Aurae von Flordelis (Löwenherz Chroniken II) ================================================================================ Kapitel 6: Ein Hauch von Normalität ----------------------------------- Wenige Tage später dachte Raymond nur noch manchmal an jene Nacht zurück, die ihm immer mehr wie ein Traum vorkam und langsam auch wie ein solcher von ihm behandelt wurde. Am Tag nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus war er noch einmal in die Seitengasse zurückgekehrt, aber es war nichts von den durch den Boden gebrochenen Wurzeln zu sehen gewesen, der Asphalt war vollkommen unberührt und auch das Stahlrohr und die Überreste seiner Brille waren verschwunden. Dementsprechend hatte er niemandem etwas von den Wesen oder der fremden Frau gesagt. Ohne jeden Beweis empfand er es selbst als absurd. Möglicherweise hatte er wirklich nur lebhaft geträumt, seine Brille irgendwo verloren und nichts von alledem war wirklich geschehen. In einem solchen Fall wollte er die anderen und auch sich selbst nicht damit belasten. Er konzentrierte sich lieber darauf, wieder nach vorne zu blicken und sich auf seine nächsten Prüfungen vorzubereiten, solange seine Albträume nicht zurückkehrten. Es war sein vorletztes Jahr und vieles von dem, was er in diesem lernte, war auch für die Abschlussprüfung wichtig, wie ihm und den anderen Schülern immer wieder gepredigt wurde. Er machte sich keine Sorgen, dass er das Gelernte vergessen könnte, aber dafür, dass er es sich gar nicht erst einprägen könnte. Seine Freunde erleichterten ihm das Memorieren immerhin auch nicht sonderlich. „Oh, komm schon, Ray, die Schule ist vorbei!“ Joel seufzte tief, so als ob sein Freund gerade etwas Verbotenes getan und er ihn dabei erwischt hätte und ihn nun ermahnen müsste. „Du musst doch nicht wirklich noch unterwegs lernen, oder?“ Raymond hob den Blick von dem Buch, in dem er unentwegt gelesen hatte und sah die Vorauslaufenden an. Christine schüttelte bereits tadelnd den Kopf. „Warst du nicht derjenige, der zu mir meinte, ich sollte besser auf meinen Weg achten?“ „Hm.“ Eine bessere Erwiderung fiel ihm nicht ein. Er hatte nicht nur das Lernen vorantreiben, sondern den beiden auch die Gelegenheit geben wollen, ein wenig unter sich zu sein. Seit sie bei ihm im Krankenhaus gewesen waren, kamen sie ihm wesentlich... enger verbunden vor. Er war sich sogar sicher, dass sie bis gerade eben noch händchenhaltend vor ihm hergelaufen waren. Dementsprechend kam er sich eher wie das fünfte Rad am Wagen vor, aber er wusste genau, dass beide das empört von sich weisen würden, wenn er das ansprach und danach tagelang eine bedrückte Atmosphäre herrschen würde, die er lieber vermeiden wollte. „Bist du sicher, dass du nicht ein wenig zu früh wieder in die Schule bist?“, fragte Joel ernsthaft besorgt. „Vielleicht hättest du dich doch noch ein wenig ausruhen sollen.“ Er bemühte sich zu lächeln und schüttelte den Kopf. „Nein, ist schon in Ordnung, mit mir ist alles bestens. Deine Besorgnis in allen Ehren, aber ich lerne doch nur.“ „Es geht ja nicht nur darum.“ Es schien als hätten Joel und Christine nur auf den richtigen Augenblick gewartet, um darüber zu sprechen, denn plötzlich setzten beide überaus ernste Mienen auf und blickten ihn direkt an. Fast schon fühlte er sich wie jemand, dem eine Standpauke seiner Eltern bevorstand. „Seit dieser Nacht bist du richtig... seltsam geworden“, fuhr Joel fort. „Als würdest du versuchen, etwas vor uns zu verheimlichen.“ Im Prinzip tat er genau das, aber doch nur, weil er niemanden mit einem Traum belasten wollte, deswegen schüttelte er noch einmal mit dem Kopf. „Nein, tue ich nicht.“ „Und du trägst deine Brille nicht mehr“, setzte Christine hinzu und deutete dabei auf seine Brusttasche, in der sich diese befand. „Ist das verboten?