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Die Archivarin

von

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Leerstelle

Jocasta Nu war eine schwierige Person.

Im Tempel war allgemein bekannt, dass Jocasta Nu in ihrer eigenen Welt lebte. Zu lang war sie bloß noch in ihren Archiven ein und ausgegangen. Obwohl es Geschichten gab, über ihre spektakuläre Vergangenheit als junge, furchtlose Archäologin und Stellarkartografin, die sie einmal gewesen zu sein schien.

Sie war nach wie vor eine allgemein anerkannte Expertin auf ihren Gebieten, hatte sich jedoch nur wenig Verständnis für den Rest der Welt bewahrt. Obi-Wan sah es in ihren wässrig blauen Augen, als sich ihr Blick verhärtete. Sie war alt geworden.

„Wenn der Planet nicht verzeichnet ist...“, meinte sie kalt: „..., dann wird er auch nicht da sein.“, drehte sich um und ging. Resigniert sah ihr Obi-Wan hinterher. Unglaublich, dass dieses magere, bleiche und offenkundig engstirnige Wesen einst auf der Suche nach alten Sith-Artefakten die Galaxis bereist hatte. Sie hatte die Forschung im Bereich Sith einige entscheidende Schritte weitergebracht, gegen den besorgten Widerstand des Hohen Rates und vieler ihrer Kollegen. Immerhin, ihre Unbeirrbarkeit hatte sie behalten...
 

Anju hörte den Ärger schon von Weitem auf sich zustapfen. Und tatsächlich, da bog bereits das finstere Gesicht der führenden Archivarin um die Ecke. Anju bemühte sich um ein freundliches Lächeln. Schließlich musste man die Form wahren, besonders wenn man selbst kaum noch viel mehr war als pure Form. Ohne Inhalt. Anju hatte froh sein können, dass sie überhaupt jemand im Tempel aufgenommen hatte, nun wollte sie ihr Bestes tun und Jocasta Nu eine vorzeigbare Assistentin sein. Eine, auf die sie stolz sein konnte. Damit wenigstens irgendwann einmal irgendwer auf Anju stolz sein konnte. Denn es gab nicht mehr viel an Anju, auf das man stolz sein konnte.
 

„Kamino...“, murmelte Meisterin Nu, als sie an Anju vorbeistapfte, vermutlich ohne sie überhaupt bemerkt zu haben. Die alte Frau schritt den Gang weiter hinab, auf die Tür zum Lager zu. Sie murmelte noch etwas, dann war sie aus dem Bibliotheksbereich verschwunden. Anju setzte ihr Lächeln wieder ab, wie eine Maske, sie hatte es ohnehin nicht empfunden. Neben ihr stand ein Rollwagen voller einzuordnender Wissenspads. Anju fuhr in ihrer Tätigkeit fort, Ordnungscodes aneinanderzureihen.
 

Sie war bereits zwei Regale weitergekommen, der Rollwagen war beinahe leer, als der Jüngling an ihrem Ärmel zupfte. „Tschuldigung, ähm...“, begann er, doch als Anju ihn direkt ansah, verlor er den Mut. Wieder setzte Anju ihr freundliches Lächeln auf. „Ja, was wünschst du?“ Der Jüngling starrte auf den Boden. Er war ein Shistavan mit heiter hellem Fell und kurzer Schnauze. Er hatte seinen Übungshelm noch auf, als ob er eben aus dem Unterricht gekommen wäre. Anju kniete sich zu ihm herab und fragte noch einmal: „Du wünschst?“ Der Jüngling murmelte, sehr schnell, sehr undeutlich und stur an seine Zehen gewandt: „Meister Yoda fragt, dass ich frag, dass er Meisterin Jasta Nu sprechen will...“ „Jocasta Nu?“, versicherte Anju sich. Der kleine Shistavan nickte. Anju klopfte ihm auf die Schulter. „Gut, ich kümmer mich drum.“ Der Jüngling wagte es endlich, den Blick zu heben. Er grinste Anju breit an, Anju grinste zurück und zum ersten Mal an jenem grauen, eintönigen Tag fühlte sie sich auch danach. Sie war schon immer gut mit Kindern ausgekommen. Die heiterten sie auf. Erwachsene waren alle so furchtbar trüb.
 

