Heaven is the Kingdom where nobody dies von kuren-ai (Tenjōkai ohne Zurück) ================================================================================ Kapitel 2: Ohne Passierschein ----------------------------- Und weiter geht's... Soundtrack: http://www.youtube.com/watch?v=WZQYg0vjLxE _________________________________________________________________ Ich verstand die Welt nicht mehr. Ich tigerte durch alle vorhandenen Zugabteile und das Ergebnis blieb dasselbe: Ich war mutterseelenallein. Anstatt weiter zu grübeln, wie ich in diese sonderbare Situation gekommen war, hatte ich beschlossen, nach Leuten zu suchen, die mir wenigstens sagen konnten, wo ich hier überhaupt gelandet war. Das Unheimlichste an der Szenerie war, dass sowohl der Zug als auch der Bahnhof komplett ausgestorben schienen. Noch immer roch ich die wohlbekannten Düfte meines bisherigen Lebens. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Warum zur Hölle war der Arsch der Welt ein derart beklemmender Ort? Da mein matschiger Verstand mir nicht versprach, eine Eingebung zu offenbaren und sich stattdessen meine Magengegend zu Wort meldete, beschloss ich auszusteigen. Mein Instinkt sagte mir eindeutig, ich solle mich wenigstens umsehen und meine Suche nach potentiellen Kommunikationspartnern fortsetzen. Konnte schließlich nicht schaden. Ich drückte auf den roten Knopf der Zugtür, die sich mit einem leisen Zischen auseinanderschob und trat nach draußen. Eisiger Wind wehte mir entgegen. Da rutschte man auf dem Willkommensbarometer gleich noch ein paar Stufen nach unten in den Keller. Unwillkürlich schlang ich die Arme um meinen Körper. In Tokyo, wo ich ein paar Stunden zuvor noch gewesen sein musste, war es Anfang Mai, das hieß, der Sommer machte sich langsam aber sicher auf den Weg. Dementsprechend war ich nur mit einer dünnen Army-Hose, einem gelben T-Shirt, einer Strickjacke und (zum Glück!) meiner Mütze und meinen Stiefeln bekleidet. Vor allem meine Sonnenbrille wollte nicht ganz ins Bild passen. Während ich darüber nachdachte, auf welchem Bahnhof in Tokyo man überhaupt nach Sibirien fahren konnte, bewegte ich mich in Richtung des kargen Gebäudes, welches sich vor mir, wie die Reste meiner Erinnerung an die letzte Nacht auftürmten. Links der Ruine wies ein auf dem Asphalt aufgemalter mickriger weißer Pfeil in eine vage Richtung. Diesen befolgend, lief ich geradeaus, obwohl ich mich weiterhin fragte, wie eine Landschaft nur derart monoton und nichtssagend erscheinen konnte. Mit energischer werdenden Schritten wankte ich an der Ruine vorbei, ich fühlte mich plötzlich unglaublich leicht, wohingegen mein Kopf das Gegenteil veranstaltete. Bamm, bamm, bamm, dröhnte mein Schädel! Im gleichen Takt beschleunigte sich mein Herzschlag. Jeder Schritt wurde angenehmer, ich hatte nur noch ein einziges Ziel vor Augen: Essen! Und etwas Wärme wäre ebenfalls schön gewesen. Doch stattdessen knallte ich mit halbgeschlossen Augen, geblähten Nasenflügeln und ohne einen klaren Gedanken gegen etwas unsagbar Hartes. Reflexartig griff ich mir an die Stirn und taumelte ein paar Schritte rückwärts. "Hey, Sie Idiot! Machen Sie doch die Augen auf!", rief neben mir jemand in barschem Ton. Kaum hatte ich mich wieder gefangen und stand ordnungsgemäß auf beiden Beinen, flog mein Kopf zu Seite und ich starrte unverwandt in ein schwarzes Augenpaar. "Wer sind Sie überhaupt? Etwa ein Reikon? Wo ist Ihr Passierschein? Andernfalls haben Sie schlechte Chancen, an mir vorbeizukommen", blaffte mich diese sonderbare Gestalt an. Reikon? Passierschein? Unentwegt stierte ich diesen Typen an. Perfekte Gesichtszüge, dunkle Haarsträhnen, die ihm ins Gesicht fielen, schwarze einfache Kleidung – ein festgebundener Yukata mit einem schmalen weißen Obi –, ansonsten schmucklos und in kerzengerader Haltung. Das bei dem noch nichts erforen war, glich einem Wunder. Dieser Typ schien eine gute Selbstdisziplin zu haben, das erkannte ich auf den ersten Blick. Er hatte mein aufdringliches Starren ohne mit der