“ „Nein, aber normalerweise bekommst du Kopfschmerzen, wenn du längere Zeit ohne Brille unterwegs bist“, unterstützte Joel sie. Das war richtig und die letzten Tage hatte er damit auch wieder zu kämpfen gehabt, aber obwohl er nur noch an einen Traum glaubte, befürchtete er dennoch, dass diese seltsamen Wesen ihn noch einmal angreifen könnten – und das wollte er nicht zulassen. Er schluckte die patzige Antwort, die ihm bereits auf der Zunge lag, herunter. An der türkisfarbenen Aura um Joel herum und den trägen, fast traurigen Bewegungen des Sands von Christines Aura, konnte er erkennen, dass sie wirklich besorgt waren und er ihnen nur vor den Kopf stoßen würde, wenn er eine unangebrachte Antwort gab. „Ich bin nach dieser Sache wohl nur ein wenig paranoid“, sagte er schließlich. „Aber das lässt auch wieder nach, ganz sicher.“ „Wenn du das sagst.“ Überzeugt klang Joel allerdings nicht, ganz im Gegenteil. Allerdings schien er wohl zu beschließen, dass es besser war, Raymond nicht weiter zu bedrängen, denn er sagte nichts mehr dazu und selbst Christine wechselte plötzlich das Thema: „Ah ja, morgen haben wir ja endlich wieder einen Ausflug.“ Raymond wollte gerade fragen, was sie meinte, als Joel bereits die Stirn runzelte. „Das würde ich nicht als Ausflug bezeichnen. Das ist eine Exkursion – mitten in die Wildnis.“ Er stieß ein schweres Stöhnen aus als sei es die schlimmste Strafe der Welt – und in dem Moment erinnerte auch Raymond sich wieder an die vorangegangene Ankündigung. „Oh ja, mal wieder ein Zeige-wie-gut-du-in-der-Wildnis-zurechtkommst-und-was-du-über-die-ansässige-Tierwelt-weißt-Tag, hm?“ Joel nickte, immer noch nicht sonderlich gut gelaunt, während in Christines goldenen Augen bereits ein bestimmtes Leuchten aufgetaucht war, das nur zu sehen war, wenn sie wirklich freudig aufgeregt war – an ihrem Geburtstag und an Weihnachten sah man sie immer so, ohne Ausnahme. Raymond musste bei diesem Gedanken unwillkürlich lächeln. Allerdings fiel ihm dabei noch etwas anderes ein. „Die Exkursion ist morgen? Dann muss ich noch etwas aus meiner Wohnung holen.“ „Sollen wir dich begleiten?“, bot Joel an, doch Raymond schüttelte bereits mit dem Kopf. „Nicht nötig. Ich hole es schnell und treffe euch dann im Einkaufszentrum.“ „Aber beeil dich“, forderte Christine lächelnd. „Heute ist All-you-can-drink-Tag in der Milkshake-Bar, darauf freue ich mich seit einer Woche.“ Er versprach ihr, so schnell wie möglich nachzukommen, verabschiedete sich dann von den beiden und legte den Weg zu den Wohnhäusern der Schüler zurück. Dabei handelte es sich allesamt um hohe Gebäude mit jeweils zehn Stockwerken, mit je acht Apartments auf jedem Stock. Die sechs Bauten reihten sich ordentlich in zwei gegenübergestellten Reihen an einem Platz in dessen Mitte man mit viel Mühe ein Blumenbeet angelegt hatte. Zu jeder Jahreszeit wuchsen dort andere Zierpflanzen, selbst im Winter, der in Lanchest seit jeher so mild war, dass es oft nicht nötig war, noch eine Jacke über den Pullover anzuziehen. Dieses Jahr allerdings – und das glaubte er bereits im September zu spüren – würde das anders werden, möglicherweise würde er sich sogar einen Schal kaufen müssen. Aber vorerst war es wichtiger, dass er das holte, weswegen er gekommen war. Vor dem Haus in dem er wohnte, blieb er wieder stehen und kramte in seiner Tasche nach der Schlüsselkarte, aber noch bevor er sie gefunden hatte, wurde ihm die Tür von einem seiner älteren Mitschüler geöffnet, der gerade herauskam. „Ah, he, Ray.“ Raymond hielt inne, um seinen Gegenüber einen kurzen Moment zu mustern, ehe er den Gruß erwiderte. „He Kyle.“ Der schwarzhaarige Schüler im Abschlussjahr wohnte in der Wohnung gegenüber von Raymond, weswegen die beiden sich relativ gut kannten. Seine graue Aura hatte etwas Beruhigendes an sich, zwar bedeutete das einerseits, dass er nicht sonderlich großartig war, sondern irgendetwas ihn bedrückte, aber gleichzeitig verriet es auch, dass er nicht gefährlich war. Raymond ging an ihm vorbei, um das Gebäude zu betreten, wandte sich Kyle aber noch einmal zu, als dieser ihn erneut ansprach: „Übrigens war neulich ein Mädchen da, das unbedingt zu dir wollte.“ „Ein Mädchen?