Als Jocasta Nu von ihrer Unterredung mit Meister Yoda zurückkehrte, wirkte sie gewohnt beherrscht, mit diesem für sie charakteristischen, leicht pikierten Zug um die dünnen Lippen. Sie schritt durch den breiten Hauptgang der Bibliothek, an der Regalreihe vorbei, an der Anju neue Datapads schlichtete. Wieder zurück zur betreffenden Regalreihe und die Reihe entlang, bis sie vor der jungen Padawan stand. Die ihr mit einem freundlichen Lächeln entgegenblickte, wie Nu es gewohnt war. Nu meinte: „Ich brauche die Sicherheitsaufzeichnungen sämtlicher Datenbewegungen der letzten – sagen wir – zehn Jahre.“ Anju meinte: „In Ordnung. Bis wann?“ Nu meinte: „So schnell wie möglich.“ Anju meinte: „Aber um 5 muss ich zu einer Schwertziehzwischenprüfung.“ Nu meinte: „Dafür darfst du kurz pausieren.“ Anju meinte: „Jawohl.“ Nu ging. Weder hatte sie allzu besorgt noch anderswie unruhig gewirkt. Gerade deswegen verwirrte Anju die Nachfrage. Normalerweise interessierte sich Anju nur begrenzt für die Beweggründe von Höherstehenden. Sie hatte beschlossen, sich darauf zu beschränken, Aufträge einfach auszuführen, wenn man sie ihr gab. Die Meister wussten schon, wohin sie damit wollten. Aber diesmal war der Auftrag vielleicht Ergebnis einer Unterredung mit Meister Yoda. Er schien dringend zu sein. Und er klang beunruhigend genug, um mit mehr Gefühl in der Stimme hervorgebracht zu werden. Meisterin Nus alltäglicher Tonfall schürte Anjus Misstrauen besonders stark. Die Sicherheitsaufzeichnungen... Davor hatte Meisterin Nu mit Meister Kenobi gesprochen, es war kein erfreuliches Gespräch gewesen und danach hatte sie „Kamino“ vor sich hingemurmelt. Anju war klar, dass all diese Vorkommnisse keinen Zusammenhang miteinander haben mussten, aber die Vorstellung allein faszinierte sie zu sehr, um sie einfach ziehen zu lassen. Sie drehte sich Richtung Bibliotheksausgang.
 

Dort schien Kriss nur darauf gewartet zu haben, bis Anju ihr endlich Aufmerksamkeit schenkte. Gewohnt locker stieß sie sich von der Regalreihe ab, an der sie gelehnt hatte, und begann: „Nun?“ Die drei unterschiedlich großen Hörner auf der Stirn glänzten elfenbeinfarben im sanften, indirekten Licht der Bibliothek, wie Edelsteine leuchteten sie auf der dunkelbraunen Haut. Die warmen, braunen Augen blickten Anju müde entgegen. Sie wirkten meistens müde, dabei schlief Kriss sicherlich mehr als genug. Anju wunderte sich nicht mehr darüber. Dafür kannte sie Kriss bereits zu lange. Stattdessen meinte sie: „Was nun?“ „Nun, bist du endlich fertig hier?“, erweiterte Kriss ihre Anfrage. „Tut mir leid, Meisterin Nu braucht mich heute länger.“, erklärte Anju. „Ach.“, meinte Kriss. Anju sah sie forschend an. „Was, ach?“ „Nur so.“, meinte Kriss. „Hä?“, fragte Anju. „Naja, wenn Nu dich braucht...“, meinte Kriss und wandte sich von Anju ab. „Dafür kann ich doch nichts.“, rechtfertigte sich Anju vor Kriss' Rücken. Sie hatte nur wenige Freundschaften, und selbst mit denen schien sie nicht wirklich zurechtzukommen. Aus irgendeinem Grund wirkte Kriss enttäuscht. Anju kramte in ihrem Hirn. Gleichzeitig fragte sie sich, warum Kriss nicht einfach sagen konnte, was sie störte. „Was ist denn?“, probierte Anju es nochmal. „Eh nix.“, kam es wenig hilfreich zurück. Anju seufzte leise. „Na dann...“ Sie ging an Kriss vorbei, auf den Ausgang zu. Sie drehte sich nicht nach Kriss um. Die Tür schloss sich zischend hinter Anju. Es half nichts. Anju würde später genauer mit Kriss reden. Nun musste sie ins Datentransferarchiv, danach zur Prüfung. Die Pflicht kam vor persönlichen Problemen.
 

