contra legem von Mounira ================================================================================ Kapitel 10: X ------------- Heiji weiß, dass er sein Versprechen gebrochen hat. Sogar mehr als ein Mal, obwohl er es nicht mehr wollte. Es ist passiert, nichts weiter. Es ging ihm danach besser; so weit, so gut. Für ihn ist es keine große Sache, nach wie vor. Aber er kann Kazuha nicht gestehen, dass er nicht durchgehalten hat. Er muss es ihr ja auch nicht sagen. Er macht es doch eh so selten, daraus kann ihm doch niemand einen Strick drehen! Sogar die Streitfronten daheim haben sich ein wenig geglättet. Es gibt deutlich weniger Verbote und Heiji führt das auf sein Alter zurück. Wahrscheinlich hat es auch mit seiner Erfolgsquote zu tun. Erbrechen ist für ihn kein stilles Rebellieren mehr; wenn Heiji das Bedürfnis hat, dann liegt es an der inneren Angespanntheit. An der schaurig leisen Stimme, die ihm zusäuselt, er solle bloß aufpassen. Ein falscher Schritt und das Ansehen, was er sich über Jahre hinweg erarbeitet hat bei seinem Vater, könnte sich einfach so in Luft auflösen. Es ist das Gefühl, was ihn in Herrn Nagatos Haus zum Übergeben getrieben hat. Es ist ein berstiges Gefühl... Heiji hasst es und er hasst umso mehr, dass es ihn immer wieder überfällt. Hinterher - wenn der Fall abgeschlossen und Heijis Übermut runtergefahren ist, er nicht mehr hastet oder sich projiziert -, muss sich Heiji jedes Mal selbst die Frage stellen, ob es nicht auch ohne gegangen wäre? Er tendiert immer noch dazu tagsüber, wenn er an einem Fall arbeitet, wenig zu essen und daheim dann richtig zuzuschlagen. Die ersten Tage ist das oft wenig problematisch. Doch wenn sich ein Fall zieht, wenn die Angst zu versagen ihm eine Schlinge um den Hals legt, dann braucht Heiji einen klaren Kopf. Von dieser einen Ausnahme im Hause Nagato abgesehen, übergibt er sich nur Zuhause. Immer noch vorlieblich, wenn die Dusche prasselt und er hinterher Deo im Bad sprühen kann. Im Badezimmerschränkchen hat er ein Paar Essstäbchen versteckt, die es genauso gut tun wie der Stiel seiner Zahnbürste. Der Lack blättert an den Stäbchen allmählich ab, aber Heiji säubert sie trotzdem jedes Mal mit höchster Sorgfalt. Er ist pedantisch was das betrifft. Eigentlich will er sie auch gar nicht da liegen haben, aber irgendetwas in ihm beschwichtigt ihn mit einem „nur zur Not“ und deswegen liegen sie eben weiterhin dort: nur zur Not. Im späten Herbst laden er und seine Eltern Conan, Ran und natürlich auch Herrn Mori nach Osaka ein. Heiji will ihnen seine Stadt zeigen; ohne Stress und ohne dass sich jemand einmischt. Die Dinge kommen anders als geplant und das weniger, weil Kazuha einen Heijis Meinung nach lächerlich eifersüchtigen Auftritt hinlegt. Ihnen erst folgt und dann auch noch die arme Ran bezichtigt, sie sei Kudo, von dem Heiji immerzu schwärmt. Er schwärmt nicht – außer vielleicht von Kudos Fähigkeiten. Generell mag er Kudo und betrachtet ihn nicht mehr mit dem anfänglichen Argwohn; also wo ist das Problem? Genau: es gibt keines, so einfach ist die Sache. Kudo und er teilen einfach eine Denkstruktur. So was findet man nicht oft. Und manchmal, da ist sich Heiji auch sicher, muss es für Kudo einfach nur niederschmetternd sein in diesem kleinen Körper gefangen zu sein und sich mit der falschen Identität abschotten zu müssen. Schon deswegen ist Heiji ihm liebend gern ein