“ Ratlos neigte Raymond den Kopf. Die einzige Person, die ihm einfiel, wäre Christine, aber warum sollte diese ihn hier besuchen kommen, wenn sie doch wusste, dass er bei Joel war? „Ja, ich hab sie nicht sonderlich gut gesehen, sie stand vor dem Haus, als es schon dunkel war, ganz in Schwarz gekleidet, ziemlich seltsam. Ich sagte ihr, dass du nicht da bist, worauf sie meinte, sie kommt ein andermal wieder. Etwas an ihr...“ Er zögerte einen Moment, überlegte anscheinend, ob er wirklich sagen sollte, was ihm bereits auf der Zunge lag und fuhr dann fort: „Etwas an ihr erzeugte mir eine Gänsehaut. Sei lieber vorsichtig in nächster Zeit.“ Raymond bedankte sich, versicherte, dass er das tun würde und setzte dann seinen Weg fort. Während er die Treppenstufen erklomm, fragte er sich, wer diese Person wohl gewesen sein mochte. Er kannte kaum Mädchen und schon gar keine, die einem Gänsehaut verursachten und nachts zu ihm wollten, außer... Wie vom Donner gerührt, hielt er mitten in der Bewegung inne, den Fuß schwebend in der Luft. Was, wenn es diese Frau war? Wenn es kein Traum war? Unmerklich begann er zu zittern, wieder sah er ihre hasserfüllte blutrote Aura vor sich, den Blick aus ihren goldenen Augen, er hörte diesen unmenschlichen Schrei nach dem ihn der Wolf verfolgt hatte. Sie weiß, wo ich wohne. Sie kennt meinen Namen. SIE WEISS, WO ICH WOHNE! Die Panik versuchte schleichend, von ihm Besitz zu ergreifen, während diese Worte immer wieder in seinem Inneren nachhallten und er bereute, Joy nichts davon erzählt zu haben. Er war sich immer noch sicher, dass sie ihm hätte helfen können, auf irgendeine Art und Weise, auch wenn sie nur einen Buchladen führte, sie hatte irgendeine Form von Macht. Er müsste das auf jeden Fall nachholen, sobald wie möglich. Bis dahin, so wusste er genau, brachte es aber nichts, wenn er wie festgefroren im Treppenhaus stand, deswegen schüttelte er die Panik hastig ab und lief weiter. Während er tief durchatmete, um sich zu beruhigen, rocht er den intensiven Geruch des vom Hausmeister verwendeten Putzmittels, der ihm inzwischen so vertraut war, dass er tatsächlich dazu beitrug, dass sein Puls und auch seine Gedanken sich wieder normalisierten. Im vierten Stock angekommen, ging er durch die Glastür hindurch, den Korridor hinunter, um zu seiner Wohnungstür zu kommen. Auf dem Weg dorthin, kramte er in seiner Tasche wieder nach der Schlüsselkarte und zog sie diesmal schon nach wenigen Sekunden hervor. An seiner Tür angekommen, hatte er sich bereits wieder vollkommen beruhigt und dachte wieder an seine wartenden Freunde, statt an das Geschehene. Sicherlich hatte Christine bereits einen Milkshake getrunken und bestellte sich gerade einen zweiten. Wenn er dort hinkommen würde, wäre sie wohl bereits beim Fünften, so wie er sie kannte, während Joel noch immer an seinem Ersten nippte. Er lächelte bei diesem Gedanken und trat in seine Wohnung – wo ihm das Lächeln sofort wieder verging. Sein ganzer Körper spannte sich an, sein Nackenhaar stellte sich regelrecht auf. Es war nur ein Gefühl, ein äußerst unbestimmtes, dessen Ursache er nicht nennen konnte, das aber sofort all seine Alarmglocken auf Bereitschaft gestellt hatte, genau wie in jener Nacht. Es war eindeutig: Jemand war hier, in seiner Wohnung! Er versuchte, diesen Gedanken zu verscheuchen, das Gefühl weit fortzuschieben und es darauf zu begründen, dass Kyle ihm eben von diesem Mädchen erzählt hatte, aber es gelang ihm nicht. Die Furcht saß ihm in Nacken, wo sie sich mit aller Macht festklammerte, um nicht herunterzufallen. Leise schloss er die Tür hinter sich wieder und betrat als Erstes die Küche, direkt rechts im Gang. Es war nur ein kleiner quadratischer Raum, gerade groß genug für den Herd, die Spüle und den Kühlschrank, die sich an der Wand entlangreihten. Niemand war zu sehen, die Spüle war leer und sauber, genau wie er sie hinterlassen hatte. Er öffnete den Kühlschrank, der ihn mit einer gähnenden Leere begrüßte, lediglich eine Flasche abgestandenen Mineralwassers befand sich im Türfach. Allerdings erinnerte er sich nicht, ob er den Kühlschrank so hinterlassen hatte, so dass er hier keine Indizien für oder gegen sein Gefühl finden würde. Er verließ die Küche und betrat das Bad direkt gegenüber, ein ebenfalls