herrschte scheinbares Chaos, Nebel und Qualm. Boten eilten über das Schlachtfeld und überbrachten die Meldungen, wie es anderorts aussah. Der mittlere und der rechte Flügel hielten die Gegenangriffe der kaiserlichen Armee stand, doch an der linken Seite rückte der Feind nun vor. Viele hohe Offiziere waren dort gefallen und verwundet. Kollabierte die Seite, stand der Feind vor dem Zentrum. Aber Oberfeldmarschall Bernhard von Sachsen-Wismar hatte für eine zweite Reihe und Reservetruppen an der linken Seite gesorgt. Es galt das Zentrum zu halten. Athos gab der Artillerie den Befehl, die kaiserliche Armee erneut unter Beschuss zu setzen, um die Spanier zu erschüttern. Die Kanonen wurden gezündet. Es dauerte einige Minuten, doch dann begann die Apokalypse aus berstender Erde und dunklem Rauch auf der gegnerischen Seite. Zeit für Athos, ein wenig zu Atem zu kommen. Er erteilte einige Befehle und wendete sein Pferd zum Hügel hinauf, um über das Schlachtfeld schauen zu können. Das Mittelfeld behauptete sich hinter Wällen und dem schützenden Wald und seinen beiden Flügeldivisionen. Der Oberfeldmarschall befehligte diese Divisionen selbst. Auch das rechte Feld hielt stand. Doch auf der linken Seite, wo nur das freie Feld zwischen den Franzosen und den Spaniern lag, war die Hölle los. Kaiser Ferdinand II hatte seine größten Truppenteile dem schwächsten Flügel Ludwigs gegenübergestellt. Es war als, würden die Spanier die linke Seite regelrecht überrennen. Die Fußsoldaten wurden immer mehr vom Gegner an die Straße zurückgedrängt. Noch hielt die zweite Reihe die Stellung. Doch wo stand die Reserve? Plötzlich war Porthos an seiner Seite. Beide nickten sich erleichtert zu. Sie waren unverletzt und am Leben. „Das sieht nicht gut aus, da drüben!“ meinte der Riese, der seinem Blick gefolgt war. „Wo ist die Reserve vom linken Flügel?“, fragte Athos. „Ich weiß nicht“, gab Porthos zu. Athos wandte sich an einen der Boten. „Was ist mit der Reservetruppe vom linken Flügel passiert? Haben sie sich zurückgezogen?“ „Nein, die hat der Herzog doch schon vor Schlachtbeginn aufgelöst und an die Frontlinie geschickt. Um die Regimenter dort zu verstärken. Die Reserve befindet sich mitten im Kampf!“ Athos Kopf fuhr wie an einem Seil gezogen, zur heftig umkämpften Frontlinie. Aramis steckte mitten dort drin. Er spürte, wie sich sein Herz vor Furcht zusammenzog. Er sah Porthos an. Wusste dieser was das bedeutete? „Was?“ Athos Lippen formten tonlos Aramis Namen. Er riss scharf sein Pferd herum. „Ein Bataillon Reiter zu mir. Die Spanier brechen durch den linken Flügel!“, befahl er und galoppierte los, ohne auf die Ausführung seines Befehls zu warten. Rote Schliere tanzten vor seinen Augen und machten ihn blind, für das was direkt um ihn herum geschah. Sein Pferd hatte Schaum vor dem Maul, so scharf und unbarmherzig ritt er es an der mittleren Frontlinie entlang zum linken Flügel, mitten hinein ins Getümmel. Ihm war es egal, ob ihm Freund oder Feind, unter die Hufe gerieten. Dort herrschte das reinste Chaos. Es war unmöglich, Aramis unter all den Soldaten zu finden. Immer mehr französische Soldaten fielen und wurden von Soldaten in kaiserlicher Uniform ersetzt. Schon lag sein Schwert wie ein verlängerter Arm in seiner Hand und fuhr durch die Leiber der feindlichen Soldaten. Er sah sich um. Wo war Aramis? „Seid ihr die Verstärkung? Wir sollen uns zur zweiten Reihe zurückziehen“, begrüßte sie einer der Hauptmänner an der vorderen Front. Er brüllte gegen den Lärm der einschlagenden Kanonenkugeln. „Wir müssen das Feld aufgeben.“ „Wo sind die Regimenter eurer Infanterie, das zweite Bataillon?“ brüllte Athos zurück und riss den Arm vor das Gesicht, als ihn mit einem Schwall heißer Luft, explodierte Erde um die Ohren flog. Der Hauptmann zuckte die Schultern. „Wer kann dass bei dem Durcheinander das hier herrscht schon sagen. Vielleicht sind sie alle gefallen oder verstreut!“ Der Kanonenhagel hatte das Feld in eine Kraterlandschaft verwandelt. Die Erde explodierte erneut und hinterließ einen Flecken zerfetzter Leiber. „Ihr solltet auch von ihr verschwinden. Wir überlassen den Spaniern das Feld.“ Der Hauptmann zog seine Männer zurück. „Wo ist Aramis?“ fragte Porthos und zügelte sein Pferd. „Ich weiß es nicht!“ Athos bahnte sich voller Entsetzen den Weg. Er sah nur Leichen und aufgewühlte Erde. „Was suchst du hier?“, fragte er Porthos fahrig. „Du gehörst doch zum Mittelfeld.“ Porthos reckte den mächtigen Brustkorb. „Ich lasse doch Aramis nicht im Stich! Und ich habe meine Jungs mitgebracht!“, erklärte er stolz und wandte sich an einen seiner Kavalleristen, die getreu hinter ihm auf Befehle warteten. „Nicolas, halt uns die Spanier vom Hals, während wir suchen!“ „Jawohl, Hauptmann Porthos.“ Porthos rundes Gesicht leuchtete auf. Wie lang waren Aramis Haare gewesen? War sie so groß? So schlank? Athos hätte sie sofort an ihrer Art sich zu bewegen erkannt, doch in diesem Durcheinander von Toten und Verletzten konnte er den einen nicht vom anderen unterscheiden. Dort drüben lag ein Soldat mit blonden Haaren, in der Uniform der französischen Armee auf dem Bauch und dort noch einer, nur der Arm fehlte ihm. Es war nicht Aramis. Hinter der sanften Steigung lagen noch mehr Tote. Er rannte zu dem nächsten und wieder nächsten Toten. Porthos folgte ihm. Die Mienen mancher Toten waren verzehrt, andere wirkten friedlich. Er verschloss sich gegen die flehenden Bitten der Verwundeten und suchte weiter. „Was ist, wenn Aramis gar nicht mehr hier ist, sondern schon im Hauptfeld? Wir sollten von hier verschwinden, Athos, dass ist Wahnsinn!“ Widerwillig nickte Athos und ließ ein letztes Mal den Blick über die verwüstete Ebene gleiten. So viele Tote und Verletzte. Die Spanier attackierten sie mittlerweile von allen Seiten. Porthos hatte Recht, es war Wahnsinn, dass Leben seiner Soldaten sinnlos aufs Spiel zu setzen. Er wollte sich gerade umwenden, als sein Blick auf eine handvoll französischer Infanteristen fiel, die vergebens und allein versuchten, sich gegen die feindliche Übermacht zu wehren. Athos runzelte verwirrt die Stirn. Warum flohen diese Trottel nicht? Alle anderen französischen Soldaten hatten sich schon zur zweiten Reihe zurückgezogen. Hatte ihnen denn keiner den Befehl gegeben, die Stellung aufzugeben? Dann sah er den verletzen Soldaten mit den schmutzig blonden Haaren am Boden. Sie hatten Aramis gefunden und sie lebte. Er riss sein Pferd herum und galoppierte los. Porthos brüllte los, wie ein wilder Stier und haute seinem Pferd die Fersen in die Flanken. Ihre Bataillone folgten ihnen, wie ein todbringender Schweif. Kapitel 5: Das Feldlazarett --------------------------- Amaury Montfort hatte vor kurzem sein Studium zum Medikus abgeschlossen. Der Beruf des Arztes hatte keinen sehr guten Status, der des medizinischen Studenten einen noch viel geringeren. Dabei waren die leichtsinnigen und übermütigen Studenten und die blutschröpfenden und geldgierigen Ärzte selbst schuld an ihrem miesen Ruf. Amaury war noch nie in seinem Leben ausgelassen und übermütig gewesen. Er hatte seine Studien ernsthaft betrieben, sich über etliche Handlangerarbeiten das Studium mühsam finanziert, über Bücher bis in die Morgenstunden gebrütet und bis jetzt kaum genug verdient, um leben zu können. Und nun stand er hier, blutbespritzt und schweißnass von der anstrengenden Arbeit und vergessen waren all seine mühevoll erworbenen medizinischen Kenntnisse und Fertigkeiten. Statt einem Skalpell schwang er die Knochensäge und trennte Gliedmaßen ab, wie ein Holzfäller den Baum vom Stumpf. Und wie unbrauchbare Äste, wurden abgeschnittenen Gliedmaßen achtlos auf einen Haufen geworfen, der wuchs und wuchs. Amaury seufzte. Das war der Krieg. Für andere Gloria und Sieg, für ihn war es das, was auf seinem Operationstisch landete. Seit heute Morgen wütete die Schlacht. Er wusste nicht genau wie spät es war, aber die Mittagsstunden lagen jetzt hinter ihnen. Ein neuer Soldat, ein neuer Verwundeter landete auf seinem Tisch. Amaury hatte ohne Unterlass gearbeitet. Geschnitten, zerteilt, zersägt, entfernt, weggeworfen und zugenäht. Der Soldat war am Oberschenkel verwundet worden. Das Schrotgeschoss einer Muskete hatte mehrfach das Fleisch des Schenkels zerstört. Muskeln, Sehnen waren zerfleischt, Teile vom Knochen gesplittert. Amaury sah auf seinen Patienten nieder. Er seufzte, das Bein war nicht mehr zu retten. Es war so schade, den Körper eines jungen gesunden Menschen so nachhaltig zu zerstören, auch wenn es sein Leben rettete. Er nickte seinen Helfern zu und die beiden Männer hielten seinen Patienten fest. Der bäumte sich auf, als er das Messer in der Hand des Arztes sah, doch gegen die vereinten Kräfte der Sanitäter kam er nicht an. Amaury setzte eine Handbreit über der Schießwunde am gesunden Bein an. Beim ersten Schnitt von Amaurys Klinge begann sein Patient zu schreien. Amaury blendete die immer schriller werdenden Schreie aus und konzentrierte sich auf die Amputation. Er arbeitete mit grimmiger Entschlossenheit, ohne auf das Blut zu achten, dass ihn bespritzte, noch auf die markerschütternden Schreie, noch auf das grausige Geräusch, wenn die Knochenzange durch den Knochen fuhr. Als er das abgetrennte Glied in den Händen hielt, wimmerte sein Patient nur noch. Amaury hielt kurz inne, um sich den Schweiß aus den Augen zu wischen. Fünf Jahre mühevolles Studium und wohin hatte es ihn gebracht? In dieses stickig stinkende Feldlazarett, dass vor einer Woche noch ein Stallgebäude gewesen war. Er hasste den Krieg, mit seiner Sinnlosigkeit und seinem gewaltigen Verschleiß an menschlichen Körpern. Der Schmutz und die Brutalität stießen ihn ab. Auf einer Barre kam ein neuer Verwundeter herein. Der Mann wendete ihm sein Gesicht zu. Amaury erinnerte sich an ihn. Er hatte ihn vor ein paar Tagen das erste Mal gesehen. Der Mann war Hauptmann und hatte einen seiner verletzten Männer besucht und sich nach dessen Befinden erkundet. Er war von ihm fasziniert gewesen und seitdem ließ es ihm keine Ruhe mehr. Amaury nickte ihnen schnell zu, dass er diesen Verwundeten übernahm und schickte sie ans Ende des Stallgebäudes. Sein Patient war bei Bewusstsein, auch wenn seine Augen fast gläsern vor Schmerzen wirkten und das Gesicht so weiß wie eine Wand unter der Schmutzschicht auf seiner Haut. „Ich bin Doktor Montfort.“ Sein Patient nickte und stöhnte. „Mein rechter Oberschenkel, hinten!“, flüsterte er schmerzerfüllt und sah ihn mit angstgeweiteten Augen an. Als Montfort die Hand ausstreckte zuckte er zurück, als fürchte er sich vor dessen Berührung. Doch jeder Soldat hatte vor der Klinge der Ärzte mehr Angst, als vor dem Tod. „Keine Angst, ich will Sie nur umdrehen, um das Bein anzusehen.“ Zusammen mit seinen Helfern, drehten sie ihn auf den Bauch. Einer der Sanitäter zog ihm den Stiefel aus. Das Hosenbein war hinten blutdurchtränkt. Vorsichtig zerschnitt Amaury den Stoff, um die Wunde freizulegen. Er hielt den Atem an, aus Angst, dass das was er sah, ihn zur Amputation zwang. Musketenkugeln hatten den unteren Teil des rechten Oberschenkels getroffen. „Amputieren Sie!“ Amaury schrak zusammen, als Doktor Jakstat plötzlich neben ihm stand. In der Hand ein blutgetränktes Tuch mit dem er sich die Hände abwischte. Sein Patient keuchte auf. „Das Bein ist glatt, wie ein Mädchenhintern. Wie alt ist der Junge denn?“ Er blies ihm seinen schwülen Atem in die Ohren, als er versuchte über Amaurys Schultern zu blicken. Sein Patient zitterte jetzt wie Espenlaub. „Nein, ich werde die Kugeln einzeln aus dem Fleisch ziehen!“, erwiderte Amaury. „Blödsinn, dazu ist zu viel von dem Schrot ins Fleisch eingedrungen“, schnorrte der alte Arzt. „Irgendwas bleibt immer zurück und dann gibt’s eine Blutvergiftung und der arme Junge stirbt an Wundbrand. Bein ab und ein anständiger Stumpf, damit halten Sie ihn am Leben.“ Amaury schüttelte den Kopf. „Nein!“, sagte er und drückte sanft den Oberkörper seines Patienten, der vor Schreck aufgefahren war, auf die Pritsche nieder. „Ich werde versuchen das Bein zu retten.“ Ein seltsames Kribbeln ging durch seine Hand und er beließ sie vorerst dort. „Kaum runter von der Universität und noch grün hinter den Ohren, aber alles besser wissen wollen, hä?“, knurrte der Alte. „Ich habe den größten Respekt vor Ihrem Wissen, Doktor Lakstat“, erwiderte Amaury bestimmt. „Doch ich denke, eine Amputation ist nicht nötig.“ „Pä“, stritt sein Kollege. „Dann prophezeie ich Ihnen, dass der Junge stirbt. Sie haben ja noch nicht einmal etwas, um ihn zu betäuben. Er wird Wundstarrkrampf bekommen und das ist kein schönes Sterben. Das ist elendiges Krepieren.“ „Die Gefahr für Wundstarrkrampf ist genauso groß bei einer Amputation. Sie können nicht wissen, wie es ausgeht.“ „Was Sie machen, kostet Zeit und die haben wir nicht.“ „Dann lassen Sie mich jetzt meine Arbeit machen!“ Das kam bissiger, als es Amaury beabsichtigt hatte. Der Alte entfernte sich zeternd, um das eine oder andere Bein abzusägen. Amaury seufzte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Doktor Jakstat hatte Recht. Wofür gab er sich die Mühe und warum legte er sich mit seinem Kollegen an? Schon gar nicht mit einem älteren Kollegen. Üblicherweise war Amaury zu schüchtern dazu. Er sah auf das Bein nieder, was so viel Ungemach bereitete. Weiß und blutverschmiert. Irgendwie erschien es ihn wie Blasphemie, einen Teil von diesem jungen Mann zu entfernen. „Sie müssen sich zwingen, sich nicht zu bewegen, egal wie schlimm die Schmerzen sind“, beschwor er ihn. „Bei dem kleinsten Zucken könnte es sein, dass Teile der Kugel tiefer ins Fleisch eindringen!“ Sein Patient nickte und seine Helfer griffen zu. Amaury fuhr mit dem Finger entlang der Wundränder über die bloße Haut am Oberschenkel. Nein, keine Amputation entschied er. Es wäre zu schade, um dieses wohlgeformte Bein. Er befahl neues Wasser für seine Hände und das Skalpell zu bringen. Er atmete noch einmal tief durch, dann senkte er die Klinge ins Fleisch, um an die erste Kugel zu kommen. Sein Patient schrie grell, dann fiel er in Ohnmacht. Als Aramis erwachte bestand ihre Welt aus Schmerzen. Sie war nur kurz weggetreten, doch der Schmerz hatte sie unvermittelt zurückgeholt. Es war das Eine angeschossen oder mit dem Schwert verletzt zu werden, doch zu fühlen, wie in ihrem Fleisch gebohrt und geschnitten wurde, ging über jedes annehmbare Schmerzempfinden hinaus. Aramis Körper erreichte eine Schmerzintensitiät, dass sie glaubte, ihr Verstand würde daran zerbrechen. Aramis fiel erneut in Ohnmacht. Sie erwachte mit Übelkeit und schummriger Benommenheit. Ihr Verstand und ihr Bein waren ihr wohl vorerst erhalten geblieben, denn sie registrierte mit plötzlicher Schärfe, wie die Hand des Arztes ihren Oberschenkel einbandagierte und dem Bereich zwischen ihren Schenkel gefährlich nahe kam, wo etwas sein sollte, was nicht da war. Unwillkürlich zuckte sie zusammen und richtete sich auf. Die Hand des Arztes drückte sanft ihren Oberkörper auf die Pritsche zurück. „Ich bin gleich fertig. Sie müssen still halten!“, sagte er und arbeitete weiter an ihrem Bein. Aramis wartete angespannt wohin die Hand wanderte und war froh, ihr Gesicht in der Pritsche verbergen zu können. In ihrem Bein wütete der Schmerz wie Feuer. Aber es war noch dran. Und noch nie war sie so dankbar gewesen zwei Beine zu haben. Wie knapp war sie davon gekommen, eines davon zu verlieren? Was wäre gewesen, wenn man es ihr abgenommen hätte? Eine verkrüppelte Frau vollkommen mittellos und allein auf dieser Welt. Was wäre gewesen, wenn man ihr die Hose ausgezogen hätte? Zu viele Gedanken für ihren müden schweren Kopf. Zu viel Schmerz für einen einzigen Körper „So, geschafft!“ Doktor Montfort und ein Sanitäter rollten sie vorsichtig von der Pritsche, um sie auf einen der Decken am Boden zu legen. Sein vorheriger Bewohner machte ihr neuen Platz, indem sein lebloser Körper teilnahmslos nach draußen gewuchtet wurde. Es war nur ein kurzer Abstand von der Pritsche zum Boden und dennoch wimmerte Aramis vor Schmerzen und drohte erneut ohnmächtig zu werden. Als sie endlich lag, war sie schweißgebadet und vor ihren Augen tanzten Schliere. Unter ihrer Kniekehle wurde eine zusammengerollte Decke als Stütze gelegt. Der Boden war hart und dreckig. Sie sah ihren Arzt an. Er war jung. Vielleicht so alt wie sie. Auf dem ersten Blick unscheinbar und viel zu ernst. Das vertrauensvolle Gesicht von einem schüchternen Menschen, dem man zu schnell wieder vergaß. Er hat müde Augen, dachte sie. Für einen jungen Menschen sieht er zu abgekämpft aus. „Vielen Dank“, flüsterte sie heiser, mit zugeschnürter Kehle und erneuten Tränen in den Augen. „Ich habe nur meine Arbeit getan“, sagte er und lächelte. Das Lächeln erhellte sein Gesicht und machte es schön. „Doch die Gefahr ist keineswegs vorüber. Es können immer noch Komplikationen auftreten. Es könnte noch etwas in der Wunde sein oder sie kann sich entzünden und Wundstarrkrampf auftreten.“ Aramis nickte schwach und schloss ihre brennenden Augen. Sie war so müde, so unendlich müde, aber alles tat so weh. Ein greller Schrei durchbrach das allgemeine Geräuschkonzert aus Wimmern und Stöhnen. Erschrocken riss sie die Augen auf und sah wie er sie anstarrte. Er sah schnell weg. Sie kannte diese Neugier im Blick mancher Menschen, wenn sie die Frau in ihr sahen ohne sie als solche zu erkennen. Sie fürchtete diesen Blick. „Es kann noch so viel schief gehen“, murmelte er, ohne sie direkt anzusehen, stattdessen starrte er auf ihr nacktes Bein und wusste plötzlich abermals nicht wohin mit seinem Blick. Er räusperte sich. „Brauchen Sie irgendetwas?“ „Wasser?“, krächzte sie. Er nickte und verschwand. Wie lange konnte sie ihr Geschlecht unter den wachsamen Augen eines Arztes verbergen? Aber sie war zu müde und krank, um etwas dagegen tun zu können. Montfort war mit einem Becher Wasser zurückgekommen. Er schob eine Hand unter ihren Kopf, um ihr zu helfen und hielt den Becher an ihre Lippen. Ein wenig Wasser rann in ihren Mund und viel daneben. Fast ruckartig zog er seine Hand unter ihrem Kopf hervor, erhob sich und verschwand. Aramis hatte zu zittern begonnen. Sie wusste, dass sie sich nicht wie ein Mann, wie ein Soldat benahm, sondern genauso war wie sie sich fühlte – schwach und hilflos. Wenn sie doch nur schlafen könnte, dachte sie. Doch wer konnte das bei diesen Schmerzen und dem ewigen Schreien? Und mit diesem Gedanken dämmerte sie weg. Amaury war noch einmal zurückgekommen und sah auf seinen schlafenden Patienten nieder, nahm sich einen gestohlenen Moment, um ihn näher zu betrachten. Dann ging er, um seine Schlacht zu kämpfen, gegen Verwundung und Tod. Doch ab und zu wanderte sein Blick zum hinteren Teil des langen Stallgebäudes, das jetzt das Feldlazarett war und war beruhigt, dass sein neues Studienobjekt vorerst in seiner Nähe bleiben musste. Kapitel 6: Machtkampf --------------------- Die Stille des Todes lag über dem Schlachtfeld. Selbst Vögel flogen nicht darüber hinüber. Die Felder waren verwüstet, die Straßen zerstört, große Teile vom Wald gerodet. Es würde Jahre vergehen müssen, bis die Gegend wieder aussah, wie vor dem Einfall der beiden Armeen. Hier und da stöhnte ein Sterbender und hier und da fanden die Sanitäter noch einen Verwundeten. Plünderer krabbelten über die Leichen und durchsuchten sie. Ein Trupp Artilleristen versuchte ihre Kanone zurückzurollen, aber als zwei von ihnen hinterrücks erschossen wurden, suchten sie ohne ihre Kanone das Weite. Mehr als 3000 Männer waren gefallen. Bernhard von Sachsen-Wismar hatte keinen Meter vom Mittelfeld preisgegeben, aber nicht mehr die Kraft für einen Gegenangriff gehabt. Die Schlacht hatte neun Stunden gewütet und beide Seiten beklagten hohe Verluste. Athos kämpfte sich durch die erschöpften Männer, welche sich müde und niedergeschlagen zum Lager zurückschleppten. Wenn der Tot so allgegenwärtig war, wie in einem Gefecht, da wusste man plötzlich wie sehr man am Leben bleiben wollte und wie nahe einem seine Freunde und Kameraden standen. Athos hatte Männer fallen sehen, in denen er die Gesichter von Aramis, Porthos und D’Artagnan sah. Natürlich wusste er, dass es Porthos gut ging. Nachdem sie Aramis verletzt gefunden hatten, waren sie einander nicht von der Seite gewichen. Aber er wusste nicht, ob D’Artagnan noch lebte und wie es Aramis erging. Vor Ungewissheit kämpfte er halbherzig, immer mit den Gedanken bei Aramis und dem was vielleicht gerade passieren mochte. Kaum das Frankreich seine Niederlage erklärte und seine Soldaten zurückzog, ritt er so schnell er konnte los, um zum Lagerlazarett zu kommen. Athos fluchte. Das ganze Lager schien ihm vor die Füße zu springen. Er sprang von seinem Pferd und ließ es an Ort und Stelle zurück. Porthos hechelte hinter ihm her und versuchte mit ihm Schritt zu halten. Seine Rufe nach ihm, ignorierte Athos wortlos. Endlich erreichte er das Stallgebäude, welches dem französischen Heer als Lazarett diente. Als er die Verwundeten sah, blutverschmiert und mit ihren klaffenden Wunden, die Versorgten, mit frisch verbunden Arm- und Beinstümpfen wurde ihm das wirkliche Ausmaß einer Schlacht bewusst. Porthos ächzte und würgte, als eine Barre mit einem Mann, dessen Bauchdecke aufgeschlitzt war, an ihnen vorbeigetragen wurde. Teile seines Darms waren zu sehen und der offene Bauch verströmte den Geruch von Exkrementen und Fäulnis. Athos hörte Porthos würgen. Der große Musketier war merklich blasser geworden. „Geh du D’Artagnan suchen!“, sagte er. Porthos nickte erleichtert und eilte so kopflos davon, dass er mit einem Sanitäter zusammenstieß. Als er sah, dass der Mann trug, einen Korb mit amputierten Körperteilen, lief er grün an und floh würgend in das Lager. Auch Athos graute es davor, dass Lazarett zu betreten. Wie würde er Aramis vorfinden? Ohne Bein? Entstellt? Hatte man ihr Geschlecht, ihr wahres Geheimnis entdeckt? Er verspürte bei dem Gedanken Angst und Übelkeit. Als er durch das Stalltor das Lazarett betrat, empfing ihn im dämmrigen Halbdunkel, der Geruch von Blut und abgestandener Luft zu vieler kranker Menschen. Noch schlimmer waren das Stöhnen und Wimmern und die Schreie, die immer höher und schriller wurden, bis sie abrupt erstarben. Athos musste sich zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sein Gesicht verbarg nicht das Entsetzen, dass er empfand, als er an den langen Reihen, der verwundeten Soldaten vorbeilief, die dicht an dicht am Boden lagen, die Augen beharrlich abgewandt, um den Anblick der blutbesudelten Tische, auf denen operiert wurde zu meiden. Am hinteren Ende des Stalls fand er Aramis. Fast hätte er sie übersehen und wäre vorbeigegangen, wenn ihm nicht das nackte Bein zwischen all den Beinstümpfen ins Auge gestochen wäre. Er hockte sich neben ihr Lager, unendlich erleichtert, dass er sie gefunden hatte und dass sie ihr Bein noch besaß. Sie lag wie alle anderen Patienten auf einer Decke am Boden. Niemand schien ihr wahres Geschlecht bemerkt zu haben, obwohl ihr Hosenbein fast ganz aufgeschnitten worden war und ihr rechtes Bein, bis auf den einbandagierten unteren Oberschenkel und dem getrockneten Blut nackt war. Ihr blasses Gesicht zeigte die Schmerzen, die sie durchlitt. Sie wirkte so zerbrechlich und hilflos, dass es Athos vor unerwarteter Zärtlichkeit die Kehle zuschnürte. Wie konnte er so lange, so blind gewesen sein. Er erinnerte sich an das Gefühl ihrer Haut unter seiner Hand. Plötzlich war er wieder alleine mit ihr in seinem Zelt und die Luft die knisterte. Neben ihr dämmerte ein Soldat mit einem verbunden Armstumpf. Fliegen tummelten sich auf seinen Verband, durch dessen Lagen langsam das Blut hervorsickerte. Durch die dreckigen Strohreste am Boden huschten Schaben. Athos sah den Dreck und das Blut. Er hörte die Schreie und das Stöhnen. Es schmerzte ihn, sie hier liegen zu sehen. Er strich ihr über die Wange, so behutsam, als wäre sie aus Glas. Sie öffnete die Augen und sah ihn mit so fiebrig glänzenden Augen an, dass es ihn erschreckte. Ihre Lippen waren blutleer und eingefallen. Sie versuchte ihm mit ihren Augen etwas zu sagen, doch sie sprach zu leise und ihre Lippen zitterten so sehr, dass er nichts verstand. Er hörte nur ihr Wimmern. Es zerriss ihm das Herz. „Was?“, fragte er und beugte sich noch näher, dass sein Ohr ihren Mund berührte. „Kalt“, wisperte sie. „Kalt.“ Hilfesuchend sah sich Athos um, fand aber nichts mit dem er ihr helfen konnte, als bei ihr zu sein und seine Hand an ihre Wange zu legen, um ihr seine Wärme zu geben. Zu viele Menschen waren hier, als das er es gewagt hätte, mehr Intimität zu zeigen. Jemand räusperte sich in seinem Rücken und Athos zog schnell die Hand zurück. Wortlos richtete er sich auf. Er bemerkte den Gesichtsausdruck, mit denen der Mann ihn musterte. Irgendetwas schien ihm nicht zu gefallen. „Ich bin Doktor Montfort“. „Athos“, Athos besann sich. „Leutnant d’Autevielle!“, korrigierte er. Beide Männer musterten sich abschätzend. „Ihr seid wegen ihm hier?“, fragte Montfort und wies mit dem Kinn auf Aramis. „Einer Eurer Hauptmänner?“ Sein Ton verriet, was er von höheren Offizieren zu halten schien. Nun gut, er flickte die Reste der Gefreiten zusammen, die sie in den Kampf schickten. „Mein Freund!“ „Ich habe sein Bein operiert.“ Athos nickte bedächtig. „Dann muss ich Ihnen danken.“ „Warum?“, Montfort hob eine Augenbraue. „Ich weiß, wie wichtig es ihm ist, sein Bein nicht zu verlieren. Er wäre sehr unglücklich gewesen.“ Montfort runzelte bei seinen Worten die Stirn. „Ich habe nur meine Arbeit getan“, murmelte er unwirsch und beugte sich zu Aramis runter, um ihr die Hand auf die Stirn zu legen. Sie zitterte. „Ihm ist sehr kalt!“ sagte Athos. „Er hat Fieber! „Ist Fieber nicht etwas Schlechtes, in seinem Zustand?“, fragte er besorgt. Montfort zuckte die Schultern. „Es könnte ein Zeichen dafür sein, dass sein Blut vergiftet ist und es zu Wundbrand kommt.“ „Wundbrand?“, fragte Athos besorgt. „Nun, am besten ich sehe mir die Wunde an. Wenn ich merke, dass Wundbrand einsetzt, kann ich ihn noch immer zur Ader lassen, um das vergiftete Blut abzuleiten oder das Bein abnehmen.“ „Dann tun Sie es!“ Montfort kniff missbilligt die Augen zusammen, wagte aber nicht, etwas zu sagen. Er hob Aramis Bein an, um die Binde abzuwickeln. Athos verfolgte angespannt jeden seiner Handgriffe, um sicherzugehen, dass die Hand des Arztes dort blieb, wo sie bleiben sollte. Er selbst musste sich zwingen nicht auf die Stelle zu sehen, die Aramis Geschlecht verriet. Der Arzt fühlte sich sichtlich unbehaglich unter Athos wachsamen Blick. „Habt Ihr noch andere Freunde hier, die Ihr besuchen wollt?“ „Nein, nur diesen hier!“ Montfort hob eine Augenbraue. Der Mann hatte eindeutig etwas gegen Athos. Beide Männer begannen zu schwitzen. Sie drehten Aramis auf den Bauch, um die Unterseite des Unterschenkels zu sehen. Athos zog scharf die Luft durch die Zähne ein, als er die vernähte und blutverkrustete Wunde sah. Montfort begann vorsichtig das Blut über der Wunde fortwischen. Aramis stöhnte vor Schmerzen. „Es ist kein Wundbrand zu sehen“, sagte Montfort zufrieden und verband die Wunde neu. Sie drehten Aramis wieder auf den Rücken. „Was mit Eurem Freund weiter passiert, hängt von seiner Konstitution und seinem Lebenswillen ab und nun muss ich Euch bitten, zu gehen! Wir haben hier jede Menge zu tun und kaum Platz!“ Athos sah zögerlich zu Aramis. „Ich bitte Sie, kümmern Sie sich gut um ihn! Ich komme bald wieder.“ „Ist das eine Drohung?“ fragte Montfort spöttisch. „Olivier d’Autevielle, sieh an sieh an.“ Vicomte des Bracelonnes Stimme donnerte über den Platz. Athos überlegte schon, ob er den Vicomte einfach ignorieren sollte, aber der Vicomte war kein Mann, den man einfach so übersah, selbst kurzsichtig nicht. Deshalb blieb er stehen und sagte mit einem abgrundtiefen Seufzer. „Vicomte, schön Euch zu sehen.“ Der Vicomte lachte dröhnend, dass sein feister Körper zitterte. „Ja, darauf wette ich, mein Junge.“ Er baute sich mit seiner imposanten Gestalt vor ihm auf und musterte ihn. “Na, dass ist jedenfalls nicht der Aufzug, von dem dich dachte, dass ich dich je darin sehen werde. Du bist also bei den Musketieren?“ „Scheint so!“, äußerte Athos erschöpft. „Wenn dein Vater dich so sehen könnte.“ „Lieber nicht, Sir. Er hält nichts von den Musketieren!“ Der Vicomte grinste breit. „Ich auch nicht, mein Junge! Was macht ihr schon, außer schwanzwedelnd vor eurem König zu stehen.“ „Mh, mit Schwanzwedeln kennt Ihr und mein Vater euch sicherlich besser aus. Kann ich jetzt gehen?“, Der Vicomte bellte laut in seiner empörend wiehernden Lache. „Da magst du durchaus Recht haben. Aber mit dem Alter wird man ruhiger, mein Junge.“ Ein Mantel mit verdrecktem Hermelinbesatz, bauschte sich um den Vicomte. Die Beine breitbeinig, die Brust stolz gereckt, Essensreste im imposanten Bart. Noch immer Soldat, obwohl das Haar längst weiß war; noch immer aufrecht und arrogant beritten auf seinem Schlachtross, so breit wie ein Bulle und mit dessen Manieren. Genau die Art von Männern, mit denen sein Vater sich gerne umgab, weil sie genauso so waren wie er. Sie waren Reliquien einer alten Zeit, die noch wie mittelalterliche Feudalherren über ihre Leute herrschten, dachte Athos, und über ihre Söhne. Er hatte nicht die geringste Lust, seinen Vater wiederzusehen. Sollte der doch in seiner zugigen Burg versauern. „Wo ist eigentlich mein Vater, warum ist er nicht hier?“ „Tja, die Gicht hat zugeschlagen, Olivier. Auch da zügelt uns das Alter. Gegen die Gicht, kommt nicht einmal er an. Seine Ärzte haben ihre liebe Not mit ihm.“ „Das glaube ich und wie habt Ihr mich eigentlich wiedererkannt?“ „Als ich hörte, dass ein d’Autevielle eine der Divisionen anführte, habe ich mich rumgehört. Und mein Junge, du bist deinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten! Er sah genauso aus, als er jung war.“ Athos schaute säuerlich drein. Der Vicomte haute sich vor Vergnügen auf die breiten Schenkel. „So hat er auch immer ausgesehen, wenn man ihm das gesagt hat. Du bist zum Leutnant befördert worden. Bei dem König scheinst du in ziemlich hoher Gunst zu stehen.“ „Ich bin sein Musketier.“ „Ja! Ich kann mir denken, dass er es als Schmeichelei sieht, dass ein Adliger gegen den Willen seines Vaters in die Garde eingetreten ist, nur um ihm zu dienen.“ Athos schwieg. Der Vicomte schwieg, allerdings nicht für lange. Er war einfach nicht für das Schweigen gemacht. „Weißt du, dass er dich sucht?“ „Kann ich mir denken!“, sagte Athos. „Wirst du nach Hause zurückkehren?“ „Als ich das letzte Mal bei ihm war, hat er mir eins über den Kopf gezogen. Noch einmal und ich bin vielleicht taub. Und ich lasse mir mit über dreißig Jahren nicht mehr gern eins über den Kopf ziehen.“ Wieder erntet er dröhnendes Gelächter. „Willst ihn wohl weich kochen, was, mein Junge?“ Er drohte schelmisch mit dem Finger. „Jetzt wo du Leutnant bist. Du fehlst ihm sicherlich. Ich kenne ihn!“ „Ja, ich leider auch. Und mein Vater hält mich für einen unverbesserlichen Schwachkopf, mit dem ihn Gott ungerechterweise geschlagen hat“, sagte er und fügte trocken hinzu, „einer von Gottes wenigen Fehlern.“ „Ja, das könnten seine Worte sein, mein Junge.“ Das war das Problem mit seinem Vater. Der hielt Gott für fehlbar, aber nicht sich selbst. Der Vicomte schlug ihm kräftig auf den Rücken. Der Mann hatte Hände in Schinkenformat. „Er sagte immer, Gilles, aus Armand, dem Schlappschwanz muss was werden, der Zweite ist hoffnungslos. Und mehr Söhne hat mir meine Frau nicht vermacht. Ich sagte immer, Guillermo, besser zwei Plagen als Söhne, als nur Weiber im Haus, womit ich gestraft bin.“ „Ich bin nicht Euer Junge!“ Athos wurde langsam ungeduldig. Der Vicomte ließ sich von Athos sichtlichen Unmut nicht von seinem Weg der gutgemeinten Taktlosigkeit abbringen. „Bist du immer noch verbittert, wegen der alten Sache zwischen Euch?“ Athos schwieg. Der Vicomte sah ihn lauernd an. „Wenn es wegen ihr ist … sie ist jetzt Witwe.“ Kapitel 7: Der Abschied ----------------------- „Meine Herren.“ Der König musterte die Männer vor ihm, die vor seinem Sessel Aufstellung bezogen hatten. „Haben wir nun verloren?“, fragte er seinen Oberfeldmarschall. Bernard von Sachsen-Weimar setzte zum Erwidern an, wurde am vom Kardinal unterbrochen. „Nun, wir könnten eigentlich von einer Pattsituation sprechen.“ Der Herzog klappte den Mund wieder zu. So hätte er es mit seinem harten deutschen Akzent nicht ausgedrückt. Für ihn galt eine Kapitulation als Niederlage. Der König war verwirrt. „Aber wir haben uns doch für besiegt erklärt?“ „Ja, aber die Spanier hätten auch nicht die Kraft gehabt, uns anzugreifen.