Freund; es gibt zu wenig Menschen, die Kudos wahre Identität kennen und ihn angemessen behandeln. Wider Erwarten verwandelt sich das Zusammentreffen in eine wahre Verbrecherjagd. Leichen kommen ihnen in die Quere und der Balanceakt zwischen guter Laune und dem Kampf gegen die innere Stimme ist für Heiji eine regelrechte Zerreißprobe. Sein Vater hat obendrein nichts Besseres zu tun, als Heijis Hitzköpfigkeit radikal auszubremsen, indem er ihn an einem Tatort und vor allen Anwesenden in die Schranken weist. Der Hieb ist keine Ohrfeige mehr, so wie Heiji sie schon das ein oder andere Mal kassiert hat. Er ist kraftvoll und heftig und lässt Heiji voller Wucht zu Boden gehen. In den ersten fünf Sekunden kann Heiji nicht mal begreifen, dass dies die Realität ist. Es fühlt sich vielmehr nach einem bodenlosen Traum an und es ist so demütigend, dass er sich am liebsten in Luft auflösen möchte, während seine gesamte Gesichtshälfte vor Schmerz zu pochen beginnt. Doch er beklagt sich nicht. Er kann es, wie immer, äußerlich ganz gelassen nehmen. Eine leichte Übung für ihn nach all den Jahren und von den übrigen Anwesenden muckt auch niemand sonderlich auf. So ist das eben. Niemand mischt sich gerne in die Erziehung anderer ein und Heiji will auch gar nicht, dass jemand etwas dazu sagt. Soll sein Vater ihn eben schlagen. Heiji ignoriert alles, was er diesbezüglich in den Augen von Kazuha, Ran, Kudo und den anderen liest. Sei es nun Mitleid oder Mitgefühl. Er will nichts davon. Er will den verdammten Fall lösen und seinem Vater demonstrieren, mit seinem Übermut sehr wohl ans Ziel zu kommen. Am liebsten ohne Kudos Hilfe. Dafür nicht ohne abends heimlich Zuhause zu erbrechen. Es merkt eh keiner und Heiji kommt sich von diesem Groll, der sich seit dem Zwischenfall am Tatort in ihm aufgestaut hat, beinahe vergiftet vor. Irgendwie muss es raus. Er ist nur noch halb so böse, als er später erschöpft ins Bett fällt. Conan auf einem hergerichteten Gästebett in Heijis Zimmer liegt und genauso wenig ahnt wie Heijis Eltern. Er ist eben schlauer als sie alle. Heiji wünschte, sein Vater würde das verstehen, aber zumindest er selbst weiß es. Dass sein Magen leicht schmerzt, ist nebensächlich. Heiji sieht das Gute an der Sache: auch wenn er dort draußen gegen seinen Vater nicht gewinnen mag, hier im Haus tut er es. Da dieser erste Besuch doch eher unglücklich verlaufen ist, lässt Heiji Conan und den Moris eine zweite Einladung für ein Wochenende in Osaka zukommen. Ganz entspannt, kurze Stadttour und ein gemütliches Abendessen, bei dem die Küche seiner Mutter sich wie üblich von ihrer besten Seite präsentiert. Ran reist jedoch mit Conan alleine an, weil ihr Vater sich auf Grund einer läppischen Erkältung halb tot stellt und sich weigert, das Haus zu verlassen. Da er Ran offenbar schon eine Woche kontinuierlich rumscheucht und sich ‚letzte Wünsche’ von ihr erfüllen lässt, hat sie rein gar nichts gegen den kurzen Trip nach Osaka. Sogar Kazuha ist begeistert und schlägt vor, dass Ran bei ihr übernachtet, damit sie ganz ohne nörgelnde Jungs shoppen gehen und sich einen dieser Kinofilme angucken können, in die Heiji keine zehn Pferde kriegen. Romantische Komödie – das Genre gehört für ihn verboten. So kommt es, dass er abends mit seinen Eltern und Conan alleine am Esstisch sitzt, als das Telefon schellt. Schon an der Stimmlage seines Vaters kann Heiji erkennen, dass etwas im Busch ist. „Entschuldigt mich. Ich muss weg“, lässt Heizo nach dem Auflegen knapp verlauten und sowohl seine Frau als auch sein Sohn wissen, dass er von seinen Kollegen angefordert wurde. Es muss also etwas passiert sein. „Wir kommen mit!