quadratischer, aber immerhin mit weißen Fliesen gekachelter Raum, in dem eine Toilette, ein Waschbecken und eine Badewanne mit Duschkopf Platz fanden. Auch hier schien alles vollkommen unberührt. Also folgte er dem kurzen Korridor in das einzige Zimmer des Apartments. Der hellbraune Esstisch, der einem direkt ins Auge fiel, war sauber, das schwarze Sofa dahinter verlassen, der Fernseher an der Wand gegenüber ausgeschalten. Ja selbst der tragbare Computer, der auf dem dunkelblauen Wohnzimmertisch lag, war zugeklappt und befand sich noch in derselben Position wie zuvor. Er wandte sich nach rechts und ging an dem Raumteiler vorbei, in dem sich allerlei kleine Staubfänger in den einzelnen Fächern tummelten. Ein Tischkalender mit faszinierenden Wüstenbildern, ein eingerahmtes Foto von Joel, Christine und ihm selbst nach ihrer letzten Zwischenprüfung und viele kleine Andenken, von denen er oft nicht einmal wusste, was sie darstellen sollten, die er von Adam und Eve jedes Jahr zu seinem Geburtstag geschickt bekam. Auch dort befand sich alles noch an seinem Platz, wie er nach einem raschen Blick feststellte. Als nächstes galt seine Aufmerksamkeit seinem Bett, das immer noch frisch gemacht und unberührt schien. Die Balkontür rechts davon, die großzügig Licht in das Zimmer fallen ließ, war verriegelt. Langsam entspannte er sich wieder ein wenig und widmete sich dem Schrank, der an der Wand stand. Die Tür war wie üblich leicht angelehnt, er schloss ihn ungern ab, weil er die irritierende Furcht mit sich trug, dass der Schlüssel abbrechen könnte und er nicht darauf erpicht war, seinen eigenen Schrank aufzubrechen, um an den Inhalt zu kommen. Er öffnete die Tür, sondierte den im Dunkeln liegenden Inhalt, der aus verschiedenen auf Kleiderbügeln hängenden Jacken, Hemden und sogar Jacketts bestand und lächelte endlich wieder, als er den gesuchten Gegenstand entdeckte. Er ging leicht in die Knie und zog den Schwertkoffer hervor, den er wesentlich schwerer in Erinnerung hatte. Mit einem Ruck hob er den Koffer auf seinen Esstisch und öffnete ihn, um den Inhalt in Augenschein zu nehmen. Kaum erblickte er die Klinge darin, war sämtliche Furcht wie weggeblasen. Sanft strich er über das blanke Metall der Schneide, über die Parierstange, die wie ausgebreitete Drachenflügel geformt war und über das raue Leder, das um den Griff gewickelt worden war. Dieses Schwert, das einmalig war, wie er wusste, war ein Geschenk von Ryu gewesen. Angeblich hatte es Raymonds Großonkel gehört und war nach dessen Tod weitervererbt worden. Obwohl Ryu als leiblicher Sohn der passende Besitzer wäre, hatte dieser darauf bestanden, dass Raymond es annehmen würde. Seitdem lagerte es in seinem Schrank, da sie im Unterricht mit Übungswaffen kämpften. Lediglich zu diesen Exkursionen oder Prüfungen, holte er es hervor, um es einzusetzen. Bei allem, was mir in der letzten Zeit passiert ist, wäre es aber vielleicht besser, das Schwert immer mit mir zu nehmen. Allerdings führte das offene Tragen eines Schwertes auch schnell einmal zu Ärger, selbst in Lanchest. Er würde erst im nächsten Schuljahr eine Lizenz dafür bekommen und immer einen Koffer mit sich zu tragen, fand er doch ein wenig störend. Noch dazu würden Joel und Christine sich dann nur noch mehr Sorgen machen, genau das, was er ja vermeiden wollte. Als seine Gedanken auf seine Freunde kamen, fiel ihm erneut ein, dass diese mit Sicherheit bereits ungeduldig auf ihn warteten. Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihn dann darin, dass er schon viel länger als geplant hier war. Hastig schloss er den Koffer wieder und nahm ihn an sich. Ein letztes Mal sah er sich im Zimmer um, das von keinem Eindringling zu erzählen wusste, dann wandte er sich ab und verließ das Apartment wieder für unbestimmte Zeit. Als er die Tür ins Schloss zog, glaubte er, ein leises Niesen von drinnen zu hören, allerdings machte er sich keine Gedanken mehr darum, schob es auf seine angespannten Nerven und ging davon, um sich endlich mit seinen Freunden zu treffen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)