Nachtschatten von Yusuka (Sherlock BBC) ================================================================================ Kapitel 1: Nachtschatten ------------------------ - Nachtschatten - Licht, das in eine Million flimmernde Fäden zersprang. Der Schatten eines Flügels auf der gleißend hellen Oberfläche einer glühenden Kugel. Vielleicht die Sonne oder doch die Hälfte des Mondes, der eben noch silbern am Himmel schien. Himmel? Womöglich auch nur die Decke eines grauen Zimmers. Eines, das dazu bestimmt war, in Vergessenheit zu geraten. Doch der Schleier hob sich, ein Spalt klaren Blickes, als er die Augen langsam öffnete, der Hauch einer Wahrnehmung, zerbrechlich, aber nah genug, sich zu einer Erkenntnis zu manifestieren. Schemenhaft eröffnete sich die Szene. Wortwörtlich hob sich der Vorhang, blutrot und schwer. Irgendwo musste ein Fenster offen stehen, denn er spürte einen Luftzug sein Gesicht streifen. War es Nacht oder Tag? Wie wohl es tat, sich genau über dieses Detail im Unklaren zu befinden. Es wurde schwieriger die Augen offen zu halten, die Lider bleischwer, das Licht viel zu hell, zu bunt und penetrant in all seiner Hartnäckigkeit, ihn wieder in die Wirklichkeit zu stoßen. Er ergab sich dieser Schwere erneut und schloss die Augen, lauschte stattdessen den Geräuschen und testete seine Wahrnehmung wie einen schwachen Geschmack auf der Zunge. Schritte erklangen im Raum, dumpf und gleichzeitig weich. Teppichboden. Allmählich kehrten die Erinnerungen zurück. Erinnerungen an dieses Zimmer. Nach und nach formten sich die Gegenstände um ihn herum und er brauchte nicht einmal die Augen zu öffnen, um sie sich ins Gedächtnis zu rufen. Da waren die schweren Vorhänge, nicht nur vor den Sprossenfenstern im Jugendstil, die so schrecklich französisch wirkten, sie verbargen dem Gast auch die einzige Tür zu diesem Raum, ebenfalls verziert und einen ebenso grauenhaft französischen Anschein verbreitend. Die Schritte verstummten ohne Nachhallen und er ließ es geschehen, dass die Person, die das Zimmer so klangvoll betreten hatte, seine Beine von dem Chesterfield Sofa hob, um selbst darauf Platz zu nehmen. Eine Zeit lang geschah nicht mehr, als dass er der Stille lauschte, abwartete, wenngleich jede folgende Geste Teil eines Abkommens war, das er noch vor gut einer Stunde getroffen hatte. Er wusste um die Person Bescheid, die am anderen Ende des Sofas verweilte, obwohl ihm die Identität des anderen völlig unbekannt war. Probeweise schlug er die Augen auf und erblickte erneut die grässlich helle Atmosphäre, die nun jedoch in ein Quäntchen Unvorhergesehenes getaucht schien. Ein Detail veränderte die Szene, unerwartet fürwahr und er rang mit sich, ob sie ihm tatsächlich willkommen schien. Er war jung, fast schon zu jung, kein Alter, das man gerne erriet, erst recht nicht an diesem Ort. Doch er lächelte, ein geübtes freundliches und wissendes Lächeln. Auch das, ein unwillkommenes Detail, nicht zuletzt in diesem Zusammenhang. „Wie lange?“ fragte er und ließ den Blick für einen Moment durchs Zimmer schweifen, als wollte er sicher gehen, dass es aufgehört hatte, sich um ihn herum zu drehen. „Nicht viel mehr als eine Stunde“, antwortete der Junge, seine Stimme sanft und auf verlockende Weise harmonisch. Sherlock Holmes wusste um die tückische Wirkung und Verfänglichkeit jener Stimmen Bescheid und einzig und allein an diesem Ort vermochten sie ihn dazu zu bringen, sich ganz und gar darin zu verlieren. Nirgendwo sonst würde er sich zugestehen dem zu verfallen, insbesondere da es ihm sonst, fernab dieses Zustandes, ohnehin an Interesse diesbezüglich mangelte. Doch hier zählten die Umstände und sie waren es, die ihm fast so etwas wie Faszination für etwas so triviales wie menschliche