“, entscheidet Heiji eigenwillig und springt vom Tisch auf. Selbst Conan kann nicht so schnell reagieren. „Ihr?!“ Sein Jackett in den Händen, bleibt Heizo mitten im Flur stehen und schleudert Heiji einen Blick entgegen, der ihn härter trifft als der Hieb es neulich getan hat. „Ganz sicher nicht! Sei nicht immer so verdammt unhöflich, Heiji! Du hast Besuch, also komm deinen Pflichten nach und kümmere dich auch anständig! Außerdem kann ich zwei Kinder am Tatort eh nicht gebrauchen! Wenn ich also nur den Verdacht habe, dass ihr mir folgt, setzt es was!“ Sich auf die Zunge beißend, fällt Heijis Blick zurück auf den Tisch. Auf seinen halb vollen Teller und die dampfenden Speisen. „Setz dich wieder“, hört er seine Mutter sagen, die ihm demonstrativ zwei weitere Tintenfischbällchen auf den Teller lädt. Ohne Conan anzusehen, muss sich Heiji geschlagen geben. Er ist erbost. Die Haustüre klappt. Es ist sicher ein Mord geschehen und Heiji würde sich lieber die Haut abziehen und sich in Salz wälzen als jetzt in aller Seelenruhe hier zu sitzen und mit seiner Mutter und Conan Smalltalk halten zu müssen. Sie reden über die Schule, über Fußball und Kendo und Heiji merkt, wie er versucht, komisch zu sein, aber doch nur zynisch ist. Für ihn ist der Abend gelaufen. Sein Vater ist ihm zum unzähligsten Mal über den Mund gefahren und Heiji hat keine Ahnung, warum er wieder ausgeschlossen wird. Warum er mit bald 18 Jahren immer noch brav daheim die Hände in den Schoß legen soll, anstatt der Polizei zu helfen. Er wird nicht untätig bleiben. Aber das einzige, was Heiji an diesem Abend tun kann, ist sich nach dem Essen zu entschuldigen und unter dem Vorwand zu duschen zu erbrechen. Morgen, sobald er Ran bei Kazuha abgeholt hat und sie mit Conan am Bahnhof abgesetzt hat, wird er sich an seinen Vater kletten. Heiji switcht unmotiviert durch die Fernsehkanäle; seine Stimmung ist irgendwo zwischen Müdigkeit und Gereiztheit, die er zu verstecken versucht, während er auf seinem Bett sitzt. Nach der „Dusche“ hat er es vorgezogen, sich in sein Zimmer zurückzuziehen. Seine Mutter füllt Conan vermutlich immer noch mit irgendwelchen Leckereien ab, nach denen Heiji wirklich nicht der Sinn steht. Er dreht sich auf den Bauch. Er hat keine Lust, ein guter Gastgeber zu sein. Drauf geschissen. Er will, dass endlich morgen ist und er sich an die Arbeit machen kann. Andere Leute haben so viel Vertrauen in ihn und seine Fähigkeiten, dass sie ihn sogar engagieren. Sein Vater ist einfach ein unverbesserlicher Sturkopf, der Heiji nichts zugestehen will! Kudo in Conans Körper kommt ins Zimmer und ist, zu Heijis Überraschung, bereits im Schlafanzug. Heiji schenkt ihm einen Blick aus dem Augenwinkel. „Dacht schon, du hast dich von meiner Mutter tot quatschen lassen...“ „Nein. Sie will, dass ich schlafen gehe. Ist ja schon fast elf Uhr...