Wimper zu zucken erwidert. Aber dann auch noch so unfreundlich herumzubrüllen, signalisierte mir nur, dass dieser Kerl heute schon jede Menge Stress gehabt zu haben schien und ich ihm gerade recht kam. Das konnte ja noch spaßig werden. Unwillkürlich musste ich trotz meiner verqueren Situation grinsen und weil ich keine Anstalten machte, den Mund aufzumachen, versuchte der Typ es noch einmal: "Ihren Passierschein bitte!" Da ich wohl ziemlich verdattert dreingeschaut haben musste, begann er seinen Text von neuem aufzusagen, diesmal in ruhigerem Ton. Ich rechnete schon damit, dass er mich für komplett bescheuert hielt und suchte nach meiner Stimme. "Also... wer sind Sie?", schloss er seinen Monolog und sah mir dabei väterlich tief in die Augen. "Um... ich bin hide", brachte ich mühsam hervor. Angesichts der Kälte, meinem hämmernden Kopf und meiner nach wie vor beklemmenden Grundstimmung machte ich mir nicht die Mühe, meine Stimmbänder für längere Erklärungen zu gebrauchen. "... ohne Passierschein also", schlussfolgerte der unheimliche Kerl neunmalklug. Ihr hättet den sehen müssen: Trotz seiner schmächtigen Erscheinung und seines jämmerlichen Benehmens, wirkte er wie ein Daimyou aus einem längst vergangenen Jahrhundert. Okay, sagte ich zu mir, das hier ist weder ein mitterlalterlicher Videodreh noch ein verkleideter Yoshiki mit morgenmuffeliger Laune. Alles wird gut. Aber nichts wurde gut. "Wahrscheinlich hat hier noch niemand mit Ihnen gerechnet. Passiert in letzter Zeit immer wieder, dass meine Kollegen vergessen, den ein oder anderen Passierschein auszuhändigen. Die haben aber auch jede Menge zu tun da unten. Wie sind Sie eigentlich hergekommen?" "Mit dem Zug", antwortete ich unschuldig. Obwohl ich im wahrsten Sinne des Wortes nur Bahnhof verstand und mir Horrorszenarien schwanten (à la Entführung: hyperventilierende Fans verschleppen Pink Spider in aufwendiger Aktion!), die ich aber fälschlicherweise auf meinen prallen Schädel schob, fand ich noch den Mumm scherzenshalber hinzuzufügen: "Bin schwarz gefahren." Mr. Perfect schaute mich entgeistert an. Vorsichtig versuchte er es mit einer überflüssigen Frage: "Sie wissen aber, weshalb Sie hier sind, oder?" ... Sollte ich oder sollte ich nicht? Ihm die Geschichte von letzter Nacht zu erzählen, wäre reichlich peinlich gewesen, aber ich hätte nicht hide geheißen, wenn ich ihm nicht auch noch diese Geschichte brühwarm aufgetischt hätte. "Und, können Sie mir wenigstens sagen, in welchem Kaff ich hier gelandet bin?", fragte ich, nachdem ich meine Ausführungen beendet hatte nun etwas ungehaltener. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass der Typ selbst nach der Geschichte meiner abenteuerlichen Reise noch immer keinen blassen Schimmer davon hatte, wer ich überhaupt war. Da er Japanisch sprach und aus Japan zu stammen schien, nahm ich an, dass nun etwas bei ihm dämmern musste, aber nichts dergleichen geschah. Als er sich dafür entschied, mir den Schlauch, auf dem ich stand, unsanft unter den Füßen wegzuziehen, traf mich der Schlag. Ausdruckslos und in perfekter Haltung, eröffnete er mir jene Tatsache, als wäre es die Normalste der auf der Welt: "hide-san, Sie sind tot. Sie werden, solange Sie diese Identität tragen, unter keinen Umständen nach Tokyo oder einen anderen Ort in der irdischen Welt zurückkehren können. Aber nur mit dem nötigen Passierschein wird Ihnen der Eintritt ins Himmelreich gewährt. Ansonsten müssen Sie hier an der Ruine ausharren und warten, bis der zuständige Shinigami sich um Sie kümmert und ihren Passierschein besorgt hat." Mir klappte die Kinnlade herunter. Sollte ich übermütig lachen oder schreiend in Tränen ausbrechen? Auf der einen Seite: WOW! Es gibt ein Leben nach dem Tod, ist das nicht unglaublich!? Ich erlebte gerade eines der größten Rätsel der Menschheit live! Auf der anderen Seite: WAS ZUR HÖLLE SOLL ICH HIER? Warum war ich nicht in Tokyo und schlief friedlich im Bett meinen Rausch aus? Die Antwort darauf sollte mir noch lange verwehrt