“ „Wir haben also nur zu früh kapituliert?“ „Früher, Majestät, nicht zu früh!“ Schweigen senkte sich über das Zelt, während der König nachdachte. „Äh, warum?“ Die Frage stellte sich der Herzog auch. „Nun, wir haben genug Verluste gemacht und „wir können uns nicht ganz für unsere Verbündeten aufreiben lassen.“, der Kardinal hüstelte „Der Klügere gibt eben nach!“ Der Klügere zu sein, dass gefiel Ludwig. Der Herzog schaute bei den Worten leicht säuerlich drein, hütete sich aber davor was zu äußern. „Ähm“, der Kardinal hüstelte erneut. „Ich habe gerade beängstigende Botschaften aus Frankreich erhalten, Majestät.“ Sein längliches Gesicht wurde noch länger. Das war Richelieus Schlechte-Nachrichten-Gesichtsausdruck. Ludwig stöhnte innerlich auf. „Was?“, fragte er unwirsch. „Hendaye, Llivia und Las Illas werden von den Spanier bedrängt.“ Ein Raunen ging durch die anwesenden Männer. Ludwigs geballte Faust knallte auf die Sessellehne. „Führt Krieg gegen Philipp, Ludwig!“, brüllte der König aufgebracht. „Jagt die Spanier aus den Niederlanden, Ludwig!“ Er wurde noch lauter. „Und was habe ich davon? Einen Haufen toter und verwundeter Soldaten, eine Niederlage gegen die Spanier und während ich hier im Norden hocke, brechen sie im Süden in Frankreich ein.“ Erst hatte der Kardinal ihm eingesäuselt, wie toll es wäre Feldheer zu sein, um den arroganten Spaniern in den Hintern zu treten. Also waren sie losgezogen. Doch dann verloren sie die Schlacht und nun zogen die Spanier los, um ihn in seinen Hintern zu treten. Die einzelnen Männer zuckten zusammen und rückten gemeinschaftlich vom Kardinal ab. Um den Kardinal kreiste im Strudel von Ludwigs Zorn eine einzelne graue Flosse. Vielleicht wurde der kränkliche Teint des Kardinals eine Spur kränklicher, aber ansonsten blieb Richelieu gelassen. „Ihr wisst, warum wir diesen Krieg führen, Majestät! Wir haben vielleicht nicht die Schlacht gewonnen, aber die Spanier genug geschwächt, dass sie uns an der elsässischen Grenze in Frieden lassen. Nun wenden wir uns dem Süden zu.“ Er nickte seinem Gefolgsmann, dem Herzog zu. „Der Herzog wird mit einem Teil des Regiments nach Süden aufbrechen und die Spanier zurückschlagen.“ Bernard von Sachsen-Weimar bejahrte. Ludwig gab grummelnd seine Zustimmung kund. Ludwig hatte die Nase voll vom Krieg. Die ständige Anwesenheit seines erstens Minister und dessen ewig kränklicher Gesichtsausdruck begannen ihm auf dem Magen zu schlagen. Warum war er nicht zu Hause geblieben? Der König vergrub verbittert das Kinn in der Hand. Er wollte zurück zu Anna. Eigentlich, so dachte er, könnte doch sein Zwillingsbruder Philipp ab und zu als König hinhalten, er hatte wenigstens das passende Gesicht dazu. Aber sein Bruder war mit fürchterlicher Schüchternheit geschlagen und besser in ländlicher Zurückgezogenheit aufgehoben. „Leider gibt es noch weitere schlechte Nachrichten.“ „Ja?“ „In der Provence rebellieren einige der Adligen gegen Euch. Sie haben unsere Intendanten angegriffen.“ „Dann rebellieren sie gegen Euch, Richelieu. Das sind Eure Schoßhunde.“ So war er der Ludwig. Richelieu tat es in seinem Interesse, um die Macht des Königs gegen den dominierenden Hochadel zu stärken und nur ihn hassten sie dafür. Er hatte eigens ernannte Beamte in die Provinzen entsendet. In seinem Auftrag, rissen sie die alten Grenzfestungen ein, erhoben Steuern und führten Regierungsaufträge aus. Vor allem aber, waren sie ein treu ergebenes Spionagenetz für den ersten Minister. Zudem waren Sondergerichte eingeführt worden, die gemeinen Bürger, wie Angehörige des Hochadels als Staatsfeinden anklagen und zum Tode verurteilen konnten. Natürlich missfiel dies den Adligen, die in ihren Provinzen wie Könige geherrscht hatten. Aber empfand der König Dankbarkeit? Ja! Aber er fürchtete und verabscheute seinen ersten Minister viel zu sehr, als dass er es über sich gebracht hätte Anerkennung zu zeigen. „Eigentlich haben wir doch dort d’Albert de Luynes und seine 1500 Mann, um für Ordnung zu sorgen“, sagte er. „Das ist richtig, Majestät!“, bestätigte der Kardinal, der d’Alberts dorthin geschickt hatte. „Na anscheint reicht’s nicht!“, beschied Ludwig bissig „Nun, wenn Ihr erlaubt, werde ich ein weiteres Regiment dorthin entsenden, um den Aufstand niederzuschlagen.“ „Nein, nein“, entschied der König. „Ich habe genug von untreuen oder unfähigen Untertanen. Ich möchte für die Provence jemanden, dem ich vertrauen kann. Ich persönlich werde ihn ernennen. Er soll die Rebellion schnell und wirksam niederschlagen!“ Amaury Montfort warf sich ruhelos auf seinem Strohsack hin und her. Er lag auf dem Rücken und dachte nach. Der Schlaf wollte und wollte nicht kommen, obwohl er den ganzen Tag auf den Beinen gestanden und operiert hatte. Endlich hielt er es nicht länger aus. Er schlüpfte in seine Stiefel, warf nachlässig ein Wams über das Hemd und eilte mit einer Laterne in der Hand zum Lazarett. Der Lichtkegel der Lampe schwang hin und her, als er zum Stall ging. Er öffnete die kleine Nebentür am Stallgebäude und der Geruch von ungewaschenen Leibern, Blut und Wundfäulnis, schlug ihm aus der Dunkelheit entgegen. Er saugte noch einmal gierig die kühle Luft der Nacht ein, dann trat er ein. Leise lief er durch die Reihen der verwundeten Soldaten. Leises Wehklagen und Wimmern begleitete ihn. Niemand sorgte sich, ob sie Wasser oder Nahrung bekamen, keiner wusch sie. Nur nachlässig wurden Wunden verarztet oder Verbände gewechselt. Amaury war der einzigste Armeearzt, der es für nötig hielt, Verbände ab und zu wechseln. Doktor Jakstat befand sich lieber im Zustand jenseits der Nüchternheit. Sie lagen unbeachtet auf schmutzigen Decken, auf einen noch schmutzigeren Boden und wer sich nicht bewegen konnte, dem blieb keine andere Möglichkeit, als seine eigenen Hosen zu beschmutzen. Er wusste wo er ihn fand. Amaury kniete er sich nieder und ließ das Licht über ihn wandern. Er schlief sehr unruhig, gefangen in Fieberträumen und Atemnot. Amaury streckte die Hand aus und berührte Wangen und Stirn. Die Haut war unglaublich heiß, schweißnass und wunderbar zart. Etwas in den feinen Gesichtszügen berührte Amaury, welches über oberflächliches Interesse hinausging und zog ihn immer wieder zu seinem seltsamen Patienten hin. Er sah sich das Bein an. Der Verband saß ordentlich. Seine nächtliche Visite galt selbstverständlich nur seiner ärztlichen Besorgnis, sagte er sich und dennoch strich seine Hand fast liebkosend über das Bein, das lang und schlank war. Um ihn herum schlief alles. Der Lichtkegel wurde von seinem Körper verdeckt. Als seine Hand über den Verband zur Schenkelinnenseite glitt, wusste er selbst, dass er zu weit ging. Entsprechend erschrocken fuhr er hoch, als sich die Stalltür plötzlich bewegte. Es war nur der Wind, doch Amaury zog seine Hand zurück, als hätte er sich verbrannt. Er nahm seine Laterne und lief davon. Schwer atmend lehnte er sich gegen die Wand und zog die klare Nachtluft in seine Lungen ein. Was passierte mit ihm? Als Aramis erwachte, war es als würde sie sich durch tiefes Wasser an die Oberfläche kämpfen. Als sie dann vollständig bei Sinnen war, empfand sie großes Bedauernd darüber. Sie sah nichts, aber sie roch sich. Mit großem Entsetzen fühlte sie ihre Kleider vor altem Schweiß und Dreck an sich klebten und was noch schlimmer war, sie hatte ihre Hose durchnässt. Das geronnene Blut auf ihrer Haut juckte. Ihre Augen zu öffnen, empfand sie als zu große Anstrengung. Und vielleicht wollte sie auch gar nicht sehen, wie es um sie herum aussah. Als sie es dann doch tat, war sie überrascht, Athos durch ihre verklebten Lider zu sehen. Er lächelte sie zur Begrüßung mit jenem verhaltenen Lächeln an, aus dem man nichts herauslesen konnte. Aber immerhin, er war da. „Mhm mmm“, murmelte sie, was der hilflose Versuch zu Sprechen war. Ihr Mund war so trocken, dass ihre Lippen aneinander klebten. Er schien trotzdem zu verstehen, denn er hob ihren entkräfteten Oberkörper an, legte sie in seine Armbeuge und setzte ihr vorsichtig einen Becher an die Lippen, dessen Inhalt mehr in ihren Kragen lief, als in ihrem Mund. Seine körperliche Nähe wäre tröstlich gewesen, wenn sie sich nicht so sehr über ihren eigenen Körpergeruch und ihr Aussehen geschämt hätte. Sie hatte Schmerzen, roch schlecht, hatte mit Übelkeit, Müdigkeit und Angst zu kämpfen. War Athos je in seiner eigenen Pisse erwacht? Er roch nach frischer Luft und Seife. Das Wasser schmeckte abgestanden und faul. „Renèe“, dachte sie, sieh wo du gelandet bist. Wenn sie sich selbst tadelte, hörte sie manchmal der ewig missbilligenden Stimme ihrer Tante sprechen. „Gut, dass du wieder erwacht bist“, sagte er, „Aramis, ich … „ Er unterbrach sich, weil jemand zu ihnen getreten war, dessen Füße Aramis nur aus ihrem Augenwinkel sah. Es war der junge Arzt, der schon ihr Bein operiert hatte. Er musterte sie, erstaunt darüber, dass sie wach war. Für einen kurzen Moment blieb er stehen, unsicher was er tun sollte. Als Aramis ihn anblickte, errötete er und lief mit schnellen Schritten weiter, um seinen nächsten Patienten zu untersuchen. Doch sie konnte sehen, wie er ab und zu zurück blickte. Athos zog sie an die Wand, damit sie sich anlehnen konnte. „Ich habe dir etwas zu Essen mitgebracht!“ sagte er und legte ihr ein Bündel in den Schoss. „Danke.“ Eine Weile kaute sie lustlos darauf herum. Sie vermied es, ihn anzusehen und er vermied es, ihr auf das nackte Bein zu starren, wenn es auch voll getrocknetem Blut und Blutergüssen war. Stattdessen sahen sie, wie sich in der Ecke ein Soldat auf seinen Mitpatienten erbrach, während ein zweiter Soldat mit der Stirn gegen die Wand gelehnt, genau an die pisste. „Das ich hier überhaupt einen Bissen herunter bekomme?!“, nuschelte Aramis mit vollem Mund, dem Mann beim Wasserlassen beobachten und wurde rot, als ihr einfiel, dass sie bald vor genau diesem Problem stehen würde, wenn ihre Blase zu ihr sprach. Doch bei vollem Bewusstsein würde sie es nicht noch einmal über sich bringen, sich erneut in die Hosen zu machen. Und Athos wurde nie rot, aber wenn wäre jetzt der richtige Zeitpunkt gewesen, da ihm einfiel, dass neben ihm eine Frau saß, die eben nicht über jenes außenliegende Wunderwerk verfügte, für das die Männer ihren Penis hielten. Nur dachte er dabei nicht ans pinkeln. Und so schwiegen beide weiter und sahen sich nicht an. „Haben wir nun verloren?“ Athos blickte sie eine Weile verstört an, weil nur eine Frau so eine Frage so banal stellen konnte.“ „Ja, haben wir. Auch wenn der Kardinal das nie so zugeben wird. „Was haben wir denn dann seiner Meinung nach?“ „Den taktischen Rückzug erklärt, wegen innenpolitischer Erfordernisse.“ „Ah ha und nun gehen wir nach Hause?“ Athos schüttelte unverständlich den Kopf. „Wir gehen nicht einfach nach Haus. Wir ziehen uns wegen innenpolitischer Erfordernisse zurück. Das habe ich dir doch gerade erklärt. Kein Heer geht einfach nach Hause.“ Und er erklärtes es ihr in seiner ruhigen Athosart. „Ja. klar, denn sonst würde dieser Krieg nicht schon seit über zwanzig Jahren andauern“, schlussfolgerte sie. Er stöhnte. „Du machst das mit Absicht.“ Sie lächelte ein kleines Lächeln. „Natürlich! Und warum geht es denn nun so schnell wieder nach Hause?“ „Die Spanier haben versucht einiger unserer Grenzfestungen in den Pyrenäen einzunehmen. Der König muss sofort etwas unternehmen. Er hat für diesen Feldzug alle militärischen Reserven eingezogen. Wir haben niemanden, der den Süden Frankreichs verteidigt. Wenn wir nicht bald handeln, sind die Spanier in Frankreich.“ „Na das ist doch Ironie“, sagte Aramis. „Und in der Provence haben sich einige Adlige zusammengeschlossen und rebellieren gegen den König. Er braucht also auch jemanden der in die Provence reitet und den Aufstand niederschlägt.“ „Der arme Tor.“ „Der Tor bin ich!“ „Ach du meine Güte“, entfuhr es ihr. „In ein paar Stunden soll ich mit einer Brigade losreiten!“ Aramis zog ein langes Gesicht. „Tja, Leutnant d’ Autevielle!“, bemerkte sie ironisch. Er räusperte sich umständlich. „Oberleutnant, um genau zu sein.“ Sie blickte säuerlich drein. „Glückwunsch.“ „Wirst du hier sicher sein?“ „Ich werde auf jedem Fall sicherlich hier sein.“ „Ich lasse dich nur ungern zurück.“ Aramis seufzte. „Ach Athos, wir reden hier doch nicht von einem kurzen Abenteuer. Ich spiele das Spiel schon seit 8 Jahren.“ „Ja, das ist bemerkenswert“, gab er zu. „Nun, Porthos und D’Artagnan sind ja auch hier und bald kehrt ihr mit dem Heer nach Frankreich zurück. Wir sehen uns schon bald in Paris.“ „Athos“, sie hielt ihm am Arm fest, „du musst etwas für mich tun!“ „Was?“ „Ich brauche ein Bad!“ Er lachte ungläubig auf und hob eine Augenbraue. „Soll ich dir einen Waschzuber herbringen? Wir sind hier in einem Feldlager. Niemand badet hier. Bist du verrückt, Aramis?“ Sie zog Athos am Stoff seines Wamses zu sich herunter. Er begann flacher zu atmen. „Athos, ich muss mich waschen“, stieß sie zwischen ihren zusammengepressten Zähnen hervor. „Ich habe meine Kleidung durchnässt. Ich stinke und ertrage mich selbst nicht mehr. Jetzt wo du Oberleutnant bist, kannst du sicherlich irgendetwas tun. Dann eben nur ein Eimer voll Wasser! “ Der Geruch des Einzelnen fiel in der Vielfalt der vorherrschenden Übelgerüche eigentlich nicht auf, aber so nah bei Aramis erschütterte ihr derzeitiger Eigenduft, sogar ihn. Athos hatte Männer gesehen, die um ihr Leben kämpften und einen weniger verbissenen Gesichtsausdruck gehabt hatten. „Wieso ich?“ „Tut mir leid, dass ist der Preis des Wissens!“ Er verdrehte die Augen und löste seufzend ihre verkrampften Finger von seinem Wams. „Ist ja gut, ich tu was ich kann!“ Kapitel 8: Der Kommandant ------------------------- Athos schwang sie sich über die Schulter und schritt zum Lazarett zurück. Aramis Kopf wippte bei jedem seiner Schritte vor und zurück. „Meinem Rücken tust du nicht gut“, warf er ihr vor und ein paar Schritte weiter fügte er hinzu. „Aber jetzt riechst du wieder besser.“ Aramis Zähne klapperten bei jedem Schritt. Er lachte und gab ihr einen Klaps auf den Hintern. „Und das nächste Mal, mein Schätzchen, sehe ich nicht wieder weg.“ Sie grunzte. Er lachte erneut und haute noch einmal zu. Amaury war nur mit seinem Vater aufgewachsen. Simon Montfort war ein sehr engstirniger, ungebildeter und strenger Mann, der als Bauer in einem Dorf im Nirgendwo ein sehr schlichtes Dasein führte und nicht im Mindesten daran interessiert war an diesem Umstand etwas zu ändern. Amaurys Mutter rannte weg. Es hieß sie sei durchgebrannt. Ein Umstand den der wortkarge Mann sowohl der Frau als auch dem Kind übelnahm. Und er ließ auch keine weitere Frau mehr in seinem Leben ein. So wuchs Amaury Montfort arm und mutterlos auf. Ihm hätte das gleiche Schicksal wie seinem Vater geblüht, wenn nicht der Priester des Dorfes die Intelligenz und den Wissensdurst des Jungens entdeckt und gefördert hätte. Sein Wissensdurst war die einzige Möglichkeit, der engen Welt seines Vaters zu entfliehen. Den Viehstall und die Acker hinter sich lassend, schulterte er den Rucksack und tauchte in der aufregenden Welt der Pariser Studenten unter. Nur das seine Welt dort aus Studiensaal und seinen Büchern bestand. Er lebte in einer kleinen staubigen Kammer im Dachgeschoss eines Parisier Fleischschlächters, bei dem er arbeitete, um sich sein Studium zu verdienen. Frauen sah er nur, wie sie grell geschminkt und nach Rum sinkend aus der Spelunke gegenüber taumelten. Er studierte, er lernte, er schlachtete und er machte seinen Abschluss. Aber er war nur der Sohn eines Bauern und seine Bourgeoisie brachte ihm lediglich den Posten eines Armeearztes ein. Amaury war in seinem Leben kaum mit Frauen in Berührung gekommen. Dank der geistigen Finsternis des katholisch geprägten späten Mittelalters, hatte Amaury in seinem gesamten Studium und leider auch bis zu seinem 25. Lebensjahr noch nie eine Frau richtig nackt erblickt. Die Hure, die er sich von seinem mühsam ersparten Studiengeld nahm, hatte lediglich ziemlich gelangweilt im Halbdunkel einer Gasse die Röcke hochgerafft. Danach war ihm die Lust an der Liebe vergangen. Auch wirklich schöne Dinge hatten in Amaurys Leben bisher keinen Platz gehabt. Als er dann, gänzlich unerwartet in einem Feldlazarett mit beiden in Berührung kam, war es um ihn gesehen. Ohne genau zu wissen, was mit ihm geschah. Während Amaury die Wunde eines weiteren Patienten verband und seinen völlig desinteressierten Sanitätern Anweisungen gab, vermied er den Blick in eine bestimmte Richtung und konzentrierte sich beharrlich auf seine Aufgaben. Zu tun gab es genügend. Aber während der ganzen Zeit spürte er die Anwesenheit dieses einen Patienten im Hinterkopf. Nach einem hastig runtergeschlungenen Mittagessen aus geschmacklosem Dörrfleisch und hartem Brot, rührte er in seinem Zelt verschiedene Salben und Mixturen zusammen. Dann schnitt er sich neue Leinenstreifen als Verbände zurecht und verbrannten alle, die zu blutig und zu dreckig waren. Er besuchte einen Offizier mit einem Augenleiden und behandelte einige Soldaten, die sich beim Besuch der Lagerhuren angesteckt hatten und jetzt unter Ausschlag litten. Die Quelle des Ausschlags, die Lagerhuren zu untersuchen und zu behandeln, war ihm verboten worden. Die Damen galten als Zivilpersonen und er unterstand der Armee. Dann kehrte er in das Lazarett zurück. Als sich seine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten, staunte er nicht schlecht, als er den hinteren Platz leer vorfand. Mit dem Gefühl des Verlustes, sah er auf den leeren Fleck. Es blieb nur die Erinnerung an die kurze Intimität, die er sich in der Nacht gestohlen hatte. Und dabei wusste er noch nicht einmal seinen Namen, noch warum er solch eine Wirkung auf ihn hatte. Ratlos ging er seiner Arbeit nach. Am späten Nachmittag war sein Patient plötzlich wieder da und saß an der Wand gelehnt, glänzend wie ein frisch geputzter Sou. Amaury spürte seinen Magen flattern. Er atmete einmal tief durch und wendete sich seinen Patienten zu, solange bis er es über sich brachte, zu ihm zu gehen. Das Lazarett war wie ein Ofen indem man, nach dem Gestank zu urteilen, zusammen mit einer Portion Erbrochenem und Urin schmorten. Aramis beobachtete mit flauem Magen wie ihr Bettnachbar sich aus dem Delirium in das grausame Bewusstsein der Schmerzen zurückkämpfte. Sein Bein war fast knapp unter der Hüfte amputiert worden und er sah seltsam halb aus. Sie schluckte beklommen und vermied den Blick auf den Beinstummel. Ab und zu blinzelte sie zu ihrem eigenen Bein, nur zur Sicherheit. Nicht das Aramis sehr weichherzig oder zu zartbeseitet war, dass war sie nicht. Sie konnte nur nicht Verschwendung leiden und wenn sie den Blick über die Reihen gleiten ließ, sah sie überall Gliedmaßen die fehlten oder verbunden waren. Der Mann zu ihrer anderen Seite, dessen Oberkörper nackt war, hatte große, eiterdurchtränkte Leinenbinden auf dem Magen. Das Bein des Soldaten ihr gegenüber war einbandagiert, aber die zerquetschten Zehnen lagen offen da. Das war pure Verschwendung. Es hätte im Lazarett leise sein können, da niemand sprach oder gar lachte. Aber es gab da die Schreie und das Stöhne. Ein ständiges Wehklagen hallte wie dumpfes Sirren durch das Lazarett. Der Mann mit der Bauchwunde delirierte und rief nach seiner Mutter. Wer nichts von sich gab, war wahrscheinlich tot. Aramis schluckte schwer. Es war schrecklich die Männer so verletzlich und hilflos zu sehen. Sie hatte sich vorher nie Gedanken darüber gemacht, wie es in einem Lazarett zuging. „Haben wir gewonnen?“, fragte ihr Leidensnachbar mit brüchiger Stimme. Er konnte die Zähne lang gegen den Schmerz zusammenbeißen, um die Frage zu stellen. Sie schüttelte den Kopf mit finsterer Miene. Sie hätten wenigstens den Anstand besitzen können zu gewinnen, dann wäre das Ganze nicht so eine Zeitverschwendung gewesen. Ihr Nachbar sah das anscheint genauso. Er nickte und gab sich seiner Apathie hin. Apathie empörte Aramis. Es gehört auch nicht zu ihrem Wesen Niederlagen hinzunehmen. „He“, rief sie. Er sah auf sein Bein. „Wasser, ich brauche Wasser!“ Seine Hände krampften sich in den dreckigen Strohsack, auf dem er lag. Aramis sah sich suchend um, aber außer blutigen Leinenstreifen am Boden war nichts zu sehen. Wie bei einem fielen auch die anderen Männer in den Ruf nach Wasser ein. Ich weiß nicht, was ich tun soll, dachte Aramis panisch. Die Rufe wurden immer verzweifelter. In diesem Moment hätte Aramis ihre Seele für einen Eimer Wasser gegeben. Am Stalltor stand ein Wasserbottich. Mühevoll und unter höllischen Schmerzen zog sich sie an der Wand hoch. Das verletzte Bein zu knicken war unmöglich. Schweißgebadet stand sie da, aber der Weg entlang der Wand war blockiert, es sei denn sie wäre über die Köpfe der Männer gestiegen, die dort lagen. Sie ließ die Wand los und brach augenblicklich unter dem Gewicht des verletzten Beines zusammen. „Was machen Sie denn da?“ Doktor Montfort kam auf sie zu gerannt. „Verdammt, geben sie ihnen doch Wasser“, rief Aramis verzweifelt. Doktor Montfort nickte und ging sich den nächstbesten Soldaten greifen, um ihn Wasserholen zu schicken. Der Mann ging, wenn auch widerwillig und missmutig brummend. „Warum haben Sie das gemacht. Sie sollten sich doch nicht unnötig bewegen und das Bein belasten“, schimpfte Montfort besorgt. „Was glauben Sie, was mit der Wunde passiert, wenn Ihr Körpergewicht darauf steht. Sie könnten ein wenig sorgsamer mit sich umgehen, nachdem ich mir so viel Mühe mit Ihnen gab! Wissen Sie überhaupt, was die Kugeln mit Ihrem Fleisch angerichtet haben? Das war kein schöner Anblick.“ Aramis zog eine Grimasse und blickte den Arzt an. Es war nicht unbedingt ein überaus schönes Antlitz, mehr das von einem eifrigen Schaf. „Ich kann ohnehin nicht alleine stehen. Ich weiß nicht einmal wie ich pinkeln soll.“ „So wie alle anderen mit einer Verletzung. Sie ziehen sich einen der Töpfe unter ihren Hintern und versuchen das innere zu treffen und nicht Ihre eigene Chemise.“ Ein „Ach“ entwich ihr. „Dafür sind sie da!“ Doktor Montfort sah sie verwundert an. „Wofür dachten Sie?“ „Vorhin hat einer reingekotzt.“ „Ja, dass passiert manchmal.“ „Danke Doktor!“ „Wofür? Das ich Ihnen erklärt habe, wie ein Topf benutzt wird?“ „Einfach Danke.“ Der Doktor wurde rot und sah nun aus wie ein leuchtendes Schaf. Er lächelte verlegen und sein Lächeln ließ den Bernsteinton seiner Augen aufleuchten. Lord Rochfort hatte sich den Ischias eingeklemmt. Und das, nachdem bei einen der ersten Scharmützel mit den Soldaten der kaiserlichen Armee, sein Pferd gescheut und ihn abgeworfen hatte. Er war sehr unglücklich gefallen und hatte sich den Arm gebrochen. Den gebrochenen Knochen stützten enge Bandagen und ein Stock, aber es gab nicht viel, was sein angeschlagenes Selbstbewusstsein aufrechterhalten konnte. Das Bild, wie er im hohen Bogen im Dreck gelandet war, würde all diejenige die ihn nicht mochten und davon gab es eine Menge, ihr Leben lang erheitern. Zur Teilnahme an der alles entscheidenden Schlacht wurde er aufgrund seines gebrochenen Arms suspendiert. Ein Umstand, den der wütende Kardinal seinem Untergebenen zur Last legte, nicht aber dem Pferd. Zähneknirschend und gelbgesichtig erfuhr er, dass Athos zum Leutnant über eine ganze Division befördert worden war. Auch das nahm der Kardinal ihm übel. Und während er noch an diesem Brocken knabberte, ritt Athos nun als Oberleutnant in die Provence, um auf direktem Wunsch des Königs, für Ordnung zu sorgen. Und dann klemmte sich Rochfort den Ischias ein und war der festen Überzeugung eine handfeste Verschwörung sei gegen ihn im Gange. Doch auch Lord Rochfort bekam den Posten des Kommandanten, dank des Kardinals und bevor er seine Truppe inspizierte, richtete er knirschend sein Kreuz. Der Schmerz der sich darauf hin seines Hinterns bemächtigte, veranlasste ihn zwei Oktaven rauf und runter zu jaulen. Nachdem er sich aber gefangen hatte, marschierte er großspurigen Schrittes zur Tür. Die Tür selbst musste ihm ein Gefreiter öffnen, da ihm nur ein gesunder Arm zur Verfügung stand und er selbst der Meinung war, ein Kommandant habe durch eine offene Tür zu marschieren. Rochfort nährte sich an seinem Pessimismus und seinem Größenwahnsinn. Wovon beide Charaktereigenschaften ihm auf seinem Lebensweg permanent ein Bein stellten. Demzufolge spiegelte sein Auftritt das Verlangen seiner Lordschaft nach Anerkennung und Gemeinheit wieder. „Stillgestanden!“ Mehrere Augenpaare richteten sich teils ungläubig, teil vorwurfsvoll und teil scheißegal auf ihn und nur einer brüllte zurück? „Mit welchen Beinen, du Mistkerl?“ Rochfort wäre nicht er selbst gewesen, wenn ihn die Offensichtlichkeit Befehlshaber eines Haufens Invaliden zu sein, zurückgeworfen hätte. Er war immerhin der Befehlshaber von etwas, auch wenn es nicht alle Beine und Arme vollzählig hatte. Und so marschierte er protzig durch das Lazarett, bis sich ihm ein junger Mann in den Weg stellte. „Lord Rochfort?“ „Sie sind also schon unterrichtet worden, guter Mann?““, fragte Lord Rochfort, in der Annahme, dass ihm sein Ruf vorauseile. Der gute Mann blinzelte verwirrt. “Ich bin der neue Oberkommandant dieser Truppe. Also Still-ge-standen!“, schmetterte er ihm entgegen. „Ich bin hier der Arzt, ich muss nicht stillstehen“, sagte Montfort ärgerlich, „und ich erlaube es auch nicht meinen Patienten stillzustehen! Geschweige denn jemanden anderes, sie stillstehen zu lassen.“ „Ich habe hier den Oberbefehl!“, widersprach der einäugige Lord. „Und ich das letzte Wort, Lord Rochfort“, sagte der Arzt und runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht, wer auf die schwachsinnige Idee kommt, verletzte Soldaten als Truppe zu betrachten?“ Das gab auch Rochfort zu denken und er füllte sich ein wenig vom Kardinal aufs Abstellgleis geschoben, denn seine eigentliche Aufgabe war es, die Krankentruppe, abhängig von ihrer Transportfähigkeit nach Paris zurückzuführen. Rochfort hätte sich lieber etwas stolzeres, mit mehr exerzieren gewünscht, als eine Haufen Kranker. „Aber Sie sie sind unterrichtet worden? Sie haben von mir gehört?“, versuchte es der Lord erneut. „Ähm nein! Ich habe den Armbruch gerichtet. Man sagte mir, Sie seien vom Pferd gefallen.“ „Wer sagt das?“, schmetterte Rochfort wütend zurück. „Alle!“ sagte eine Stimme gedehnt hinter ihnen. Beide Männer blickten sich um, um den Urheber zu sehen, der niemand anderes als Aramis war, die mit sichtlichem Vergnügen der Auseinandersetzung gefolgt war. Rochfort biss sich vor Schadenfreude fast auf die Zunge, als er Aramis entdeckte. „Na, wen haben wir denn hier“, frohlockte er und musterte sie derart unverschämt, dass Aramis schlecht wurde. „Sieh an, sieh an. Monsieur Aramis, welch Überraschung!“ „Lord Rochfort, es ist mir wie immer ein Vergnügen“, gab Aramis zurück Ich habe jetzt das Kommando hier und damit auch über dich!“, verkündete er triumphal und ganz der Finsterling, der er war. „Wie zauberhaft. Ich weiß, vor Freunde kaum noch ein und aus.“, sagte sie. „Oh und wie du dich freuen wirst, wenn wir erst mehr Zeit miteinander verbracht haben. Und das werden wir, denn während das Heer zusammen in den nächsten Tagen abzieht, werden wir hierbleiben. Solange bis ich euch für reisefähig halte. Und solange wiederum sitzt du hier fest“, säuselte er und weidete sich sichtlich an ihrem entsetzten Gesichtsausdruck. „Athos ist schon weg. Dann folgen der Dicke und der Jungspurn und dann gibt es nur noch uns beide.“ „Wo ist denn die respektvolle Anrede geblieben?“ „Oh, nein, nein, nein“, belehrte sie Rochfort. „Untergebenen gebührt, was Untergebenen gebührt.“ „Wie überaus tiefsinnig“, versetzte sie brummig. Er trat näher an sie heran. „Und wenn du nicht brav meine Befehle befolgst, dann sperre ich dich ein und lass dich auspeitschen. Oder ich lasse dich den ganzen verdammten Weg nach Paris laufen.“ Und damit trat er mit voller Wucht gegen die Fußsohle ihres verletzten Beines. Aramis schrie auf, als der Schmerz wie Feuer ihr Bein hochjagte. Doktor Montfort zog mit einem erschrockenen Knurren Rochfort von ihr weg. „Gehen Sie!“, sagte er, Rochfort mustere sie befriedigt. „Damit du bei jedem Schritt an mich denkst.“ „Gehen Sie!“, wiederholte der Doktor und Rochfort stolzierte belebt von dannen. „Ach, verdammt“, stöhnte Aramis unter Tränen in den Augen. Montfort hatte sich zu ihr niedergekniet. „Was war denn das?“ „Lord Rochfort!“ „War das normal?“ „Nein, das war selbst für Rochfort übel.“ Er tätschelte ihr unbeholfen die Schulter. „Nun, Sie stehen ja hier auch unter meiner Obhut … Aramis, das ist doch ihr Name?“ Sie nickte. Er sah sie an, als erwarte er mehr. „Nur Aramis!“ „Wie seltsam. Haben Sie große Schmerzen?“ fragte er besorgt. „Ich habe wirklich große Schwierigkeiten“, gab sie zurück und Doktor Montfort gab ihr Recht, obwohl er fand, dass er es hätte schlechter treffen können. Beispielsweise mit einem Leutnant d’ Autevielle. Am Abend kamen sie D’Artagnan und Porthos besuchen. So wie Porthos aussah, fühlte sich seine Nase vom Geruch des Lazaretts beleidigt. D’Artagnans Augen wusste nicht, wohin sie bei so viel Verstümmelung blicken sollten. Beim Hereinkommen waren sie in Blut getreten. Es war eng und beklommen hier. Wenigstens war Ruhe eingekehrt, seit einer der Soldaten gestorben war, der die ganze Zeit durchgeschrien hatte. Aramis sah sie müde an. „Porthos, trag mich nach draußen. Ich muss hier raus, nur für eine Weile“, bat sie niedergeschlagen. Ihr großer Freund nickte ernst und hob sie auf seine Arme, um sie nach draußen zu tragen. Dort legte er sie seltsam sanft für die unbändige Kraft die in ihm steckte im Gras ab. Gierig sog sie die frische Luft ein. Das Lager war mit Schreien, lautes Quietschen und Hufschlag erfüllt. Der Lärm einer großen Armee auf dem Rückzug. Verwundert sah ihnen Aramis zu. „Ihr marschiert heute schon ab?“ Porthos nickte. „Sie haben es sehr eilig.“ Eine Kolonne Infanteristen marschierte in einer Staubwolke an ihnen vorbei. Ihre Piken glänzten in der untergehenden Abendsonne. „Wann geht ihr?“ „Mit den letzten Truppenverband, morgen früh.“ „Und ich muss hierbleiben“, sagte sie bitter. „Das wissen wir, erklärte Porthos sanft. „Und Rochfort wurde zu unserem Kommandanten ernannt.“ „Auch das wissen wir.“ „Ja, er erzählt es, stolz wie ein Gockel, überall herum“, warf D’Artagnan ein. Damit war alles geklärt und sie saßen schweigend im Gras. Die französische Armee flutete nach Hause, wie ein unendlicher Tausendfüßler der in Richtung Frankreich kroch. „Wir wären früher zu dir gekommen“, sagte D’Artagnan, „aber sie haben uns keine Zeit dazu gelassen.“ Aramis nickte, den Blick wie hypnotische auf die marschierenden Soldaten gerichtet. „Wir können dich doch einfach auf einem Karren legen und mitnehmen!“, schlug D’Artagnan vor. Porthos nickte. „Niemand kann uns befehlen dich hierzulassen.“ Sie lachte freudlos auf. “Doch, dass können Sie, denn wir sind Musketiere und befolgen Befehle. Und Rochfort wird mich jetzt nicht mehr gehen lassen. Er hat die alten Streitereien zwischen uns nicht vergessen. Und er ist wütend, dass Athos zum Oberleutnant ernannt wurde und in die Provence geritten ist. Ihr wisst, wie nachtragend er ist.“ „Dann bleiben wir auch hier!“, beschied D’Artagnan entschlossen. „Ach sei doch nicht albern“, sagte Aramis müde. „Auch du hast deine Befehle und du heiratest in ein paar Wochen. Constance würde dir das nie verzeihen.“ „Aber ..“ D’Artagnan machte den Mund auf und wieder zu. „Wir können dich doch nicht hier alleine zurücklassen, was wenn jemand ….!“ Aramis sah ihn böse an und er schluckte seine letzte Frage hinunter. Porthos blieb still und sah bewusst in eine andere Richtung. D’Artagnan räusperte sich laut. „Ich würde ja bei dir bleiben, ehrlich Aramis, aber D’Treville braucht mich, jetzt wo Athos weg ist.“ Sie wussten beide, dass Porthos im Kampf tapfer war, aber was Krankheiten betraf stand er hilflos seiner eigenen Feigheit gegenüber. Vielleicht weil Krankheit ein Feind war, der sich nicht mit bloßer Muskelkraft besiegen ließ. „Das denkst du?“. fragte sie, um ihn zu reizen, einfach um ihren Ärger weiterzugeben. Der Koloss hob hilflos die Hände. „Ach, Aramis du bist ein großer Junge. Ich würde für dich durch das Feuer gehen, das weißt du, aber Kranke, das ist nichts für mich! Und die Verpflegung hier ist so miserabel … das könnt ihr so einen verfressenen Kerl wie mir nicht antun. “ D’Artagnan senkte die Stimme. „Mal unter uns, Porthos, ein bisschen weniger Futter würde dir ganz gut tun, meinst du nicht?“ Hinter Porthos Rücken fing Aramis D’Artagnan Blick auf, der sie bat, ihrem großen Freund seine Schwäche zu verzeihen. Porthos hielt sie für einen Mann. Es gab keinen Grund für ihn, sie zu schützen. Porthos schmollte. „Aber, ich könnte dir dafür Rochfort ein wenig zurechtstutzen?