“ „Schon scheiße, wenn man aussieht wie ein Grundschüler“, fällt Heiji triezend dazu ein. Er wird zumindest nicht mehr in aller Früh ins Bett geschickt. Alles, was Kudo für die Bemerkung übrig hat, ist ein böser Blick. Nebenbei stellt er seine Tasche neben den Futon auf den Boden und scheint zu überlegen. „Wir können noch fernsehen, kommt aber nur Schrott“, schlägt Heiji vor und konzentriert sich mehr auf den Jungen in seinem Zimmer als auf die Mattscheibe. Kudos Gesicht ändert sich nicht, sondern scheint irgendetwas zu durchdenken. Die Augenbrauen sind so tief gezogen, dass sie seine Lider quasi auffressen. Das ist kein gutes Zeichen, so viel ist sicher. „Erde an Kudo: willst du jetzt noch was gucken oder-?!“ Heiji hat keine Gelegenheit, um den Satz zu beenden. Mit ein paar flinken Schritten steht Kudo neben seinem Bett, reißt ihm die Fernbedienung aus der Hand und lässt die Mattscheibe in Schwärze ertrinken. Es wird beißend still im Zimmer. Heiji will irgendwas Auflockerndes sagen. Etwas wie „Sag doch einfach, dass du keinen Bock auf Fernsehen hast, anstatt hier so ’ne Show abzuziehen.“, doch Kudos eisiges Gesicht schnürt ihm den Hals zu. Etwas stimmt nicht. Der Raum läuft mit Unbehagen voll, so als ließe ihn jemand mit Giftgas füllen. Die Fernbedienung auf Heijis Nachttisch legend, lässt ihn Kudo kurz aus den Augen. Als er Heiji danach wieder ansieht, ist es amtlich: etwas stimmt nicht. Seine blauen Augen sind hart wie Stahl. „Wie lange hast du die Bulimie schon?“ Die Frage erschlägt Heiji arglistig, ohne dass er sich in irgendeiner Form verteidigen kann. Er geht nicht mal zu Boden, sondern verfällt sofort in Totenstarre. An Kudos Haltung ändert sich nichts. Er steht dort in einem blassblauen Schlafanzug und im Körper eines Sechsjährigen, doch er hat nicht den geringsten Zweifel. „Ich hab keine-!“ „Ich weiß, dass du dich heute nach dem Essen übergeben hast“, schneidet ihm Kudo einfach und präzise das Wort ab. Heiji ist es herzlich egal, wie sein Besucher dahinter gekommen ist. Was ihm wiederum nicht egal ist, ist, dass Kudo ihn drauf anspricht... „Und ich weiß, dass du’s auch getan hast als ich dich beim letzten Mal besucht hab. Da war ich mir nur leider noch nicht ganz sicher.“ Soll Heiji sich jetzt etwa freuen, nicht schon bei Kudos erstem Besuch so frei heraus mit dem Thema konfrontiert worden zu sein? Kudo lässt es so klingen und Heiji findet das dreist. In ihm züngelt Wut auf und möchte ihn wohl mit Stromstößen wieder zum Leben erwecken, während er Kudo geradewegs in die Augen starrt. Dort weist absolut gar nichts darauf hin, dass er einen Rückzieher machen wird. Kudo kennt die Wahrheit – und Heiji kann nur verächtlich den Kopf wegdrehen. „Du redest vielleicht einen Blödsinn daher! Du hast nicht mal einen Beweis!“ Es ist ihm nicht weniger unangenehm als damals, als er bei Kazuha Zuhause sitzen und es ihr mehr oder weniger gestehen musste. Wenn Heiji ehrlich ist, ist es jetzt sogar noch schlimmer. Vor ihm steht ein Kind, das redet wie ein Erwachsener und sein Spiel durchschaut hat, obwohl Heiji es für schier unmöglich gehalten hat. Seine Finger sind längst in die Form von Fäusten geschlüpft; in ihm ist so viel hochexplosiver Ärger, dass sich seine Nägel grob in seine Handflächen bohren. Kudo scheint von rein gar nichts überrascht. Von ihm kommt ein abgebrühtes „Doch“, während er sein Schlafanzugoberteil leicht anhebt. Dort drunter versteckt, unter den Bund seiner Hose geklemmt, kann Heiji einen länglichen, dünnen Gegenstand sehen, den Kudo in ein Taschentuch gewickelt hat und nun auf die Bettkante, genau zwischen sie, legt. Heiji weiß sofort, was in dem Taschentuch ist... Er hat Kudo unterschätzt. Allein wie