Attraktivität entlockten. Das Haar des Jungen schien blond, jedoch dunkler, als es im grellen Licht den Anschein erweckte. Und es war weich, als es seine Wangen streifte, die Spitzen wie goldene Funken über seinen Augen tanzend. Sherlock rühmte sich damit einen klaren Verstand sein Eigen zu nennen, der ihm sagte, dass er es nicht mit einem Anfänger zu tun hatte. Und doch schien sein verklärter Blick zu verraten, dass es heute um eben diesen Verstand nicht allzu gut stand. Nicht umsonst schien dies der Ort zu sein, der sich besser als jeder andere eignete, um vor all den Fakten und Irrungen zu fliehen. Ein Ruhepol inmitten des Chaos. Genau so stand es um diesen Jungen. Er ließ es zu, sich erneut einfach fallen zu lassen, der Sturz viel mehr als nur ein geistiges Ausklinken, eine durch den Nebel dringende Wohltat, um ihn herum das Rauschen in seinen Ohren, das sicherlich nichts als simple Einbildung war. „Für gewöhnlich dauert es nicht so lang“, holte er aus und beobachtete aus naher Sicht die Finger, die damit begonnen hatten, durch sein dunkles Haar zu streichen. Sein Blickte schweifte zur Seite, ansonsten blieb er unbewegt, duldete die streichelnden Finger, die Zentimeter für Zentimeter über seine Haut wanderten und über die Grenzen zu seinem Haar flohen. Er spürte viel mehr, als dass er sah, wie der andere lächelte, begleitet von einem leisen Seufzen, das sich warm und lockend auf seiner Haut anfühlte. „Niemand ist hier, der Sie zur Eile antreibt“, erwiderte der Junge und es schien ihm, als seien seit seinen eigenen Worte Stunden vergangen. Es waren lange schmale Finger, die nun begannen sein Haar zu zwirbeln, während er den Blick auf den verzierten Beistelltisch richtete. Nur langsam nahmen die verwaschenen Konturen eine Form an, immer noch trüb der Blick, mit dem er versuchte seiner näheren Umgebung etwas Klares abzugewinnen. Er entdeckte sein Mobiltelefon neben dem ovalen Silbertablett, das in seiner jüngsten Erinnerung, die kaum mehr als besagte Stunde alt sein konnte, nebensächlich und unscheinbar gewirkt hatte. Nun bemerkte er die Verzierungen, überraschenderweise nicht französisch, aber manche der filigranen Muster stumpf und verlaufen, was ihm verriet, dass es sich hierbei um ein Original handeln musste. Spätes 18. - vielleicht frühes 19. Jahrhundert. Jedem anderen wäre dies entgangen, ihm jedoch nicht. Die Liebe zum Detail… manchmal konnte sie ein Fluch sein. Er hörte, wie sich der Junge bewegte und spürte das Gewicht auf seinen Beinen, als der andere sich halb darauf niederließ. Das penibel gepflegte Leder quietschte ein wenig, als glatter Stoff darüber rutschte und Sherlock hob den Arm, um den anderen festzuhalten, seine Hand die warme Haut unter dem eleganten Hemd spürend, die sich zweifellos ohne diese Barriere noch besser anfühlen würde. Wie in Trance erlaubte er sich, das, was sich ihm bot, zu berühren und strich dem Jungen über die Taille, fuhr mit den Fingerspitzen über den Saum des Jacketts, das störend ein Kleidungsstück mehr ausmachte, welches früher oder später zu entfernen galt. Er erwischte das Lächeln des Jungen in einem Kuss, als dieser sich nach unten beugte und seine Lippen auf die des Älteren legte. Für eine Sekunde schien ein Zögern über Sherlocks Gesicht zu flackern, denn er ergab sich nicht ganz in diesen Kuss. Seine Lippen wichen um Zentimeter nach rechts aus, doch dann holte ihn der Nebel ein, eine surreale Wirklichkeit, die nur an diesem Ort spürbar war und nur hier akzeptabel blieb. Die Besinnung überkam ihn schneller als das Zögern zuvor und er streckte die Hände aus, umfing das Gesicht des Fremden, um ihn zu sich zu ziehen. Als er sich von ihm löste, atemlos und die Hitze zwischen ihren Lippen schmeckend, kam es ihm vor, als wäre erneut ein enormer Zeitverlust eingetreten. Er fand sich selbst in einem Durcheinander aus zerknitterter Kleidung wieder und endlich war ihm die Erkenntnis, dass der Junge kaum älter als Zwanzig sein konnte gewiss, denn die weiche Haut unter seinen Fingern ließ keinesfalls Möglichkeiten für Spekulationen. „Wie spät ist es?