„Die Macht fließt...“, sagte Lehrmeister Dy-Ami: „Und in der Macht fließt die Bewegung.“ Anju schloss die Augen. Sie fühlte die Macht. Natürlich. Trotzdem schien es ihr immer schwerer zu fallen, die Macht zu verstehen, je älter sie wurde. Anju hatte das Gefühl, je weiter ihre Ausbildung zum Jedi fortschritt, desto schwächer wurde das Band, das sie mit der Macht teilte. Es war erschreckend und manchmal, wenn Anju die Konzentration verlor, all die beruhigenden Gedanken ziehen ließ, die sie permanent vor sich hersagte, hatte sie Angst. Furchtbare Angst davor, die Verbindung ganz zu verlieren. Plötzlich völlig allein zu sein. Sie erhöhte ihre Anstrengungen. Zog das Schwert und aktivierte die Lichtklinge. Das sanfte Gelb erfüllte den weiten Übungssaal. „Sehr gut.“, lobte Meister Dy-Ami. Anju deaktivierte ihr Übungsschwert wieder. Sie wusste es besser. Wenn sie hier etwas perfektionierte, so war es nicht ihre Verbindung zur Macht, sondern die Fähigkeit, ihr wahres Selbst vor der Außenwelt zu verbergen. Sich gegen den Zugriff anderer Jedi abzuschotten. Damit keiner merkte, wie sie langsam an Halt verlor. Dy-Ami schritt weiter die Reihe der zur Prüfung eingetroffenen Padawane ab, sah den anderen beim Ziehen ihres Schwertes zu. Anju dachte inzwischen an einen enttäuschten Meister Kenobi, an eine Unterredung mit Meister Yoda und an den Begriff Kamino. Was das wohl war, dieses Kamino...
 

Es war bereits seit Stunden dunkel, als Anju die verlangten Daten zusammengesammelt und ausgewertet hatte. Es hatten sich einige Unregelmäßigkeiten gezeigt, in den Aufzeichnungen. Viele der Meister nahmen es nicht so ernst mit der Bürokratie, fügten Daten hinzu, ohne sich als Urheber zu verzeichnen, löschten, ohne einen bestimmten Grund anzuführen. Jocasta Nu würde nicht erfreut sein. Die alte Frau konnte sich stundenlang über solche Fauxpas aufregen.