ruhig dieser mit den Ereignissen umgeht, beweist, dass er den Verdacht wahrhaftig schon seit längerer Zeit hegt. Heiji insgeheim beobachtet hat und eben das Badezimmer durchsucht haben muss. Mit einem vernichtenden Griff klappt Kudo das Taschentuch auf, sodass das verbleichte Paar Essstäbchen zum Vorschein kommt und die Ausstrahlung einer blutverschmierten Mordwaffe besitzt. „Wirklich merkwürdig fand ich, als du damals im Hause der Nagatos irgendwann weg warst. Als du wiedergekommen bist, meintest du, du wärst auf der Toilette gewesen. Warum aber auf einer, die am ganz anderen Ende des Hauses liegt? Das ist Zeitverschwendung, die du dir bei laufenden Ermittlungen genauso wenig zugestehst wie ich.“ „Ach sei doch still!“ „Ganz sicher nicht!“ Kudo lacht beinahe. Er steht da, die Hände in den Hosentaschen, gefühlte zwei Meter größer als Heiji und diesen wie einen Verbrecher stellend. „Weißt du, als ich dich beim letzten Mal besucht habe, hab ich mich gewundert, dass du nach dem Essen unbedingt schnellstmöglich duschen wolltest. Wir saßen alle zusammen, du hättest also noch ein Weilchen bei uns sitzen und einfach später duschen gehen können, theoretisch zumindest. Praktisch ging das nicht – das ist uns beiden klar. Wenn man unmittelbar nach dir ins Bad geht, riecht es unheimlich stark nach Deo. Aber da ist noch irgendwas Anderes, das du mit dem Deo übertünchst. Ich konnte den Geruch auch erst nicht zuordnen... Bis mir kürzlich eingefallen ist, was das ist. Heute war’s das gleiche Spielchen, Hattori. Kaum war dein Vater weg, hast du aufgegessen und dabei fast einen Liter Wasser in dich reingekippt. Dann hast du behauptet, duschen zu gehen. Du konntest wieder nicht länger warten, weil du nämlich die Dusche immer laufen hast, damit keiner hört, was du in Wirklichkeit im Badezimmer machst! Gut, duschen tust du auch, hinterher aber erst. Und viel trinken hilft, um alles zuvor Gegessene wieder gut hoch zu bekommen. Was du mit den Stäbchen machst, muss ich dir nicht auch noch erklären, oder?!“ Nein, muss er nicht... Heiji kann auf der Straße ein Auto vorbei fahren hören, gedämpft durchs Fenster. Ansonsten hört er nur noch sein Herz, das ihm viel zu schnell gegen die Rippen schlägt, und die schaurig leise Stimme, die ihm sagt, dass er ein Verlierer ist. Ein durchschauter Verlierer. Er kommt aus dieser Nummer nicht mehr raus... „Verdammt!“ Seine rechte Faust knallt auf die Matratze, direkt neben die Essstäbchen, die ob der Wucht vom Bett springen und klirrend auf dem Boden landen. Ein Stückchen hinüber rollen und vor Heiji und seiner Verzweiflung fliehen. Kudo zuckt nicht mal zusammen, sondern hebt sie behutsam auf, mit bloßen Händen. „Hattori, schau“, mischt sich seine Stimme in diesen Strudel von Heijis unzählbaren Gefühlen, klingt weniger scharf, dafür nun fast bedrückt. „Sie sind total ausgebleicht. Sogar der Lack blättert schon ab...“ Der schlechte Zustand ist es, der Kudo verrät, dass Heiji die Stäbchen mehr als ein oder zwei Mal benutzt hat. Für Heiji bedeutet das viel mehr. Es bedeutet, dass er sein Versprechen gebrochen hat und dass er für Kudo eine Lachnummer sein muss. Ein Detektiv, der nicht mal seine eigenen Spuren verwischen kann, geschweige denn ein Geheimnis bewahren. „Gib her! Das geht dich alles überhaupt nichts an!