“, entwich es ihm und für einen Moment konnte er spüren, wie er zurück in die raue Realität geworfen wurde, ein paar Sekunden lang verhallten die dumpfen Geräusche und wurden schmerzlich klar. Seltsamerweise schien die Unterbrechung dem Jungen nichts auszumachen. Obwohl ebenfalls atemlos und erhitzt, streckte er sich über Sherlock hinweg und griff nach dem schmalen Mobiltelefon. Vielleicht schien die Art und Weise, in der er die Finger nach dem Gegenstand ausstreckte, ein wenig seltsam, aber er hatte gelernt die gebrauchten Spritzen, die auf dem Tablett aus Sterling Silber lagen, nicht unnötig zu berühren. Weniger weil eine ungeahnte Gefahr von ihnen ausging, als dass diese Berührung einem Eindringen in die Privatsphäre gleichkam, die von wesentlich intimerer Bedeutung war, als diese, die er hier mit dem Unbekannten teilte. „Es ist kaum neun“, verkündete er und hielt dem Gast das Gerät vor Augen, die noch immer geweitete Pupillen zeigten. „Kaum neun, kaum neun...“, wiederholte er und ließ die Hand sinken, beugte sich stattdessen erneut hinab und begann den Streifen an freigelegter Haut zu küssen, der sich unter dem dunklen Hemd des Älteren zeigte. „… noch sehr viel Zeit, finden Sie nicht? Sie werden doch jetzt wohl kaum gehen wollen, oder?“ Sherlock spürte das Grinsen des Jungen gegen seine Haut prickeln und einen tiefen Atemzug holend, fuhr er ihm mit der Hand durch das blonde Haar. „Gewiss nicht“, erwiderte er und ließ sich zurücksinken. In der Ferne hörte er die antike Standuhr ticken, doch auch diese Zeit ließ sich ignorieren. Sie zerfloss mit jeder weiteren Berührung und schob sich in den Hintergrund. Von Hitze umhüllt blieb er unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, sie entzogen sich ihm mit jedem Atemzug. Seine Finger ertasteten den Hals des Jungen, bis auch das nicht mehr reichte. Er zog sich an ihm hoch oder zerrte ihn zu sich hinunter, wieder eine Kleinigkeit, die sich im Nachhinein kaum mehr bestimmen ließ, obwohl er sich stets zu Gute hielt, dass nichts seiner Aufmerksamkeit entgehen konnte. Nur hier schien alles anders zu sein. Später würde er das ganze Szenario nur noch mit Mühe rekonstruieren können. Ihm blieb kaum eine Erinnerung an den Moment, als der Junge das Mobiltelefon sinken ließ und es somit völlig seiner Aufmerksamkeit entglitt. Er fand es eine weitere Stunde später unter seinen eigenen zerwühlten Kleidungsstücken wieder, irgendwo in einer Falte des Blazers, der unachtsam zu Boden geworfen worden war. Mit den Nachwirkungen seiner Entscheidung, hier zu verweilen, würde er noch eine Zeit lang zu kämpfen haben. Der Ablauf dessen blieb stets derselbe und jede einzelne Empfindung vorhersehbar. Doch mit voran geschrittener Stunde und inmitten der Nacht, würde das Erwachen nahen und mit ihr würde die schreckliche Normalität einkehren, die unabwendbare Langeweile. Schon jetzt schienen die Vorzeichen spürbar nahe, schienen ihre Krallen nach ihm auszustrecken, um ihn zurück in die Wirklichkeit zu zerren. Der Schatten eines Flügels entpuppte sich nicht als die Metapher für eine herannahende Gefahr, nicht die pechschwarzen Schwingen dämonischer Teufelsscharen. Sie blieb die Motte, die im fahlen Schein der Lampe störrisch gegen das filigrane Geflecht aus Metall stieß und niemals das glühende Innere erreichte. Grelles Licht, das sich langsam in graue Schatten wandelte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)