Anju sicherte die gefundenen Fehlermeldungen auf einem Datapad, es waren unübersichtlich viele. Einige gedankenlose Momente starrte Anju auf die letzten zwölf Einträge. Dieses gelöscht, jenes ersetzt... Da war eine Leerstelle. Anju beugte sich etwas vor. Eine leere Zeile. Sicher konnte das auch ein Fehler in der Formatierung sein. Aber vielleicht beherbergte gerade diese Leere die Lösung. Anju vermerkte den Zeitraum, in dem die Leerzeile aufschien, für sich, mit einem Stift auf ihrem Unterarm. Dafür nahm sie einfach den Zeitkodex der Zeile davor und den der folgenden danach. Zum Glück lagen nur einige Stunden zwischen den Einträgen. Für diese Zeitspanne Überwachungsvideos zu finden dürfte nicht allzu schwer sein. Doch inzwischen war es zu spät, die betreffenden Daten anzufordern. Außerdem musste sie sich noch einen triftigen Grund für ihre Anfrage ausdenken. Sonst würde man ihr das Material niemals überlassen. Anju dachte an Kriss. Die half öfters im Hologrammarchiv des Tempels aus. Mit ihrer Hilfe... Da fiel es Anju ein. Mit plötzlicher, stechend scharfer Klarheit. Jener Tag. Darum war die Freundin zu ihr gekommen. Um sich zu verabschieden. Es war der Tag gewesen, an dem Kriss abgereist war.

Am Zenith

Wer vor dem Erreichen des 15. Lebensjahrs, also bis zu seinem 14. Geburtstag, von keinem Jedi-Ritter zu seinem Padawan ernannt worden war, wurde ebenfalls Padawan, jedoch keiner auf dem Weg zum Ritterschlag. Solche Jünglinge wurden vom Orden anderwertig eingesetzt. Zum Beispiel in der Gartenpflege. In Botschaften, sogenannten Ordenshäusern, im Haushalt. Oder in der Entwicklungshilfe, in einer der zahlreichen Agrikultur-Corps, die der Orden überall im bekannten Raum unterhielt.
 

Anju hatte ihr Glück nicht fassen können, als sie erfahren hatte, dass sie nicht in einen dieser landwirtschaftlichen Betriebe abgeschoben wurde. Anju konnte mit Pflanzenpflege nichts anfangen. Mit Pflanzen schon, mit denen verstand sie sich gut. Besonders mit dicken, hohen Bäumen. Die musste man auch nicht pflegen. Hilfsbedürftige Pflanzen jedoch konnte Anju nicht ausstehen. In ihrem Kopf musste sich jeder um sich selber kümmern können.
 

Mit dem Tempelarchiv war Anju eigentlich am idealen Ort gelandet. Sicher, sie hatte Ritterin werden wollen. Welcher Jüngling wollte das nicht. Ein abenteuerliches Leben inmitten des Geschehens führen, kämpfen bis zum Letzten, fieberhaft Auswege aus scheinbar hoffnungslosen Situationen suchen. Sie hatte alles daran gelegt, trainiert, sich fortgebildet, war bei vielen Schülerturnieren angetreten. Beinahe wäre sie daran zerbrochen. Nach dem letzten Turnier vor ihrem 14. Geburtstag war sie auf der Brüstung des Nordostturms gestanden, hatte hinausgeblickt, auf die unruhige Großstadt vor ihr. Die Luft hatte nach Atmosphärengeneratoren und Elektrosmog gestunken. Um sie herum hatten Schweber hektisch ihren Weg durch den nächtlichen Verkehr gesucht, hatten sich angehupt und gepöbelt. Unten, in den engen, dunklen Straßenschluchten waren Lebewesen aller Herren Planeten unterwegs gewesen. Ein unstetes Gewusel ohne Ordnung. Anju konnte Corouscant nicht leiden. Sie war auf Yavin-gara aufgewachsen, dem vierten Mond von Yavin, ein Waldplanet. Selbst seine Pole waren mit Wald bedeckt. Wald war Anjus natürlicher Lebensraum. Sie vermisste den Wald. Wie alt er sich angefühlt hatte...
 