“ bot er ihr großzügig an und ließ die mächtigen Fäuste ineinander fahren. Die Vorstellung war irgendwie tröstlich. Sie antwortete mit einem starren Grinsen. „Hau aber so richtig zu, dass er nicht wieder aufsteht!“ Porthos sah sie mit großen Augen an. „Du hast wirklich Angst vor ihm?“ Aramis fühlte sich brüskiert. „Der Mann wollte mich auspeitschen lassen und umbringen.“ „Sicherlich, Rochfort ist etwas nachtragend, aber kein Musketier braucht ihn zu fürchten.“ Porthos verstand es wirklich nicht. „Du bist selbst verletzt mehr Mann als er!“, fügte er im Brustton der Überzeugung hinzu. Zum Glück sah er in diesem Moment D’Artagnans Gesichtsausdruck nicht. Dann erhellte sich sein Gesicht. „Soll ich dir eine der Feldhuren zur Aufheiterung holen?“, schlug er vor. „Ein anderes Mal vielleicht.“ Sie legte den Kopf schräg, „… wenn ich wieder in Vollbesitz meiner Kräfte bin.“ „Wieso“, fragte Porthos gedehnt. „Es ist doch NUR das eine Bein getroffen worden … oder“, er riss erschrocken die Augen auf,„hat es gar noch eine andere Stelle erwischt?“ Aramis zwinkerte und sagte gleichmütig. „Nein, nur eins meiner Beine. Die anderen funktionieren noch, danke der Nachfrage.“ Porthos lächelte breit und sagte. „Na dann ist ja gut!“ D’Artagnans ungeschliffenes Jungengesicht begann rötlich zu leuchten. „Warum wird du denn rot?“, fragte der Koloss verwundert, mit Blick auf seinen jungen Freund. „Vielleicht sollten wir dich zu einen von ihnen schicken.“ D’Artagnan wand sich voll Unbehagen. „Lass ihn! Wahrscheinlich ist er noch zu jung für das Thema“, schlug Aramis vor. Porthos schüttelte voller Unverständnis den Kopf. „Warst du jemals sooo jung, Aramis? Ich war es nie.“ „Wasch dir den Mund aus, Porthos!“ Kapitel 9: Gegen die Vergangenheit ---------------------------------- Die Sonne schob sich durch die Wolkenwand und verwandelte die Stadtmauern von Toulouse in goldenen Stein. Da kamen sie, die Delegation der Provinzadligen, die beschlossen hatten, gegen ihren König zu rebellieren. Ein beeindruckendes Gefolge aus Soldaten, Knechten, Dienern und Leibeigenen folgte ihnen. Sie ritten ihm mit erhobenem Kinn und hochmütigem Blick entgegen, auf nicht weniger stolz dreinblickende Pferde. Der Pariser Hochadel bezeichnete den Provinzadel gern als schauderhaft provinziell, aber diese Männer und ihre Lebensart waren eine bespiellose Renaissance des alten Rittertums. Es war eine Schicht, die sich herausnahm, alleine aufgrund ihrer Herkunft über ihre Reiche wie Tyrannen zu tyrannisieren. Der hiesige Adel sah sich nicht als Untergebene eines Souveräns, der ihren Vorfahren Land als Lehnen für ihre treuen Dienste gegeben hatte. Sie waren zwar alle Abkömmlinge eben dieser Vasallen, nur hatten sie es vergessen und sahen sich eher als legitime Herrscher über das belehnte Land und seine Leute. Sie verwechselten ein Privileg mit Recht und vergaßen, dass dieses Privileg an Pflichten gebunden war. Dabei kam das Vasallentum aus Frankreich. Der Herzog der Normandie, William der Eroberer hatte es im 11. Jahrhundert in England eingeführt, nachdem er dieses erobert hatte. Da lebten die französischen Lords schon lange mit der Vasallenschaft, nur in das System gefügt hatten sie sich nie. Der Herzog zog in den Krieg gegen seinen König und seine Landesfürsten erhoben sich gegen ihren Herzog. Das sie damit Hochverrat begingen, wenn sie gegen ihren König rebellierten, kam ihnen nicht in den Sinn und so zogen sich Frankreichs hausgemachte Schlachten durch die Geschichte. Kardinal Richelieu hatte es einmal so ausgedrückt: „Die Ärzte vertreten die These, dass eine innere Schwäche und sei sie an sich noch so gering, mehr zu fürchten sei, als ein äußerer Schaden und sei er noch so groß und schmerzlich. Daraus erkennen wir, dass wir das außenpolitische Notwendige aufschieben müssen, bis wir das getan haben, was zu Hause getan sein will.“ Immer wieder wendete sich der Adel in den Provinzen gegen die Monarchie und zahllose alte Privilegien ermächtigten sie dazu. Genau zu diesem Zweck, hatten Kardinal die Provinzbeamten ernannt, welche ihm direkt unterstellt waren. Erst dem Kardinal war es gelungen, diese Missstände zu bekämpfen und die alleinige Macht in die Hände es Königs und damit in seine Hände zu legen. Athos erwartete sie. Er ließ den Blick über die blasierten Gesichter schweifen. Sein Blick glitt indes nur kurz in eine Richtung, dann sah er wieder weg. Ja, er kannte sie alle, die Abkömmlinge der alten Adelsfamilien und er prägte sie sich gut ein. Aber noch erkannten sie ihn nicht. Mehrere Hufe scharrten, ihr Fußvolk nahm Aufstellung und eher langsam und beleidigend senkten sich die Stimmen und das Lachen zum Schweigen. Athos begrüßte sie und erntete abweisendes Nicken. „Wofür sind wir hier?“, fragte Graf de Pommedroi nasal, nicht an Athos, sondern an seine Stammesangehörigen gerichtet. Sie nannten ihn Graf de Pomme und so sah er auch aus. Wie ein verschrumpelter Apfel auf einem Spitzendeckchen, weil eindeutig zuviel davon aus jeder Öffnung seiner Kleidung quoll. „Wir wollen uns anhören, was der Welpe des Königs zu sagen hat“, erklärte ihm ein anderer. Vicomte de Vauban, wenn sie Athos recht zu erinnern glaubte. Im Gegenzug vom Grafen, war dieser Mann komplett schnörkellos, mit einem Blick, der einen festhielt, wie ein Enterhacken. „Wo haben wir denn die anderen Welpen hingetan, mein Lieber?“ „In Euer Verlies“, erwiderte Vicomte de Vauban mit einer Stimme, wie ein Fallbeil, ohne seine Gesichtszüge zu bewegen, den Blick unentwegt starr auf Athos gerichtet. Graf Pommedroi war ganz Überraschung. „Ach ja?“ Einige seine Mitverschwörer lachten. Athos lächelte ein feines Lächeln. Nun, bellende Hunde beißen nicht und diese Hunde kläfften nur. „Eure Rebellion ist zu Ende, meine Herren!“, sagte Athos. Wieder Gelächter. „Wer seid Ihr noch mal?“ „Oberleutnant, seiner Majestät!“, erklärte Athos ruhig. „Aber doch nicht in dieser Kleidung, mein Lieber“, quengelte de Pomme. „Es fehlt an Beiwerk!“ „Kehrt nach Hause oder zu Eurem König nach Flandern zurück“, sagte der Vicomte, den Enterhackenblick fest in ihn verhackt. „Wir haben seine Beamten gefangen genommen. Sagt Eurem König, wenn er sie zurück will, kann er sie auslösen.“ Er schoss die Sätze ab, wie Kanonensalven. „Ihr seht unser Heer! Außerdem werden sich die Truppen der Spanier mit uns vereinigen, wenn sie Hendaye, Llivia und Las Illas erst eingenommen haben.“ Athos erwiderte darauf nichts. Er hob seine Pistole und entlud sie in der Luft. Daraufhin erschien „sein“ Heer, das bis dahin verborgen hinter der Waldbiegung gewartet hatte. Fünftausend Mann nahmen hinter ihm Aufstellung. Er sah, wie ihnen angesichts der Menge die Gesichter entglitten. Damit hatten sie nicht gerechnet. Der König sollte doch mit seinem Feldzug beschäftigt sein. Wie hatte er so schnell und so viele Soldaten abbeordern können? Athos dankte Richelieus Spionagenetz, das schnell und effizienter gewesen war. Er hatte alles auf die Schnelligkeit gesetzt, während er im Wirbelsturm durch Frankreich in Richtung Pyrenäen gefegt war. Zeitgleich hatte er einen Boten zu Charles d’Albert de Luynes und seinen 1500 Soldaten geschickt. Nun standen sie den Rebellen mit doppelter Truppenstärke gegenüber, während ihr angeworbenes Söldnerheer noch nicht vollzählig war. Athos hatte seine Männer derart gnadenlos angetrieben, dass noch vor einem Kampf, die Hälfte von ihnen entkräftet aus dem Sattel kippen würde. Aber vorerst sollten sie nur Stärke und Größe demonstrieren. Bürger der Stadt Toulouse verstärkten seine Reihen. Toulouse, war eine Stadt die weitestgehend unabhängig vom König und dem herrschenden Adel der Provence war und nicht die geringste Lust hatte zwischen die Fronten alten Machtanspruchs zu geraten. „Dies ist nur ein Teil der Truppen, die der König in die Provence geschickt hat“, erklärte Athos. „In zwei Tagen wird Oberbefehlshaber Bernhard von Sachsen-Weimar mit mehreren Regimentern die Spanier aus den Pyrenäen verjagen. Bis dahin solltet Ihr wieder treue Untertanen seiner Majestät des Königs sein!“ „Du Verräter!“ Die Stimme war so rau und kratzig, wie ein Scharnier, dem es an Öl fehlte und sie weckte in Athos den Wunsch umzudrehen und wegzureiten. Das mächtige Schlachtross scharrte mit seinen gewaltigen Füßen, während sein nicht weniger imposanter Reiter, die Fersen hart in seine Flanken stieß, um ihn wenige Schritte anzutreiben. Obwohl sein Haar schlohweiß war, saß er aufrecht und erhaben auf seinem Ross wie in seinen Jugendtagen. Die Augen im scharfkantigen Gesicht sprühten vor Zorn. „Du, Judas“, brüllte der alte Mann aufgebracht, dass der Speichel flog. „Bist du es also wirklich!“ „Nicht ich bin der Verräter, Vater, sondern du! Du verrätst deinen König!“, sagte Athos ruhig. Ein Raunen ging durch die Reihen. Es erfüllte Athos mit ein wenig Genugtuung, dass sein Vater ihn nicht gleich erkannt und als Hänfling niedergeschrien hatte. Er gebrauchte mit Absicht die respektlose Anrede gegenüber seinem Vater. Dabei war sein Vater war noch immer ein beeindruckender Mann, auch wenn seine Rüstung mittlerweile als Antik galt. Sein Vater wäre ein schöner Mann gewesen, wenn der jahrelange bis an den Exzess getriebene Hochmut und Stolz sein Gesicht nicht so scharfkantig hätte werden lassen, dass es nur aus Nase und Kinn zu bestehen schien. Der wallende weiße Bart milderte sein Antlitz ein wenig, doch darüber loderten Augen die bedingungslose Fügsamkeit und Unterwerfung forderte. Die Lords musterten ihn mit neuem Interesse. „Der entlaufende Sohn ist also zurückgekehrt?“, stellte Vicomte de Vauban nüchtern fest. Athos Vater blähte die Wangen und zog schnaubend wie ein Orkan die Luft durch die Nase ein. „Hübsch und groß ist er geworden“, bemerkte de Pomme und schmatzte. „Ich liebe es, wenn sie so hübsch werden.“ Pikiertes Schweigen über die unangebrachte Begeisterung folgte. Was Graf de Pomme nicht unbedingt störte. Athos Vater zog jetzt die Luft ein und aus wie ein Blasebalg. Das Gesicht so rot, dass sich der weiße Bart fast leuchtend davon abhob. „Ph, ein Verräter ist er. Er hat vergessen wer er ist und wem er verpflichtet ist“, spie er aus. „Dem König, Vater!“, erwiderte Athos ruhig. Der alte d’Autevielle spuckte verächtlich. „Es war nicht die Gicht, die dich vom Feldzug ferngehalten hat. Ich habe den Vicomte de Bracelonnes im Feldlager getroffen.“ „Noch so ein Verräter“, spie der alte Graf aus. „Legt die Waffen nieder und schickt Eure Soldaten heim!“, verlangte Athos von den Lords. Seine Truppen hatten sie mittlerweile eingeschlossen. „Der Kardinal verlangt Eure Anklage als Staatsfeinde. Aber der König ist bereit, Euch seine Gnade zu gewähren! Allerdings nur bei sofortiger Kapitulation!“ Die Lords murmelten leise. „Wollt Ihr wirklich aufgeben?“, schrie d’Autevielle. „Nun, er hat soviel Freunde zum Spielen mitgebracht“, stellte Graf de Pomme fest und wandte sich an Athos. „Wir haben noch immer die Intendanten des Kardinals als Unterpfand, mein Hübscher.“ „Dem Kardinal sind seine Intendanten egal, er benennt einfach neue.“ „Nun, das ist schade“, erwiderte de Pomme beinah fröhlich. „Was machen wir dann mit ihnen? Sie fressen uns die Haare vom Kopf.“ „Befreit Sie als Zeichen Eures guten Willens!“ Die Lords starrten ihn minutenlang an. Athos rann der Schweiß den Nacken entlang. Nicht weil ihm die Sonne in den Nacken brannte. Natürlich mussten sie gegenüber ihrem König rebellieren. Man konnte sich doch nicht von einem Emporkömmling wie Richelieu Beamte vor die Nase setzen lassen, die sie wie gemeine Bürger anklagen konnten und von ihnen verlangte Steuern zu zahlen. Noblesse oblige. Aber eigentlich waren die Zeiten anders geworden. Der Degen hatte das Schwert abgelöst und das Geld für Söldnertruppen ging für eine neue Equipage drauf. Vicomte de Vauban kräuselte verächtlich die Lippen, doch dann nickte er und gab ebenso knapp seiner Gefolgschaft zu verstehen, ihm zu folgen. Das war das Zeichen. Die Lords zogen ab. „Folge mir!“, herrschte sein Vater ihn an und preschte los, ohne die Antwort abzuwarten. Athos überlegte eine ganze weile, ob er ihm folgen sollte. Letztendlich tat er es doch. Das Schlachtross seines Vaters war wirklich beeindruckend. Die enormen Muskeln unter dem schwarz schimmernden Fell bewegten sich wie Wellen. Die mächtigen Hufe schlugen Funken in den harten Boden. Sein Vater saß auf diesem Ungetüm von Pferd so aufrecht wie eine Schwertklinge. Er umrundete Athos und musterte ihn von oben bis unten. „Tauchst du plötzlich wieder auf. Was hast du denn da an?“ „Meine Kleider, Vater!“ „Ph, das sind doch keine Kleider für einen Soldaten“, schimpfte der Alte und seine Rüstung klirrte. „Das ist was für Hofgecken. Viel zu bunt.“, sagte ein Mann, der trotz der Wärme einen wallenden Mantel mit meterdicken Pelzabsatz trug. Athos fühlte sich plötzlich müde. Zu müde, um sich mit seinem Vater auseinanderzusetzen. „Vater, was sollte diese Rebellion? Seid Ihr nicht alle zu alt dafür?“ „Ach“, sagte er und zuckte die Achseln. „Das Land ist doch irgendwie immer im Krieg.“ Athos seufzte innerlich. So war sein Vater - unerschütterlich. Er sah sich als Mensch, der allein aufgrund seiner Stellung über jeder Kritik erhaben war. Morgen würde er sich wieder auf die Jagd begeben und nur bedauern, niemanden umgebracht zu haben. „Sie werden denken, du verrätst sie, Vater! Ich bin schließlich dein Sohn, aber ich komme vom König.“ Sein Vater schnaubte erneut. „Ich hätte deiner Mutter etwas anderes unterstellt, wenn sie nicht so verdammt prüde und fromm gewesen wäre.“ Dabei funkelten seine grauen Augen boshaft. Athos Nackenhaare richteten sich auf. Sein Vater wollte ihn nur reizen. „Dachte, du wärst schwachsinnig“, vertraute der Alte ihm an.“ „Wie hast du es denn zur Hofschranze des Königs gebracht, he?“ Er blechte die Zähne. Athos schwieg. „Kommst wohl zurückgekrochen?“ Athos langsam verlor er die Geduld. „Nein, Vater, ich komme nicht zurückgekrochen.“ „Willst wohl, dass ich dich wieder aufnehme. Willst mich wohl mit deinem Rang als Oberleutnant beeindrucken?“ „Nein, Vater“, sagte Athos, doch sein Vater hörte ihm gar nicht zu. Der Alte sah ihn listig an. „Du willst sie habe.“ Athos stöhnte. „Nein, ich will „sie“ nicht haben!“ Der Alte sah ihn listig an. „Du kannst sie aber haben. „Ich habe mir geschworen nicht mehr nach Hause zurückzukommen, solange du noch lebst“, erwiderte Athos ruhig. Für einen Moment war der Alte sprachlos, dann verfärbte sich sein Gesicht dunkelrot vor Zorn. „Wie kannst du es wagen?“, brüllte er. „Du bist immerhin ein d’Autevielle und du hast Pflichten!“ „Nein“, Athos schüttelte stur den Kopf, „ich bin Athos der Musketier!“ „Papperlapapp, du bist Oliver de Sillègue d‘Athos d’Autevielle. Musketier, was soll denn der Blödsinn? Wie viel musstest du zahlen, dass sie dich aufnehmen, he?“ Die Aufnahme bei den Musketieren kostete gemeinhin für Neulinge 200 000 Livres, etwa ein Jahreseinkommen eines Adligen mittleren Standes. Der Alte wusste das und wurde misstrauisch. „Wo hast du denn das Geld her?“ Athos verlor nun endgültig die Geduld und brüllte zurück. „Ich bin, was immer mir gefällt. Und ich habe mir meine Stellung verdient, ich musste nichts zahlen!“ „Unsinn, Junge“, fuhr sein Vater ihn zornig an. „Hast du Schwachkopf etwa unser Land beleiht? Bist du deshalb spurlos verschwunden?“ Athos raufte sich die Haare. „Unser Land ist doch überhaupt nichts wert. Was du Schloss nennst, ist ein maroder alter Kasten aus Stein. Ich bin verschwunden, weil du mich fortgetrieben hast, nachdem du schon Mutter auf dem Gewissen hattest! “ „Ich auf dem Gewissen? Ich habe deine Mutter nicht auf dem Gewissen. Wenn überhaupt hat sich die blöde Kuh zweifellos eine Erkältung geholt, weil sie auf Knien in der kalten Kapelle rumgekrochen ist. Sie hätte lieber Nonne werden sollen.“ „Wohin du sie getrieben hast“, brüllte Athos dem Mann entgegen, der noch zu Lebzeiten seiner Mutter jedem Rock hinterher gestiegen war. „Und vielleicht sollte ich dir wirklich dankbar sein, dass du mir Maura weggenommen hast. Weil ich sonst nie gegangen wäre.“ „Ph, du wusstest doch noch nicht mal, dass dein Gebimmsel überhaupt zu etwas anderem als Pinkeln benutzt werden kann“, donnerte der alte Mann zurück. „Das Mädchen wäre an dir verschwendet gewesen.“ Athos verzog angewidert das Gesicht. „Du bist widerlich. Ich hoffe, du lässt die Finger von ihr!“ Der Gesichtsausdruck seines Vaters zeigte, dass dem nicht so war. Athos Gesicht wurde dunkelrot. „Du bist widerlich!“, spie er verächtlich aus und ihm wurde schlecht bei dem Gedanken, wie sein Vater sie anfasste und mit ihr das trieb, was er als Kind immer versucht hatte auszublenden, wenn sein Vater an jedem beliebigen Ort über die Mägde hergefallen war. Der nackte Hintern seines heftig keuchenden Vaters, wie er einen der Mägde beackerte, hatte sich für immer in sein Gedächtnis eingegraben. Schlagartig wurde er ruhig. Sein Vater hatte vor niemanden Respekt und brachte keinem lebenden Wesen Zuneigung entgegen. Er war ein Ungeheuer und er konnte eines sein, weil sein Name größer als er war. Wenn Guillermo d’Autevielle einmal starb würde das Geräusch des Grabdeckel das seine Gruft verschloss, wie ein vielstimmiges Hurra erklingen. „Sag mir eins“, fragte er tonlos. „war er da schon tot, als du nach ihr gegriffen hast?“ Sein Vater zog sein Schwert mit einem hässlichen Schmatzer aus der Scheide. „Lass das Schwert stecken. Wenn du es gegen mich erhebst, werden dich fünftausend Mann überrennen und niedermachen!“ „Traust dich wohl nicht gegen deinen Vater anzutreten, du Jammerlappen?“ „Nein, dazu lasse ich mich nicht herab!“, sagte Athos und zog sein Pferd am Zügel, um sich umzuwenden, direkt in das feiste Grinsen des Hauptmanns seines Vaters hinein, der ihn von oben bis unten musterte. „Maurice“, Athos nickte kühl. „Ich denke, du solltest meinen Vater jetzt nach Hause bringen.“ Das unverschämte Grinsen im vernarbten Gesicht des alten Soldaten wurde noch eine Spur breiter. „Ich denke, wir sehen uns bald dort wieder, Olivier!“ Kapitel 10: Auf dem Weg ----------------------- Fliegen saßen auf den Deckenbalken des Stallgebäudes und sie bedeckten den schmierigen Boden. Sie schwirrten durch die Luft, die nach ungewaschenen Leibern und Pisse stank. Fliegen saßen auf Mund, Nasenhöhlen und offenen Wunden. Sie waren bei dem Artilleristen ohne Hände, bei dem die Lunte der Kanone zu früh gezündet war. Sie summten um den Kavalleristen, der pfeifend nach Luft rang, weil ein fallendes Pferd ihm den Oberkörper zerquetscht hatte. Sie folgten dem jungen Hauptmann, der sich auf Händen am Boden entlangzog, weil er keine Beine mehr hatte. Geschwüre die heilen sollten, wurden aufgrund von Dreck und mangelnder Ernährung zu riesigen Wunden. Dem Soldaten mit den zerquetschten Zehen musste letztendlich das ganze Bein abgenommen werden. Der Soldat mit der Bauchwunde war mittlerweile gestorben und mit ihm zusammen zwei Dutzend anderer. Sie waren um die fünfzig Patienten, mit einem Arzt. Doktor Jakstat war mit der Armee fortgezogen, was ein Glücksfall war, da er gern völlig unnötige Amputationen vornahm. Drei Sanitäter, die sich durch ständige Abwesenheit auszeichneten, sollten für sie sorgen. Natürlich hatten sie nicht die geringste Lust, Pisstöpfe von Männern auszuleeren, denen man Arme und Beine weggeschlossen hatte. Sie wuschen sie nicht, sie wechselten ihnen nicht die Verbände oder ihre Kleidung, sie ignorierten den Dreck, in denen die Patienten lagen, sie überhörten die Rufe nach Wasser und verkauften ein Teil der ohnehin knappen Vorräte in der Stadt. Sie taten es, weil es ihnen an Verstand, Mitgefühl und Menschlichkeit mangelte. Und sie konnten es tun, weil die Soldaten Rocheforts sie darin unterstützten. Sie lagen dürstend und hungernd im eigenen Dreck und konnten sich nur selbst helfen. Doch diese Ignoranz bewahrte auch Aramis vor der Entdeckung. Es gab nur Doktor Montfort und seinen unermüdlichen Kampf gegen die Windmühlen. Und Aramis bewunderte ihn für seinen alltäglichen Kampf gegen die Faulheit der Sanitäter und die Boshaftigkeit von Rochefort. Mittlerweile gewöhnte sie sich an die Untersuchungen durch Doktor Montfort und seine Hände auf ihrem Oberschenkel, wenn er ihre Wunde von Eiter und Dreck reinigte und mit sauberen Leinen verband. Fühlte sie sich angesichts von amputierten Beinen und vereiterten Wunden schuldig? Ja! Aber sie dankte Gott, ganz egoistisch, dass er ihr das Bein gelassen hatte. Wann immer sie Doktor Montfort sah, bekam sie vor Dankbarkeit zittrige Knie. Sie konnte nie feststellen, ob er ihr Geheimnis entdeckt hatte oder etwas ahnte. Wenn sie in seine Gesicht schaute, sah sie nur offene Aufrichtigkeit. Aber er suchte spürbar ihre Nähe. Vielleicht lag es an gegenseitiger Sympathie oder daran, dass sich Aramis nicht öffentlich an ihren Geschlechtsteilen kratze und hingebungsvoll Furzte. Aramis bekam bald Schwierigkeiten ganz eigener Art, die sie fast verraten hätten, doch die Umstände zerrte auch an ihrem Körper und so versiegte der Blutstrom kaum das er begann. Ein Bart würde ihr indes nie wachsen und ihre Schamhaftigkeit war angesichts der herrschenden Umstände ganz und gar unangebracht und doch war jeder zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um es zu bemerken. Sie waren keine Krankenstation, sie waren ein Lager für verderbliche Güter. Und wenn sie dachten, Gott habe sie schon genug bestraft, belehrte sie Lord Rochefort eines besseren. Während Doktor Montfort sie als seine Schützlinge sah, war Lord Rochefort nicht einmal geneigt, sie als Individuen zu betrachten. Für ihn waren sie ein Haufen verdreckter Krüppel und Aramis sah genauso verlottert aus wie der Rest der Meute. Im Schutze seiner Impertinenz verschmolz Aramis mit der Masse und verlor in seinen Augen den Status eines Musketiers. Was sie wiederum vor persönlicher Schikane bewahrte. Einen Tag nach Abzug der Truppen, begann er Regeln aufzustellen. Aramis wusste nicht, ob er damit eigentlich sie strafen wollte oder einfach nur aus unermesslicher Dummheit und Geltungssucht handelte. Sie vermutete Letzteres. Regel eins besagte, dass es ihnen verboten war, sich an der frischen Luft aufzuhalten. Als Niclas Fabre, durch eine explodierte Kanone erblindet, dabei erwischt wurde und erklärte, er hätte den Vögeln zusehen wollen, verletzte er Regel drei. Mit Plauderstündchen und Scherzen war jetzt Schluss, mit dem Sonderpassus drei Punkt eins, keine spöttischen Bemerkung auf Kosten des Kommandanten. Niclas Fabre wanderte für zwei Tage ohne Wasser und Brot in Einzelhaft. Rochefort fand einen Hühnerstall, konfiszierte die Hühner, verspeiste sie mit seinen Männern und sperrte Fabres ein. Bei seiner Entlassung witzelte Fabres, es wäre ihm zu finster gewesen, aber der Geruch des Federviehs hätte in an Rochefort erinnert, worauf ihn Doktor Montefort gerade noch vor körperlicher Züchtigung bewahren konnte. Auch Aramis fing sich Einzelhaft, allerdings nicht so sehr wegen unerlaubter Scherze, sondern aufgrund von Kraftausdrücken, Regelverstoß Nummer neun. Sie konnte sich sehr blumig ausdrücken. Nach Regeln Nummer neunzehn ging Doktor Montfort sich beschweren und kehrt mit Regeln Nummer zwanzig zurück – keine Beschwerden gegenüber dem Kommandanten. Als das Signal zum Aufbruch kam, waren gerade einmal zwei Wochen vergangen, die Aramis wie eine Ewigkeit erschienen. Wer bis jetzt nicht gestorben war, der überlebte auch den Weg nach Hause. Sie waren ein trauriger Zug, der loszog. Ganz anders, als der gewaltige Tross der aufgebrochen war. Amaury erinnerte sich an die mächtigen Kanonen, die schier unerschöpflichen Proviantzüge, den endlosen Reihen von wohlgenährten, gut bewaffneten, blaugewandeten Soldaten. Nur wenige trugen noch ihre komplette Uniform, noch weniger sich selbst. Acht schauderhaft klapprige Ochsen zogen mühevoll, sieben einfache offene Fuhrkarren, auf denen Amaurys Patienten wie Säcke abgelegt worden waren und einen Proviantwagen. Die Rippen des Ochsen der ihren Karren zog, zeichneten sich unter der straff gespannten Haut ab wie Leitersprossen. Lord Rochefort begleitete sie, herrschaftlich beritten, mit seinen Fußsoldaten. Sein Gesicht war missmutig verzogen vor Ungeduld und Missstimmung. Mehrfach ließ er die Peitsche auf die dürren Rücken der Ochsen knallen, doch da es der linke Arm war, da der Rechte noch immer in einer Schlinge steckte, lag kaum Kraft in den Peitschenschlägen. Die Ochsen blieben so langsam, dass sie nicht einmal Staub aufwirbelten. Der Weg zog sich durch die Landschaft wie ein strammgezogener Bindfaden. Regenschauer und Schnee hatten den unbefestigten Boden weggespült und in Löcher verwandelt. Ochsen wie Menschen ächzten, wenn die Räder durch die Senken rumpelten und sie auf ihren Sitzen hüpften. Die ungefederten Räder schüttelten die Insassen so kräftig durch, dass jede Körperstelle bald schmerzte. Manchmal blieb eines der Räder stecken und die Soldaten mussten den betreffenden Karren anschieben. Zu Amaurys stiller Freude, hatte er sich den Wagen ausgesucht, in welchem Aramis saß. Er betrachtete er ihn verstohlen. Der junge Hauptmann hatte die Augen geschlossen und das Gesicht der Sonne zugewandt. Schattenfelder, die die Bäume warfen glitten über das blasse, sehr sehr schmale, feingeschnittene Gesicht hinweg. Plötzlich öffnete Aramis die Augen und sah ihn an. So direkt, dass Amaruy errötete. Das Licht der Sonne, glitzerte in den Augen. Aramis runzelte die Stirn. „Kreisen Geier über uns?“ Amaurys Atem entwich stoßweise. Niclas Fabre fragte automatisch wo und sah sich mit seinen verbundnen Augen suchend um, weil er eben ein Spaßvogel war, dem selbst die Dunkelheit seinen Witz nicht nehmen konnte. Rochefort befand sich gerade auf Höhe ihres Wagens und Aramis drehte sich zu ihm um. „Rochefort!“ „Das heißt Kommandant Rochefort!“, donnerte der Lord aufgebracht. „Auch für dich Musketiere!“ „Kommandant Rochefort.“ Aramis bemühte sich wirklich um ein wenig Respekt. „Was willst du?“, fragte Rochefort barsch und ließ sein Pferd mit der Hufe scharren, dass Staub aufwirbelte und sie bedeckte. „Wäre es nicht ratsamer ein paar Späher ausschicken, falls der Feind uns anzugreifen versucht?“ Rochefort war ernsthaft verblüfft. Nun, er war kein Mann der Initiative. „Warum sollte sie das tun? Ihr seid ein Haufen Krüppel!“, bemerkte er verächtlich. „Na eben drum. Wir können nicht wegrennen.“ Aramis holte Luft. „Aber wir sind dennoch feindliche Soldaten und ein lohnendes Ziel für die Spaniern, würde ich meinen.“ Rochefort grinste herablassend. „Wenn Soldat und lohnend in deiner Sprache dasselbe bedeuten wie in meiner, dann machst du einen recht nachlässigen Gebrauch davon, wenn du euch damit meinst. Ich meine unter Soldat etwas anderes zu verstehen.“ Sein Adjutant, ein Mann mit viel Fleisch, aber wenig Hirn, kicherte kriecherisch und ziemlich gehässig. „Zudem war das ein Verstoß gegen Regel Nummer 8.“ Damit gab Rochefort seinem Pferd die Sporen, um eine neue Staubwolke aufzuwirbeln. Aramis ließ sich hustend auf die Holzplanke zurückfallen. „Was war noch einmal Regel 8?“ „Niemals dem Kommandanten widersprechen“, erklärte Niclas Fabre und machte eine sehr unzüchtige Geste. Leider wusste er nicht, in welche Richtung er sie richten sollte, aber es war dennoch ein direkter Regelverstoß gegen Nummer neununddreißig. Er grinste schief, was in Ermangelung von sichtbaren Augen sehr merkwürdig aussah. „Was das Soldatendasein betrifft, so bin ich eindeutig aus dem Geschäft.“ Aramis Blick glitt prüfend umher. „Ich hoffe, die Geier meinen die Ochsen und nicht uns“, murmelte sie. Amaury blickte sich ebenfalls um, aber außer den kreisenden Vögeln am Firmament war es um sie herum gespenstig still und ruhig. Die Beharrlichkeit mit der die Vögel ihnen folgten, hatte in der Tat etwas Beunruhigendes. „Denken Sie, dass wir in Gefahr sind?“ fragte er besorgt. Aramis sah ihn eine Weile mit gerunzelter Stirn an. Dann glätteten sich ihre Züge und sie lächelte. Amaury genoss das prickelnde Gefühl im Magen, dass sich einstellte, wann immer Aramis ihn anlächelte. „Um ehrlich zu sein, denke ich vor lauter Hunger überhaupt nicht. Wenn, dann träume ich von Essen.“ Und wie um ihre Worte zu bestätigen, zog sich ihr Magen lautstark zusammen. „Am Himmel sehe ich fliegende Brathähnchen! Jetzt verstehe ich endlich Porthos.“ „Was ist ein Porthos?“ Aramis lachte. „Porthos ist nicht was, Porthos ist wer und ganz unter uns, nicht gerade zu übersehen.“ Amaury sah Aramis nachdenklich an. Obwohl jedes Loch und jede Unebenheiten sie durchrüttelte und jeder Knochen schmerzte. Die Sonne erbarmungslos auf sie nieder brannte und es weder Wasser noch Brot gab, glänzten ihre Augen vor Übermut. Wer immer dieser Porthos war. Der junge Hauptmann hatte fast liebevoll von ihm gesprochen und Amaury beneidete diesen Porthos darum. „Kommandant Rochefort kann Sie nicht leiden!“ „Rochefort kann niemanden leiden!“, stellte Aramis fest. „Aber mich ganz besonders nicht, weil Lord Rochefort der Hauptmann der Garde des Kardinals ist. Die Garde und die Musketiere des Königs können sich nicht ausstehen.“ Amaury war ernsthaft verblüfft. „Sie sind ein Musketier des Königs?“ Er hatte Rocheforts Anrede als militärische Zuordnung innerhalb der Armee verstanden, nicht als einer der Leibgardisten des Königs. Aber der junge Hauptmann und der Krieg, das war Amaury wie ein Irrtum erschienen. Aramis gehörte dort nicht hin. Doch als Musketier der königlichen Garde hatte er sogar eine besonders fundierte militärische Ausbildung erhalten. Sie waren besser geschult als einfache Soldaten. Und warum hieß er nur Aramis. Die Musketiere seiner Majestät waren, soweit Amaury wusste, nur Männer aus adligem Hause und die verhehlten nicht ihren Stand. Bevor Aramis etwas erwidern konnte, wurde leidenschaftlich ihr Knie geschüttelt. Wahrscheinlich hatte Niclas Fabres gehofft ihre Hand zu treffen. „Du bist Aramis!“, platzte es aus ihm heraus. Aramis nahm seine Hand von ihrem Knie. „Ja, vielen Dank für die Erinnerung!“ „Ich fühle ich mich geehrt, neben dir gelegen zu haben, in dieser Brutstätte des Todes.“ Amaury räusperte sich vernehmlich. „Nichts für ungut, Doktor, aber die Unterbringung und Verpflegung war miserabel.“ „Was ist besonderes an Aramis?“, verlangte Amaury neugierig zu wissen. „Haben Sie noch nie von Athos, Aramis und Porthos, den drei Musketieren gehört. Sie sind die besten Degenfechter in Paris.“ Aramis zuckte bescheiden die Schultern. „Aber jeder in Paris kennt die drei Musketiere.“ Amaruy schüttelte den Kopf. „Ich habe in Paris studiert, aber ….“ „Doktor, Sie haben zu viel in Ihren Büchern gelesen.“ Aramis sah sich um und hoffte, dass Rochefort nichts von der Unterhaltung mitbekam. Sie wusste, sie würde dafür büßen müssen. Der Doktor schmunzelte. „Dann überrascht es mich, dass Sie verwundet worden sind. Anscheint besitzen Sie magische Fähigkeiten, wenn ich Monsieur Fabres Begeisterung sehe“, sagte er zu ihr. „Warum sind Sie Musketier?“, fragte er, weil er es sich noch immer nicht vorstellen konnte. Aramis zuckte die Schultern. „Wahrscheinlich weil ich in Schießen und Fechten ganz gut bin? Warum sind Sie Arzt geworden?“ „Mh, weil ich nicht gut in Fechten und Schießen bin und lieber Sie zusammenflicke, wenn sie auf jemanden treffen, der besser in Fechten und Schießen ist.“ Aramis lachten. „Sie gefallen mir!