“ Mit einer blitzartigen Bewegung reißt Heiji die Essstäbchen an sich, packt sie in das Taschentuch und donnert sie in den kleinen Mülleimer zwischen seinem Bett und seinem Schreibtisch. „Ich hab das vielleicht ein paar Mal gemacht. Na und?! Das kann dir so was von egal sein! Das ist ganz allein meine Sache!“ Ihre Stimmen, ihre Blicke und ihr Zorn umkreisen sich wie zwei wilde Tiere in einer Arena. Wenn Heiji diesen Kampf will, wird Kudo ihm ihn geben. „Wir wissen beide, dass ich das nicht einfach ignorieren kann!“ „Das wirst du aber! Ich hör eh damit auf!“ „Für wie naiv hältst du mich eigentlich?! Bulimie wird nicht umsonst Ess-Brech-Sucht genannt! Bei dir hat sich doch auch schon ein regelrechtes Ritual manifestiert! Du brauchst Hilfe, Hattori. Sag’s deinen Eltern oder ich tu’s!“ „Das ist Erpressung!“ Erneut trifft Heijis Faust auf die Matratze, wenn auch mit weniger Wucht als zuvor. Die Vorstellung, dass Kudo als Conan zu seiner Mutter rennt, ihr am Kimono zupft und sie mit diesen ahnungslosen Kinderaugen fragt, ob Heiji krank ist oder warum er sich immer im Bad übergibt, ist ihm zuwider. „Wenn du meinst...“ Kudo scheint das nicht zu stören. Mit einem kalkülen Schulterzucken wendet er sich ab und löscht das Licht im Raum. Heiji kann die kindlichen Umrisse im Dunkeln sehen. Wie sich die Gestalt aufs Futonbett legt, die Decke zurechtzieht und das Zimmer mit dem Knistern der Bettwäsche ausfüllt, bevor es leise wird. Heiji sitzt nach wie vor auf seinem Bett, halb wütend, halb verzweifelt. Ihm ist kalt und heiß zugleich vor Fassungslosigkeit. Sein Gesicht ist wie Feuer, weil er vermutlich vor lauter Ärger und Scham tomatenrot ist. Seine Finger und Zehen sind hingegen eisig. Seine Gelenke fühlen sich wie verkalkt an. „Meine Eltern haben gar kein Recht, es zu erfahren! Wenn es einer hätte merken sollen, dann nicht du, sondern sie! Es ist ihr Haus und wenn ich’s unbemerkt unter ihrem Dach tun kann, dann brauchen sie’s auch nicht zu wissen!“ Die Worte fallen wie Bomben zu Boden. Kudo rührt sich nicht, wohl aus Angst, Blindgänger zu zünden. Dann seufzt er tief, beinahe spottend: „Willst du, dass sie dich auf frischer Tat ertappen oder geht’s darum, es ewig vor ihnen geheim zu halten?! Ist das so was wie ein Spiel von dir? Ein wer ist cleverer-Spiel? Weil du dich dann für klüger hältst als die beiden, wenn du etwas vor ihnen verbergen kannst?“ Ja, nein, vielleicht. Heijis Mund klappt empört auf. Die Sache mit Kudo zu diskutieren, ist wie gegen eine Wand zu reden. Er begreift es nicht... Und Heiji ist es nur noch furchtbar unangenehm. Sein Magen kommt ihm verdorben vor und er wünscht sich, Kudo nie kennen gelernt zu haben. Es wird höchste Zeit, ihn morgen in den Zug nach Tokio zu setzen und ihn erst mal nicht wieder zu sehen. Heiji weiß gar nicht, wie er je wieder unbefangen mit Kudo umgehen soll. Alles war wunderbar einfach, bis eben. Sich ins Kissen zurücklehnend, dreht ihm Heiji den Rücken zu. Er starrt so angestrengt gegen die Wand, dass er zusammenschreckt, als Kudos Stimme plötzlich unmittelbar hinter ihm wieder aufkeimt. „Heiji, ernsthaft.“ Sie klingt erwachsen, analytisch und vereinbart all das in sich, was Heiji im Moment auch gerne wäre. Doch er ist nur wütend, verbissen und blind im Auge dieser gefühlten Erniedrigung. Er könnte Kudo mit all den negativen Emotionen, die ihn belasten, erschlagen – so viele scheinen da in ihm zu wuchern wie Unkraut. Kudo soll sich seine Ansprache sparen. „Ich versteh dich ni-“ „Ich sag’s ihnen ja! Und jetzt hör endlich auf zu nerven und lass mich verdammt noch mal in Ruhe!