In jener Nacht hatte Anju springen wollen. Die Enttäuschung über ihr Versagen und eine tobende Abneigung gegen jede mögliche Zukunft hatte ihr Denken beherrscht. Sie hatte nichts anderes mehr empfinden können. Sie hatte wirklich springen wollen. Doch Kriss war dazwischengekommen. Die hatte am Nordwestturm gestanden und rübergebrüllt. "Hast du mitgekriegt, wer gewonnen hat?!" Anju hätte sie um ein Haar nicht gehört, der Stadtlärm war ohrenbetäubend gewesen. Doch das war Kriss' Stimme auch.
 

Kriss Nell'eri war um ein Jahr jünger als Anju. Sie war ein Zabrak, noch dazu einer von den besonders stolzen. Von Iridonia, dem Ursprungsplaneten der Gehörnten. Selbst bezeichnete sie sich als Iridonianerin, denn jene Zabraks galten - neben anderen Vorurteilen wie die stursten, dümmsten und schwierigsten Lebewesen der Galaxis - als die besten und zähesten Kämpfer ihrer Art. Das merkte man auch an Kriss' Gehabe. Sie war sich ihrer überlegenen Stärke und Technik bewusst. Wenn Kriss kämpfte, ging sie davon aus, dass sie gewinnen würde. Vermutlich hatte das Meisterin Bela Den-Irim am meisten imponiert. Jedenfalls hatte sie Kriss gleich nach ihrer ersten Begegnung und den Gerüchten nach ohne Zögern zu ihrem Padawan genommen. Kriss hatte das Ziel erreicht. Und nun war sie losgezogen, die Geschichte zu prägen.
 

Natürlich war Anju stolz auf sie. Auch wenn sie mit Freundschaft weit weniger gut auskam als - vermutlich - jeder andere Humanoide, fühlte sie für Kriss. Anju hatte sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Inzwischen war sie überzeugt davon, niemals zur Ritterin geeignet gewesen zu sein. Es hat nicht sollen sein, wie ihre Großmutter gesagt hätte. Und auch Kriss hatte gemeint, Hadern mit dem Schicksal vergiftet den Geist. Der Weise akzeptiert, was er nicht ändern kann. Jener Weise stammte aus einer uralten Zabrak-Tradition von personifizierten Idealen, an denen sich jedes tugendhafte Lebenwesen orientieren sollte. Kriss als traditionsbewusste Iridonianerin sprach permanent von ihnen.
 

Anju lag wach in ihrem Quartier und starrte an die Decke. Die manchmal näherzukommen schien, aber das war nur Phantasieprodukt ihrer immer häufiger werdenden Angstanfälle. Wann immer das passierte, atmete Anju ruhig weiter und dachte sich die kühle, feuchte, beruhigend schwere Luft ihres Waldes herbei. Sie dachte an Kriss und war sich sicher, Kriss wusste das. Die Verbindung zwischen ihnen war nach wie vor aufrecht. Kriss würde Anjus Bedauern spüren und ihr verzeihen. Die Schicksale der beiden Padawane konnten nicht unterschiedlicher sein, und trotzdem hatten sie einen Verknüpfungspunkt gefunden. Anju spürte, dass es Kriss derzeit gut ging. Vermutlich schlief sie bereits.
 

Warum nicht ein wenig spazieren gehen? Anju würde sowieso nicht wegdämmern, egal, wie lang sie noch liegen blieb. Genauso gut könnte sie mal wieder in Übungshalle 3 vorbeischauen. Übungshalle 3 war zugewuchert und von allen Anjus liebster Trainingsort. Dorthin hatte sich Anju bereits als Jüngling zurückgezogen, um dem Zwitschern fremder Vögel und dem Plätschern kleiner Bäche zu lauschen. Es war ein Ort des Friedens. Solang man keines der vielen Übungsprogramme aktivierte.
 