“ Und Amaurys Herz schlug schneller. Sie verließen einen bewaldeten Pfad und rollten langsam aus seinen Schatten, den Wald hinter sich lassend. Ein Bach folgte glitzernd und gurgelnd den Lauf des Weges. An seinem Ufer standen vereinzelt Weiden und hohes Gras. Das Licht der Nachmittagssonne verlängerte die Schatten der verknöcherten Baumriesen, dessen Weidenzweige leicht im Wind raschelten. Die Gegend war so flach wie eine Spiegelfläche. Als wären Hügel oder Anhöhen herausgeklopft worden. Wiesen, Weiden und Felder reihten sich aneinander, wie die Vierecke einer Flickendecke. Mitten auf der Landschaftsplatte standen die Überreste eines Bauernhofes. Das Dach war heruntergebrannten, die Wände schwarz und entblößt. Die verkohlten Dachbalken ragten wie stumpfe Speerspitzen in den Himmel hinauf. Eine Mahnung, dass der Frieden trügerisch war. Eine Strohpuppe, erhöht auf seinem Stecken, wachte am Feldrand den Strohkopf in gefangener Traurigkeit zur Erde geneigt. Die Arme schaukelten leblos im Wind. Einer der beharrlichen Vögel, die ihnen gefolgt waren, setzte sich auf ihn und fegte ihm den Hut vom Kopf. Es war gar keine Vogelscheuche. Zu seinen Füßen lag ein zweiter Leichnam, zusammengesunken und entblößt. Der Vogel krächzte laut und misstönend und begann zu hacken. Dann brach die Hölle los. Kapitel 11: Der Überfall ------------------------ Der Signalruf eines Horns erklang gedämpft aus weiter Ferne. Rochefort hob die Hand zum Schutz vor dem glasigen Licht der Nachmittagssonne an die Stirn. So weit das Auge reichte, sah er nichts als offenes Gelände, hohes wogendes Gras in einer Gegend so flach wie ein Brett. Hier konnten sie jeden sehen, der sich ihnen näherte, aber genauso sichtbar waren auch sie. Rochefort sah zu den Leichen der Bauernleute. Die Grausamkeit angesichts der geschändeten Leichen schockte ihn nicht, aber ihr Bild in der ansonsten friedlichen Landschaft machte ihn beklommen. Es war einfach zu still. Normalerweise lebte der Tag von dem Rauschen des Windes und Vogelrufen. Ein weiterer Signalruf ertönte und der Vogel erhob sich mit einem schrillen langgezogenen Schrei in die Lüfte und flog davon. Lord Rochefort gab einen seiner Männer den Befehl loszureiten. Der Mann schwang sich auf eines der beiden Pferde und galoppierte los. Er tauchte am Horizont unter und verschwand. Was wenn es die Spanier sind? Der Ruf sprang aufgeregt von Wagen zu Wagen und die Männer wurden unruhig. „Ruhe!“, donnerte Rochefort und kämpfte mit seinem Pferd, dass die Aufregung spürte und unruhig mit seinen Hufen scharrte. Die trockene Kehle schnürte sich ihm zu. Ja, vielleicht waren es die Spanier und er hatte nur eine handvoll Soldaten. Sein Blick blieb bei Aramis hängen und der Anblick eines der verhassten Musketiere, zwang ihn sich erst recht keine Blöße zu geben. Er straffte die Schultern und sah herausfordernd zurück. „Vielleicht sind es wirklich die Spanier?“, gab sie zu bedenken. „Wir sollten uns verteidigen können! Irgendetwas tun, um uns zu wehren“, fügte sie ratlos hinzu, als sie seine steinerne Miene sah. Dies war nicht der rechte Zeitpunkt für Unvernunft. Aber Rochefort war kein vernünftiger Mann und so erwiderte er gewohnt arrogant „Ich habe dich nicht um deine Meinung gebeten!“ und wendete sich ab, um an die Spitze des Zugs zu reiten und das vorderste Zugtier mit seiner Peitsche anzutreiben, damit der Tross sich endlich wieder in Bewegung setzte. Rocheforts Späher kam zurückgaloppiert und er war nicht alleine. Die Erde begann zu Beben vom Widerhall der vielen Pferdehufe. Eine riesige Staubwolke folgte denen, die ihm folgten und es waren Hunderte an der Zahl. Ein neuer Hornsignalruf erklang und Schüsse fielen. Rocheforts Späher sank tödlich getroffen von seinem Pferd und blieb liegen. Seine Verfolger galoppierten über ihn hinweg. Es war an der Zeit für die Franzosen in Panik auszubrechen und Rocheforte musste einsehen, dass er ziemlich tief in der Scheiße steckte. Seine Soldaten begannen ungeordnet umherzurennen, während die verletzten Soldaten sich so unruhig auf ihren Platzen bewegten, dass einige Wagen umzukippen drohten. Die Spanier waren auf Handzeichen ihres Hauptmanns hin langsamer geworden und zum Stehen gekommen. Sie warteten und musterten die Franzosen, wie ein in die Enge getriebenes Tier. Pferde scharrten ungeduldig mit den Hufen. Ihr Hauptmann betrachtete die Gruppe der französischen Soldaten abschätzend. Der spanische Hauptmann war seit über 20 Jahren Soldat in der kaiserlichen Armee. Er hatte gegen die Schweden, gegen die Dänen, gegen die Truppen der vereinten Niederlande und allen anderen protestantischen Verbündeten gekämpft, aber so was hatte er noch nicht gesehen. Wahrscheinlich stimmte es, was man so über die Franzosen sagte. Die waren alle weich in der Birne. Sein Obergefreiter lachte dröhnend. „Wie nett von ihnen im Wagen zu bleiben. Man braucht sie nur noch niedermähen.“ Der Hauptmann nickte. „Na, dass ist doch fein“, bemerkte Niclas Fabres trocken zu Aramis und Amaury, die neben ihm im Wagen hockten. „Und wir sitzen hier so hübsch beieinander. Die Spanier brauchen nur noch zuzupicken. Und ich kann noch nicht einmal dabei zusehen.“ „Rochefort“, schrie Aramis, gegen den Sturm der aufgebrachten Männer und das Blöken der verstockten Tiere an. „Lass uns hier raus! Kippt die Wagen um!“ Doch Rochefort ignorierte sie. Gehört hatte er Aramis, denn er wischte ihre Forderung mit einer Handbewegung weg, wie das lästige Summen einer Fliege am Ohr. „Lass die Männer wenigstens aus dem Wagen raus!“ Verärgert stieß Aramis einen Schwall Luft aus und starrte auf Rocheforts abweisenden Rücken. „Du Bastard, kannst uns hier nicht einfach verrotten lassen, damit sie uns abschlachten! Was für eine Witzfigur als Kommandant bist du, dass du nicht fähig bist, richtige Befehle zu geben. Du bist ein elendes Schwein.“ Eine Salve weiterer Beleidigungen folgte, die so dreckig waren, dass sie selbst Aramis überraschten. Rocheforts Gesicht nahm einen grünlichen Gesichtsausdruck an. Sein Blick war mörderisch, der Mund vor Wurt verzehrt. Er entrollte seine Peitschen und ließ sie durch die Luft tanzen und knallen. Aramis wartete nicht erst auf Rochefort. Sie sah sein Gesicht und begann flink vor Furcht von ihrem Wagen zu kletterte. Niclas gluckste und sagte zu Amaury. „Vielleicht hätte ich besser die Klappe halten sollen. Jetzt haben wir Aramis entfesselt.“ Aramis wüste Beleidigungssalve gegen Rochefort war wie ein Fanfarenstoß für die anderen Männer. Sie erhoben sich aus ihrer Benommenheit, die sie gefangen genommen hatte. Mit schwellendem Gebrüll folgte ihr einer nach dem anderen. Sie krochen, humpelten, wälzten sich vom den Ladeflächen, ungeachtete ihrer Behinderung und indem sie sich gegenseitig halfen. Dann begannen sie die Wagen umzukippen, um sich dahinter in Deckung zu bringen. Rocheforts Soldaten konnten nur ratlos zusehen. Aramis verkroch sich in ihrer Mitte. „Feigling!“, brüllte der einäugige Lord außer sich vor Zorn und mit Schaum vor dem Mund. „Verkriech dich nur!“ Wütend zerrte er an den Zügeln seines Pferdes und hieb ihm die Fersen in die Flanke, um es rücksichtslos zwischen die Männer zu treiben. „Aus dem Weg, du Krüppel!“ Maßlos vor Zorn hob er die Peitsche, um sie auf einen der verletzten Soldaten niedersausen zu lassen, der ihm im Weg stand. Der Mann war vielleicht gepeinigt durch ein lahmes Bein, aber er hatte den Oberkörper eines Ringkämpfers und die Kraft eines Ochsen. Die Peitsche fand nie ihr Ziel. Rochefort schwang sie in die Luft, der Soldat griff zum Peitschenende, bekam das Leder zu fassen und zog kräftig dran. Rocheforts getrieben von dem Schwung seines Peitschenhiebes hatte der Kraft nichts entgegenzusetzen und flog hinterher. „Von wegen Krüppel!“, murrte der Soldat und schickte ihn mit einem gezielten Fausthieb in das Reich der Träume. Erwartungsvoll sahen die Männer Aramis an, froh dass jemand die Führung übernahm. Aramis sah ratlos. Sie war kein Kommandant. Dann schluckte sie ihr Unbehagen herunter und straffte sie ihre Schultern, als sie in die hoffnungsvollen Gesichter der Männer blickte. Sie wollten wenigstens eine Chance haben, die Hoffnung nicht wie bloßes Vieh abgeschlachtet zu werden. „Koppelt die Ochsen ab. Wenn die Spanier kommen, lasst ihr sie in die Angreifer hineinlaufen, damit sie nicht geschlossen angreifen können. Versucht die Spanier, wenn sie über die Karren springen, aus dem Sattel zu heben!“, sagte Aramis und fragte sich selbst, woher sie das wusste. „Mit was?“ Die Frage war berechtigt, da Rochefort ihnen kaum mehr als einen Dolch gelassen hatte. „Nehmt Stöcker, Steine, irgendetwas! Nehmt die Wagen auseinander!“ Und die Männer taten was sie sagten. Jemand entwendete dem bewusstlosen Rochefort Degen, Pistole und seine Geldbörse. Amaury drückte den Rücken gegen das Holz des Wagens und presse die Arzttasche gegen sein wild hämmerndes Herz. Nicht das es noch durch die Rippen brach, so heftig wie es schlug. Er war 25 Jahre alt und empfand sich eigentlich noch als jung. Zu jung jedenfalls, um zu sterben. Abgesehen von der gelegentlich, fast stoischen Prügel, die er als Junge von seinem Vater bezogen war er sein Leben lang jeglicher Gewalt aus dem Weg gegangen. Zwar konnte er, ohne mit der Wimper zu zucken Gliedmaßen absägen, Augäpfel anstechen und menschliches Fleisch zerschneiden, doch es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, jemanden willentlich zu verletzen. Amaury mochte Waffen nicht und sie mochten ihn nicht. Doch angesichts dessen, was ihnen nur wenige Pferdelängen entfernt gegenüberstand, überkam ihn eine unendliche Sehnsucht nach einer Waffe. Er öffnete seine Tasche, griff nach seinem Skalpell und umklammerte das filigrane Instrument wie eine Streitaxt. Angstschweiß rann sein Gesicht herab. Ein Blick in die Gesichter der Männer um ihn herum, drehte ihm den Magen um. Er sah Aramis an, die neben ihm am Wagen lehnte und über dessen Rand zu spähen versuchte. „Haben wir eine Chance?“ Aramis sah ihn und seinen wild hüpfenden Adamsapfel mitleidig an. Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Sicherlich“, log sie. Amaury nickte, weil er nichts anderes glauben wollte. „Sind Sie noch immer abgelenkt von dem Gedanken an Brathühnchen?“ „Nein, nicht mehr seit ich gesehen habe, wie eines der Brathühnchen der Leiche das Auge ausgehackt hat. Ich bin vollkommen konzentriert.“ „Wie tröstlich. Retten Sie mich, Musketier?“ Aramis lächelte noch eine Spur breiter. „Versprochen!“ „Was machen sie?“, zischte Niclas flüsternd. Wie zur Antwort auf die Frage, setzten die Spanier zu einem ohrenbetäubenden Gebrüll an, was zu gleichen Teilen aus Wildheit und Triumph gemischt war und stürmten los. Es war wie in einem Albtraum, als die spanischen Soldaten im Sturmangriff auf sie zugeritten kamen und über die Barrieren hinwegfegten. Für Amaury schien die Zeit sich langsamer zu drehen. Der spanische Hauptmann schickte ihnen eine erste Angriffsreihe entgegen. Amaury roch den scharfen Geruch von Schweiß und Angriffsfieber den die Männer verströmten, die sich um ihn herum hinter dem Wagen duckten. Das wilde Angriffsgebrüll der Spanier heulte in seinen Ohren. Die Ochsen blökten schrill, als sie losgelassen wurden. Die Pferdehufe ihrer Angreifer donnerten, als sie auf sie zugeritten kamen. Die Luft wurde von Pistolenschüssen zerrissen. Ein krank machendes Stakkato aus dumpfen und knallenden Lauten ertönte, gefolgt von Schmerzensschreien und erschüttertem Keuchen. Dann hob sich das erste Pferd über seinen Kopf hinweg und setzte auf der anderen Seite auf. Steine und Erdbrocken prasselten auf den Angreifer nieder. Das Pferd bäumte sich vor Entsetzen auf. Weitere Spanier setzten über. Einer und noch ein weiterer, so viele, dass die Wurfgeschosse nicht ausreichten, um sie abzulenken. Die Franzosen bewarfen sie mit Sand und Steinen. Sie zerschmetterten mit Holzplanken, die sie mit bloßen Händen aus den Wagenseiten herausgerissen hatten, die Beine der Pferde, um diese zu Fall zu bringen. Sie schlugen mit Fäusten, Dolch und Krücke auf jeden Angreifer ein, den sie zu Fall gebracht hatten, doch bald floss überall französisches Blut. Es war Zeit für den vollständigen Angriff. Der Hauptmann gab das Zeichen. Obwohl die Französischen Soldaten ihr möglichstes taten, um sich zu wehren, sah Amaury einer nach dem anderen unter den Schwerthieben der spanischen Soldaten sterben. Einer der ersten Franzosen war der blinde und ewig gutgelaunte Niclas und Amaury meinte, dass die Welt schwärzer geworden war. Als er in die, auf ewig erstarrten Augen von Niclas blickte, wurde ihm plötzlich auf quälende Weise bewusst, dass auch sein Tod unmittelbar bevorstand. Amaury ahnte, dass sich sein Gesicht unter dem Eindruck schieren Entsetzten zu einer Fratze verzerrt haben musste und er fragte sich, ob es wehtat, wenn der Stahl in sein Herz eindringen würde. Ein Spanier kam auf ihn zu, sein Schwert erhoben. Amaury kroch näher an den Wagen heran, die Tasche wie ein Schutzschild umklammert, sein Skalpell wie ein Schwert erhoben. Das Skalpell zitterte in seiner Hand. Der warf seinen Kopf zurück und lachte rau und bellend. Dann hob er das Schwert und schlug zu. Wie aus Reflex, hob Amaury die Tasche und fing den Schwerthieb ab, der seinem Kopf galt. Seine Arme zitterten von der Wucht des Hiebes. Fluchend riss sein Gegner das Schwert erneut hoch und fiel wie ein gefällter Baum vorne über. Aramis erschien in seinem Blickfeld und zog ihren Dolch aus dem Rücken des Soldaten. Sie wollte ihm gerade das Schwert entwenden, als ein weiterer Reiter über die Wagenseite übersetzte. Amaury sah wie Aramis hochsprang, den Mann zu fassen bekam und ihn mit der Wucht ihres Körpergewichtes vom Pferd riss. Gemeinsam gingen sie zu Boden. Noch im Fallen zertrümmerte Aramis ihm mit der Handwurzel das Nasenbein. Blut spritze auf und der Mann begann wild auf Spanisch fluchend nach Aramis Gurgel zu greifen. Aramis saß jetzt rittlings auf dem Mann und begann mit der rechten Faust auf die blutige Nase zu schlagen, so kräftig, dass der Hinterkopf mit einem dumpfen Aufprall zurück auf die Erde schlug. Das alles passierte in atemberaubender Geschwindigkeit und mit reichlich wenig Eleganz. Schwer atmend rollte sich Aramis von dem Mann und blieb am Boden liegen. Der Spanier regte sich und Amaury umfasste sein Skalpell fester und stach es ihm in die Brust. Blut sprudelte aus der Wunde und färbte Amaurys Hand blutrot. Fast hätte er nicht mehr die Kraft gefunden, es wieder herauszuziehen. Ein junger spanischer Angreifer, mit kaum erblühtem Bartflaum sah ihn und die blutige Hand, noch am Brustkorb seines toten Kameraden. Er zog die Zügel seines Pferdes scharf an und ritt kopflos davon. Aramis nickte ihm dankbar zu. Ihr Gesicht war leichenblass. „Das war aber nicht gut für Ihr Bein.“ Aus Amaury sprach der Schock. Aramis Antwort war ein langer Blick. Sie reagierte, weil sie Amaury erschrocken aufkeuchen hörte, wirbelte herum und warf ihren Dolch. Der Dolch traf sein Ziel und der Mann hinter ihr kippte von seinem Pferd. Aber er war nicht tot. Der Mann stand auf und wankte blutend auf sie zu. Amaury spürte, wie ihm die Tasche aus der Hand gerissen wurde. Aramis haute mit der Tasche zu, doch der verdatterte Arzt hing immer noch dran. Das Ziel traf sie trotzdem und die schwere Ledertasche schickte den Mann zu Boden. „Wenn ich das nächste Mal Ihre Tasche als Waffe nehme, lassen Sie bitte los“, keuchte Aramis. Amaury nickte. „Wenn Sie das nächste Mal meine Tasche als Waffe nehmen, können Sie mich vorwarnen?“ „Ja! JETZT!“ Und Amaury ließ los. Schwerfällig ließ Aramis die Tasche sinken und griff nach den Zügeln des Pferdes, dessen Reiter sie vor einer gefühlten Ewigkeit aus seinen Sattel gerissen und niedergeschlagen hatte. Ihr Gesicht war grau vor Erschöpfung. Sie nickte Amaury zu und bedeutete ihm auf das Pferd zu klettern. „Können Sie reiten?“ Amaury nickte beklommen. „Ein wenig.“ „Dann reiten Sie so schnell wie noch nie in Ihrem Leben.“ „Wohin?“ Aramis nahm den Toten die Waffen ab, dann fing sie sich ein zweites Pferd ein und schwang sich mühevoll in dessen Sattel. „Zurück zum Wald. Reiten Sie als säße Ihnen der Teufel im Nacken und sehen Sie nicht zurück.“ Anstatt seine Antwort abzuwarten, trat Aramis mit ihrem gesunden Bein seinem Pferd in den Hintern, worauf dieses einen Satz nach vorne machte und loslief. Amaurys Arme schüttelten sich in ihren Gelenkenpfannen, während er ungelenk und vollkommen steif die Zügel seines Pferdes umklammert hielt. Seine Zähne klapperten wild aufeinander, als er über Stock und Stein dahingaloppierten und ein wenig auch vor Angst. Plötzlich zischten Pistolenschüsse um seine Ohren. Amaury zog den Kopf zwischen den Schultern wie eine Schildkröte ein und schüttelte hysterisch die Zügel seines Pferdes durch, um es noch schneller anzutreiben, dabei galoppierte das Tier schon lange ohne sein Zutun auf den schützenden Wald zu, doch der erschien schrecklich weit, unerreichbar weit zu sein. >Ich sterbe, gleich sterbe ich<, jagte ihm durch den Kopf, während der Boden unter den Hufen seines Pferdes hinweg flog. Aramis folgte ihm dicht auf und mehrere Verfolger. Sie schoss zurück und traf, dann war auch ihre Waffe nutzlos. Sie konnten nur noch darauf hoffen, ihren Verfolgern zu entkommen. Wie an unsichtbaren Strippen gezogen, drehte Amaury den Kopf und sah zurück. Er keuchte erschrocken auf. „Oh, mein Gott, sie metzeln alle nieder!“ „Nicht zurücksehen, Amaruy!“, befahl Aramis. „Reiten Sie!“ Und Amaury tat, wie ihm geheißen. Kapitel 12: Königliche Führsprache ---------------------------------- Athos träumte jetzt oft von Aramis. Was ihm gar nicht so unangenehm war, da er sonst von seinem Vater träumte und sein Träume zu Alpträumen wurden. Bevor er jedoch vor seinen König trat, schob er alle Gedanken an Aramis beiseite. Im Vorraum zum Arbeitszimmer seiner Majestät warteten mehrere hochrangige Bittsteller und Botschafter. Es war Audienzzeit. Eine Möglichkeit seinem Souverän gegenüberzutreten, um mit genügend Schmeicheleien und Speichelfluss königliche Zuwendungen zu bekommen. Die hochgestellten Besucher waren ihrem Rang gemäß platziert worden und so wartete Athos, seinem niederen Rang als Musketier entsprechend im Vorzimmer, des königlichen Vorzimmers. Deshalb reagierte er auch nicht gleich, als sein Name vorm Kammerdiener als einer der Ersten aufgerufen wurde. Plötzlich sah er sich mehrerer bestürzter Blicke ausgesetzt. Ob unbeabsichtigt oder als heimlichen Affront, hatte der Kammerdiener seiner Majestät nach Athos dem Musketier verlangt, nicht nach Leutnant d’Autevielle. Als er dem Mann folgte, folgten ihm wiederum scheele, messerscharfe Blicke. Es war zwar allgemein bekannt, dass sich der König als Hauptmann seiner eigenen Garde sah, aber hier wurde einem einfachen Musketier der Vortritt gewährt und nicht dem Kapitän. Ludwig sah ihn mit königlichem Wohlwollen an. Sie waren alleine. Der König gewährte ihm das Privileg einer privaten Audienz. Von soviel königlicher Zuvorkommenheit schwirrten Athos die Sinne und er räusperte sich betreten. „Drei Wochen sind vergangen seit wir Euch losgeschickt haben. Und wie es scheint, habt Ihr nicht nur die Revolte niedergeschlagen sondern auch zahme Kätzchen zurückgelassen, wo Euch fauchende Löwen gegenüberstanden.“ Athos schmunzelte verhalten. Das war ein bisschen sehr blumig gesprochen. Er hatte übersättigte fette Hauskater vorgefunden, die träge um ihre Milchschüssel schlichen. „Sie haben einfach nicht so schnell mit uns gerechnet, Majestät!“, berichtete Athos, sparsam wie immer. Die Augen des Königs glitzerten selbstgefällig. „Der Kardinal wollte nicht, dass ich Euch schicke, weil er vermutete, dass einer der Aufrührer Euer Vater ist.“ Dazu konnte Athos nichts sagen. Es war immerhin sein Vater. „Wusstet Ihr es?“ „Ich hatte es geahnt, Eure Majestät.“ „Er ist Euer Vater!“ „Und ich bin Euer Musketier!“ Die Antwort erfreute den König. „Nun, ich wusste, dass ich mich auf Euch verlassen kann“, schloss Ludwig, sichtlich zufrieden. „Werden Sie nun treue Untertanen sein?“ „Das weiß ich nicht, Eure Majestät“, gestand Athos, „aber Charles d’Albert de Luynes wird über sie und ihre Loyalität wachen. Er ist nun alarmiert und weiß, wer alles bereit war gegen Euch zu rebellieren. Außerdem haben wir sie zu einer Abzahlung ihrer Schuld an Eure Majestät verpflichtet.“ „Und das soll sie bändigen?“ „Sie haben für ihren Aufstand Söldnertruppen angeworben und dafür hohe Geldsummen geliehen. Wir hatten Glück, dass ein Großteil der Truppen noch eingetroffen war. Obwohl es nicht zum Aufstand gekommen ist, werden sie ein Teil der versprochenen Löhne an die Söldner auszahlen müssen. Und um Euren Forderungen nachzukommen, müssen sie noch größere Summen leihen. Sie werden voll und ganz mit der Begleichung ihrer Schuld beschäftigt sein und damit, dass niemand sieht, wie arm sie wirklich sind.“ „Und meine Staatskasse freut sich“, äußerte der König zufrieden. „Gar nicht dumm. Wenn Ihr einen Wunsch habt, so äußert ihn.“ „Nur einen, Eure Majestät!“ „Gnade für Euren Vater? Nun des lieben Frieden willen, gewähren wir sie ihm.“ „Er ist ein alter Mann, Majestät. Aber nein, ihn meinte ich nicht.“ Der König zog die Braue hoch. „Ach so?“ „Es gibt eine junge Frau, die ich in Sicherheit wissen will. Sie ist Witwe. Wenn Ihr die Königin bitten könntet, sie als eine ihrer Hofdamen aufzunehmen, wäre ich Euch unendlich dankbar. Sie gehört nicht dem Hochadel an, aber sie wäre mit ihrer Schönheit und ihrem Liebreiz sicherlich ein Gewinn für den Hof.“ Der König horchte auf. „Wenn sie Witwe ist, jung und schön, dann wollt Ihr sie als Frau?“ „Nein“, sagte Athos und ein schmerzlicher Zug legte sich um seinen Mund. „Das war einmal, aber bestimmte Dinge sollte man ruhen lassen und nicht wieder anrühren!“ „Verstehe!“, sagte der König und beobachtete seinen Musketier genau. Ein wundervoller Gedanke kam ihm. „Athos, wir finden es befreiend, einem Mann unser uneingeschränktes Vertrauen schenken zu können, der so loyal und treu zu seinem König steht.“ Athos neigte bescheiden den Kopf. „Gerade in Zeiten, wo die eigenen Adligen gegen ihren Souverän rebellieren“, sagte der König bitter. „Und wir haben nicht vergessen, welche Rolle Ihr bei der Affäre mit dem Eisenmann gespielt habt. Wir wollen Euch danken, nur wir denken, dass unsere bisherigen Gaben nicht angemessen waren …“ „Aber …“, wandte Athos ein. „Ja, ja!“ Der König wedelte seinen Einwand beiseite. „Betrachtet die Sache mit der jungen Frau als getan.“ Athos klappte seinen Mund wieder zu. „Wir haben wir etwas für Euch gefunden, was unsere besondere Dankbarkeit auszudrücken vermag“, fuhr der König weiter fort. „Unser Geschenk gehört zu einen der schönsten Dinge, mein Freund, die Frankreich je hervorgebracht hat und wir hoffen, Ihr werdet uns die Freunde machen, es anzunehmen.“ Athos verneigte sich unbehaglich und sah seinen Souverän fragend an. Ludwig lächelte geheimnisvoll. „Alles zu seiner Zeit, mein Freund, alles zu seiner Zeit.“ Athos spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. Als Athos das Büro seines Kapitäns betrat, war ihm als wäre er an einem falschen Ort gelandet. Der Raum sah aus wie immer. Der breite Schreibtisch thronte feudal vor den hohen Fenstern, durch welche die Strahlen der sinkenden Abendsonne schienen. Doch die Szenerie schien aus eine Tragödie zu sein, dessen Skript nur er nicht erhalten hatte. Dabei hatte jeder seinen richtigen Platz eingenommen. D’Treville saß hinter seinem Schreibtisch, Porthos und D’Artagnan standen respektvoll davor. Marice Floer der Sekretär des Kapitäns stand rufbereit an dessen Seite. Doch das Gesicht des Kapitäns war bekümmert und das Haar wesentlich ergrauter, als vor Athos Abschied. D’Artagnan und Porthos wandten sich ihm bei seinem Eintreten zu. Aus den kalkweißen Gesichtern seiner Freunde sprach Entsetzen und großer Kummer. Schweigend begrüßten sie ihn, eine fast anklagende Stille antwortete ihm. Athos erstarrte in seinen Bewegungen, noch immer die Hand am Türknauf. Ein Schluchzen entwich Porthos gewaltiger Brust, wie das dumpfe Donnern eines Gewitters. Der gesamte Oberkörper erbebte. Athos erbleichte. Ein Teil von ihm ahnte instinktiv, woher das Entsetzen seiner Freunde rührte. Kalter Schweiß brach aus und das Blut rauschte so laut in seinen Ohren, dass es ihm schwindelte und er die Antwort nicht verstehend konnte. Er las die Nachricht von D’Artagnans Lippen ab. Ein weiterer schrecklicher Moment verging, ein neues Donnerschluchzend entwich aus Porthos Brust und die rotgeränderten Augen des Kapitäns bohrten sich in sein Gehirn. Athos schüttelte den Kopf. Nein, schrie alles in ihm und er hatte das dringende Bedürfnis sich zu setzen, aber er war zur Salzsäule erstarrte. Athos hörte sich wie aus weiter Ferne fragen, ob sie sicher waren. Sein Kopf schmerzte von den harten Schlägen seines Herzens und dem Blutrauschen in seinen Ohren. Er fragte nicht, was passiert war? D’Artagnan nickte. „Aber wie?“ brach es endlich aus ihm hervor. „Ein Überfall der spanischen Armee als sie auf dem Rückweg waren.“ „Das bedeutet doch nicht, dass Aramis tot ist. Er könnte gefangen genommen worden sein. Ihm könnte die Flucht geglückt sein. Niemand kann wissen, ob er noch lebt“, äußerte er verzweifelt. „Wie könnt ihr schon um ihn trauern?“ Doch D‘ Artagnan schüttelte traurig den Kopf und Porthos schluchzte laut auf. „Ein Verstärkungstrupp, der ihnen entgegen geschickt worden ist, hat die Leichen gesehen. Sie sind mitten auf einem offenen Feld angegriffen worden, ohne Pferde, ohne Waffen. Es gab keine Möglichkeit zu entkommen, für keinen von ihnen. Unser Trupp ist den Spaniern gefolgt und hat sie eingeholt. Die Spanier hatten keine Gefangenen gemacht.“, erklärte der junge Musketier tonlos. „So hat es der Bote berichtet. Und sie haben sich für die Toten gerächt.“ Athos Blick irrte umher. „Haben sie Aramis Leiche gesehen?“, fragte er drängend. „Jeder kennt doch Aramis, den Musketier.“ D’Artagnan klang plötzlich müde. „Sie wussten doch gar nicht, dass sie nach Aramis suchen sollten. Für sie war es nur der Trupp der verletzten Soldaten aus dem Feldzug. Sie haben die Leichen gesehen und sind dann den Spaniern gefolgt. Aramis trug nicht seine Musketieruniform.“ „Dann haben sie ihn nicht gesehen.“ „Athos, hör auf“, fuhr Porthos dröhnen dazwischen und zog sich laut schniefend den Schnodder hoch. „Er hätte doch mit dem verletzen Bein nicht einmal davon laufen können.“ Die nächste mächtige Welle aus Schluchzern und Rotz landete in dem Stoff seines Ärmels. Athos Hand hielt ihm am Türrahmen aufrecht, sonst wäre er gefallen. Das Rauschen in seinem Kopf machte ihn schwindlig. „Aber wie konnte das geschehen?“ Der Kapitän hob den Blick und starrte ihn wild an. Die Stimme mit der er sprach, war so trocken wie Wüstensand und verursachte eine Gänsehaut. „Aus Nachlässigkeit und Überschätzung.“ Er spie die Worte auf den Tisch. „Sie haben eine Gruppe verletzter Soldaten kampfunfähig, mit einer Handvoll Infanteristen, unter der Führung eines Idioten durch ein feindliches Gebiet geschickt. Und das ist der Preis dafür. Wir waren alle zu beschäftigt mit den Nachrichten von dem Aufständen der Provenceadligen und den Einfällen der Spanier. Als dann Ruhe einkehrte und mir bewusst wurde, wie nachlässig wir gehandelt hatten, habe ich seine Majestät davon überzeugt, ihnen eine stärkere Schutzeskorte zu schicken, aber es war zu spät dafür.“ Seine Faust donnerte auf den Schreibtisch. Diese verfluchten Spanier.“ Athos konnte und wollte noch immer nicht glauben, was er gehört hatte. „Aber ich komme gerade vom König. Er hat den Überfall mit keinem Wort erwähnt.“ „Er weiß es noch nicht. Wir haben es gerade erst erfahren.“ Es klopfte diskret und ein königlicher Page trat ein, mit der Forderung der Kapitän solle sofort zum König kommen. D’Treville Miene glättete sich und wurde steinern. Er erhob sich schwerfällig und sah seine Musketiere an. „Ich gebe Euch frei. Geht in eine Taverne und ertränkt Euren Kummer. Erhebt das Glas auf Aramis. Einer der tapfersten und besten Musketiere musste auf unverzeihlich sinnlose Weise sterben, weil unser Generalissimus sich nicht um den gemeinen Soldaten schert und die Gemeinheit unseres Feindes unterschätzt wurde. Es tut mir leid, zu beschäftigt gewesen zu sein, um das Unglück vorherzusehen. Jetzt ist es leider zu spät für Aramis. Ich muss nun zum König. Er wird sicherlich betrübt sein, von dem Tod einer seiner Musketiere erfahren zu haben.“ Mit diesen Worten wandte er sich ab und folgte dem Pagen zu den königlichen Gemächern. Athos saß alleine in einer Taverne. Er war in einer Gemütslage, wo er keine direkte Gesellschaft ertrug. Aber auch keine Einsamkeit. Er fühlte wie die Kälte und Leere durch seine Adern kroch, obwohl der scharfe Rum in seinem Magen brannte. Er hielt seine Wut über die Spanier und seine eigene Sorglosigkeit nur mit Mühe zurück. Warum fühlte er sich nur so leer und ausgebrannt? Er hatte doch erst vor drei Wochen Aramis verabschiedet. Eine Zeit die wie eine Ewigkeit zurückzuliegen schien. Ein Teil von ihm hatte noch immer nicht realisiert, dass Aramis tot war und nie wieder zurückkehren würde. Wenn er sich erlaubte darüber nachzudenken, glaubte er in einen Abgrund zu fallen. Doch das Verhältnis von Kapitän und Aramis brachte ihn ins Grübeln. Natürlich war der Kapitän erbost und erschüttert darüber, dass einer seiner Musketiere gestorben war. Zumal Aramis Tot vollkommen sinnlos war. Aber er hatte gewusst, dass Aramis eine Frau war und Athos hätte seine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass Kapitän D’Treville nicht der Mann war, der eine Frau unter seinen Musketieren duldete. Der Kapitän war streng, aber gerecht und durch und durch Soldat. Das Soldatenleben schloss gemeinhin Frauen aus, außer sie dienten als Randakteure. Was für ein Verhältnis hatten Aramis und der Kapitän zueinander gehabt? Ein amouröses, schloss Athos aus, auch wenn er dafür keine Hand mehr ins Feuer legen würde. Für das Chor schien Aramis für D’Treville nur ein weiterer Musketier und Soldat zu sein. Er hatte sie weder geschont, noch bevorzugt, aber auch nicht abgewertet. Als Aramis zu einem Elitemusketier aufgrund ihrer Leistungen aufgestiegen war, hatte er ihr denselben Respekt entgegengebracht, wie Athos und Porthos. Plötzlich dachte er wieder an Aramis. An gemeinsame Augenblicke, an die Nacht vor der Schlacht und ihre Verletzlichkeit, als sie ihn in seinem Zelt besuchen kam und es schnürte ihm die Kehle zu. Alles hatte sich in jener Nacht zwischen ihnen geändert, jetzt da er wusste, was sie wirklich war und er verfluchte sich selbst, dass er hatte gehen müssen. Er wollte die Geheimnisse ihrer verborgenen Weiblichkeit ergründen, bis es nichts mehr zu finden gab. Doch Aramis war von ihnen gegangen und mit ihr ihre Geheimnisse. Athos ließ den Kopf tief in den Rumbecher sinken und die junge Schrankmagd seufzte vor Mitleid auf, als sie den gramgebeugten Mann sah. Bei jeder Bestellung strich sie an ihm vorbei und fuhr ihm mitfühlend über die Schulter. Athos von der aufdringlichen Nähe der Frau angewidert, leerte in einem Zug seinen Becher und wollte sich gerade erheben, als sein Blick in die hintere Ecke des Schankraums fiel. Er stutze und stand so schnell auf, dass er den Becher umstieß und dieser polternd zu Boden ging. Er schwankte. Der Schankraum drehte sich und Athos musste heftig blinzeln, gegen den Aufruhr in seinen Magen. Die Schankmagd eilte herbei und umfasste seine Hüfte. Unwirsch schüttelte er sie ab und die junge Frau stürzte zu Boden. Seine alkoholgeschwächten Glieder hatten zu stark zugestoßen. Beleidigt und verärgert sah sie zu ihm auf. Plötzlich war es still in dem vorher so stimmengewaltigen Raum. Die Stimmung schlug in Gewaltbereitschaft und Streitlust um, doch Athos Gehirn war zu abgelenkt und neblig, um es zu registrieren. Er lief schwankend wie auf Schiffsplanken auf den hinteren Teil des Schankraums zu. Die Schankmagd saß noch immer zeternd auf dem Boden. Hinten angekommen, ließ Athos seine Hand schwer auf die Schultern eines der Gäste fallen. Der blonde Mann drehte sich um und etwas fiel in Athos zusammen. Es war nicht Aramis. Er nuschelte eine Entschuldigen, doch das Gesicht seines Gegenübers drückte nur gewaltigen Ärger aus, der bald darauf folgte. Irgendwo im Nebel seines Gehirns schrillten Alarmglocken, aber irgendwie fand er den Griff seines Degens nicht. Dann schlug sein Kontrahent zu. Es gab nicht viele Geheimnisse, die Musketiere betreffend, die nicht den Weg zu D’Trevilles Ohren fanden. Und Gnade dem, der ihm eines davon verschwieg. Der strenge Kapitän war zumeist gnädiger gestimmt, wenn eine Verfehlung vom Verursacher selbst überbracht wurde. Das Gnadenbrot des Kapitäns war meist trocken und karg, doch es war besser, als die Strafe die unweigerlich folgte, wenn jemand versuchte seinen Frevel zu verschweigen. Der Vorfall in der Taverne hatte Athos bestimmt auf seinen Weg zum Kapitän überholt und war längst vor ihm eingetroffen, doch deshalb wollte Athos nicht zu ihm. Der Kapitän sah verwundert auf, als sein Diener Athos hereinführte. Der Kapitän schien sich gefangen zu haben. Er wirkte eher nachdenklich. Er saß in einem hohen Armstuhl vor dem Kamin und starrte in dessen tanzende Flammen. Athos setzte sich, ohne eine Aufforderung abzuwarten dem Kapitän gegenüber. D’Treville ließ fragend den Blick über Athos zerschundenes Antlitz gleiten. „Was ist das?“ „Das ist unwichtig!“, beschied Athos knapp. Zum ersten Mal war Athos seinem Kapitän gegenüber respektlos. Der Kapitän hob eine Braue. „Du siehst schrecklich aus!“ „Ich fühle mich auch schrecklich. Wie kommt es, dass Ihr wisst, dass Aramis eine Frau ist und sie dennoch bei den Musketieren ist?“ Der Kapitän blinzelte erstaunt, dann zogen sich seine breiten Brauen böse zusammen. „Athos“, sprach er grollend, „Ich glaube nicht, dass dich das etwas angeht!