bleiben. Kizuki stellte sich als ein sehr humorvoller Zeitgenosse heraus. Ich weiß nicht, ob Zeitgenosse die richtige Formulierung ist, schließlich war er bereits seit über hundert Jahren tot. Er selbst bezeichnete sich deshalb als "junges Gemüse". Die meisten Toten hier seien bereits vor mindestens dreihundert Jahren eingetroffen, die letzten Neuankömmlinge vor achtzehn. Dies läge ganz einfach daran, dass die aktuelleren Passierscheine für die neuen Bahnhöfe ausgestellt würden, und diese Züge führen dann in andere Himmelsrichtungen. "Entweder hatten Sie einen Unfall, an den Sie sich aufgrund ihres Zustandes während dieses Zeitpunktes nicht erinnern können oder ganz einfach eine Alkoholvergiftung." Er kratzte sich nachdenklich am Kopf, während ich meinen nur fassungslos schütteln konnte. Vielleicht war es doch nicht besonders klug gewesen, ihm die Geschichte meiner Herreise gedankenlos auszuplaudern. Seine Gelassenheit war geradezu schockierend. "Da Sie keinen Passierschein erhalten haben, sind Sie automatisch mit einem leeren Zug gefahren, der sie hierher transportiert hat: an den kaputtesten Bahnhof von ganz Tenjoukai! Dafür können Sie sich bei ihrem Shinigami bedanken", erklärte Kizuki. Ich hatte einen eigenen Shinigami? "Nein, nein. Wir Shinigami sind im weiteren Sinne nur die Sachbearbeiter, Ordnungshüter und Betreuer." Er grinste. Seelen wären heutzutage nicht mehr als eine bloße erziehbare Sache. Darum vergesse man hin und wieder die ein oder andere auf den richtigen Gleis zu schicken. "Außerdem sind in diesem Teil von Tenjoukai die meisten Reikon schon ziemlich lange hier. Verlass dich also nicht darauf, mit deiner Aufmachung auf Toleranz zu stoßen. Ich habe ja schon viel gesehen, aber pinke Haare? Darf ich mal anfassen?" Was blieb mir also anderes übrig, als mich von ihm zu befummeln zu lassen. Schließlich war ich ja dazu verdonnert, hier auszuharren und mit einem Shinigami wollte ich mich schon gar nicht anlegen, vor allem nicht in meinem jetzigen Zustand. Als hätte er meine Gedanken gelesen, fügte Kizuki, unablässig meine Haare untersuchend, hinzu: "Keine Sorge. Ich bin nur ein Wächter-Shinigami, und zwar ein ganz Zahmer. Ich fühle mich, als würde ich diese Bezeichnung nur tragen, um mir etwas Respekt zu verschaffen. Wachtposten bekommen nur die dümmsten Todesgötter." Daraufhin lachte er schallend, obwohl ich nicht verstand, warum so wichtige Positionen mit den größten Trotteln besetzt werden sollten. War ja wie auf der Erde. Dennoch wurde Kizuki zu meinem Glück im Unglück. Er war im Grunde genommen ein wenig wie ich, nur eben 112 + x-Jahre älter. "Damit gehören wir fast einer Generation an", scherzte er. Er hatte einen makaberen Humor, den ich zu diesem Zeitpunkt nur bedingt genoss. Von ihm lernte ich, warum es keine Engel gab, alle normalen Seelen Reikon hießen und Shinigami eigentlich keine Götter im Sinne des Wortes waren, sondern Diener eines uralten Gesetzes zwischen Gekai, der irdischen Welt, und Tenjoukai, der himmlischen Welt. "Tenjoukai und Gekai sind zwei Bezeichnungen, die sich jeweils auf die gesamte himmlische und irdische Sphäre beziehen. Das Dilemma in Gekai zu leben ist jenes: Man weiß nichts von einer Existenz nach dem Tod. Viele Menschen hoffen darauf, aber alle genauen Vorstellungen, die sie davon haben, sind im Grunde völlig falsch. Wenn sie jedoch davon wüssten, dann bräuchten sie um Verstorbene nicht zu trauern, weil sie wüssten, dass sie sie eines Tages wiedersehen werden. In Tenjoukai zu leben birgt demnach das umgekehrte Dilemma: Niemand kann nach Gekai zurückkehren, es sei denn, er wird eines Tages mit einer anderen Identität auf der Erde wiedergeboren. Wer jedoch im Himmel weilt, muss darauf warten, bis seine Familie und Freunde ihm folgen. Oder aber Familie und Freunde sind bereits vorangegangen, dann hat man die Möglichkeit hier nach ihnen zu suchen und mit ihnen zusammen weiterzuleben. Dies ist meistens nur bei alten Menschen der Fall. Sie aber scheinen noch sehr jung zu sein ... machen Sie sich keine Sorgen. Sie sind nicht verloren, nur weil niemand Sie hier mit offenen Armen empfängt. Sie sind lediglich vorangegangen." Ich machte ein ernstes Gesicht. "Ich hatte aber noch jede Menge zu tun. Da unten auf der Erde meine ich." Obwohl ich die Bedeutung von Kizukis Worten sehr wohl verstanden hatte, war ich komplett niedergeschlagen. Vielleicht auch gerade deshalb, weil deren Bedeutung so schwer wog. Denn das hieß, dass ich den Menschen aus meinem bisherigen Leben mit meinem Tod jede Menge Trauer beschert hatte und das Schrecklichste daran war, dass ich ja HIER war, ich war nicht tot im herkömmlichen Sinne von "ausgelöscht für immer", sondern ich war hier, ich atmete, zwar eine andere Luft, aber ich atmete, verdammt, aber wem da unten konnte ich das sagen? Da war es doch viel besser, nach dem Tod über den eigenen Tod nicht mehr nachdenken zu können, aber nein, ich war dazu verdammt, mir Vorwürfe zu machen, weil ich ihr irdisches Dasein ganz sicher vermiest hatte, bis ich sie endlich wiedersah. Würden sie sich denn freuen, wenn wir uns wiedertrafen? Ich hatte ehrlich gesagt Angst vor einer Begegnung mit den Menschen, deren Leben ich unweigerlich zerstört hatte. Ich konnte mir nicht einmal ansatzweise ausmalen, wie es meinen Liebsten, die mein Leben gewesen waren, mit meinem Tod jetzt erging. Yoshiki, Toshi, Heath, Pata, Taiji, Kiyoshi, Chirolyn, die kleine Mayuko ... meine Eltern, mein Bruder, meine Freundin ... meine Fans! Und außerdem hatte ich jede Menge wichtige Termine!! Langsam drang in mein Bewusstsein, was es bedeutete tot zu sein: zu warten und trotzdem zu hoffen, dass die anderen trotz des eigenen Ablebens durchhielten. Realität machte betrunken. Und in Wahrheit war es die Naivität des irdischen Lebens, welches die Seele kämpfen ließ. Ich hatte diesen Kampf verpasst. Ich stand hier vor den Toren meines Todes und wünschte mir, wieder lebendig zu sein, auf der Erde zu rocken, obwohl das natürlich ein idiotischer Wunsch war. "Sterben bedeutet für jeden Menschen etwas anderes", meinte Kizuki. "Für den einen ist es die Erlösung nach langer Qual, ein Neuanfang im Himmel; für den anderen ist es ein Massenmord an irdischen Möglichkeiten, weil das Schicksal zum falschen Zeitpunkt zuschlägt. Und sich hier eine Bleibe aufzubauen kostet Zeit und Nerven, wenn niemand auf einen wartet." Ich betrachtete meine Stiefel. Tränen tropften von meinen Wangen herab. "Eines aber haben beide Welten mit Sicherheit gemein: Existenz bedeutet Leiden. Atmen heißt Hoffen. Wir alle bewegen uns in einem unbremsbaren Kreislauf, bis wir eines Tages dem Gesetz ausgedient haben und der Ehre zuteil werden mit dem Nirwana verschmelzen zu dürfen." Kizuki lächelte selig. Er legte einen Arm um mich und schaute mich von der Seite her an. "Es gibt insgesamt neun große Wolkenformationen", erklärte er unablässig weiter, obwohl ich bereits die Augen halbgeschlossen hatte. "Diese hier ist die zweite, sie befindet sich bei gutem Wetter über Japan, Taiwan und großen Teilen Chinas. Darum nennen wir sie Tenjoukai-Ni. Hier auf dieser Ebene kommt selten noch jemand Neues an, weil die jüngst Verstorbenen in höheren Wolkenschichten weilen. Aber keine Angst: Hier droht trotzdem keine Absturzgefahr. Nur manchmal in den Zeiten des Monsuns und der Taifune driften wir ab. Kann schon mal passieren, das wir dann über Indonesien hängen ...", erläuterte Kizuki, während er sich wieder nachdenklich am Kopf kratzte. Dieser Typ war gar nicht so altmodisch. "Können wir jetzt nur noch hoffen, dass dein Shinigami seinen Allerwertesten endlich hierher schiebt", lachte er. Darauf wusste ich nichts mehr zu erwidern und schloss meine übermüdeten Augen. _________________________________________________________________ Obwohl ich hier bereits viele Erklärungen zur himmlischen Welt reingepackt habe, wird es trotzdem noch viele Überraschungen geben. ;) Über Kommentare würde ich mich riesig freuen! To be continued... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)