Anju setzte sich in ihre bevorzugte Astgabelung und betrachtete den Miniaturwasserfall, der durch das dichte Blätterwerk funkelte. Ein Gelbphilister, ein furchtbar fedriges Tierchen mit grausamen Stimmbändern, flatterte etwas zu dicht vorbei. Die Tiere hatten sich schon zu sehr an Anjus Anwesenheit gewöhnt, sie verloren den Respekt. Auf Yavin-gara hatten Menschen Tiere getötet. Anju war es gewohnt, dass Tiere auf Abstand blieben. Wie wilde Tiere eben. Die hier waren eher Haustiere.
 

„Wer beim Schweberrennen gewonnen hat!“, hatte Kriss ihr zugebrüllt. Anju hatte bloß mit den Schultern zucken können. Welches Rennen? Da war kein Rennen gewesen. Nur unerträglicher, sich stetig steigernder Lärm und Gewusel. Überall Gewusel. Ein Strudel aus Leben.
 

„Warte!“, brüllte Kriss: „Ich komm zu dir!“ Und nur eine Minute später stand sie neben Anju. Ein Zabrak. Großgewachsen, beinahe so groß wie Anju selbst, stämmiger, mit Muskeln, die sich deutlich auf ihren nackten Armen abzeichneten. Anju betrachtete sie unverschämt lange. Warum sie nicht viele Freunde hatte? Vermutlich deswegen, Anju hatte einfach keine Ahnung, was sich gehörte. Doch Kriss störte das Starren nicht. Wer weiß, bemerkte sie es überhaupt. Sie zeigte auf eine der Straßenschluchten, eine schmale, die vom Tempel wegführte, und fragte: „Da, hast dus nicht gesehen? Da sind zwei ein Rennen gefahren. Von dir aus hast du doch gesehen, wer gewonnen hat. Ja?“ Sie blickte Anju mit funkelnden Augen an. Anju lächelte freundlich. Sie ahnte, dass dieses Mädchen jünger als sie war. Und meinte: „Für mich ist das alles nur sinnloses Treiben. Ich hab kein Rennen gesehen.“ Kriss' Augen wurden groß. „Unmöglich!“ Um gleich darauf einzuschlafen. „...Naja, ist wohl auch nicht so wichtig. Du wolltest springen, nicht wahr?“
 

Die Frage überforderte Anju. Sie lachte nervös auf. „Was?“

Die Antwort

Ein kehliges Grollen weckte Anju aus dem leichten Schlummer. Sie schreckte hoch und fragte sich etwas länger, wo sie eigentlich war. Desorientiert betrachtete sie riesige grüne Blätter und rissige, hellbraune Rinde. Kurz dachte sie, sie wär zuhause. Als ihr einfiel, dass sie sich noch immer im Tempel befand, auf Corouscant, dem Zentrum des bekannten Universums, der eine einzige riesige Stadt war, war sie enttäuscht. Warum war sie überhaupt noch hier... Das Grollen. Diesmal lauter. Näher. Hatte sie etwas gewittert? Witterte sie etwas? Anju lauschte und sog die sie umgebende Luft tief ein. Schal. Modrig. Gequälte Moleküle. Und die Macht zog es ihr schließlich mit dem Zaunpfahl über die Rübe: Etwas war erschaffen worden. Etwas voller Hass. Und Gier. Es hatte Anjus Geruch in der Nase. Anju hatte keine Waffe bei sich.
 

Geräuschlos erhob sie sich auf der Astgabelung und lugte durch das Laub um sie herum. Braunes Fell. Gelb glühende Augen. Anju kannte das Programm. Der Werff. Wie eine Riesenratte gemixt mit einer Klapperschlange. Ein boshaftes Wesen. Jedenfalls im Programm, schließlich hatte Anju noch nie einen echten Werff getroffen. Der Werff blickte sie an. Durch die Blätter. Und Anju blickte starr zurück wie ein Kaninchen. Mit weit aufgerissenen Augen. Ungläubig. Wer hatte mitten in der Nacht diese Routine gestartet? Und wozu?
 