“ Doch Athos bohrte seinen Blick unmissverständlich in die finsteren Augen des Kapitäns. „Doch, dass tut es, mehr als Ihr denkt.“ „Wie meinst du das?“ „Auch das ist unwichtig, aber ich muss es wissen, Kapitän, um es verstehen zu können. Habt Ihr es erst erfahren, als Aramis schon längst Musketier war oder wusstet Ihr es vorher?“ Der Kapitän starrte ihn eine Weile finster und mit sich ringend an, dann seufzte er und lehnte sich zurück. Sein Blick bekam einen nüchternen Ausdruck. Auch Athos ließ sich gegen die Lehne sinken. Die Hände lagen locker auf den Armlehnen, doch der Blick blieb fordernd. „Es ist keine schöne Geschichte und ich hatte Aramis versprochen, nie über sie zu reden.“ Der Kapitän rieb sich nachdenklich das Kinn, was wie das Schniegeln von Sandpapier klang. „Nun, vielleicht ist es gar nicht schlecht, dass jemand anderes ihre Geschichte kennt. Sie ist letztendlich ohne ihren wahren Namen und als Mann gestorben.“ Athos wartete geduldig, bis der Kapitän soweit seine Gedanken geordnet hatte, dass er sie aussprechen konnte. „Aramis Vater und ich, wir waren auf derselben Offiziersakademie. André war ein hoffnungsloser Romantiker und unverzeihlicher Narr, wenn es um die Menschen ging.“ Der Kapitän lächelte freundlos und sagte zynisch. „Und in mir sah er seinen besten Freund, das war sein erster Fehler und ich weiß bis heute nicht, wie er zu der Annahme kam, denn ich war ein fürchterlicher Freund. Aber ich war sein Trauzeuge bei seiner Hochzeit und ich wurde der Pate seiner Tochter und das war sein wohl größter Fehler.“ „Aramis?“, fragte Athos. „Aramis“, bestätigte, der Kapitän, „Oder Renée, wie ihr wirklicher Name ist.“ Als Athos Aramis wirklich Namen hörte, begann sein Herz schneller zu schlagen, ohne dass er sagen konnte, warum. „Ich beantwortete kaum Andrés Briefe und noch weniger kam ich zu Besuch“, fuhr der Kapitän förmlich und schnörkellos fort. „Vielmehr war ich damit beschäftigt Soldat zu sein. André lebte indes glücklich mit Frau und Kind auf seinem Schloss, bis ein Unfall ihn tötete. Seine Frau, die ihn über alles geliebt hatte, raffte wenig später eine Krankheit dahin. Auszehrung nannten sie es, vor Kummer zerfressen. Ich wusste von all dem nichts, bis ich einen Brief von dem Anwalt der Familie erhielt, der mich aufforderte zu ihm zu kommen.“ Er lächelte schmallippig. „Was war ich damals wütend, einfach dorthin diktiert zu werden. Der Brief des Advokaten passte so gar nicht in meine Pläne. Das Treffen war in seinem Büro und nicht im Schloss der Familie. Als ich ankam, saß vor dem Büro Andrés Tochter, ein kleines Mädchen, ganz alleine, mit einer riesigen Puppe im Arm. Heute würde ich sagen, wo war die Amme, die Kinderfrau. Doch damals hat mich das nicht interessiert. Im Büro erwarteten mich der Anwalt der Familie und die Tante des Mädchens mit ihrem Mann.“ D’Treville kräuselte verächtlich die Lippen. „Die Frau war lang und knöchern und hatte einen bösen bissigen Gesichtsausdruck, wie eine Hyäne. Er war ein fetter Kaufmann, mit gierigem Blick. Sie hatte wohl unter ihren Stand heiraten müssen. Der Anwalt teilte mir mit, dass ich als Pate zum Vormund von Andrés Tochter bestimmt wurde.“ Was jetzt kam, fiel dem Kapitän schwer zu gestehen. Die Stimme des Kapitäns war rau, als er sein Verhalten von damals zu entschuldigen versuchte. „Ich war nur wütend, schrecklich wütend. Was sollte ich, ein lediger Soldat mit einem achtjährigen Mädchen anfangen? Wie konnte man das von mir verlangen? Was hatte ich groß mit André zu tun, außer mit ihrem die Ausbildungszeit geteilt zu haben? Warum sollte ausgerechnet ich mich um ein Kind kümmern, wo noch nicht einmal die eigene Mutter Verantwortungsbewusst war, bei ihr zu bleiben und lieber ihrem Mann in den Tot folgte.“ Der Kapitän verlor sich einen Moment in Selbstmitleid. „Weitere Angehörige gab es nicht, nur die Schwester der Mutter mit ihrem Mann. Als der Anwalt sagte, dass das Pärchen das Mädchen in ihre Obhut nehmen würde, bin ich den Handel eingegangen und habe die Verantwortung abgeschoben.“ Der Kapitän seufzte. „Ich wusste, dass es ihr bei den beiden schlecht ergehen würde. Man sah es ihnen an den käsigen Gesichtern an und doch verspürte ich nur Erleichterung, dass Mädel samt Puppe los zu sein. Renée sollte ihr Erbe bei Volljährigkeit erhalten oder es würde bei Heirat auf ihren Mann übergeben. Bis dahin würde es vom Anwalt verwaltet werden und ihr Onkel und ihre Tante eine monatliche Zuwendung erhalten, für ihre Ausgaben. Damit erschien mir das Vermögen des Mädchens sicher vor den gierigen Fingern ihrer Verwandten.“ Das Feuer knisterte im Kamin und Athos hatte den Atem angehalten. „Als ich aus dem Büro herauskam, war ich einfach nur froh wieder zu meinem Regiment zurückkehren zu können. Andrés Tochter sah mich wieder mit diesen großen Augen an, so einsam und verlassen. Vor diesen Augen bin ich bin regelrecht geflohen.“ D’Trevilles zog seine Unterlippe ein und zutschte nachdenklich an ihr. Er schwieg und sah seine Hände an. „Kapitän“, erinnerte ihn Athos sanft. „Natürlich sehe ich in Aramis nicht mehr das kleine Mädchen von damals, die Tochter von André. Für mich ist sie Aramis, der Musketier. Jahre später besuchte ich sie, um mein eigenes Gewissen zu beruhigen.“ Er lachte sarkastisch. „Natürlich ging es ihr nicht gut, das tat es all die Jahre seit dem Tot ihrer Eltern nicht. Onkel und Tante nutzten das Geld für Renée für sich und behandelten sie lieblos und kalt. Doch ich sagte mir, dass Mädel ist nun zwölf Jahre alt, bald heiratet sie und kann fort von den beiden.“ „Vier Jahre später stand sie plötzlich vor mir“, erzählte der Kapitän ruhig. „Geschunden und fürchterlich zugerichtet. Sie erzählte mir, dass sie verlobt gewesen war, aber ihr Verlobter umgebracht wurde. Wieder völlig allein, hätte ihr gieriger Onkel versucht sie mit seinem Freund zu verheiraten, um an ihr Erbe heranzukommen. Als sie sich weigerte, taten beide Männer ihr Gewalt an, um sie zu brechen, da ist sie davongelaufen.“ Dabei sah er Athos prüfend an. Athos Lippen wurden schmal und der Musketier ballte die Hände zu Fäusten. Wut kroch in ihm hoch. „Sie haben ihr Gewalt angetan?“, wiederholte er mit brüchiger Stimme. „Ja, sie sah fürchterlich aus. Selbst ich konnte nicht mehr leugnen, dass ich zu lange die Augen verschlossen hatte.“ Die Erinnerung an ein anderes junges Mädchen holte Athos ein. Und wie D’Treville, hatte auch Athos die Augen verschlossen und war mit seinen gekränkten Gefühlen davongerannt. Damals hatte er ihr die Schuld gegeben und nichts hätte falscher liegen können. Er hatte gewusste, wie sein Vater war, doch so war es leichter gewesen, weggehen zu können. Er wünschte nur, sie hätte auch den Mut besessen, zu fliehen. „Und was wollte Aramis von Euch?“, fragte er heiser. „Die Einlösung meiner Schuld. Sie verlangte nicht viel, nur das ich sie bei den Musketieren aufnehme und über sie Stillschweigen bewahre. Sollte herauskommen, dass sie in Wahrheit eine Frau ist, hätte ich geleugnet, es gewusst zu haben.“ „Warum wollte sie das?“ Der Kapitän zuckte die Schultern. „Um nicht mehr hilflos zu sein, um den Tot ihres Verlobten zu rächen, dass sagte sie mir jedenfalls. Und so wurde sie mein Musketier und ich habe es nie bereut.“ Er sah Athos eindringlich an. „Ich bin Soldat, Athos, durch und durch. Verantwortung übernehme ich für andere Soldaten, für meinen König und für meine Männer, für sie bin ich bereit zu sterben. Was sollte ich mit einem achtjährigen Mädchen anfangen, aber Aramis als einer meiner Musketiere, dass ist etwas völlig anderes.“ Athos nickte nachdenklich und erhob sich. „Ich danke, Euch Kapitän, dass ihr mir ihre Geschichte erzählt habt.“ Der Kapitän legte den Kopf schief. „Als Aramis mir damals erklärte, was sie von mir verlangte, hielt ich das Mädchen für verrückt. Ich habe mit Weibern wenig am Hut, aber mittlerweile musste selbst ein alter sturer Soldat wie ich lernen, dass auch Frauen ein gewisses Recht auf Rache haben. Der stille Musketier nickte. „Guten Nacht, Kapitän!“ sagte Athos sanft. „Guten Nacht, Athos!“ Kapitel 13: Unfreiwillige Weggefährten -------------------------------------- Die Baumwipfel waren so hoch und dicht, dass der Himmel nicht zu sehen war. Die Sonne ging unter und die Nacht kroch mit dem Dämmerlicht zwischen die Blätter. Mit der Dunkelheit begann der Wald zu flüstern und zu wispern. Es raschelte, als ein Tier sich durch das Unterholz bewegte. Amaury fuhr mit keuchendem Atem herum und presste seine Arzttasche noch fester gegen die Brust. Eine Eule gurrte. Sein Herz raste, kalter Schweiß überzog seine Haut. Er blickte sich suchend um, doch die Dunkelheit war vollkommen. Dann hörte er leises Knurren in seiner Nähe und glaubte gelbe Augen aus der Dunkelheit leuchten zu sehen. „Aramis“, flüsternd Amaury und als er außer Schweigen keine weitere Antwort erhielt, schrie er nach ihr, schrill und viel zu hoch. Aramis fuhr erschrocken hoch. „Was? Wo?“ „Bist du wach?“, fragte er zischend. „Jetzt schon“, brummte es widerwillig zurück. An dieser Stelle fand Amaury heraus, dass das Knurren von seinem leeren Magen kam. Seit dem Frühstück hatte er nichts mehr gegessen und das Frühstück schien Wochen zurückzuliegen. Er hatte mörderischen Hunger. Er schluckte betreten. „Wo sind wir?“, fragte er, um überhaupt etwas zu sagen. Aramis kämpfte mit Übelkeit. Ihrer Brust entfuhr ein Ächzen, dass mit ihrer eigenen Stimme nichts zu tun zu haben schien. „Irgendwo in diesem gottverlassenen Wald“, murrte sie gereizt. „Was weiß ich.“ Der Kampf gegen die Spanier und die Flucht in den Wald hatten sie an die Grenzen ihrer Kraft getrieben. Was sie brauchte war Schlaf. Sie ließ sich wieder in das Gras zurücksinken, aber die Schmerzen im Bein machte es ihr unmöglich eine angenehme Position zu finden. „Sie haben so viele getötet“, bemerkte Amaury verstört. „Ja!“ bemerkte Aramis knapp. „Und die anderen?“ „Wahrscheinlich tot - oder gefangen genommen worden, was bedeutet das sie so gut wie tot sind.“ Der Gedanke an eine Gefangenschaft war für Aramis der Punkt gewesen, wo jegliche Handlung auf Flucht hinauslief ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können, wie ein unbezwingbarer Selbsterhaltungstrieb. „Hätten wir nicht … Sie schnitt ihm das Wort ab. „Nein!“, „Aber …“ „Dann wären wir jetzt auch tot.“ „So einfach ist das?“, fragte er ungläubig. „Ja, so einfach ist das. Wir haben Glück gehabt, sie nicht und nun lass es gut sein.“ Ihre Stimme war grantig. So war der Krieg, so war eben das Leben eines Soldaten. „Versuche zu schlafen!“ Amaury schluckte und schwieg. „Ich kann nicht“, gestand er schließlich kläglich. „Alles ist so …ähm beunruhigend.“ Aramis murmelte abweisend etwas, was wie „Ach was!“ klang und wälzte sich ächzend auf die andere Seite. Der Waldboden roch schwer nach Erde und Pflanzen. Die Nacht war kalt, aber nicht frostig. Sie erinnerte sich an einen anderen Wald, verschneit und in eisiger Kälte erstarrt, vollkommen leblos und abweisend. Ihr Atem war in der Luft gefroren. An diesem Wald ist nichts schrecklich, dachte sie, aber ein zynisches Lächeln wollte ihr nicht gelingen, da sie vor Schmerz die Lippen fest zusammenpresste. Amaury wartete, aber von Aramis kam keine Antwort mehr. Seufzend legte er sich nieder, die Beine an die Brust gezogen, seine Tasche wie eine Geliebte fest im Arm und wartete ob irgendwann ein neuer Morgen anbrach oder ein Untier ihn verschlang. Der neue Tag brach an und sie lebten immer noch. Gegen Mittag kamen sie endlich zum Waldrand und obwohl das Bild was sich ihnen bot vertraut war, traf es sie völlig unerwartet. Beide starrten ungläubig auf das Stück Landschaft, was sich vor ihren Füßen ausbreitete. „Wir sind wieder hier!“, ächzte Amaury. Aramis sagte gar nichts, Aramis verdaute. Es gab zahlreiche Stellen, an denen sie hätten aus dem Wald kommen können, aber sie landeten ausgerechnet an dem Ort, wo sie in den Wald geflüchtet waren. „Wie können wir wieder hier sein“, wiederholte Amaury und klimperte ungläubig mit den Wimpern, „wir waren doch den ganzen Tag im Wald unterwegs.“ Aramis zuckte die Achseln. „Das ist ein Wald“, stellte sie spröde fest, „jeder Baum sieht gleich aus. Man weiß ohnehin nicht wo vorn und hinten ist. „Ja, aber ausgerechnet wieder hier?“ Aramis warf ihm einen langen Blick zu. Vielleicht hätte sie ihm sagen sollen, dass ihr Orientierungssinn nicht gerade zu ihren Stärken zählte, wenn man nicht sogar sagen könnte, er war fürchterlich. Andererseits, gehörte es auch nicht zu ihren Stärken, ihre Fehler einzugestehen und so schwieg sie. Still und verlassen lag die Ebene vor ihnen, ein friedliches Bild unter einem blauen Himmel mit einzelnen Zupfwolken. Das Wasserband des Bachs glitzerte in der Sonne. Es war das gleiche trügerische Bild von Friedlichkeit und Sicherheit was sich ihnen gestern geboten hatte, bis plötzlich die Spanier aufgetaucht waren und, nun ja, vielleicht jeden ihrer Kameraden getötet hatten, außer ihnen. Eine dünne Rauchsäule am Horizont kroch in den Himmel empor. Das war die Stelle, an der die Leichen lagen. Amaury trat aus dem Schatten der Bäume hervor, den Blick starr auf die dünne Rauchsäule gerichtet. Plötzlich raschelte es im Gebüsch neben ihnen. Beide starrten erschrocken den Busch an. Das dichte Gestrüpp des Busches erzitterte, dann schwieg er. „Was ist das“, wisperte Amaury und riss seine Tasche wie ein Schutzschild hoch. „Nicht was, sondern wer. Das klang, als wenn jemand hustet“, erwiderte Aramis und zog misstrauisch die Augenbraue zusammen. „Und wenn es ein wildes Tier ist?“ Amaury flüsterte noch immer und trat vorsichtig einen Schritt zurück. „Ein großes wildes Tier?“, fügte er hinzu. „Unsinn, dass war ein Husten“, behaarte Aramis und trat dafür ein Stück näher, „ein menschliches Husten.“ Büsche husteten nicht und die einheimischen Tiere auch nicht. Sie nahm einen Stock und haute in den Busch hinein. Der Busch verlor etliche seiner Blätter und schrie „Aua!“ Selbstzufrieden schlug Aramis erneut zu und weitere Blätter fielen. „Aua!“, wiederholte der Busch, nun wesentlich lauter und gereizter. „Rocheforte, du Feigling“, schrie Aramis triumphierend, immer noch den Stock schwingend, „hör auf dich zu verstecken und komm da raus!“ Und haute noch einmal zu. Der einäugige Lord kroch, den schmerzenden Schädel reibend, aus seinem Versteck. Der Busch war ohnehin schon kahl. Zerrissen, verdreckt, mit grünen Blättern besprenkelt und äußerst pikiert stand er vor ihnen. Arrogant reckte Rochefort die Nase hoch „Ich habe mich nicht verkrochen. Reiter kamen plötzlich und da hielt ich es für besser mich zu verbergen. Falls es wieder die Spanier waren“, fügte er blasiert hinzu. „Verkrochen, sag ich doch“, höhnte Aramis. „Was nützt es mir zu sterben, du dummer Musketier?“ „Ihr habt Eure Leute im Stich gelassen“, fuhr Aramis ihn an. „Im Stich gelassen?“, herrschte Rochefort zurück und stieß mit der käsigen Spitze seiner großen Nase fast in ihr Gesicht. „Dieser riesige Bauertölpel hat mich niedergeschlagen. Als ich wieder erwachte, waren alle um mich herum schon tot.“ „Ach was“, brüllte Aramis, ziemlich feucht und laut, denn Rochefort wich angewidert zurück. „Ihr habt euch tot gestellt und dann seid Ihr davon gekrochen.“ Und Rochefort brüllte zurück. „Das ist eine infame Unterstellung und ihr habt euch doch genauso aus dem Staub gemacht.“ Amaury war einen weiteren Schritt zurückgetreten und klammerte sich an den sperrigen Bauch seiner Tasche, während seine Augen zwischen den beiden Kontrahenten umherirrten. „Ja, natürlich mussten wir fliehen. Wir hatten nie auch nur die geringste Chance gegen diese Übermacht und warum? Weil unser famoser Kommandant nicht einmal Späher ausgeschickt hat.“ Bei der Lautstärke der beiden, fielen die Blätter aus den Baumkronen zu Boden. „Was hätte ich denn tun sollen, du dummer Musketier?“, ereiferte sich Rochefort. „Als ob es was genützt hätte. Und dann, Monsieur Musketier, dann hätten wir uns besser verteidigen können, oder was?“ „Das weiß ich auch nicht“, brüllte Aramis frustriert zurück. Sie sah ihn müde an und Rochefort wurde ruhiger. „Wir waren einfach wenig und die Hälfte war verletzt!“, erklärte er resigniert. „Und Ihr seid ein Idiot“, schlussfolgerte Aramis, einfach um das letzte Wort zu haben. „Unterbemittelter Musketier“, herrschte Rochefort zurück, weil ein Musketier nie das letzte Wort haben durfte. Ihre Stimmen gewannen wieder an Lautstärke, während die Beschimpfungen hin und her folgen. „Bastard!“ „Hurensohn!“ Amaury warf angesichts der Lautstärke der Beiden, ängstliche Blicke in Richtung der Rauchsäule. Was wenn neue Soldaten kamen? „Wir sollten wieder in den Wald gehen“, sagte er. „Ich nehme den da nicht mit!“ gestikulierte Aramis, mit schriller Stimme in Rocheforts Richtung. „Aber Aramis", warf Amaury empört ein. „Soll er doch sehen wo er bleibt.“ „Aber Aramis, er ist verletzt.“ Rochefort sagte gar nichts. Er stand nur da wie ein Lamm vor der Schlachtbank. "Dieser Mann ...", sagte Aramis, nur mühsam beherrscht und ihr Zeigefinger stach in Richtung Rochefort, "hat mich versucht gefangen zu nehmen und zu foltern. Beim zweiten Mal hat er versucht mich heimtückisch zu ermorden!" "Ach, diese Sache", sagte Rochefort spröde. "Ihr Musketiere seid aber auch nachtragend", äußerte er mit vorgeschobener Schmolllippe. Aramis Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Ihr seid eine ganz miese Ratte, Rochefort!“, stellte sie fest. Rochefort wiegelte ihre Worte mit einer affektierten Geste ab, den Brustkorb und das Kinn angriffslustig vorgestreckt, aber er schwieg. Er brauchte ihre Hilfe, dass erkannte sogar er. Den Schmerz in ihrem Bein mit zusammengebissenen Zähnen ignorierend, drehte sich Aramis wortlos um und zog ihr Pferd hinter sich her. Sie zwang sich ruhig zu bleiben. Natürlich würden sie ihn nicht zurücklassen, aber nun musste sie ihr Geschlecht auch vor Rochefort verbergen und er war ein weitaus größeres Übel als Amaury. Fast hätte sie hysterische aufgelacht. Erst einmal mussten sie den Weg nach Hause finden. Sie schlugen sich erneut durch den Wald, diesmal in die entgegengesetzte Richtung. Auf ihrem Weg versuchten sie irgend ein Tier zu erlegen, um etwas zu essen zu bekommen, aber der Wald gab seine Tiere nicht her. Er war wie ausgewildert. Sie hatten Schusswaffen ohne Munition, Aramis einen Dolch, Rocheforte seinen Degen, Amaury seine medizinischen Instrumente und zu ihrem Glück einen Feuerstein. Als die Nacht hereinbrach, machten sie sich ein Lagerfeuer und verbrachten die Nachtstunden schweigend vor Hunger und Frustration. Das Knurren ihrer Mägen war der einzige Laut, der die Nacht durchbrach. Der Hunger raubte ihnen den Schlaf, obwohl ihre Körper sich so sehr danach sehnten. Am zweiten Tag humpelte ihnen ein altersschwacher Hase vor das Messer. Er starb eher vor Entkräftung und sein Fleisch war zäh und faserig. Sie stritten sich dennoch darum, aber es stillte nicht ihren Hunger. Immerhin fanden sie Wasser an einem schmalen Bachlauf. Hunger macht böse. Sie traten nach zwei Tagen laut zeternd aus dem Wald und hatten nicht die mindeste Ahnung wo sie waren. Die unbewaldete Landschaft, sah nicht viel anders aus, als ihr Gegenstück auf der anderen Seite. Vielleicht ein wenig hügliger. Hoch über weitflächigen Kornfeldern kreisten Raubvögel. Ein schmaler Feldweg führte durch die Felder und verschwand am Horizont. Kein Mensch, kein Tier, kein Haus war zu sehen, nur endlose friedliche Landschaft unter einem immer grauer werdenden Himmel. Die Sonne hatte sich davongeschlichen und der Himmel hing tief und voller Wolken. Dichtes Dornengestrüpp versperrte ihnen den Weg aus dem Wald. Mühevoll und gegen die heftige Gegenwehr der Pferde, kämpften sie sich voran. Keiner von ihnen sprach, nur gelegentlich ächzte oder stöhnte einer von ihnen, wenn die Ranken und Dornen an ihrer Kleidung zerrten. Sie erreichten das Feld, als der Himmel seine Schleusen öffnete und es zu regnen begann. Das hohe nasse Gras durchweichte ihre Stiefel, der Regen durchnässte ihre Kleidung. Sie stiegen auf die beiden Pferde und trabten los, aber schnell kamen sie nicht voran, dazu war es zu nass. Mit gesenkten Häuptern stemmten sie sich Wind und Regen entgegen. Es gab keinen richtigen Weg, dem sie folgen konnten, nur einen schmalen kaum erkennbaren Pfad, der sich in schlängelförmig durch meterhohe Büsche und Gehölz zog, dessen feuchte Äste nach ihnen griffen und ihnen in die Gesichter schlugen. Durch immer stärker werdenden Regen setzten sie ihren Ritt fort, in der Hoffnung auf Menschen oder eine Wegbeschreibung zu stoßen. Doch das Land war menschenleer und namenlos. Als es Nacht wurde, waren sie am Ende ihrer Kräfte. Mit überwältigender Sehnsucht verlangte es sie nach Wärme und Trockenheit. Auch die Pferde waren am Ende ihrer Kraft. Die Kälte und Nässe quälte auch sie. Aramis, Amaury und Rochefort machten Halt und krochen in das Dickicht, um unter den Zweigen ein wenig Schutz vor dem Regen zu finden und bis zum Morgen auszuharren. Aramis kroch bis zu einem Baum und lehnte sich an dessen Stamm. Das Wasser lief ihr kalt den Rücken hinunter. Sie umklammerte mit beiden Armen ihre Beine und legten den Kopf auf die Knie. Sie war so müde, dass sie ihren Hunger vergaß, so nass, dass sie glaubte, nie wieder warm zu werden. Ihre Kraft war aufgezerrt. Amaury und Rochefort ließen sich an ihrer Seite nieder und rückten wie selbstverständlich an sie heran. Aramis, die bisher immer jeglichen Körperkontakt vermieden hatte, störte nicht einmal das. Im Gegenteil, es war ein wenig Schutz und Wärme. „Arzt“, blaffte Rochefort halbherzig. „Der Knochen in meinem Arm schmerzt.“ „Was Sie brauchen“, erwiderte Amaury müde, „kann ich Ihnen nicht geben – Wärme und Trockenheit.“ Aramis lauschte Rocheforts Grummeln und dem Platschen der Regentropfen auf ihrem Blätterdach, darüber schlief sie ein. Der nächste Tag brach an. Es regnete noch immer, wenn auch feiner und nicht mit der stürmischen Wut vom Vortag. Der Boden war schlammig und aufgeweicht. Die Pferdehufe lösten sich aus der wässrigen Erdpampe schmatzten und schwerfällig. Gegen Mittag kamen sie endlich zu einer Straße, doch bei dem Wetter war kein Mensch unterwegs. Als sich endlich ein Fuhrwerk näherte, verbargen sie sich im Gebüsch. Aramis wurde ausgelost, sich dem Wagen zu nähern. Aramis sah nicht weniger verwildert aus, als die anderen beiden, aber irgendwie vertrauenerweckender. Der Wagen näherte sich. Aramis brach so plötzlich aus dem Dickicht, dass der Mann auf dem Fuhrwerk erschrak und ihm die Zügel aus der Hand fielen. Sein Maultier, das die neue Freiheit verspürte, machte einen kräftigen Satz nach vorne. Aramis setzte das Lächeln auf, von dem sie glaubte, dass es ihr strahlenstes war. Anscheint hatte sie übertrieben, denn das Erstaunen im Gesicht des Mannes war so übermächtig, dass Aramis befürchtete, er könne vom Bock fallen. „Wenn Sie so höflich wären, uns zu sagen, wo wir sind und wie wir auf eine ausgeschilderte Straße kommen?“ Aramis hatte sehr langsam und deutlich gesprochen. Der Mann schaute verständnislos und starrte sie mit seinem einen Auge von oben bis unten an und dann wieder umgekehrt. Vor ihm stand ein Wesen, dass der Kleidung nach ein ziemlich abgerissener Soldat war. Aus einem überaus dreckigen, wenn auch bartlosem Gesicht blickten ihn zwei leuchtend blaue Augen an und eine Reihe weißer Zähne blitze auf, als es lächelte. Blonde, dreckige Haare, standen wie eine verflitzte Wolke zu allen Seiten ab. Er überlegte, ob er ein Halbwüchsiger war, aber wie ein Kind sah er auch nicht aus. Verstehen konnte er kein Wort, da es nicht in seiner Muttersprache sprach. Er schwang hektisch die Zügel und machte, dass er davonkam. „Und nun?“ Mit langen Gesichtern sahen die drei unfreiwilligen Weggefährten dem davonrasenden Ochsenwagen nach. „Wo sind wir nun und wohin müssen wir, um nach Hause zu kommen?“ Die Frage konnte keiner von ihnen Beantworten. „Nun, wir richten uns nach der Sonne und gehen nach Himmelsrichtung?“, schlug einer vor. „Es regnet!“ „Irgendwann hört es sicherlich auf zu regnen.“ Kritisch blickten drei dreckige Gesichter zum wolkenverhangen Himmel. „Bis dahin gehen wir einfach geradeaus und hoffen auf eine Straße oder einen Menschen zu treffen, der uns den Weg weisen kann.“ Misstrauisch musterten sie die menschenleere Straße, dann sich selbst, drei hagere abgerissene und fürchterlich nasse Gestalten, dessen Kleider schon bessere Tage gesehen hatten. Unfreiwillig und ungewollt zusammengeworfen und doch abhängig von einander. „Mh, wir sind in einem feindlich besetzten Gebiet. Ich glaube nicht, dass wir, deutlich zu erkennen, als lauthals streitende Franzosen, einfach auf der Straße marschieren sollten. Es ist doch egal wo wir sind. Das ist ohnehin alles Habsburger Land und damit in den Händen der Spanier.“ Der Regen hörte auf, aber die Sonne zeigte sich an diesem Tag nicht und tat es auch an den darauffolgenden Tagen nicht. Sie litten unter Hunger, Durst und Erschöpfung. Nur den Pferden, die sich am Gras satt fressen konnten, ging es gut. Müde und abgekämpft setzten sie ihren Weg fort. Sie waren schon eine Weile geritten, als sie an einer Gruppe Menschen vorbeikamen, die am Wegrand saßen. Es waren zwei Männer und eine Frau und sie waren kaum noch als Menschen zu bezeichnen. Hohlwangige Wesen mit stumpfen Blick und in löchrigen Lumpen gekleidet. Der Blick ihre Augen wirkte auf dem ersten Blick apathisch und doch stand dahinter eine Gier, die Aramis eine Gänsehaut verursachten. Vielleicht war die Frau noch jung, denn sie hielt ein Kleinkind auf den Armen, aber Hunger und Dreck ließen sie wie eine alterlose Vogelscheuche aussehen, ausgezerrt und verhärmt. Sie erhob sich und trat einen wackligen Schritt auf die Straße zu. Sie schien kaum die Kraft zu haben, sich auf den Beinen zu halten. Das Kind in ihren Armen schrie. Abwesend steckte sie ihm einen dreckigen Finger in den Mund, ohne den glasigen Blick den Reitern zu wenden. Das Kind saugte kurz am Finger, dann plärrte es enttäuscht weiter. Ungerührt entzog ihm die Frau die Hand und entblößte stattdessen ihre knochige Schulter und eine ihrer ausgelaugten Brüste, um mit dem Finger einladend über die Haut zu fahren. Die Geste war eindeutig. Sie wollte Geld oder Essen für ihren Körper, aber ihr Gebärden wirkte ekelerregend, ausgehungert und dreckig wie sie war. Rochefort ritt in seiner üblichen Arroganz an ihnen vorüber, ohne sie mehr als einen verächtlichen Blick zu würdigen. Aramis empfand Scharm und Mitleid. Sie und Amaury folgten ihm auf dem zweiten Pferd. Das Schreien des hungrigen Kindes klirrte in ihren Ohren. Aramis dachte noch über ihr Unbehagen nach, als Amaury erschrocken aufrief. Etwas weiter vorn, lag ein zusammengekrümmt Mann im Gebüsch, scheinbar bewusstlos. Bevor Aramis etwas sagen konnte, war Amaury schon vom Pferd geglitten und zu dem Mann geeilt. „Amaury“, rief sie ihn alarmiert zurück, aber der Arzt hörte sie nicht, sondern beugte sich zu dem Bewusstlosen herunter. Rochefort fluchte laut und brachte sein Pferd zum Stehen. „Amaury“, rief Aramis erneut, diesmal schärfer, doch der Arzt wollte nicht auf sie hören. „Wir müssen hier weg!“ Ihr Pferd tänzelte nervös, weil es ihre Unruhe spürte. „Ich muss ihm helfen!“ Amaury drehte den Mann vorsichtig auf den Rücken. Aramis erschrak und zog hart die Luft ein. „Der Fuhrmann“, keuchte sie. Der Mann lag in seinem Blut. An seinem Schädel klaffte eine Wunde, als hätte ihn jemand mit stumpfer, brachialer Gewalt versucht den Schädel zu spalten. Er war nicht bewusstlos, er war tot. „Amaury, komm zurück. “Aramis sah sich um. Die Wegelagerer hatten sich erhoben und kamen langsam auf sie zu, nur die Frau blieb zurück. Rochefort fluchte erneut und zog seinen Degen. „Amaury, schnell!“, schrie Aramis schrill, doch Amaury schien vor Schreck wie festgefroren und die Männer kamen immer näher. Kapitel 14: Gottes vergessenes Land ----------------------------------- Die Männer kamen näher. Sie waren nicht bewaffnet und sie bewegten sich nicht übermäßig schnell, aber in ihren seelenlosen Augen stand ein so blutrünstiger Ausdruck, der sie gefährlich machte. Und sie blieben nicht ihr einziges Problem. Ausgehungert wie sie waren, hätten Aramis und Rochefort sie auf ihren Pferden ohne weiteres abhängen können, doch Amaury stand noch immer wie festgewachsen bei der Leiche des Fuhrmannes und kam keinen Schritt näher auf sie zu. Unschlüssig blieben sie stehen und ließen wertvolle Zeit verstreichen. Aramis wendete ihr Tier, um dem jungen Arzt entgegenzureiten, als plötzlich weitere zerlumpte Männer aus dem Dickicht brachen. Die Männer waren wesentlich schneller und hatten sie bald umringt. Gierige Hände versuchten nach ihnen und den Zügeln ihrer Pferde zu greifen. Ein wilder Kampf entbrannte. Rochefort schwang seinen Degen wie einen Schlagstock. Die Tiere tänzelten nervös auf ihren Hinterbeinen und versuchten ihrerseits mit den Vorderhufen nach den Angreifern auszuschlagen. Aramis hatte ihren Dolch gezückt und stach zu. Blut floss, doch das menschliche Gesindel prügelte von allen Seiten auf sie ein. Es waren einfach zu viele und in den Gesichtern ihrer Gegner stand nichts Menschliches mehr. Vielleicht hätten sie und Rochefort es dennoch geschafft davon zu galoppieren, wenn nicht Amaury außerhalb ihrer Reichweite gewesen wäre. Ihre Flucht hätte bedeutete, dass er zurückbleiben musste und zweifelsohne unter den erbarmungslosen Händen der Männer sterben würde. Aramis fluchte. Sie zog ihren Dolch zurück und wurde wie eine Puppe von ihrem Pferd gezogen, die Arme eng an den Oberkörper gepresst, um ihr Geheimnis zu bewahren. Sie landete im Schlamm, in der Erwartung, dass sie über sie herfallen würden. Ihr Herz raste. Sie hatte Todesangst. Doch das rasende Gesindel beachteten sie nicht, sondern fiel über ihr armes Pferd her und schnitt dem sich wild aufbäumenden Tier die Kehle durch. Ihr Reittier wieherte schrill und warmes Blut spritzte über Aramis. Sie hörte das tolle Keuchen und Schmatze aus den Kehlen der Wilden. Aramis nahm die Beine in die Hand und kroch auf allen Vieren Amaury entgegen. „Sie wollen das Pferd“, schrie sie über die Schulter Rochefort zu, während sie in Amaurys Richtung rannte. „Gib es ihnen!“ Sie sah nicht zurück, ob er sie gehört hatte oder tat was sie sagte. Amaury und der Wald rückten immer näher. Plötzlich knickte ihr verletztes Bein weg und sie fiel hin. Sie wollte aufstehen, doch eine Hand griff nach ihrem Fuß und hielt ihn fest. Sie trat nach ihrem Angreifer, dennoch zog dieser sie rückwärts auf sich zu, dann warf er sich auf sie. Aramis ächzte unter seiner Last. Sie glaubte entzwei zu brechen und zu ersticken. Das stinkende Tier drückte sie mit groben Grunzlauten brutal zu Boden. Ihre Nase wurde in den Schlamm gedrückt und ihr Mund füllte sich mit Erde. Panisch wühlten sich ihre Hände durch den Schlamm. Sie bekam einen Stein zu fassen, aber sie konnte ihren Arm nicht drehen, weil er ihren gesamten Oberkörper auf den Boden drückte. Als sie schon glaubte endgültig zu ersticken, wich plötzlich die Last von ihrem Rücken und sie kam ein wenig frei. Amaury war ihr zu Hilfe geeilt und hieb mit seiner schweren, sperrigen Arzttasche auf ihren Gegner ein. Die Gegenstände in der Tasche schepperten. Der Mann wich grunzend zurück und Aramis konnte sich hervorwinden und ihren Stein gegen die Stirn ihres Angreifers schmettern. Wieder und immer wieder, mit hässlich knirschendem Geräusch. Der Mann kippte mit zerschmettertem Schädel um. Aramis wartete nicht lange. Sie griff sich Amaury und zerrte ihn in das Dickicht. Auch Rochefort hatte sein Pferd der Meute überlassen und rannte seinen Gefährten nach. Sie verschwanden im Wald. Zweige schlugen in ihre Gesichter, Dornen zerrten an ihnen, Wurzel brachten sie zu Fall. Wilde Hacken schlagend, flohen sie wie die Hasen auf der Flucht, ihr eigenes mageres Leben zuliebe. Irgendwann war die Erschöpfung stärker als die Furcht. Aramis stolperte und kam nicht mehr hoch. Sie blieb mit schmerzverzerrtem Gesicht liegen. „Du hast dich überanstrengt“, stellte Amaury fest. „Kommt, Lord Rochefort, helft mir!