“ Heijis Stolz ist nicht bloß angekratzt, er liegt blank wie ein Knochen, über dem Haut und Fleisch fehlen. Kudo kann dankbar sein, gerade in diesem Kinderkörper zu stecken, denn er ist der einzige Grund, dass man ihn nicht einfach vor die Tür setzt. „Ich geb dir ’ne Woche Zeit. Wenn du’s dann noch nicht gemacht hast, sag ich’s ihnen“, stellt Kudo ein Ultimatum, das die beunruhigende Wirkung einer Zeitbombe hat. Heiji kann es regelrecht ticken hören, indessen er die Augenlider fest zusammenpresst und von seinem Bettzeug vertilgt werden will. „Beantwortest du mir wenigstens noch meine erste Frage?“, kommt es vom Boden. „Welche?“, grollend rollt man sich auf die andere Seite und würde Kudo lieber mit dem Kissen ersticken, als auch nur eine Minute länger mit ihm zusammen zu sein. Es ist viel einfach, jemand anderen zu hassen, als sich damit zu beschäftigt, selbst derjenige zu sein, der jahrelang einen Fehler konsequent aufrecht gehalten hat. „Wie lange schon?“ „Ach! Das weiß der große Meisterdetektiv wohl nicht!“, spuckt Heiji ihm seinen Zorn in Form von Hohn vor die Füße. Nicht auf die Provokation eingehend, verliert Kudo ein weiteres Seufzen und schaut zur Zimmerdecke hinauf. „Darauf bist du gerade gewaltig stolz, wie?“ Wenn Kudo es genau wissen will: ja, es macht einen stolz. Zugeben wird Heiji es aber nicht. Kudo versteht ihn ohnehin nicht. All das hier ist total witzlos. „Also schon länger...“, driftet Kudo in Überlegungen ab und lässt sie in Schweigen zurück, da Heiji nicht gewillt ist, von sich aus noch etwas zum Gespräch beizutragen. Über sie legt sich die Schwere einer zwistigen Nacht. Heiji bekommt kein Auge zu; er ist nicht müde, auch nicht als sich die Minuten zu Stunden zusammenschließen. Es zwei Uhr werden, drei Uhr werden und er in keiner Weise damit zurechtkommt, dass in seinem Kopf die Gedanken im Kreis fahren. Er nicht aufgehört hat, obwohl er es versprochen hat. Er jetzt sogar von Kudo überführt worden ist und sich aussuchen kann, ob er mit seinen Eltern spricht oder ob Kudo es machen wird. Der nächste Tag lässt Heiji wie gerädert erwachen. Eingeschlafen im Morgengrauen, ist seine Müdigkeit eine Qual, die ihn am Frühstückstisch einsilbig antworten lässt und bald darauf still mit Kudo aufbrechen lässt. Blickkontakt hat Heiji nicht zugelassen. Kudo hat eh schon viel zu tief geblickt und Heiji ist es leid, ein hässliches, gelöstes Rätsel für seinen Besuch zu sein. Vermutlich wollte Kudo nur mit ihm befreundet sein, um die Ungereimtheiten zu sortieren. Das ist mies von ihm, richtig mies. Heiji ist sauer, während sie schweigend Kazuha und Ran abholen. Heiji ist auch noch sauer, als sie weiter zum Bahnhof fahren. Alle Gesprächsversuche, die Kudo auf ihn loslässt, zerschellen an Heijis Gekränktheit. „Bist du mit dem falschen Fuß aufgestanden oder was ist los?“, kriegt er irgendwann von Kazuha zu hören. Heiji antwortet ihr lediglich mit einem mürrischen „Nein“. Er kann sich ohnehin an allen zehn Fingern abzählen, dass sie nicht mehr seine Freundin sein wird, wenn sie erfährt, dass er das Versprechen gebrochen hat. Und erfahren wird sie es zwangsläufig, wenn er mit seinen Eltern sprechen muss. Irgendwie wird alles durchsickern. Alles wird kaputt gehen. Schuld daran ist natürlich Kudo! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)