“ Und Rochefort nickte und tat etwas anstandslos, von dem Aramis angenommen hatte, dass sie so etwas bei ihm nie erleben würde. Zusammen zogen sie Aramis hoch und gaben ihr Stützhilfe. Schwach protestierend stützte sie sich auf beide Schultern und humpelte vorwärts. Sie kämpften sich weiter waldeinwärts, aber sie kamen nur schleichend voran. Als sie sich später im Wald schlafen legten, waren sie unfähig vor Angst Schlaf zu finden. Am nächsten Tag setzten sie ihren Weg fort, nachdem sie an einen der armen Waldbewohner ihren Hunger und an einem Bach ihren Durst gestillt hatten. Der Tag zog sich recht idyllisch und der Wald schier endlos dahin. Wieder wussten sie nicht, in welche Richtung sie gingen. Irgendwann lichteten sich die Bäume und sie traten aus dem Wald heraus. Die Ebene sandte ihnen Sonnenschein und eine Heerschar von Stechmücken als Begrüßung entgegen. Es war sehr schwül und die Kleidung klebte auf der Haut. Im Tal, von der Sonne beschienen, lag an einem Weiher, ein kleines Dorf, aus vereinzelt stehenden Hütten und Gattern. Das Bild war ruhig und friedlich. Zu ruhig, denn die Ruhe wirkte verstörend, ihnen war nur nicht klar woher das ungute Gefühl kam. Vielleicht war es der Argwohn nachdem gerade Erlebten. Es war weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Vorsichtig näherten sie sich dem Dorf. Aramis blieb abrupt stehen, als ihr klar wurde, was sie an der Ruhe störte. Jegliches Geräusch fehlte, auch die Natürlichen, wie Vogelstimmen und Insektenzirpen. Keine Stimmen, kein Kinderlachen oder Tierblöcken drang zu ihnen hinauf. Nervös sah sie sich um. Alles kam ihr plötzlich fremd und unwirklich vor. Sie beeilte sich zu den anderen beiden aufzuschließen. Durst quälte sie, während der Schweiß die Brust hinabrann. Bevor sie das erste Haus erreichten, kam sie an einen großen Haufen schwarzer Zweige vorbei. Als sie die Äste mit der Schuhspitze anstieß, stieg ihr der beißende Geruch von verkohltem Holz in die Nase. Es waren die Überreste eines Scheiterhaufens. Trotz der Hitze, lief ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken. Die drei kamen an einer Hütte vorbei. Das Haus dahinter war niedergebrannt. Eine primitive Stoffpuppe lag vergessen im Gras, daneben ein Holzschuh. Wie in Trance, setzten sie einen Fuß vor den Anderen und näherten sich der nächsten Hütte. Aramis eigener Atem erschien ihr plötzlich zu laut. Rochefort stieß die Tür zu der Hütte auf, die anderen beiden folgten ihm. Die Augen brauchten einen Moment, um sich an das diffuse Halbdunkel in der Hütte zu gewöhnen. Die Hütte bestand wie die meisten Bauernhäuser aus nur einem Raum. Stühle und Tisch waren umgekippt, sämtliche Gegenstände lagen wild verstreut und zerstört auf dem Boden herum. Auf dem Bett lag eine tote Frau. Die Beine waren weit gespreizt und sie sahen direkt in das zerfetzte Überbleibsel dessen was man ihr angetan hatte. Ihr Kleid war zerrissen, Haut und Stoff blutbesudelt. Ihr dunkles Haar lag anmutig wie ein Schleier auf den Kissen ausgebreitet, der Kopf war unnatürlich nach hinten geneigt und die bloße Kehle durchschnitten. Ihre Augen starrten blicklos die Decke an. Fliegen umschwirrten die Tote. Aramis drehte sich um und humpelte würgend nach draußen, um sich zu übergeben. Sie dankte Gott und allen Heiligen, für die Männerkleider die sie trug. Sie sah sich ängstlich um. Wo waren die, dessen Werk das war? Wohin sie auch blickte, sah sie das Angesicht des Todes. Verbrannte Hütten, zerstörtes Hab und Gut. Das Wasser des Weihers war mit blutgetränkten Leichnamen verunreinigt, an einem seiner Bäume hingen weitere Leichen. Speisereste waren verschimmelt und Vieh gab es nicht. So schnell sie ihre Füße tragen konnten, verließen sie den Ort, über den der Tot wie eine lastende, atemlose Stille lag, die nie mehr ein lautes Wort, ein Lachen oder das fröhliche Geschrei eines Kindes durchbrechen würde. Sie liefen so schnell sie konnten, doch der Albtraum war ihnen schon längst vorausgeeilt. Das Dorf war nur der Vorgeschmack dessen, was sie noch erwartete. Die Franzosen hatten vom Dreißigjährigen Krieg, der seit nun neunzehn Jahren das Deutsche Reich verwüstete, kaum etwas mitbekommen. Richelieus Außenpolitik bestand bislang aus geschickter Diplomatie, fadenscheinigen Zugeständnissen und falschen Versprechungen. Vor allem Dingen war Geld geflossen. Die zusätzlichen Steuern belasteten das französische Volk zwar, aber es beraubte sie nicht ihrer Söhne und Töchter. Aramis, Amaury und Rochefort bekamen nun das wahre Gesicht des Krieges zu sehen, indem sie sich in die falsche Richtung und damit über die Grenze in das Deutsche Reich verirrt hatten. Sie waren auf Wanderschaft in einem Land, das im Jahr 1636 wie ein einziges Totenreich wirkte. Die zahlreichen Heere wurden teils von unfähigen, teils von intriganten Generälen an zahlreichen nicht überschaubaren Fronten geführt. Durch das Land zogen Söldnertruppen und Räuberbanden aus desertierten Soldaten, verarmten Bauern und heimatlosen Flüchtlingen und wo sie gewesen waren, hinterließen sie Verwüstung. Gehöfte und Dörfer gingen in Flammen auf, die Bewohner wurden gefoltert und ermordet, Reisende geplündert und an Ort und Stelle erhängt. Überall herrschte Hungersnot und Seuchen. Ihr Weg führte über kahle Äcker, niedergetrampelte Felder, abgebrannte Dörfer, vorbei an verendeten Viehherden und entstellten Leichen. Für die drei Franzosen begann ein zäher Kampf ums Überleben. Sie lernten miteinander umzugehen und sich notgedrungen zu akzeptieren. Wortlos verständigten sie sich, wenn es darum ging, sich schnell zu verstecken oder etwas Essbares zu stehlen. Einst wurde Aramis in ihren Träumen von einem riesigen Schlachtfeld verfolgt, über dem dicker Pulverrauch schwebte und auf dessen Wiesen Hunderttausende von verwundeten und toten Soldaten lagen, dazwischen verletzte Pferde und schwarze Kanonen. Doch die Erinnerung verblasste, angesichts dessen, was der Krieg diesem Land und seinen wehrlosen Frauen und Kindern angetan hatte. Sie hatte das Gefühl, wie betäubt durch dieses von Gott vergessene Land zu taumeln und stellte sich die immer gleiche Frage: Wie sich Menschen gegenseitig so etwas antun konnten. Aramis wurde auf ihrer Reise immer hagerer. Die Sonne und der Schmutz verliehen ihrem Gesicht eine dunkle Tönung. Ihre Wangenknochen stachen scharf hervor. Das Haar war verfilzte und fahl. Ihre Augen entzündet, ihre Lippen rissig. Der Dreck grub sich in die trockenen Rillen ihrer Haut und die Fingernägel brachen. Die monatliche Blutung war erneut ausgeblieben. Ihr Körper hatte nicht die Kraft zusätzliche Flüssigkeit auszuscheiden. Aramis fuhr die kantigen Züge ihres Gesichtes nach und seufzte. Sie brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, wie sie aussah. Sie verwilderte, war nur noch eine wandelnde Vogelscheuche und doch bot ihr verwahrlostes Äußeres ihr den nötigen Schutz. Sie glaubte nicht, dass einer der beiden Männer die Frau in ihr sah. Sie selbst fühlte sich schon nicht mehr als Frau, nur noch als geschlechtsloses Wessen, dessen einzigster Zweck in der Suche nach etwas zu Essen und rascher Flucht bestand. Der tägliche Kampf um das Überleben war zu anstrengend, um sich Sorgen über ihr Geschlecht zu machen. Am Leben zu bleiben und vorwärts zu kommen, war wichtiger. Die Männer schien es auch nicht zu interessieren, wenn sie für ihre Notdurft in den Büschen verschwand und sich nie auszog. Doch Aramis irrte sich. Wenn sie des Nachts schlief und Amaruy für den Wachdienst eingeteilt war, verbrachte er die nächtlichen Stunden damit, sie zu betrachtete, wenn sie sich den Luxus eines Lagerfeuers gönnten. Er war vollkommen gefangen in seinen widersprüchlichen Gefühlen für sie. Er bewunderte Aramis, für seine Zähigkeit, für seinen Mut, für das Geheimnis was ihn umgab und für seine Sanftheit, für die Zartheit seiner Gesichtszüge, die unter einer dicken Schicht Dreck verborgen lagen. Die Widersprüchlichkeit von Aramis Wesen zog ihn unwiderstehlich an. Berührte Aramis Amaury, dann löste es bei ihm diese eigenartige Empfindung aus, die von seinen Lenden ausging und in seinen Kopf stieg, was dazu führte, dass er zu schwitzen begann. Rochefort, dessen ganzes Bedürfnis nach Frauen einzig und allein immer auf die sexuelle Befriedigung seiner Bedürfnisse beruht hatte, wäre nie auf den Gedanken gekommen, sich Tag und Nacht in Gesellschaft einer davon zu befinden. Zu abwegig war die Verbindung zwischen den gepuderten, hübsch eingepackten Geschöpfen seiner Wahl, nach denen er Lust verspürte und einer Aramis. Bislang hatte er nur eine Frau als mögliche Bettgelegenheit ausgeschlossen, - Milady, nicht weil diese hässlich war, sondern gefährlich, wie eine schwarze Witwe. Sie hätte ihn verschlungen. Dachte er nicht über Sex an eine Frau, gab es sie schlichtweg nicht für ihn. Doch Rochefort hatte mit Befremden beobachtet, wie Amaury Aramis anstarrte, wenn dieser sich unbeobachtet glaubte und nun begann er sich selbst Gedanken zu machen. Merkwürdig war dieser dritte Musketier in seinen Augen schon immer gewesen. Rochefort hatte das Kinn in die Hand gestützt und starrte in die tanzenden Flammen des Lagerfeuers. „Und schon wieder ist Aramis verschwunden.“, stellte er nicht unfreundlich fest. Amaury zuckte die Schultern. „Er sucht eben die Einsamkeit!“ Nachdenklich strich sich Rochefort über das Kinn, dann sagte er bedächtig. „Das sollte er nicht tun. Es ist gefährlich.“ „Darauf habe ich ihn auch schon hingewiesen und er hat sehr ungehalten reagiert.“ „Bist du ihm einmal heimlich gefolgt?“ „Nein, ich akzeptiere seinen Wunsch.“ Rochefort hob eine Augenbraue. „Ach so?“ Amaury lächelte schief. „Nun gut, ich bin sehr schlecht im Anschleichen. Er hat mich erwischt und mir gedroht, beim nächsten Mal mir ernsthaft weh zu tun. Ich denke, er weiß was er tut. Immerhin ist er Musketier.“ „Das ist wohl wahr“, erwiderte ein geläuterter Lord Rochefort und überraschte sich selber. Er verfiel wieder ins Nachdenken. „Ihm wächst kein Bart“, stellte er fest. „Es gibt Männer, die unter sehr spärlichem Bartwuchs leiden“, erklärte Amaury vorsichtig. „Zudem kann man das bei dem ganzen Dreck nicht so genau sagen.“ Rochefort nickte tiefsinnig und setzte seine Grübelei fort. „Er lag doch im Lazarett und du warst sein Arzt. Hast du ihn je entkleidet gesehen.“ Amaruy grinste, das das Weiß seiner Zähne im dunklen Gesicht aufblitzte. „Er ist am Bein verletzt, Lord Rochefort. Dazu muss er nicht mehr, als die Beinkleider ausziehen! So viel habe ich entkleidet gesehen und was soll ich sagen … „, er legte eine kurze Pause ein. „er verfügt über zwei Beine.“ „Nun, vielleicht wären wir überrascht, wenn wir ihn nackt sehen würden.“ „Wir wären überrascht?“, wiederholte Amaury verwundert. „Vielleicht sogar sehr angenehm überrascht.“ „Ihr meint, dass unser Musketier muskulöser ist, als seine Gestalt vermutet?“ „Ja“, erwiderte Rochefort gedehnt, „genau das meinte ich.“ Kapitel 15: Unangenehme Überraschungen -------------------------------------- Sie saßen am Ufer der Seine. Der Sommer des Jahres 1636 versprach ungewöhnlich heiß zu werden, doch vom Wasser stieg eine angenehme Kühle auf und die hohen Bäume ringsherum spendeten Schatten. Der Fluss plätscherte friedlich an Wiesen und Weiden vorbei, kleinen Dörfern und einzelnen Gehöften. Wenn er zur île Saint-Louis kam, wurde er zur schillernden Pulsader der Stadt. Der nasse Schlamm am Flussbett durchweichte Aramis marode Stiefel, doch sie merkte es nicht. Ihr Blick ruhte unverändert auf dem fernen Dächermeer hinter den Stadtmauern. Paris, das war endlich wieder Leben, das war Heimkehr, das war Zuhause. Sie wuschen sich den gröbsten Dreck von Gesicht und Händen, dann brachen sie auf, zum Porte Saint-Antoine. Die Glocken der Kirchen schlugen zur Mittagsstunde, als sie das Stadttor erreichten und mit einem nicht enden wollenden Strom an Reisenden, endlich wieder Paris betraten. Hier standen die Häuser plötzlich dicht an dicht und die Straßen waren voller Unrat und Löcher. Paris war eine dreckige, schmutzige, überfüllte Stadt, mit zu schmalen Gassen, fehlendem Abwasserkanal, holprigen Pflaster und schiefen Häusern. Es war eine Stadt, in der sich Arm und Reich mischten. Auf allen größeren Plätzen tummelten sich die Leute, Bürgerfrauen, Händler, Bettler, vornehme Damen in seidenen bauschigen Kleidern, Herren in Stulpenstiefeln mit lockigen Perücken auf den breiten Spitzenkragen, Kinder, die um die Brunnen herum fangen spielten oder in die Seine sprangen. Junge Mädchen und übermütige Knaben. Ein Gewirr von Kutschen, Karren und Pferde. An den Kirchen und Brücken saßen die Bettler in zerlumpten Kleidern. Ob Krüppel, Einbeinige, Einarmige oder Blind, sie hoben flehend die knochigen Hände und riefen mit dünner Stimme nach einer milden Gabe. Sie wurde bemitleidet, ignoriert, erhört oder grob beiseite gestoßen. Paris war voll lärmender Menschen, voll Geschrei und Gestank und doch voll pulsierender Lebendigkeit und Kraft. Aramis hatte Paris geliebt, doch nun kam sie sich plötzlich fremd vor und das lag nicht allein dran, dass die anderen Bürger naserümpfend einen Bogen um sie schlugen. Um wieder hierher zu kommen, war sie durch eine ganze Reihe von Albträumen gegangen. Erst die Grausamkeit der Schlacht, dann das Entsetzen im Feldlazarett, der Schrecken des Überfalls und die Entbehrung während der Rückreise. Wenn sie hungerte und fror, nicht einen Schritt mehr weitergehen konnte, sich verstecken und fliehen musste, hatte sie immer an Paris denken müssen. Wenn sie nur wieder zurück wäre. Doch nun brannte die Sonne zu heiß, dass Licht schien plötzlich zu grell, die Menschen waren zu laut und geschäftig, die Straßen zu eng. Sie sah ihre Begleiter an. Empfanden sie das gleiche? Gemeinsam hatte sie so viel Schreckliches erlebt und gesehen. Aber Aramis hoffte zu viel. Rocheforts einzige Sorge galt seiner Eitelkeit. Er sah sich immer wieder um, ob ihn jemand erkannte. Rochefort erwartete jetzt ein Palast voller Bediensteter und Annehmlichkeiten. Und Amaury? Amaury war verliebt und er hatte nichts dagegen tun können. Er sah nur, dass ihre gemeinsame Zeit vorbei war. Sie trieben in der Menschenmenge bis zum Place Royal. Rocheforts lebte im Stadtteil Marais, wie die meisten ranghöheren Adligen. Es war Zeit einen schnellen Abschied von einander zu nehmen. So wie sie aussahen, gehörten sie nicht hierher. Rochefort musterte ein letztes Mal Aramis. „Nun denn, Musketier, wir sehen uns gewiss bald wieder. Dann stehen wir wieder auf zwei verschiedenen Seiten.“ Aramis nickte. „Wenn du schweigst über mich, schweige ich über dich!“ Rochefort machte sich Sorgen, wie seine Rolle bei dem Überfall der Spanier aussah und er fürchtete Konsequenzen. Aramis Braue fuhren zusammen. „Was meinst du?“, fragte sie rau. Anstatt einer Antwort sah er sie zweideutig lächelnd an und vollführte einen schwungvollen Diener, der seiner und ihrer heruntergekommenen Erscheinung Hohn versprach. „Denk einfach daran, MUSKETIER, wenn dich jemand nach mir ausfragt.“ Er hob für Amaury die Hand zu einer knapp bemessenen Geste des Abschieds, drehte sich um und stapfte davon. Zurück blieben Aramis und Amaury. Aramis sah Rochefort besorgt nach. Natürlich verstand sie. „Aramis?“ Es schien, als habe Amaury, einen Impuls folgend nach ihr greifen wollen, aber seine Schüchternheit hinderte ihn daran. So blieb er mit hängenden Armen vor ihr stehen. „Hast du eine Unterkunft hier?, fragte Aramis. „Oh, ja, ja“, versicherte Amaury viel zu hastig, als das es nicht auffällig gewesen wäre, aber Aramis wollte ihm einfach glauben. Wie immer machte irgendetwas in seinem Verhalten sie verlegen. „Nun, denn“, sagte sie unverbindlich, „vielleicht sehen wir uns bald wieder.“ Er streckte den Aram aus, berührte sie aber wieder nicht. „Ja?“ „Äh …“, er schwieg kurz verlegen. „Es hört sich dumm an, nach dem was wir die letzten Wochen durchgemacht haben, aber es hat mich gefreut, dich kennengelernt zu haben.“ Er wusste noch immer nicht wohin mit seinen Händen. Aramis lachte unsicher. „Die Umstände hätten wirklich besser sein können. Nun ja …“, sagte sie, in einem weiteren Versuch endlich gehen zu können. Amaury stand wie ein geprügelter Hund vor ihr. „Ich geh dann mal“, schloss sie abrupt, mit einem Seitenblick auf einen der Wächter vor dem Stadtpalais, der sich anschickte sie zu verjagen. Amaury war verletzt, obwohl er sich bemühte es nicht zu zeigen. „Ja“, sage er und hob kurz die Hand. „Au revoir, Aramis“, damit drehte er sich um und ging. „Amaury!“ Hoffnungsvoll drehte er sich um. „Danke, dass du mein Bein gerettet hast. Ich weiß, dass ihr Lazarettärzte gar nicht die Zeit dafür habt.“ Amaury nickte.. Aramis öffnete die Tür zu ihrem Haus und blieb erstarrt in der Tür stehen. In ihrer Stube stand eine Frau. Zwei Kinder hingen an ihrem Rock, ein Drittes saß auf ihrem Arm. Sie hielten inne, bei ihrem Spiel, bei ihrem Streit, bei was auch immer sie gerade getan hatten und starrten stumm zurück. Die Frau kreidebleich, die Kinder mit angstgeweiteten Augen und das Baby mit seinem Daumen im Mund und einen Sabberfaden der vom Mund herablief. Aramis zog ärgerlich die Augenbraue zusammen. „Was machen Sie in meinem Haus?“ Anstatt einer Antwort begann die Frau zu schreien, schrill und laut und ihre Kinder fielen mit ein. Aramis trat schnell ein und schloss die Tür hinter sich. Die Frau wich samt Kinderschar mehrere Schritte zurück. „Ich will wissen, was Sie in meinem Haus machen!“, verlangte Aramis abermals zu wissen, aber das Heulen von Frau und Kinder rissen nicht ab. Stiefelschritte trampelten die Treppe hinter Aramis hoch, dann wurde die Tür wieder aufgerissen und drei Männer stürmten hinein. Das Schreien der Frau erstarb. „Was ist hier los?“ Das war Monsieur Dupont, der Baumeister, der zwei Häuser weiter wohnte. Ein Mann mit Schultern so breit wie ein Schrank und Händen wie Schraubstöcke. Die Frau wies mit spitzem Finger anklagend auf Aramis. Der Finger zitterte vor Empörung. „Ein Räuber, ein Dieb, Monsieur Dupont, ein Schänder“, kreischte sie. Bei der letzten Bezeichnung riss Aramis eine Augenbraue hoch. Sie stapfte ungeduldig mit dem Fuß auf, nicht im mindesten eingeschüchtert von der Schar finster dreinblickender Männer und den zwei neugierigen Weibern aus der Nachbarschaft, die versuchten durch die Tür zu spähen. Sie war im Recht. „Ich bin Aramis, der Musketier“, erklärte sie rau. „Dies ist mein Haus und ich verlange zu wissen, was hier los ist und was diese Frau hier macht?“ „Ha!“, machte einer der Frauen verächtlich, verkroch sich aber gleich wieder hinter dem Türrahmen. Der Baumeister musterte ihr abgerissenes Äußeres von oben bis unten. „Erzähl keinen Mist, Freundchen und mach dass du fort kommst! So wie du aussiehst bist du sicherlich kein Musketier!“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Hier wohnt Monsieur Leclerc und dies ist sein Weib. Wir kennen und beschützen einander in dieser Nachbarschaft.“ Aramis hob ironisch eine Augenbraue „Ach so?“ „Ich kenne dich auch Ethan Dupont und bis vor wenigen Monaten glaubtest du noch mein Nachbar zu sein.“ „Monsieur Leclerc hat dieses Haus rechtmäßig erworben.“ „So ein Unsinn“, widersprach Aramis ärgerlich. „Von mir hat er es nicht und es ist schließlich mein Haus.“ „Beweise es!“ Stieß einer der anderen Männer hervor. „Du siehst mir nicht einmal danach aus, dass du dir ein Stück Brot leisten könntest.“ Aramis fiel in diesem Moment etwas ganz anderes ein. Sie sah sich um. „Wo sind meine Sachen?“ verlangte sie herrisch von der Frau zu wissen. „Meine Kleider, meine Waffen … alles was sich in meinem Besitz, in diesem Haus befunden hat.“ „Dies ist unser Haus“, gab die Frau noch etwas piepsig, aber angesichts der Männer wesentlich mutiger, mit vorgerecktem Kinn zurück. Aramis schob sie beiseite und lief zum Schrank. Die Männer polterten hinter ihr her. Wütende Rufe folgten ihr. Sie riss die Türen auf, klappte Truhendeckel hoch, öffnete Kommodenschubladen, doch ihre Kleider und Sachen waren nicht mehr da. Sie ging zur hintersten Truhe, schob diese beiseite und hob das Dielenbrett. Ihr Atem ging immer schneller. Der Hohlraum war leer. Ungläubig starrte sie in das Loch. Einer der Männer riss sie hart am Oberarm hoch. „Das reicht“, knurrte er. „Wir holen die Stadtwache! CLÉMENT!!!“, brüllte er und meinte damit den dritten Mann, der auf seinen Befehl hin loseilte. „Wo ist mein Geld!“, verlangte Aramis zu wissen und schüttelte den Mann ab. Sie sah die Frau mit wuterfülltem Blick an. Die Frau schwieg und hob nur das Kinn noch etwas höher. Sie wusste wovon Aramis sprach, doch schweigender Trotz antwortete ihr. Der Baumeister trat wieder hervor. „Wo hast du denn deinen Schlüssel, wenn dies dein Haus ist?“, verlangte er zu wissen. Aramis starrte ihn wütend an. „Ich komme gerade vom Feldzug des Königs. Solche Dinge gehen im Krieg verloren.“ „Der König ist von seinem Feldzug schon vor über zwei Monaten zurückgekehrt“, erwiderte der Baumeister kalt. „Und wie ein Soldat siehst du mir nicht aus. Eher wie ein Landstreicher!“´ Er wies mit dem Kinn zur Tür. „Die Stadtwache müsste bald kommen. Dem Kerkermeister kannst du deine Lügen erzählen.“ Wortlos ging Aramis. Die beiden Weiber an der Tür wichen zurück und wären fast den schmalen Treppenpodest hinabgestürzt. An der Tür wandte sich sie sich noch einmal um. „Das Äußere kann täuschen, Monsieur Dupont. Ich komme wieder!“, erklärte sie würdevoll und stieg die Treppe hinunter. Aramis traktierte vor Wut ihre Zähne, dass der Kiefer schmerzte. Gedemütigt und wütend stand sie auf der Straße und überlegte, was sie als nächstes tun sollte. Sie beschloss Porthos aufzusuchen. Viele Möglichkeiten hatte sie ohnehin nicht. Aramis Leben in Paris hatte nur aus den Musketieren bestanden. Ihre Lügen und ihre Verkleidung zwangen sie zu einem Leben als Einzelgänger und Geheimniskrämer. Ihre einzige wirkliche Beziehung bestand zu Athos und Porthos. Und selbst da war Vorsicht geboten. Suchte sie Asyl bei Porthos, würde der sich wieder wundern, warum sie sich nicht vor ihm auszog. Bei Athos lag der Fall jetzt anders, dachte sie mit brennendem Gesicht. Aber vielleicht reichte es, wenn Porthos mit ihr zusammen hier aufkreuzte. Seine Statur war mindestens genauso imposant wie die von Monsieur Dupont. Doch Porthos war nicht Zuhause. Mit viel Überwindung probierte sie es bei Athos, aber auch hier war die Tür verschlossen. Sicherlich konnten beide heute Dienst haben, aber bevor sie es im Hauptquartier der Musketiere probierte, wollte sie es bei Monsieur Bonacieux, dem Schneider versuchen, denn dort lebte immerhin noch immer D’Artagnan bei ihm und die Musketiere aßen dort dauernd zu Abend. Dabei musste sie leider über den Place de Grève wo die Hinrichtungen stattfanden, um über die Pont au Change auf die andere Seite der Île de la Cité zu gelangen. Sie hätte zu allererst in das Musketierhauptquartier gehen sollen, dachte sie verärgert, anstatt sinnlos durch ganz Paris zu irren. Sie war den ganzen Tag schon unterwegs, hatte weder etwas gegessen, noch sich ausruhen können. Nun forderte ihre Körper die Rechnung ein. Ihre Wunde war noch immer nicht verheilt und Aramis zog das Bein immer stärker nach, je länger der Tag dauerte. Ihr Kopf schmerzte und die grellen Strahlen der Sonne blendeten sie. Auch jetzt fanden Hinrichtungen auf dem Place de Gréve statt und es hatte sich bereits eine dichte Menschenmenge eingefunden. Der Karren mit den Delinquenten rollte gerade heran. Jubel erhob sich. Es war ein schmutziger, mit verdrecktem Stroh ausgelegter Leiterwagen, in denen die bleichen, zerlumpten Gefangenen kauerten. Aramis zwängte sich rücksichtslos durch die Menge und erntete harte Rippenstöße und wütende Flüche dafür. Aus dem Augenwinkel sah sie den Galgen und wie die Gefangenen grob auf das Podest gestoßen wurden. Übelkeit erfasste sie. Wahrscheinlich ist es die Hitze und der leere Magen, dachte sie. Früher hatte ihr das ganze doch auch nichts ausgemacht, doch plötzlich empfand die sie leisen wollüstigen Seufzer der Zuschauer und deren erregtes Glimmern in den Augen widerwärtig und ekelerregend. Bei ihrer langen Suche war es mittlerweile Abendstunde in Paris geworden. Es blieb drückend heiß und der Schweiß klebte auf ihrer Haut. Die Hitze hatte sich zwischen den dichtgedrängten Häusern und engen Gassen gefangen und ließ die Luft flimmern. Eine ganze Auswahl an unangenehmen Gerüchen lag bleischwer in der Luft. Endlich kam Monsieur Bonacieux Haus in Sicht. Sie lehnte sich an eine Hauswand, um ihre letzte verbliebene Kraft zu sammeln. Mit der Hitze des Tages stolperte sie direkt in die gute Stube, wo sich um den Esstisch des Hausherrn ihre Freunde zum Abendessen eingefunden hatten. Was für ein Glück. Die Tür fiel polternd zu und die vertrauten Menschen am Tisch wandten sich verwundert zu dem unerwarteten Gast um. Sie sagten nichts, sie starrten sie nur an. Porthos Kinnlade klappte herunter. Athos wurde kreidebleich, D’Artagnon glotze sie mit offenem Mund an, Constanze und Monsieur Bonacieux musterten sie mit ungläubiger Miene. Es hatte ihnen bei ihrem Anblick sprichwörtlich die Sprache verschlagen. Die Tür zur Küche ging auf und Martha kam heraus. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und ließ den Suppentopf fallen. Aramis Kopfschmerzen wurden schlimmer. „A … Aramis???“, krächzte Porthos mühsam. Aramis runzelte die Stirn. Sollte das eine Frage sein? Sie versuchte zu lächeln, aber angesichts der völlig entsetzten Gesichter, misslang ihr dies gründlich. „Wer soll ich denn sonst sein? Warum starrt ihr mich alle an, als wäre ich ein Geist, fragte sie mit kehliger Stimme. Constance schlug erschrocken die Hände vor das Gesicht. Martha bekreuzigte sich und fiel polternd in Ohnmacht. War dieses zerlumpte Wesen dort wirklich Aramis? Aramis war doch tot. Mit trauerden Herzen hatten sie dies mühsam akzeptieren müssen. Und doch stand diese abgerissene, ausgezehrte Gestalt vor ihnen und sprach mit der Stimme eines Totgeglaubten und obwohl die einst makellose Haut mit verschorften Kratzern übersäht und das Gesicht erschreckend mager war, waren unter dem Dreck doch Aramis Gesichtszüge erkennbar. Die vertraute Stimme war es wohl, die alle Zweifel ausräumte, obwohl auch diese lädiert und zerkratzt klang. Aus Porthos Kehle entfuhr ein tiefes Ächzen. D’Artagnans Mund klappte wieder zu. Athos erhob sich wie in Trance, blieb aber regungslos stehen, weil er noch immer nicht glaubte, was er sah. Dabei war der Körpergeruch von Aramis durchaus irdisch. Aramis schwankte mittlerweile vor Schwäche und war kurz davor umzukippen. Sie war mit ihrer Geduld am Ende. „Was habt ihr denn alle?“, schimpfte sie aufgebracht und zerriss die lähmende Stille. „Was starrt ihr mich so an?“ „Du lebst!“, schrie D’Artagnan etwas zu schrill und sprang auf. „Du lebst!“ Aramis zog die Augenbraue hoch und verstand nicht, warum etwas so offensichtliches, so überraschend erschien. „Natürlich lebe ich!“, erklärte sie. D’Artagnan umarmte sie überschwänglich, ließ sie aber sogleich wieder erschrocken los, als er den viel zu mageren zerbrechlichen Körper spürte. Sichtlich bestürzt sah er sie an. Aramis Augen glänzten fiebrig und sie zitterte vor Erschöpfung. D’Artagnan zog ihr seinen Stuhl heran, doch sie schüttelte seine Hand ab, getrieben von falschem Stolz. Die anderen starrten sie unentwegt an, mit einer Mischung aus Neugier und Schuldbewusstsein. In ihren Gesichtern konnte sie ablesen, wie erbärmlich sie aussah und das machte sie wütend. Sie fühlte sich gereizt und müde. Da saßen sie, sauber, satt und leichtgläubig. „Was ist denn passiert?“ Aramis blieb stumm. Athos bemerkte, wie ihr Mund sich in einen schmalen Strich verwandelte. „Aramis?“, fragte er sanft. Sie zuckte bei dem Klang seiner Stimme zusammen, sah ihn aber nicht an. Sie hatte nicht die geringste Lust über den Überfall und die Zeit danach zu reden. Mit abweisendem Blick nagte sie an ihrer Unterlippe und schien zu überlegen. Dann nickte sie und ging zu einem der freien Stühle. Ihr Rücken war durchgedrückt, aber sie zog das verletzte Bein nach. Die Blicke der Anderen folgten ihr. Vor ihr lagen die Reste des Essens. Aramis schlug unter dem Tisch die Fingernägel in die Handfläche, um sich nicht darauf zu stürzten. Sie konnte jedoch nicht verhindern, dass ihr Blick ständig am Essen hängenblieb. Constance folgte ihrem Blick und schob ihr wortlos das Brot hin. Dankbar schlug Aramis die Zähne in den weichen Teig und versank in seinem Geruch, bevor sie es viel zu gierig herunterschlang. Das herunterschlucken der fast unzerkauten Brocken, klang viel zu laut und gefräßig. Dabei erzählte sie, kurz und knapp und völlig schnörkellos. Athos sah sie an. Er fand, sie sah aus wie ein hungriges, räudiges Tier und selten hatte er sich so erschreckt. Er schaute sie immer wieder an, als müsste er sich vergewissern, dass sie kein Trugbild war. Sein Herz schlug plötzlich ungewohnt heftig und er hatte das merkwürdige Gefühl auf brennenden Kohlen zu sitzen. Seine Finger kribbelten vor unbändiger Lust, die Hand auszustrecken und sie zu berühren. Hätte er dem nachgegeben, hätte er sie nicht mehr loslassen können. Während Aramis sprach und aß, tätschelte ihr Porthos in regelmäßigen Abständen kameradschaftlich die Schulter, als wollte er sichergehen, dass sie „wirklich“ war. Dabei schniefte er vor Rührung laut und seine Augen glänzten feucht. Er war so glücklich, dass er tatsächlich das Essen vergaß. „Jetzt wissen wir, dass du lebst, aber nicht warum du so aussiehst“, sagte er. „Kannst du dir das nicht denken?“, entgegnete Aramis verstimmt, „Mir wurde keine Kutsche entgegengeschickt.“ „Ist das denn etwa noch immer die gleiche Uniform, mit der wir dich zurückgelassen haben?“ „Ähm, ja“, gestand sie, „natürlich.“ „Du trägst wochenlang ein und dieselbe Kleidung, gerade du?“, stänkerte er, gespielt schockiert. „Du siehst fürchterlich aus.“ Aramis sah ihn säuerlich an. Natürlich tat sie das. Sie hatten viele, viele Meilen zu Fuß zurückgelegt, unterbrochen von kurzen Fahrten auf schaukelnden Bauernwagen, wo sie sich in einer Ecke zusammenkauern durfte und entsetzliche drei Tage auf einem abgetakelten, tief und schräg im Wasser liegenden Schoner, mit zwielichtigen Gestalten als Besatzung. Zu Fuß wäre es sicherer gewesen, aber so konnten sie ihre müden, mit Blasen übersäten Füße hochlegen. Sie hatten sich die Fahrt mit Amaurys Dienste als Arzt erkauft. Doch es waren wankelmütige Wohltäter und der ein oder andere Passagier landete unterwegs im Wasser, einfach über Bord geworfen. Zum Glück war Aramis zu dreckig, um lüstern betrachtet zu werden. Nass, verdreckt, halb verhungert und völlig übermüdet kamen sie letztendlich in Paris an. Sie war so müde, dass sie meinte Jahre schlafen zu können. „Ich habe kein Zuhause mehr, wo ich mich hätte waschen und umkleiden könnte“, erklärte sie beleidigt. „Als ich nach Hause komme, steht plötzlich eine kreischende Frau vor mir und behauptet, das Haus gehöre ihr.“ Porthos sah sie betreten an und wich doch ihrem direkten Blick aus. „Nun ja, wir dachten, du wärst tot. Was mit deinem Haus passiert, erschien uns nicht wichtig.“ „Jetzt hat sie mein gesamtes Habe und meine Ersparnisse. Ich habe nicht einmal andere Kleider.“ „Du kannst bei mir wohnen!“ Aramis sah erschrocken auf und direkt in Athos sturmgraue Augen. Seine Stimme jagte ihr einen wohligen Schauer über den Rücken. Sie schluckte trocken. Ihre Reaktion auf ihn, erinnerte sie daran, warum sie nicht mit ihm gehen sollte. Bilder aus der Nacht vor der Schlacht in seinem Zelt, jagten durch ihren Kopf. Dachte er auch gerade daran? Sie suchte seinen Blick, um darin zu lesen und er sah offen zurück. Natürlich nicht. Röte überzog ihr Gesicht. Deutlicher konnte der Kontrast zwischen ihnen nicht sein. Sie war dreckig, stinkend, mit öligen Haaren, mager und abgezehrt, mit überall zerrissener, nach säuerlichem Schweiß stinkender Kleidung. Er war stattlich, sauber, in tadellos sitzender Kleidung. „Wo willst du sonst hin“, fragte er mit einem feinen Lächeln, wohl wissend, dass ihr keine andere Wahl blieb. „Du kannst auch bei mir schlafen“, bot Porthos an. „Du kannst natürlich auch bei Porthos schlafen“, wiederholte Athos und nur Aramis hörte die Belustigung in seiner Stimme. Aramis sah sie durch den Schleier der Erschöpfung an. „Ich komme mit dir, Athos. Lass gut sein, Porthos!“ Porthos schob schmollen die Unterlippe vor. „Wie ich dich kenne, hast du sicherlich heute Nacht wieder Damenbesuch. Dabei will ich dich nicht stören“, lenkte sie ein. Die Miene ihres Freunds hellte sich auf. „Oh, ich teile sie gerne mit dir.“ „Ich aber nicht“, murmelte Aramis müde. „Tja“, sagte Athos, „na dann!“ Und das kleine Wörtchen war mit reichlich Bedeutung geladen. Kapitel 16: Donnergrollen ------------------------- Dunkle Wolken schoben sich vor das Licht der Sterne. Der Westwind fegte die heiße träge Sommerhitze des Tages durch die Straßen. Er war über den Atlantik gekommen und als er Paris erreichte, fegte heulend mit der Wucht eines Sturms über die Stadt hinweg. Der Staub der ausgedörrten Erde wirbelte auf, die Bäume beugten sich, Fensterläden und Türen klapperten. Dann begann es zu regnen. Aramis stand in Athos Schlafgemach. Vor dem Fenster heulte der Wind und rüttelte an den Fensterläden. Aus alter Gewohnheit vergewisserte sie sich, dass niemand sie sah, bevor sie ihr Handtuch fallen ließ. Die kühle Luft strich über ihre nackte Haut und ließ sie frösteln. Aramis hatte gebadet. Dabei war Baden zu ihrer Zeit eine mühselige Angelegenheit, bei der das Wasser in den meisten Haushalten erst aus den Brunnen herbeigeschafft und dann am Herd erwärmt werden musste. Einen Badezuber besaß ohnehin niemand. Die wenigen Badehäuser wurden wie Bordelle betrieben. Was für ein Aufwand, für eine Sache die schädlich und überflüssig war, von führenden Ärzten sogar als lebensbedrohlich eingeschätzt wurde. Und gerade in den Badehäusern waren immer wieder Seuchen aufgebrochen. Die Zusammenhänge zwischen Baden, Hygiene und Geschlechtskrankheiten würden erst in späteren Jahrhunderten entdeckt werden, nicht zu Aramis Lebzeiten. Warum Aramis trotzdem so gerne badete? Aramis war ihr Leben lang gesund gewesen, aber besessen von einer schon untypischen Reinlichkeit. Mit den Jahren hatte sich so viel Schmutz angesammelt, dass er wie eine Schicht aus Dreck auf ihre Seele lag. Ihr Dreck bestand aus den ständigen Lügen und der alptraumhaften Erinnerungen an die gierigen Finger ihres Onkels. Daher ihren Drang, sich andauernd zu schrubben. Aramis und Athos hatten sich bald von Monsieur Bonacieux verabschiedet und waren zu ihm nach Hause gegangen. Er war gelaufen, sie war gehumpelt. Athos hatte sich, sehr zur Verwunderung seiner Nachbarin, deren Wäschezuber ausgeliehen. Das Ding war gerade groß genug, dass sich Aramis mit angewinkelten Beinen hineinpressen konnte, wobei der Wannenrand schmerzhaft im Rücken und gegen die Schienbeine drückte. Der Beckenrand reichte ihr sitzend bis unter die Brust. Ihr Enthusiasmus beim Wasserholen erstreckte sich aber lediglich auf einen Wasserspiegel der bis zum Unterbauch ging. Besonders warm war das ganze Bad auch nicht. Aber Athos verfügte immerhin über ein Stück Seife, dass nach Lavendel duftete. Keine Ahnung, warum sie in seinem Besitz war. Er roch jedenfalls nie nach Blumen. Einen Eimer Wasser behielt sie zum Ausspülen ihrer Haare übrig. Nachdem sie den Wäschezuber verlassen hatte, schwamm eine seifige Dreckschicht auf der Wasseroberfläche. Die Haut ihrer Hände war ein wenig schrumpelig, ihre Fingernägel hoffnungslos eingerissen. Dann sah sie an sich herunter und ließ ihre Hände über ihren Körper wandern. Lang war er schon immer gewesen und dünn. Nun traten die Schlüsselbeine hervor, der Busen war kleiner, die Rippenbögen deutlich zu spüren, die Hüfte schmal und knochig. Die Beine waren vernarbt, zerkratz und blau. Damit schloss sie die Bestandsaufnahme und zog sich an, dass erste neue Kleidungsstück nach über zwei Monaten. Aramis trat an das Fenster, verlagerte das Gewicht auf ihr gesundes Bein und öffnete die Läden. Eine Sturmböe riss sie ihr aus den Händen und besprühte sie mit kalten Regentropfen. Gierig atmete sie die abgekühlte Luft ein und gähnte ausgiebig. Der kalte Wind tat gut auf ihrer Haut, gegen die Kopfschmerzen, gegen die Müdigkeit. Gestern noch hatte sie auf dem harten Waldboden schlafen müssen, wie so viele Nächte davor. Sie sah Athos Bett an, die erste Nacht in einem Bett seit vier Monaten. In ihrem Kopf verflüchtigte sich ihre lange Reise wie eine langsam verblassende Luftspiegelung. Es klopfte und die Tür öffnete sich in ihrem Rücken. Athos betrat das Schlafgemach, sein Schlafgemach. In der einen Hand zwei Becher, in der anderen eine Flasche mit Wein. Aramis stand am Fenster. Sie wandte sich zu ihm um. Hinter ihr tobten die Elemente. In der Ferne erklang tiefes Donnergrollen, sekundenspäter erhellte ein Blitz das Firmament. Er blieb wie angewurzelt stehen und starrte sie sekundenlang an. Die Frau die dort am Fenster stand, war ihm unbekannt. Aramis war nur mit einer Chemise bekleidet. Die Chemise war die Unterwäsche des späten Mittelalters. Sie wurde als solche Tag und Nacht getragen und war meist das einzige Kleidungsstück, dass regelmäßig gewechselt und gewaschen wurde. Aramis Kleidung hatte Athos kurzerhand im Herd verbrannt. Sie waren nicht mehr zu gebrauchen gewesen und stanken fürchterlich. Als Aramis dann frisch geschrubbt Madam Lestards Wäschezuber entstieg, lag Athos bestes Unterhemd für sie bereit. Aramis wusste das zu schätzen, Athos besaß nur drei. An sich bedeckte die Chemise den Körper vom Hals bis zu den Waden. Zwei Bänder schlossen den Ausschnitt am Hals. Aber es war eben nur ein dünnes Leinenhemd, bei dem die untere Hälfte der Beine hervorschaute. Aramis sah ungemein zerbrechlich und zart aus. So mager, dass sie schon puppenhaft wirkte. Mit schmalen Gelenken, einem Busen den man nicht sah und einem bleichen Gesicht, das nur noch aus Augen zu bestehen schien. Doch Aramis war nie zerbrechlich und zart gewesen, nie schwächlich oder hilfebedürftig. Das bleiche Gesicht färbte sich bei seinem Anblick rot, aber ihr Blick blieb gerade und direkt. Er ging zu seinem Bett und setzte sich mit seinen beiden Weinbechern auf die Bettkante. Nun saß er ihr gegenüber und nur zwei Armlängen entfernt. Er hob den Blick und sah direkt auf das, von dem er dachte, dass er gar nicht existierte und musste schwer schlucken. Aramis Haare und das viel zu große Hemd hatten ihren Busen verborgen. Nun sah er genauer hin. Unter den nassen Haaren klebte das Hemd auf der Haut. Der nasse Stoff zeigte deutlich mehr, als er verhüllte. Aramis hatte die Bänder am Hals nicht verknotet und Athos sah den Ansatz ihrer Brüste. Unwillkürlich wanderte sein Blick zu ihrem Unterleib, denn die zwei Beine, die unten der Chemise hervorsahen, mussten ja schließlich irgendwo enden. Die Woge sexuellen Begehrens durchfuhr ihn so unvermittelt, dass er schneller atmete. Ihm war plötzlich heiß und kalt zusammen und sein Kragen erschien ihm zu eng. Angestrengt starrte er auf einen Punkt an der Wand, die Becher hielt er schützend vor seinen Schritt. Äußerlich sah Athos aber vollkommen beherrscht aus. Aramis war sich ihrer Wirkung auf ihn auch überhaupt nicht bewusst, doch dafür nahm sie ihn umso deutlicher war. Wenn sie die Hand ausstreckte konnte sie ihn fast berühren. Sie hatte ihn so lange nicht mehr gesehen und vergessen, welche Faszination er auf sie ausübte. Sie liebte die langen Finger, die sich um den Becher schlossen, den sinnlichen Schwung seiner Lippen, den sanften klugen Blick in seinen Augen. In ihren Fingerspitzen kribbelte es, ihn zu berühren und ihr Magen flatterte. „Reiß dich zusammen!“, dachte sie. Was sieht er wohl vor sich. Ein ziemlich mageres Mädchen mit zerkratzten Beinen, an dem seine Chemise unförmig herunterhängt. Sie war Aramis, der Musketier, Aramis, die Lüge, Aramis die Erschöpfte, sagte sie sich, während sie den Schlaf abwehrte, der sich wie Spinnenweben um sie wandte. Das Offensichtliche war Aramis entgangen und nun verbarg er es hinter der Weinflasche mit der er die Becher füllte. Athos reichte ihr einen der Becher und ihre Fingerspitzen berührten sich. Ein warmes Feuer jagte durch Aramis Körper. Sie zog die Hand zurück und setzte sich auf den Stuhl neben dem Kaminfeuer, so dass sie ihm schräg gegenüber saß, den Becher im Schoß und die nackten Füße gekreuzt. Athos schlug die Beine übereinander und musterte sie schweigend aus halbgeschlossenen Augen und mit versteckter Faszination. Er hob den Becher und prostete ihr zu. „Auf dich, Aramis! Darauf, dass du zurückgekehrt bist!“ Sie lächelte dünn, gab aber keine Antwort, stattdessen leerte sie ihren Becher in einem Zug. Wortlos forderte sie ihn auf, ihr nachzuschenken. Athos hob eine Augenbraue, nahm aber die Weinflasche um nachzuschenken. Er räusperte sich, bevor er sagte: „Wenn du erlaubst, werde ich das Bett mit dir teilen.“ Sie sah ihn aufmerksam an und nagte an ihrer Unterlippe. Ihr Blick war schon leicht verklärt. „Ich habe nur dieses eine und ich will ungern auf dem Boden schlafen.“ Er wartete ab. Ihr Blick blieb ausdruckslos. Sie zuckte lediglich die Schultern und murmelte etwas, was wie ein „Natürlich“, klang, in ihren Becher und trank ihn erneut leer. Athos runzelte die Stirn, während er seinen Becher austrank. Er stellte Becher und Flasche beiseite. Dann begann er sich zu entkleiden, indem er Schuhe, Beinkleider und Wams auszog und ordentlich auf seine Truhe legte. Hinter seinem Rücken, angelte Aramis nach der Weinflasche und schenkte sich noch einmal nach. In ihrem Kopf herrschte eine wohlige Leichtigkeit. Sie sank tiefer in den Stuhl und streckte die Beine von sich. Plötzlich fand sie ihre nackten Zehn witzig. Sie gluckste. Irritiert schüttelte Athos den Kopf. Er wusch sich in der Waschschüssel, der Frau in seinem Rücken, durchaus bewusst, mit der er das Bett teilen würde. Er würde es mit ihr teilen, aber nicht mehr. Denn wie groß die Anziehung auch sein mochte, es war letztendlich Aramis, die auf seinem Stuhl saß. Wenn Aramis für ihn eine normale Frau gewesen wäre, dann hätte er die Situation genossen und ausgenutzt. Er hätte sie verführen und erobern und seine Lust gestillt. Aber in Aramis hatte er jahrelang einen Mann gesehen und es fühlte sich nicht richtig an. Das hätte alles unnötig verkompliziert und Athos mochte die Dinge gerne geordnet. Und so biss er auf seinen Minzeblättern herum. So war eben Athos, -beherrscht vom Haaransatz bis in die Zehenspitze. Er war mit seiner Nachtwäsche fertig. Aramis saß noch immer auf dem Stuhl und trank, ohne ihn zu beachten. Die Flasche Wein war mittlerweile leer. Er löschte das Licht der Kerzen. Die Fensterläden blieben offen. Die Gewitterwolken und der Regen waren weitergezogen und der Mond warf sein silbriges Licht in das Zimmer. Mittlerweile hatte sich der Aufruhr in seinem Körper gelegt. Er seufzte, als er sich auf das Bett setzte. Seine Entscheidung war richtig. Er nahm sich vor, zu vergessen, wer Aramis wirklich war, denn nur so konnte er akzeptieren, dass es eine Frau unter den Musketieren gab. Athos tat nichts, ohne genauestens darüber nachzudenken. Aramis tat das nicht. Einfach ihren Gefühlen folgend, erhob sie sich und ging zum Bett. Sie drückte Athos auf die Matratze nieder, um sich rittlings auf ihn zu setzen. Dann lehnte sie sich vor und küsste ihn auf den Hals. Ihre Absichten waren eindeutig. „Aramis?“ rief Athos bestürzt. „Mh“, murmelte sie und ihr warmer weingetränkter Atem streichelte seine Halsbeuge und ihre weichen Lippen berührten seine Haut. Ihre Haare waren noch feucht vom Waschen. Sie fuhr mit den Lippen zu seinem Mund und küsste seine Unterlippe. Erregung erfasste Athos Körper wie ein Blitzschlag. Er schnappte nach Luft. Die Lust die Aramis Küsse in ihm auslöste, gefiel ihm gar nicht. Er umfasste ihre Oberarme und schob sie abrupt zurück. „Du bist betrunken?“, stellte er fest, während er sie an den Armen festhielt. „Ja“, sagte sie und lehnte sich wieder vor, um ihn erneut zu küssen. Athos schob sie wieder von sich. „Ich glaube, das ist keine gute Idee“, sagte er ernst. „Das führt nur zu Problemen zwischen uns beiden!“ Aramis Gesicht verfinsterte sich. Als sie in sein Zelt gekommen war, war das auch keine gute Idee gewesen, aber sie hatte es dennoch gemacht. Sie würden ein verdammtes Problem miteinander haben, wenn er sie jetzt von sich stieß, denn dann würde sie ihn nie mehr unter die Augen treten können. Sie hatte ganze fünf Minuten darüber nachgedacht, was sie tun wollte und das war eine Menge Zeit, wenn der Kopf vom Alkohol benebelt war und zu Kurzschlussreaktionen neigte. Da ihr Körper über mangelnde Fettreserven verfügte, war der Alkohol direkt in ihren Kopf gestiegen. Hätte Athos die Kerzen brennen lassen, wäre sie vielleicht von ihrem Entschluss zurückgewichen. Sie war überzeugt, dass ihr magerer muskelbepackter Körper zu abstoßend sein musste. An für sich war sie nicht körperfixiert, bestenfalls war er ihr lästig. In diesem Fall lästig, weil er ihrer Meinung nach nicht über die Attribute zu verfügen schien, die ihn in Athos Augen so begehrenswert machte, dass er anstatt zu reden, ihr die Kleider vom Leib riss. Aramis wand schwer atmend, ihre Arme aus seinem Griff und starrte schweigend auf ihn herab. Er konnte ihren Gesichtsausdruck im Dunkeln nicht richtig sehen, aber selbst ihr Schweigen wirkte verletzt und grimmig. „Ich weiß nicht, was gerade in deinem Kopf vorgeht, aber du scheinst gerade viel zu betrunken zu sein. Ich erkenne dich gar nicht wieder. Mach nicht etwas, was du später bereuen wirst!“ sagte er. Seine Stimme war schrecklich sanft. „Was du da tust passt nicht zu uns beiden. Wir sollten schlafen und das hier vergessen!“ Vergessen? Nie vergaß eine Frau eine Zurückweisung. „Und du meinst, das hier wird nicht zwischen uns stehen?“ meinte sie mit ausdrucksloser Stimme. “Morgen früh wachen wir auf und alles ist wie es ist.“ „Aramis, ich …“ Aramis wurde fürchterlich wütend. Sie war sich sicher, dass jede andere Frau, diese Unterhaltung nicht führen würde. Erst fühlte sich alles so gut an. Jetzt wollte sie Athos am liebsten mit den Fäusten bearbeiten. Sie ballte die Hand zur Faust und haute sie ihm auf sein linkes Schulterblatt. „Mistkerl!“, sagte sie. „Aua“, sagte Athos. Und nochmal, eindeutig verärgert, als sie erneut zuhaute. „Lass das!“ Athos war verwirrt und wütend. Er versuchte sie von seinem Körper herunterzustoßen, aber Aramis hatte im Laufe der Jahre eine Menge Kraft angesammelt. Was war nur in Aramis gefahren? Erst versuchte sie ihn zu verführen und dann verprügelte sie ihn. „Wieso hast du mir dein Haus und dein Bett angeboten?“, fragte Aramis. „Ich wollte dir helfen? Du hast da etwas völlig falsch verstanden! Ich mag dich sehr Aramis und du ein guter Freund.“ Athos versuchte die Wogen zu glätten, aber er machte es nur noch schlimmer. „Ein guter Freund“, wiederholte Aramis tonlos. „Ein guter Waffenbruder, wie?“ Aramis war gekränkt, er hatte das falsche gesagt. Normalerweise fand Athos bei den Frauen immer die richtigen Worte. Die Situation entglitt ihm. Er stöhnte innerlich auf. Ausgerechnet bei ihm, musste Aramis ihre Weiblichkeit neu entdecken und er war sich dessen auch voll bewusst, denn Aramis saß noch immer auf ihn und er spürte sie viel zu deutlich durch den dünnen Stoff seiner Chemise. Oh verdammt, er hätte nicht daran denken dürfen. Ihr Körper brannte auf seiner Haut durch den dünnen Stoff hindurch. Schon reagierte er. „Ich wollte dir doch nur einen Gefallen tun“, sagte Athos dünn. Aramis hob eine Augenbraue. „Ach so?“ bemerkte sie, mit einem boshaften Lächeln, was Athos zum Glück nicht sehen konnte. "Ich kann dir den Gefallen sofort zurückzahlen!" Athos stöhnte, als sie genüsslich auf seinem Schoss rumrutschte und ihre Hüften bewegte. Es war zwar nur ein kleiner Sieg für Aramis, da sie ganz genau wusste, wie Athos die Dame seiner Wahl verführen und umgarnen konnte, aber man musste halt nehmen, was man kriegen konnte. Als Athos es kaum noch aushielt und kehlig aufstöhnte, beugte sie sich über ihn und begann seine Lippen erneut zu liebkosen. Ihre Brust lag auf seinem Oberkörper. Unwillkürlich öffnete Athos die Lippen und Aramis Zunge glitt in seinen Mund. Sie schmeckte süß und berauschend. Sie roch so sauber und sinnlich. Mit Athos Zurückhaltung war es schon lange vorbei. Seine Hände legten sich auf ihre bloßen Oberschenkel und schoben sich unter ihr Hemd und über ihr Hinterteil. Ihre Küsse und die Bewegungen ihrer Körper wurden immer leidenschaftlicher und heftiger. In der Stille von Athos Schlafzimmer waren die lustvollen Geräusche zweier Menschen zu hören, die regelrecht übereinander herfielen. Sie zerrten beide ungeduldig an dem Stoff ihrer Hemden, bis sie nachgaben und rissen. Endlich waren sie nackt und ihre Hände wanderten in fieberhafter Hast über den Körper des jeweils anderen. Kapitel 17: Lord Rochefort -------------------------- Seit das königliche Heer im Frühjahr zu seinem Feldzug aufgebrochen war, erwachte Lord Rochefort zum ersten Mal wieder wie ein Lord Rochefort, - in einem Bett, mit einer weichen Matratze, feinster Leinenbettwäsche, Bettvorhängen und einen Pisstopf, den er nur zu füllen brauchte, nie zu leeren. Rochefort reckte sich ausgiebig und gähnte herzhaft. Es raschelte neben ihm und zu seinem Erstaunen kam ein blonder Haarschopf unter den Decken hervor. Verdutzt starrte er sie an. Das Mädchen hatte etwas von einer sommersprossigen Kuh. Und sie lächelte ihn ziemlich verklärt an. Rochefort zog an der Klingelschnur. Sein Kammerdiener Hugo erschien nach einem diskreten Klopfen und verbeugte sich. „Mylord?“ „Hugo, was soll das?“ Hugso Gesichtsausdruck blieb leer. „Mylord?“ „Wer ist das?“ Rocheforts Stimme war finster. Der Gesichtsausdruck des Mädchens schlug um in Verwirrung. Sie wimmerte leise, als ihr aufging, dass sie besser nicht da sein sollte. Rochefort hatte eigentlich nichts gegen Frauen in seinem Bett, aber er achtete stets drauf, dass sie am nächsten Morgen nicht mehr da waren. Oder vielmehr war es Hugos Aufgabe darüber zu wachen, dass er alleine erwachte. Und nie, wirklich nie, hatten sie Sommersprossen und vorstehende Augen. „Eine von Euren Mägde, Mylord!“, erklärte Hugo souverän. „Eine Magd?“ Rocheforts Gesichtsfarbe verfärbte sich. Das Mädchen rückte ab und suchte hektisch nach Kleidern, die sie nirgends fand. „Was hat eine Magd in meinem Bett zu suchen?“, brüllte Rochefort, dass die Vorhänge zittern. Zum Glück hatte das Mädchen nichts gesagt. Es wäre ihr Untergang gewesen. „Ihr habt sie mit hineingenommen, Mylord!“ Rocheforts Gesicht sah aus, als hätte er auf eine Zitrone gebissen. „Eine Magd“, wiederholte er mit ätzender Stimme. „Wie konntest du erlauben, dass ich eine Magd vögle?" „Ihr wolltet sie!“, gab Hugo mit unverändertem Gleichmut zurück. „Entferne sie!“, schrie Rochefort. „Ja, Mylord!“ Hugos Gesicht blieb ausdruckslos, als das Mädchen aus dem Bett zwang und zur Tür schickte. Sie roch nach viel Schweiß und ein wenig nach Ruß, weil sie für die Kamine und Öfen verantwortlich war. Sie schluchzte leise. Es war nicht ihre Schuld. Seine Lordschaft wollte die Magd bespringen, also bekam er sie. Er hätte sich gar nicht an sie erinnert, wenn sie nicht in seinem Bett geblieben wäre, aber seine Lordschaft war auf ihr eingeschlafen, noch während er mit ihr beschäftigt war. Hugo stellte die Kaminmagd nackt vor die Tür und schloss diese hinter ihr. Den Kamin im Zimmer seiner Lordschaft würde heut ein anderer kehren. Rochefort wusste zwar nicht, wie das Mädchen in sein Bett gekommen war, aber er wollte schon gern wissen, was er gehabt hatte. Doch der nackte weiße Hintern, der da vor seinem Zorn floh, war enttäuschend breit und schwabblig. Ihm drängte sich die Erinnerung an ein anderes Hinterteil auf. Interessehalber hätte er dieses gern nackt gesehen. Er nagte nachdenklich an seiner Unterlippe. Nun ja, er hatte es wohl nötig gehabt, aber das war kein Grund mit dem Rumschreien aufzuhören. „Das war nachlässig von dir, Hugo!“, tadelte er und warf Hugo einen vernichtenden Blick zu. „Wir waren alle sehr bekümmert, dass Ihr so lange fort geblieben seid“, sagte Hugo. Lord Rochefort grunzte und sah seinen Kammerdiener misstrauisch an. Hugo sah auch sehr bekümmert aus. Er maulte noch ein wenig herum, dann schwang er die Beine aus dem Bett und stellte sich breitbeinig hin. Hugo versuchte halbherzig zu übersehen, was sich bei seinem Herrn hüllenlos entgegenreckte, aber er dachte bei sich, dass die Küchenmagd ja doch seinem Herrn gefallen haben musste. Rochefort folgte dem Blick des Dieners und sagte: „Es ist nicht das wonach es aussieht! Bring mir den Pisstopf!“ Und während er seine natürlichen Bedürfnisse stillte verlangte er nach einem üppigen Frühstück, seinem Masseur und dem Schneider. Es war gut, ein Lord Rochefort zu sein. Die Sonne ruhte nur kurz. Schon entfaltete sie wieder ihre ganze Pracht. Athos erwachte vor Aramis. Er war kein Langschläfer. Normalerweise stand er früh auf, absolvierte eine ganze Reihe von Fecht- und Dehnübungen, um sich dann mit frischem Brunnenwasser gründlich zu waschen. Danach frühstückte er und manchmal las er dabei. Heute blieb er jedoch im Bett liegen und dachte nach. Was war gestern Nacht vorgefallen? Er war es nicht gewohnt, dass er die Kontrolle über sich verlor. Nun war es ihm bei Aramis schon das zweite Mal passiert. Das gab ihm zu denken. Bei der Erinnerung an die Nacht fühlte sich Athos erneute erregt, doch er ignorierte es. Aramis Enthüllung hatte seine ganze innere Ordnung durcheinandergebracht, denn er hatte sie die ganze Zeit für einen Mann gehalten. Und wie konnte man jemanden begehren, indem man nie die Frau gesehen hatte? Und doch war es so! Es war wie zwei Bilder von einer Person die nicht zusammenpassen wollten. Nachdenklich betrachtete er die schlafende Aramis. Sie lag mit dem Rücken zu ihm und die Decke bis über die Schultern hochgezogen. Er hätte gern die Decke weggeschoben, um ihren nackten Körper zu sehen, aber er ließ es bleiben. Athos liebte die Frauen, aber ohne sein Herz zu geben, nur um sein Verlangen zu stillen. Und er liebte sie gerne, denn der weibliche Körper war etwas ganz wunderbares und seiner Ansicht nach geschaffen dafür liebkost zu werden und weil er das so sah, war er auch ein guter Liebhaber. Er hatte gelernt sie ganz unbefangen zu lieben, nur bei Aramis hatte er Angst, dass er das nicht konnte. Sein Selbstbild bekam Risse und sein Gleichgewicht begann zu schwanken. Er seufzte und schwang die Beine aus dem Bett. Es gab noch einiges zu erledigen. Aramis wurde von lauten Hämmerschlägen wach, die ihn ihrem Kopf widerhallten, als wollten sie ihn zertrümmern. Als sie ihre verklebten Augen öffnete, erlebte sie den Schock ihres Lebens. Sie war nackt und hatte nur eine unklare Vorstellung davon, warum sie nackt war. Die Schläge wurden immer beharrlicher und lauter. Aramis setzte sich auf. Sie stöhnte laut auf, als der Schmerz in ihrem Schädel wie Dornenstiche wütete. Ihre Magenwände drehten sich einmal um. Sie sank zurück in die Kissen und fuhr vor Scheck wieder hoch, als sie Porthos Donnerstimme hörte, die nach ihr rief. Eine Tür fiel scheppernd ins Schloss und schwere Schritte donnerten über Athos Dielen. An dieser Stelle setzte ihr Herz aus, als ihr aufging, was Porthos gleich erblicken würde. Panisch sah sie sich in der Kammer um, doch eine Fluchtmöglichkeit gab es nicht. Sie erwog gerade, unter das Bett zu kriechen, als die Zimmertür aufging. Es war jedoch Athos, der das Zimmer betrat, nicht Porthos. Er trug ein Bündel unter dem Arm und schlug die Tür hinter sich wieder zu. Aramis Herz begann wieder zu schlagen, wenn auch schneller als es das gemeinhin tat. „Du bist mir zu Dank verpflichtet. Ich habe gerade Porthos davon abhalten können, mein Schlafzimmer zu stürmen“, sagte er heiter. „Ich bin dir zu einigem Verpflichtet“, murmelte Aramis mit belegter Stimme und vergrub sich tiefer unter die Bettdecke. „Was will er?“ Athos lächelte. „Er will sich überzeugen, dass du auch wirklich noch lebst.“ Er warf ihr das Bündel auf den Schoß. „Hier sind neue Kleider und Stiefel. Ich habe dir auch etwas zum Frühstück besorgt, aber ich fürchte davon wird nichts mehr übrig sein. Der Korb steht schon zu lange in Porthos Nähe. Er grinste schief. Das Geräusch scheppernder Töpfe zeigte, dass Porthos in Athos Küche randalierte. „Beeile dich mit dem Anziehen, sonst überfällt Porthos wirklich noch mein Schlafzimmer!“ Aramis versuchte in seinem Gesicht zu lesen, doch dort stand nichts für sie geschrieben. Er nickte ihr zu und ging. Sie rollte das Bündel auseinander und zog einen breiten Leinenverband heraus. Athos hatte an alles gedacht. Athos dachte immer an alles. Langsam, ganz langsam hob Aramis die Faust zum Mund und bis sehr fest darauf. Sie schloss die Augen und hoffte, dass die Welt eine andere war, wenn sie sie wieder öffnete. Kardinal Richelieu ließ Lord Rochefort warten und mit jeder Minute die verstrich, wurde der Klumpen Unbehagen in Rocheforts Magen größer und größer. Die Dauer des Wartens im Vorzimmer seiner Eminenz, war der Indikator für Richelieus Wohlwollen. Eine Stunde für die, die Richelieu gleichgültig waren, aber etwas von Interesse hatten. Bei mehr als sechs Stunden Wartezeit konnte der Bittsteller sicher sein, jetzt besser zu gehen. Rochefort saß nun schon seine siebente Stunde hier und starrte düster die Tür zum Arbeitszimmer seiner Eminenz an. Alle Bittsteller waren weg, nur er war noch da, denn er war abhängig von der Gunst des Kardinals. Der ausschweifende Lebensstil seiner Familie hatte die Erblinie hoch verschuldet. Zu viele Teile der großen Ländereien waren verkauft und die Gläubigerliste sehr lang. Also war er in den Dienst des Kardinals getreten und es war nicht zu seinem Schaden gewesen. Bis jetzt, ohne die Gunst des Kardinals, fiel er. Einer von Richelieus allgegenwärtigen Sekretären eilte an ihm vorbei. Rochefort bekam gerade noch den Ärmel zu fassen und zog den Mann heran. „Ihr wisst doch wer ich bin?“, fragte Rochefort. Richelieus Sekretär schaute ihn über die Oberkante seines Aktenstapels hinweg an. „Ja, sicher, Lord Rochefort. Die Augenklappe hat Euch verraten!“ Rochefort war sich nicht sicher, ob der Mann ihn veräppeln wollte. „Hauptmann Rochefort“, plärrte er zurück. „Hauptmann Rochefort“, wiederholte der Mann jovial. „Warum empfängt mich seine Eminenz nicht?“ „Seine Eminenz arbeitet“, kam zur Antwort. „Außerdem wird er gerade von seinen Leiden geplagt. Er wird Euch sicherlich bald empfangen. Hauptmann Rochefort!“ „Wann wird er mich empfangen?“ Der Mann zuckte die Achseln und schüttelte Rocheforts Hand ab. Dann eilte er davon, jederzeit bereit mit seiner kleinen eifrigen Feder seinen Beitrag zum Wohle Richelieus zu tun. Rocheforts staunte indes nicht schlecht, als sein Adjutant Jussac hereinspazierte. Jussac trug neue Kleider, aufwendige neue Kleider. Jussacs Kinnlade klappte herunter, während er den wiederauferstandenen Lord mit dümmlichem Gesichtsausdruck anstarrte. Plötzlich grinste er feist. „Rochefort, Ihr lebt also doch noch!“ Rochefort musterte ihn, wie eine Katze eine unerwartet freche Maus musterte. „Hauptmann Rochefort!“, bellte er zurück. Das Grinsen wurde so breit, dass es sein Gesicht zu zerteilen schien. Jussac hieb sich stolz die Faust auf die Brust. „Ne, nicht mehr. Ich bin jetzt der Hauptmann der Garde!“ Rochefort stierte ihn an und hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Er hatte Jussiac noch nie besonders leiden können. Niemand mochte Jussac, nicht einmal seine eigene Mutter, die theoretisch ein wenig laue Zuneigung für ihren Sohn empfinden sollte. Er war einfach nur dumm, was nicht weiter schlimm war, weil Jussac dumm und kriecherisch gewesen war. Aber dumm und aufsässig war zu viel. Dazu kam noch ein ziemlich strenger Körpergeruch. Diese Kombination wollte der Kardinal nie in seiner Nähe wissen. Es war völlig unmöglich, dass Jussac Hauptmann war. Um Rochefort drehte sich alles. Er schwieg und wartete darauf, dass die Welt wieder einen Sinn ergab. „Nun, Ihr wart tot und der Kardinal brauchte einen guten Mann für den Posten.“ Ja, aber ausgerechnet Jussac? Er beugte sich vertraulich näher. „Es hießt, Ihr hättet Eure Truppe im Stich gelassen.“ Rocheforts Zähne knirschten. „Ich habe meine Truppe nicht im Stich gelassen“, gab er mit starrem Unterkiefer zurück. „Es war ein gemeiner, feiger und ziemlich mieser Hinterhalt und ich hatte nur einen Haufen Krüppel um mich.“ Jussac brüllte vor Lachen. „Na immerhin sind sie tot und Ihr seid hier! Der König ist wütend und Athos, der ist jetzt sein neuer Liebling und das macht unseren Kardinal wütend.“ All das sagte Jussac mit einem Lächeln und sehr viel Zähnen, aber die Botschaft war klar: Rochefort war in Ungnade. Rocheforts Zähne knirschten, als wollten sie zerbrechen. Fertig angekleidet, kam Aramis aus Athos Schlafzimmer. Athos stand alleine in seiner Wohnstube. Er sah sie an, schweigend und nachdenklich, als könnte er sich nicht entscheiden, was er in ihr sehen wollte. Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Wangen sich verräterisch rot färbten. Plötzlich flog Aramis auf Athos zu, direkt in seine Arme hinein. „Aramis“, rief Porthos freudestrahlend und tätschelte ihr freundschaftlich den Rücken. „Na, wie war die Nacht mit Athos?“ Aramis rote Wangen wurden, obwohl es kaum möglich war, noch eine Spur dunkler. Wieder dieser schwer zu deutende Blick von Athos. Porthos schien von all dem nichts zu bemerken. „Du hast eine reizende junge Dame verpasst. Schnarcht Athos?“ „Nicht so laut wie du!“ „Ach, ich hab ja auch einen sehr breiten Brustkorb. Mehr Masse, weißt du?“ Porthos haute sich voller Stolz auf seinen stattlichen Resonanzkörper. Er druckte die Brust durch und mit einer geschickten Anspannung der Muskeln konnte er den Effekt sogar noch verstärken. „Mir hast du immer erzählt, dass wären alles Muskeln.“ Porthos lachte dröhnend. Er war bester Laune. „D’Artagnan wartet an der Rue Petit Pont auf uns. Liegt Euch auch Marthas Kaninchenbraten so schwer im Magen?“ „Nein, das wird das Frühstück sein, was ich für unseren ausgehungerten Freund gekauft hatte“, erwiderte Athos streng. Porthos hatte wenigstens den Anstand beschämt dreinzublicken. Aramis lachte und tätschelte Porthos Arm. „Schon gut, Porthos. Du darfst dir und mir was unterwegs zum Hauptquartier kaufen.“ Athos ging hinaus, um seine Sachen zu holen. Porthos sah ihm nach. „Athos ist recht schweigsam. Ich meine schweigsamer als sonst. Hat er nicht gut geschlafen?“ „Nein, ich glaube nicht“, murmelte Aramis und machte sich davon. Athos war verwirrt und hilflos. Athos hatte seine beiden Freunde beobachtet. Nach außen hin schien alles normal zu sein. Es war das gleiche Geplänkel wie immer und doch war es anders. Jetzt teilte er ein Geheimnis. Aramis hatte den Schleier weggezogen und eine andere Wirklichkeit enthüllt. Es war nicht weit bis zur Rue Petit Pont, wo D’Artagnan auf sie wartete. Mit einem unwirklichen Gefühl, lief Aramis durch die sonnenbeschienen Straßen, flankiert von ihren Freunden. Allein schon die Vielzahl von Menschen, die geschäftig hin und her eilten. Der Sommer war zurückgekehrt: feucht, klebrig und ein wenig unangenehm. Das Brot lag noch warm in ihrer Hand, die Sonne beschien ihr Gesicht und sie brauchte keinen furchtsamen Blick über die Schulter zu werfen. An dem Quariter des Halles verabschiedete sich plötzlich Athos von ihnen und eilte in Richtung Louvre davon. „Wo will er denn hin?“, fragte Aramis. Porthos zuckte die Schultern. „In letzter Zeit muss er dauernd irgendwohin“, sagte er finster und beließ es dabei. D’Artagnan antwortete. „Der König hält große Stücke auf Athos. Er sucht seinen Rat und vertraut ihm. Gerade jetzt wo die Spanier versuchen in Frankreich einzufallen.“ Aramis bekam große Augen. „Die Spanier?“ D’Artagnan lächelte verlegen. „Ich vergesse immer wieder das du so lange weggeblieben bis. Ja, sie versuchen die Grenzposten im Nordosten einzunehmen.“ Aramis sah die Menschen an. Jetzt bemerkte sie, dass ein paar in Gruppen zusammenstanden. Auf ihren Gesichtern ein besorgter Gesichtsausdruck. Aber die meisten Menschen gingen wie gewohnt ihren Geschäften nach und am Porte Saint-Antoine hatte es ausgesehen wie immer. Paris lag wie ein dickes fettes Stück Torte da. Bereit verschlungen zu werden. „Warum ist keiner beunruhigt?“ „Oh, ein bisschen beunruhigt sind die Menschen schon, aber eben nur ein bisschen.“ Aramis sah sie mit ungläubigem Gesichtsausdruck an. In ihren Ohren rauschte es. „Und der König, der Kardinal?“ „Du verstehst das nicht, Aramis!“, sagte D’Artagnan, „Sie versuchen es zu erklären und die Leute versuchen es zu verstehen, aber das Problem ist, dass sie glauben, dass es nur um neue Steuern geht und dagegen haben die Leute was!“ Das wirkliche Problem war, dass sich die Franzosen keinen Krieg in ihrem Land vorstellen konnten. Seit dem Hundertjährigen Krieg hatte kein Krieg mehr in Frankreich stattgefunden und der jetzige Krieg wütete seit zwanzig Jahren in einem anderen Land. Wären Aramis, Amaury und Rochefort nicht zu weit nach Osten gegangen, wären sie den kaiserlichen Truppen direkt in die Arme gelaufen. „D’Artagnan das hatte ich vollkommen vergessen.“ Zwischen all den plötzlichen Neuigkeiten fiel Aramis noch etwas anderes ein „Was ist mit deiner Hochzeit?“ „Wir habe sie verschoben.“ „Warum denn?“ „Nun ja, wir dachten du bist tot. Und es schien uns nicht angemessen zu feiern.“ Es folgte kurzes rührseliges Schweigen. „Wir werden schon noch heiraten!“, erwiderte D’Artagnan heiter. D’Treville war schon lange kein junger Mann mehr. Doch heute sah man ihn das auch an. Aramis erschrak über seinen Anblick. Die Augen des Kapitäns wirkten glanzlos und schwer. Das Gesicht war bleich. „Du siehst mager aus!“, begrüßte er sie. „Danke, aber Ihre seht auch nicht gerade dick und gesund aus.“ „Die Galle, sagen die Ärzte“, seufzte der Kapitän kummervoll. „Aber mehr Sorgen als die Galle, bereiten mir die verfluchten Spanier. „Ich habe dich zurückgelassen.“ „Ihr müsst Euch keine Gedanken machen, Kapitän. Ihr habt es nicht wissen können.“ „Doch“, widersprach er, „ich vergesse manchmal wer du wirklich bist.“ Aramis sah ihn betreten an. Sie hatte nie eine besondere Beziehung zu ihm gehabt. Dass er sie bei den Musketieren aufgenommen hatte, war Erpressung gewesen, kein Gefallen. Seine Sympathie galt ihren Fähigkeiten, nicht ihrer Person. Sie hatten beide vergessen, dass sie eine Frau war und Aramis gefiel es gar nicht, daran erinnert zu werden. Sie räusperte sich. „Nun ich habe doch überlebt! Mir geht es doch gut.“ „Nein, tut es nicht!“ Das verstand Aramis nicht. „Doch tut es.“ „Tut es nicht!“ Die Faust des Kapitäns krachte auf die Tischplatte. Aramis hob verwundert eine Augenbraue. „Kapitän, alles in Ordnung?“ „Ich hätte dich gar nicht erst hinziehen lassen dürfen!“ „Aber wir hatten eine Abmachung“, widersprach Aramis. „Ihr vergesst, wer ich bin und ich tue alles, damit Ihr es vergesst.“ „Und ich habe es vergessen!“, brüllte D’Treville aufgebracht. „Na, dann ist doch gut!“ „Nichts ist gut!“ Die Wände erzitterten. Aramis atmete so tief ein, dass ihr Busen an seine Schranken stieß. „Kapitän, ich komme nicht mehr mit!“ „Ich hätte diesen ganzen Unsinn nicht erlauben dürfen. Du bist eine Frau und du gehörst in ein Kleid und nicht in eine Musketieruniform.“ „Kommt die Erkenntnis nicht ein wenig spät“, fragte sie bissig. Als er die Vormundschaft abtrat, hatte D’Treville ihrer Meinung nach, das Recht sich zu Sorgen verspielt. Der Kapitän wedelte sie verdrießlich hinfort. „Ach geh weg, du überforderst mich.“ Doch das war nicht ernst gemeint. D’Treville versank wieder in seinen Gedanken. Es klopfte und sein Diener trat ein. „Euren Tee, Kapitän!“, verkündete er fröhlich. D’Treville verzog das Gesicht und drehte sich weg. „Der Arzt hat ihn Euch verordnet!“, drohte er streng und hielt ihm die Tasse entgegen. Mit dem Ausdruck tödlicher Verachtung, kippte der Kapitän das Zeug hinter und schüttelte sich. Sein Diener zwinkerte Aramis zu und nahm ihm, sichtlich amüsiert, die Tasse wieder ab. „Das Zeug hilft überhaupt nicht. Es schmeckt nur widerlich“, gestand der Kapitän, als sein Diener verschwunden war. „Bis auf weiteres bist du beurlaubt!“ „Warum?“ „Bis das da verheilt ist!“ Er zeigte auf ihr Bein. „Aber ich bin damit immerhin bis nach Hause gekommen, wandte Aramis ein. „Und ich …“ „Ganz wunderbar und wir freuen uns auch alle, dass du wieder da bist“, unterbrach er sie mit dröhnender Stimme. „Und nun, will ich dass du brav nach Hause gehst und dich ausruhst.“ Aramis sah ihn gekränkt an. „Aber Kapitän?“ D’Trevilles Blick blieb unnachgiebig. „Erste Regel: Du hörst auf mich und nur auf mich! Zweite Regel: Du machst nur, was ich dir befehle. Dritte Regel: Verstößt du gegen die ersten beiden Regeln, setze ich dich unter Hausarrest!“ Aramis schnitt eine Grimasse. „Und wie lange?“ Er stand schwerfällig auf. „Erst einmal zwei Wochen und dann sehen wir weiter. Und jetzt gehen wir zum König.“ „Ich denke, ich bin beurlaubt?“ „Wir fangen mit dem beurlauben nach dem König an.“ Als Rochefort endlich vor dem Kardinal stand, fragte er fassungslos: „Jussac, Eure Eminenz, warum ausgerechnet Jussac?“ Richelieu trommelte verdrießlich mit den Fingern auf der Tischplatte, sagte aber nichts. Rochefort klang wie ein quengelndes Kleinkind. Seine Eminenz der Kardinal bedachte seinen ersten Leibgardisten mit dem gleichen Blick, wie er eine Made im Essen betrachtete. Richelieu fand, dass Rochefort mager geworden war. Seine Eminenz war miserabler Laune. Wie immer bei schlechten Nachrichten, wurde der Kardinal von seinen Krankheiten geplagt und die Spanier waren eine schlechte Nachricht. All seine Pläne, die geheimen Absprachen, die Bündnisse, die Unmengen von Geld die er zahlte, damit dieser Krieg französischen Blutzoll forderte. Nun war er doch zu ihnen gekommen. Der fehlgeschlagene Feldzug in der Spanischen Niederlande hatte zu viel ihrer militärischen Reserven gefordert. Sie köchelten auf Sparflamme. Es war ein schwacher Moment gewesen, als der Kardinal Jussac zum Hauptmann seiner Garde ernannte. Das Trommeln der Finger hörte auf. „Ihr lebt also noch“, sagte Richelieu und es klang nicht so, als würde dieser Umstand zu Rocheforts Gunsten sprechen. „Ähm, ja“, war alles was Rochefort daraufhin einfiel. „Wenn ich erklären dürfte …", aber der Kardinal fiel ihm ins Wort. „Ihr habt Euch nicht gerade mit Ruhm bekleckert.“ Rochefort grunzte. „Der König war schrecklich wütend, als er davon hörte. Zumal einer seiner Musketiere dabei war.“ Der Kardinal kräuselte verächtlich die Lippen. „Einer aus seiner persönlichen Leibwache“, sagte er gedehnt. „Aber der Musketier lebt doch noch.“ Der Kardinal hob eine Braue. „Ach so? Euer Glück. Hat er diesen Umstand Euch zu verdanken?“ „Ja“, log Rochefort dreist. „Und was ist mit den anderen fünfzig Männern, die in Eurer Obhut waren?“ „Ähm“, erwiderte Rochefort lahm. „Wisst Ihr wer der neue Liebling des Königs ist?“ „Athos“, gab Rochefort kleinlaut zu. Zorn stieg wie Dampf vom Kardinal auf. „Ja, Athos“, keifte er. „Athos hat den Aufstand gegen den König in der Provence niedergeschlagen und mein eigener Gefolgsmann, mein Hauptmann, aus dem ich einen Kommandanten gemacht habe, schafft es nicht einen Trupp Soldaten nach Hause zu bringen.“ Irgendwie klang diese Feststellung wie eine Drohung für Rochefort. Es folgte keine direkte Drohung, aber irgendwie machte es die Situation noch unangenehmer. „Wir waren kaum kampffähig und sind in einen gemeinen Hinterhalt geraten“, verteidigte sich Rochefort fast wehklagend. Richelieu lehnte sich in seinem Stuhl zurück und bedachte seinen Untergebenen mit einem Blick eisiger Verachtung. „Nichts was ich versucht habe, kann das Vertrauen des Königs in Athos erschüttern. Nicht einmal sein ungehorsamer Klotz von Vater, der den ganzen Aufstand angezettelt hat.“ Rochefort bekam große Augen. „Athos Vater hat gegen den König rebelliert?“ „Ja“, erwiderte der Kardinal gedehnt. „Und Athos hat seinen eigenen Vater verraten, der ihn ohnehin verstoßen hat, weil er gegen den Wunsch seines Vaters Musketier geworden ist. Der König ist vor Verzückung ganz außer sich.“ Nachdenklich starrte der Kardinal aus dem Fenster und versuchte den Schmerz der durch seinen Darm jagte zu vergessen. „Es müsste etwas geben, was der König als wirklichen Vertrauensbruch sieht“, sagte er, mehr zu sich selbst. Rochefort räusperte sich und sprach gleichzeitig. „Ähmvielleichtgebeesdaetwashämm.“ Der Kardinal wandte ihm seine dunklen Augen zu. Lord Rochefort hatte in den vergangenen Wochen etwas Interessantes über Aramis herausgefunden und er lechzte danach, dieses Wissen loszuwerden. Kapitel 18: Die andere Frau --------------------------- Aramis und Kapitän D’Treville mussten lange warten, ehe sie zum König vorgelassen wurden. Ein Page bot ihnen Pralinen und Getränke an, aber sie lehnten ab. Ein Musketier aß keine Pralinen und nippte nicht am Wein, während er seinen Dienst tat. Ein Musketier benahm sich so, wie es seinem Ruf entsprach. Beim Eskortieren des Königs war er zurückhaltend und diskret. Außer Dienst sollten sie verwegen, furchtlos, schneidig und ein wenig rüpelhaft sein. Ihr gepuderter König wollte es so und liebte den Ruf der seinen Musketiere anhaftete. Wahrscheinlich hoffte er, dass damit ein wenig draufgängerisches Heldentum auf ihn abfärbte. Das Bild, dass Aramis und der Kapitän abgaben, war weder schneidig, noch draufgängerisch. Es entsprach eher müder Resignation. Die warme Sommersonne erhitzte den Raum, so dass die Pralinen auf den Tablett schmolzen. Die Luft war schwer und dick. Der Kapitän saß, Aramis stand, den Rücken an eine Säule gelehnt. Ihre Kleidung klebte ihnen klamm auf der Haut. Aramis gähnte. Der Kapitän seufzte. Die Wachposten an der Tür schwitzten und stöhnten. Der Zeremonienmeister zischelte empört. „Ihr könnt nun zu ihm“, erklärte einer der Pagen der soeben eingetreten war nasal und ging voraus, an den schwitzenden Wachposten vorbei. Aramis und D’Treville folgten ihm. Beim König waren seine höchsten Offiziere versammelt. Zu Aramis Verwunderung war auch Athos dort. Die Herren standen ungezwungen beieinander, plauderten und hielten ein Weinglas in der Hand. Ihr Souverän saß entspannt, die Beine ausgestreckt in seinem Sessel. Nichts deutete auf eine Kriegsbesprechung hin, wenn nicht die Auswahl der anwesenden Männer und die ausgebreitete Karte Frankreichs zwischen ihnen, für sich gesprochen hätten. Das Stimmengewirr erstarb, als Aramis und der Kapitän den Raum betraten. Die beiden diensthabenden Musketiere salutierten still. Ludwig winkte sie gefällig näher. Der Kapitän hatte in der Stunde, die sie auf eine Audienz warten mussten, eine bemerkenswerte Geduld gezeigt. Nun war sie erschöpft. Sein Blick glitt finster über die anwesenden Herren und blieb auf der Karte liegen. Warum besprach sich der König mit seinen Generälen und hatte ihn, den Kapitän seiner Musketiere im Vorzimmer warten lassen? Auch der Kardinal war nicht anwesend. War die Zeit der alten Berater vorbei? „Dies ist kein offizieller Kriegsrat, mein alter Freund“, erklärte der König jovial, als er den stummen Vorwurf im Gesicht seines alten Freundes las. „Wir debattieren nur ein wenig über die Lage. Wir hörten, Euch geht es nicht gut. Ihr seid krank und müsstet Euch ausruhen.“ Der König streckte sich mit einer trägen Bewegung. „Ihr braucht mich!“ erwiderte der Kapitän knapp. Der König lächelte milde. „Natürlich. Ihr seid der Kapitän meiner Musketiere.“ Der Kapitän nickte verdrossen. „Willkommen zurück im Dienst, Aramis!“ Aramis verbeugte sich förmlich. „Danke, Eure Majestät.“ Der steife Musketierrock bekam einen Knick. „Und wir alle dachten, Ihr seid tot!“, erklärte der König vergnügt. Darauf wusste Aramis nichts Geistreiches zu erwidern und schwieg. „Berichtet uns! Erzählt uns alles!“ Ihr Blick begegnete kurz dem von Athos. Er stand abseits, als wenn er nicht dazugehören würde, was er ja auch eigentlich nicht tat. „Wir waren auf den Weg nach Lille“, erklärte sie. „Wir hatten gerade den Wald verlassen und befanden uns auf freiem Feld, da tauchten die Spanier plötzlich auf. Vielleicht 100 Mann und sie waren alle beritten.“ Sie räusperte sich. Die abwartende Stille rauschte durch ihre Ohren. „War es ein Hinterhalt oder Zufall?“ „Ich weiß es nicht, Eure Majestät.“ „Und weiter.“ „Als wir sie kommen sahen, kippten wir die Wagen um und verschanzten uns dahinter. Sie hielten direkt auf uns zu und ritten uns einfach nieder. Wir versuchten uns so gut es geht zu wehren, aber es war hoffnungslos. Der größte Teil von uns war kaum kampffähig und keiner von uns hatte Waffen.“ „Wieso nicht?“, fragte der König. „Was soll ein Mann ohne Arme mit einer Muskete?“ sagte einer der Herren gleichgültig. „Womit soll er laden und abdrücken. Und ein Mann ohne Beine kann schlecht weglaufen.“ Aramis sah den Witzbold nicht an, aber ihre Zähne knirschten. Der König bat um Stille. „Und die Eskorte?“ „Es waren zu wenige.“ „Es war nur der Verletztentrupp, Eure Majestät. So etwas passiert. Es ist Krieg.“ Zustimmendes Gemurmel, denn einer von ihnen hatte den Befehl gegeben, die Verletzten und eine Handvoll Soldaten zurückzulassen. Keiner der Offiziere verstand, warum sich der König für einen Haufen unbrauchbar gewordener Soldaten interessierte. Die Meisten von ihnen waren Bauern. Gut, einer seiner geliebten Musketiere war dabei gewesen, aber der Mann hatte ja letztendlich überlebt. Kein Grund Betroffenheit zu zeigen. Es war vielleicht nicht ganz die feine Art einen Trupp Lazarettsoldaten zu überfallen, die aber es entließ den König von der Pflicht Veteranenrente zu zahlen. „Aber Ihr seid entkommen!“ „Seine Beine waren wohl nicht zu Schaden gekommen.“ Wieder unterdrücktes Gelächter. „Nun, Eure Musketiere sind nun einmal die am besten ausgebildetsten Männer“, erklärte D’Treville. „Das ist wohl wahr“, pflichtete Ludwig ihm bei und sah wohlgefällig auf Athos. „Deshalb sind sie wie geschaffen für die höheren Offiziersposten.“ Das Gelächter erstarb und seine Offiziere blickten missmutig drein und maulten leise vor sich hin. Unnötig zu erwähnen, dass die königlichen Musketiere nicht gerade beliebt bei den Offizieren waren. Als Adelige mit besonderer militärischer Ausbildung und ständiger Nähe zum König, stiegen sie oft in die oberen Offiziersränge auf und ließen sich bei Kriegseinsetzen schwer befehligen. Und der König begegnete seinem Adel mit Misstrauen, seit ihn die Provinzadligen verraten hatten. Der König lehnte sich vor. „Ihr habt mir noch immer nicht erklärt wie Ihr entkommen seid, Aramis?“ Aramis schluckte. „Ich habe einen der Angreifer von seinem Pferd gerissen und bin mit seinem Pferd in den Wald geritten.“ Sein Offiziersstab blickte noch missmutiger drein. „Eine wirkliche Glanzleistung, Eure Majestät“, bemerkte einer von ihnen bissig. „Möchte er einen Orden dafür!“ „Aramis möchte gar nichts. Nur seinen Dienst wieder aufnehmen!“, sagte der Kapitän. Der König lächelte. „Warum haben das nicht alle meine Männer getan. Dann hätten die Spanier zu Fuß nach Hause laufen müssen.“ „Nicht alle hatte noch Arme und Beine, Majestät.“ Neben Aramis stöhnte der Kapitän leise auf. „Ja, richtig, das wurde schon erwähnt“, sagte der König nachdenklich. „Und dann, warum habt Ihr so lange gebraucht, um wieder nach Hause zu kommen?“ „Wir waren zu weit nach Westen gegangen, nur zu Fuß unterwegs, ohne Verpflegung, Waffen und Geld.“ „Und das Pferd?“ „Das ist uns bei einem Überfall abhandengekommen.“ „Noch mehr Spanier?“, fragte einer der Herren fadenscheinig interessiert. „Nein, Wegelagerer.“ Aramis betrachtete angestrengt einen Punkt über der rechten Schulter des Königs. Die Herren lachten leise und spöttisch. „Kapitän D’Treville, Ihr bildet Eure Musketiere wirklich allumfassend aus.“ Athos griff zum Degen, doch der mahnende Blick seines Kapitäns hielt ihn zurück. „Und Lord Rochefort war bei Euch?“ Der Blick des Königs war finster. Aramis Blick irrte umher. Sie erinnerte sich an einen fiesen Kommandanten, der ihnen in seiner Dummheit und Arroganz das Leben schwer gemacht hatte, aber auch an den Weggefährten und seine Warnung. „Ohne Lord Rochefort wäre ich nicht nach Hause zurückgekehrt“, sagte Aramis ernst und meinte es so. „Das Land ist in einem fürchterlichen Zustand, Eure Majestät. Die Menschen haben alles verloren und für etwas zu Essen morden sie jeden, dem sie begegnen. Ganze Dörfer waren niedergebrannt und in den Bäumen hingen die Leichen. Es ist die Hölle auf Erden. Wir sind oft nur mit knapper Not entkommen.“ Die Gesichter der königlichen Offiziere, die nie auch nur einen Tag Hunger, Angst und Kälte erdulden mussten, zeigten deutlich, dass sie Aramis Beschreibung für übertriebenen Unsinn hielten. Der König schien dennoch nachdenklich. Er schlug resolut die Hände zusammen. „Und damit dies nicht Frankreich passiert, meine Herren, müssen wir etwas gegen die Spanier unternehmen.“ Fest entschlossen Aramis Leben zu ruinieren setzte Rochefort zu sprechen an. Er holte auch Luft, kam aber nie dazu sie zum Sprechen zu benutzen. Sie verpuffte ungenutzt und erwartungsvolles Schweigen schlug in enttäuschte und verstimmte Stille um. Dabei bemühte sich Rochefort redlich. Sein Kehlkopf flatterte vor Anstrengung, Schweißperlen traten auf seine Stirn, aber die Worte lagen schwer wie Blei auf seiner Zunge. Er seufzte irritiert und verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere. Der Kardinal maß ihn mit einem Blick, der in seiner Ausdruckslosigkeit völlig eindeutig war: Rochefort sollte in der nächsten Stunde etwas vorbringen, dass zu seinen Gunsten sprach, sonst war die Stunde seiner Gunst um. „Nun?“ Aber Rochefort konnte nicht. Das Schicksal hatte Rochefort etwas in die Hand gespielt, was so delikat war, dass es ihn die gesamte fürchterliche Zeit seiner Heimreise fröhlich gestimmt hatte. In sternenklaren, viel zu kalten Nächten, wenn die Steine sich in seinen Rücken bohrten und der ständige Schmerz seines leeren Magens ihm vom Schlafen abhielt, hatte er sich die Reaktion des Kardinals vorgestellt. Sie konnten die gesamte königliche Musketiergarde zu Fall bringen. Eine Frau in ihren Reihen, welche ein Skandal! Doch plötzlich wurde er von so etwas wie ein Gewissen belastet, wo er nie eines gehabt hatte. Gefühle wie Respekt oder Freundschaft waren ihm immer vollkommen fremd gewesen. Rochefort war ein Egomane und es fehlte ihm jegliche Empathie. Einzig seine bedingungslose Loyalität zum Kardinal bildete die Ausnahme. Rochefort soziale Kontakte bestanden aus Bedienstete, Feinden oder gleichgesinnte Speichellecker des Kardinals. Sexuelle Anziehungskraft konnte es auch nicht sein. Was er in Bezug auf Aramis empfand, war eher eine Art Juckreiz. Er bevorzugte eindeutig Frauen mit deutlich sichtbaren weiblichen Attributen, die sich auch wie Frauen benahmen. Nachdenklich und verlegen kratzte er sich am Kopf, dann lächelte er. Ein Lächeln vollster Unaufrichtigkeit. Seine Eminenz massierte sich die Nasenwurzel. „Rochefort?“ „Ja, Eure Eminenz.“ „Ihr wolltet mir etwas mitteilen?“ „Ähm, nein Eure Eminenz.“ Der Kardinal seufzte. Seine Blase drückte und die Kopfschmerzen wurden unerträglich. „Ihr steht bis auf weiteres unter Hausarrest“, entschied er. Rochefort schenkte ihm ein sehr in die Länge gezogenen Hundeblick, was die Kopfschmerzen des Kardinals keineswegs besser machte. Der König wollte in den Park. Die Herren erwachten aus ihrem Dämmerschlaf. Weingläser wurden eilig beiseite gestellt und es entbrannte ein heftiger Kampf, um den Platz in der Nähe des Königs. Die großen Flügeltüren öffneten sich und die Gruppe stürmte laut schwatzend und mit viel Ellenbogeneinsatz davon. Zurück blieben Athos, Aramis, der Kapitän und die Stille. Das Gesicht des Kapitäns war vor Erschöpfung fahl. „Kapitän, ich wusste es nicht!“, sagte Athos. D’Treville klopfte ihm auf die Schultern und ging. Während der König durch den Park flanierte, schossen die Höflinge aus ihren Verstecken hervor und materealisierten sich neben dem König. Auf ihren stöckligen Schuhen staksten sie der königlichen Herde hinterher, um mit dazuzugehören. Der Geruch von zu viel Parfüm, Puder und Schweiß folgte ihnen. Die Königin war mit ihren Damen ebenfalls im Park. Auf der Allee de Diane begegnete sich das königliche Paar mit ihrem jeweiligen Gefolge. Der Blütenduft hing schwer in der Luft. Über den Köpfen der Frauen tanzte ein Meer aus bunten Sonnenschirmen und für einen Moment wurde es still bis auf die Kirchenglocken, welche die Mittagsstunde einläuteten. „Die Königin hat zwei neue Hofdamen“, erklärte der König. Erwartete Zustimmung war die Antwort. Die Schirme der Damen hoben sich. Der Park war plötzlich von einem schweren, eigenartig gedankenverlorenen Schweigen durchflutet. Füße hörten auf zu scharren und selbst die älteren Herren unter ihnen, fühlten ihr Blut wieder jung in ihren Adern pulsieren. Die Frau an der Seite der Königin war schön. Sie war nicht einfach nur schön, sondern diese Art von Schönheit, die Männer veranlasste mit Hingabe zu dichten, obwohl sie mit Poesie rein gar nichts anfangen konnten. Ein Geschöpf von so himmlischer Vollkommenheit, dass selbst Aramis sie verzückt anstarrte. „Madam, warum haben wir Euch bisher noch nie gesehen?“, rief ein Comte verzückt. Der König beugte sich über die Hand des himmlischen Geschöpfes. „Marquise Louanne Clermont-Tonnerre, wurde von ihrem Mann versteckt.“ Er lächelte träge. „Der Marquis ist tot.“ „Ja“, die königliche Hand ließ seine Beute nicht los. „Darum haben wir auch diese Perle an unseren Hof geholt.“ Annas Fächer schlug zu. „Aber, aber“, tadelte sie, „wollt Ihr wohl die Hand der armen Louanne loslassen!“ Die Hand des Königs hielt Louannes vollkommende Hand trotzdem noch eine Weile fest. Die Marquise errötete nicht. Sie hatte dunkles, fast schwarzes Haar, seidig und leicht gelockt. Ein ebenmäßiges Gesicht mit makelloser Haut und sinnlichen Lippen. Doch ihr Blick hatte etwas unnahbares, abwehrend kühl, gelangweilt, eine Aufforderung an jeden Mann, derjenige zu sein, der sie entflammte. Als der König ihre Hand endlich losließ, zog die Marquise sie schnell zurück und versteckte sie in den Falten ihres Kleides. Ihre Augen waren grau, so grau wie die von Athos. Unwillkürlich blickte Aramis zu Athos, doch zu ihrem Erstaunen sah er die Schönheit gar nicht an. Sein Blick galt der zweiten Hofdame der Königin und die junge Frau sah Athos an. Ihre Lippen formten lautlos einen Namen. Sie blinzelte heftig. Vielleicht weil Tränen in ihren Augen standen. Athos spürte, wie sich eine Hand um sein Herz ballte und zudrückte. Sie sah noch genauso aus wie früher. Der zierliche Körper und das kleine herzförmige Gesicht mit der Flut von brauen Haaren, einem spitzen Kinn und einer hübschen kleinen, fast vorwitzigen Nase. Nur ihre Augen waren nicht mehr die unschuldigen Augen eines jungen Mädchens und sie trug ein Kleid, dass viel zu farblos und zugeschnürt für eine junge Frau war. Lord Rochefort stand auf der Rue Saint Honoré und sein Magen knurrte. Der glimmernde Nachmittagshimmel schien alle Farben aufzusaugen und die Luft war geschwängert von der windlosen heißen Luft. Da war es wieder, das ewig knurrende, beißende Tier in seinem Magen, dass Hunger hieß. Wenn er etwas Anständiges zu essen wollte, musste er nach Hause. Das Essen in den Tavernen und Garküchen war nicht nach seinem Geschmack. Doch anstatt nach Marais zu gehen, ging er in eine andere Richtung. Entfernte sich von den Palästen, amtlichen Behörden, den breiten Alleen und der unermüdlichen Seine. Er folgte dem Gewirr der Straßen, bis sie schmaler und ruhiger wurden. Rocheforts Leben hatte in den letzten Wochen Kopf gestanden. Tage und Nächte bestanden aus Erschöpfung, Hunger und Kälte. Aus Dreck, Überwindung und der blanken Furcht und das schreckliche Wissen, dass der nächste Tag genauso sein würde. Aber zwischen all dem Schrecken war auf einmal das warme Gefühl der Kameradschaft und Gemeinsamkeit. Zurück zu Bediensteten, warmen Seidenbettlacken und reich gedecktem Tisch, fehlte plötzlich etwas. Der Ameisenhaufen der Pariser Citè blieb hinter ihm. Die Pflastersteine der Straße wurden gröber. Die Häuser waren aus Lehm und Holz, mit gespannten Wäscheleinen quer über der Gasse und einem Stall als Nachbarn. Vor einem schlichten zweistöckigen Haus mit weißem Kalkputz blieb er stehen. Eine schmale Treppe führte zur Hintertür in den zweiten Stock hinauf. Alles war still, doch die Fensterläden waren geöffnet und der Inhalt eines frisch ausgelehrten Pisstopfes rann unter seinen Sohlen hindurch. Als er das letzte Mal hier war, hatte er Aramis verhaftet. Und was wollte er heute? Wahrscheinlich lief es diesmal auf Erpressung hinaus. Er wollte gerade die Treppe zur Tür hinaufsteigen, als ihm etwas einfiel. Rochefort schlug sich auf die Stirn. Wären sie damals nicht von D’Artagnan unterbrochen worden, als Aramis zum Verhör gefesselt und machtlos in seinen Händen war, hätten sie damals schon Aramis Geheimnis entdeckt. Dann hätte ihn kein Gewissen geplagt. Verfluchter D’Artagnan! Rochefort stieß die Tür auf, ohne anzuklopfen. Verblüfft sah er sich einer Frau und drei Kindern gegenüber. Die Kinder flüchteten hinter das breite Hinterteil ihrer Mutter. Die Frau fing an zu Schreien. Im ersten Moment dachte er, sich im Haus geirrt zu haben, doch im Zimmer sah es noch genauso aus, wie damals, als sie Aramis geholt hatten. Da war der Schrank, indem Aramis törichterweise die Kleider des Duke aufbewahrt hatte. Was machte also die Frau und ihre Kinder hier? Das Weib war sehr vorderlastig, was ihm eigentlich gefiel. Die brüllenden Kinder gefielen ihm dafür umso weniger. Eine weitere Frau kam angerannt und fiel händeringend in das Geschrei mit ein. Rochefort blinzelte finster mit seinem einen Augen. Warum musste der Pöbel immer Rumschreien, bevor man sagen konnte, was man wollte. Vom allgemeinen Lärm angezogen, betrat ein bulliger Mann mit großen Schaufelhänden das Haus und bat mit einem Donnerwort um Ruhe, die er auch augenblicklich bekam. Selbst die Kinder verstummten und sahen ihn mit großen Augen erschrocken an. Das Baby fing halbherzig an zu greinen. „Wer sind Sie und was wollen Sie?“, verlangte der Mann zu wissen und musterte ihn von oben bis unten. Die Frauen schienen den Atem anzuhalten. Rochefort hob eine Augenbraue. „Ich will zu Aramis, dem Musketier.“ “Aramis, der Musketier ist tot.“ Rochefort blickte noch finsterer drein, was er wirklich gut konnte. „So ein Unsinn, ich habe ihn gestern noch gesehen.“ „Dann war es ein Anderer oder Sie haben sich geirrt.“ Er reckte zwar herausfordernd das Kinn, aber die Augen des Mannes flackerten unsicher. Etwas verschwieg er. Rochefort verlagerte das Gewicht auf das andere Bein. „Da diesen bescheuerten Name nur ein Mann in ganz Frankreich trägt, gehe ich davon aus, dass wir von demselben Mann reden. Und als ich Aramis verhaftete, war es in diesem, seinen Haus.“ „Verhaftet?“, wiederholte der Mann verblüfft. „Wer sind Sie?“ Rochefort fixierte ihn seinem gesunden Augen. „Ich bin Lord Rochefort, Hauptmann, der Garde des Kardinals.“ Rochefort hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da war das Haus, samt vorderlastiger Frau und ihre schreienden Gören leer. Seit dem späten Nachmittag saß Athos vor den abgebrannten Holzscheiten in seinem Kamin. Dann war es Abend geworden und die späte Dunkelheit einer Sommernacht brach herein. Die Fensterläden standen offen und die Luft war samtig und schwer. Athos dachte über die Vergangenheit nach, die es ihm so schwer machten, völlig unvoreingenommen in der Gegenwart zu sein. Konnte er eine Liebesbeziehung zu einer Frau haben, die er gar nicht als Frau gesehen hatte, selbst als die eigenen Begierden und Absichten die Wahrheit erklärt hatten? Und konnte er die Nächte mit ihr verbringen und am Tag vorgeben nicht zu wissen, wer sie war? Er war solch ein Heuchler. Wenn ihm Moral, Freundschaft und Gewissen so wichtig wären, hätte er nicht zweimal mit Aramis geschlafen. Er seufzte. Seine Weinflasche war leer, sein Kopf war schwer von den vielen Gedanken, die sich immerfort im Kreis drehten und dem süßlich, schweren Wein. Es klopfte leise und noch bevor Athos aufsah, wusste er, dass Aramis in der Türfüllung stand. Wenn sich Athos überhaupt Gedanken darüber gemacht hatte, was er bei ihrem Anblick empfinden würde, so hätte er mit Zärtlichkeit am wenigsten gerechnet. Aber gerade die überfiel ihn unerwartet heftig. Sie sah rührend aus, wie sie betont lässig am Türrahmen lehnte und doch nur zu verbergen versuchte, wie sehr ihr Bein schmerzte. Ihr Gesicht war ganz weiß vor Anstrengung. Sie war wie immer als Mann gekleidet, benahm sich wie ein Mann, gestikulierte wie ein Mann und nur die feineren Gesichtszügen verrieten sie als Frau. Er hatte sich früher nie Gedanken über Aramis Aussehen gemacht, auch wenn er bemerkte, mit welcher Verwunderung andere Menschen auf sie reagierten. Am Meisten täuschte wohl ihre Größe, mit der sie selbst Männer überragte. Wenn ihr Körper feingliedrig war, so verbargen ihn Kleidung und Waffenschärpe, den Rest macht ihr Ruf zu den Besten der Musketiere zu gehören. „Sind deine unwillkommenen Besucher ausgezogen?“ „Ich war mit Porthos dort, aber es war niemand mehr da“, erwiderte sie und zog eine Grimasse. „Und sie haben alles mitgenommen. Mein Haus ist leer.“ „Wie leer?“ „So leer, dass es ein Wunder ist, dass es noch Türen gibt.“ Rührenderweise hatte das Haus nach Bohnerwachs gerochen und das Einzige, was sie dagelassen hatten, lag im Abort. Es hatte nach sehr viel Ungenauigkeit gerochen. Aramis Hände kneteten ihre Handschuhe. „Und nun?“ Sie zuckte die Schultern. „Sie sind längst auf und davon. Mir stehen noch drei Monate Sold zu. Davon kann ich erst einmal das Nötigste kaufen.“ „Ich fürchte, deinen ausstehenden Sold wirst du nicht bekommen.“ „Wieso?“ „Die Staatskassen sind leer“, erklärte Athos ruhig. „Der Kardinal spart wo er kann. Ich habe diesen Monat auch keinen Sold bekommen.“ Aramis seufzte ergeben und wandte sich zum Gehen. „Aramis, willst du in ein vollkommen leeres Haus zurückkehren?“ „Ich komme schon zurecht.“ Er lächelte still. „Ach Aramis, bleib hier!“, rief er sie sanft zurück. „Ab morgen bin ich für mehrere Tage fort. Du kannst in meinem Haus wohnen!“ Aramis wandte sich um. „Ich habe sogar noch etwas zu Essen im Haus.“ Athos sah sie über den Tisch hinweg an, den Ellenbogen auf dem Tisch, das Kinn auf die Hand gestützt. „Du bereitest mir ziemliches Kopfzerbrechen“, sagte er. Aramis schob den leeren Teller fort und zog eine Augenbraue hoch. „Ich oder der Wein?“ „Spotte nur“, sagte Athos mit sehr ernstem Gesichtsausdruck. „Wir hatten uns geschworen Freunde zu sein. `Einer für alle und alle für einen´ und für keinen von uns, waren es nur schnöde Worte. Doch die ganze Zeit wusstest du, dass du uns belügst.“ „Aber nur, weil es nicht anders ging. Ihr hättet mich doch nie in Eurer Mitte akzeptiert, wenn ihr die Wahrheit gewusst hättet“, verteidigte sie sich. „Und ich meinte meinen Schwur genauso ernst wie ihr.“ „Aber wer bist du?“ „Dieselbe, die ich immer war. Wir kennen uns schon so viele Jahre, Athos. Sage nicht, dass du mich nicht kennst. Du weißt, was wir alles zusammen erlebt haben.“ Genau das war es, womit Athos nicht zurechtkam. Wie konnte er so viele Jahre, nicht bemerkt haben, dass Aramis eine Frau war? Irgendwann kannte man einen Menschen so lange, dass es völlig unmöglich schien, dass er nicht der war, der er vorgab zu sein. „Ich habe immer versucht Eurer Freundschaft und dem Musketierkodex gerecht zu werden“, fuhr Aramis fort. „Aber ich wusste, wenn ihr erfahrt, dass ich eine Frau bin, dann ist unsere Freundschaft vorbei und ich bin für euch gestorben. Außerdem wollte ich Euch davor schützen, Mitwisser zu sein. Denn jeder der mein Geheimnis kennt ist in Gefahr, wenn man mich entdeckt und verurteilt. “ Athos wollte etwas erwidern, aber er schwieg, weil sie Recht hatte. Porthos und er hätten sie aus gekränktem männlichem Ehrgefühl verstoßen. „Und trotzdem bist du in jener Nacht zu mir gekommen.“ Aramis zuckte leichthin die Schultern. „Ich dachte, wir sterben alle. Ich wollte nicht mit einer Lüge sterben.“ „Was machen sie, wenn sie entdecken, dass du eine Frau bist? Eine Frau, die sich anmaßt ein Musketier des Königs zu sein? Sie müssen dich töten, um ihr Gesicht zu wahren.“ Aramis Blick wurde dunkel und trotzig. „Vielleicht wollte ich ja am Anfang sterben und nun ist es zu spät und ich kann nichts anderes mehr sein.“ „Du könntest aufhören und weggehen.“ „Und dann? Das Kloster? Reumütig nach Hause zurückkehren?“ Ihre Augen glänzten: „Athos, ich bin einer der drei Musketiere. Ich habe die Freiheit, über mich selbst zu bestimmen.“ Athos schluckte. „Was ist mit Kindern und einem Ehemann?“ „Ich war kurz davor genau das zu bekommen und dann wurde es mir grausam genommen.“ Sie lächelte schwach. „Außerdem, wer sollte mich heiraten wollen?“ „Wieso? Du bist eine schöne Frau!“ Aramis sah ihn überrascht an. Ihre Augen glitzerten. „Soll ich denn aufhören und weggehen?“ Athos schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich möchte nicht noch einmal die Nachricht von deinem Tod bekommen und um dich trauern.“ Eine Weile schwiegen sie. Als Athos aufblickte und in Aramis Augen schaute, sah er den Hunger in ihnen. „Teilst du das Bett mit mir?“ „Bist du sicher, dass du das willst?“, frage sie mit belegter Stimme. Ihr Herz schlug hart und schnell. Sie standen beide auf, ließen den Esstisch hinter sich und gingen in seine Schlafkammer. Plötzlich hatte Athos Zweifel, dass er zu weit ging, dass es zu viele gute Gründe gab, es nicht zu tun und zu viel Ballast zwischen ihnen. Draußen war es mittlerweile dunkel geworden und in seiner Schlafkammer war es das auch. Sie zogen sich aus, ohne sich zu sehen. Die Kleider raschelten leise, als sie zu Boden glitten, dann krochen sie unter die Decke und nahmen sich vorsichtig in den Arm. Sie begannen sich zu küssen, ganz vorsichtig, fast tastend, um zu wissen, wie es wirkte, was es auslöste. Erst dann wurden sie gieriger. Sie krochen näher an den anderen heran, Arme und Beine ineinander verschlungen. Als es vorüber war, wusste Athos, dass es vollkommen gewesen war. Das Blut rauschte durch seine Adern, in seinen Ohren und das Wohlbehagen rollte wie eine Welle über ihn. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)