Eine Stimme. „Fühlst du den Hass?“
 

Eine Andere. Atemlos. „Ja.“
 

„Er ist stark.“, sagte die erste Stimme: „Unbändig.“ Sie klang jung, aber bereits zu männlich, um ein Kind zu sein. Die andere war eindeutig noch ein Kind. Unter zehn, dem Klang nach. Sie sagte: „Wie in mir.“ „Ja.“, bestätigte die erste Stimme: „Hass ist nicht zu besänftigen, nicht zu besiegen, nicht mit süßen Worten zu verführen. Hass steht weit über allen anderen Gefühlen. Wenn er in einem erst einmal Wurzeln geschlagen hat, so wächst er, wächst und gedeiht. Alles endet im Hass.“ Der Werff wandte sich von Anju ab. Sie war nicht sein Ziel. Etwas anderes fesselte ihn. Ein Sturm. Ein wilder Strudel, schwarz wie das Nichts, mit der Anziehungskraft einer Sonne. Auch Anju konnte ihre Aufmerksamkeit nicht mehr von ihm abwenden. Dieses Nichts in der Macht. Fraß alles in unerbitterlicher Heftigkeit in sich hinein.
 

Die erste Stimme sprach. „Alles wird am Ende zu Hass. Furcht wird zu Hass. Zorn wird zu Hass. Selbst Liebe wird zu Hass. Es ist unausweichlich und nur ein Narr verleugnet diese Allmacht. Du jedoch bist kein Narr.“ „Nein.“, sagte das Kind: „Ich spüre es.“ „Spürst du, dass meine Worte wahr sind?“, fragte die erste Stimme nach. „Ja.“ „Dann sieh zu.“
 

Die Klinge eines Lichtschwerts wurde aktiviert. Anju hörte das Summen des erhitzten Plasmas, das manchmal beruhigend, manchmal unheilschwanger sein konnte. Diese Klinge hier war friedlos. Zitternd, zuckend, heftig. Es gab Lichtkristalle, die eine friedliche Klinge beschworen, eine ausgeglichene. Andere erzeugten eine gierige, heftige. Jeder Ritter erhielt im Endeffekt die Klinge, die ihm zustand. Anju konnte sich vorstellen, wenn sie jemals eine Klinge erhalten hätte, so eine starre, stabile. Denn so war sie. Jene Klinge jedoch war unruhig. Fordernd. Voller Ungeduld. Sie gierte nach dem Tod. Wem auch immer dieser Lichtkristall gebührte, er war ein gefährliches Wesen...
 

Anju war klar, dass sie sich nicht einfach abwenden konnte. Einfach in Sicherheit bringen. Das ging nicht. Sie als Padawan hatte die Pflicht, in dieser Situation nach dem Rechten zu sehen. Daher hängte sie sich an den Ast, auf dem sie gestanden war, und ließ sich tonlos zu Boden gleiten. Der Werff war Richtung Halleneingang verschwunden. Anju folgte seiner generierten Schneise der Zerstörung. Bis auf eine Lichtung. Auf der ein kleines Mädchen stand. Ganz allein. Keine Spur von der zweiten Stimme.
 

Der mächtige Werff hatte sich vor ihr in die Lüfte geschwungen und züngelte sie gierig an. Das Mädchen stand breitbeinig da. Sie war vielleicht sieben. Sicher nicht älter. Noch ein richtiger Jüngling eben. Doch in ihren kleinen Händen hielt sie die zerstörungswütige Klinge wie ein fertig ausgebildeter Ritter. Und knurrte leise. Der Werff knurrte zurück.
 

Hinter ihr lag eine glühende Box. Ein Holocron. Das verwunderte Anju. Denn kein Jüngling hatte Zugang zu Holocrons. Das Wissen darauf war zu gefährlich, um von zu jungen Seelen erfahren zu werden. Woher hatte die Kleine diesen Block? Und warum erzählte er von Hass? Das entsprach nicht den Lehren der Jedi.
 

Der blonde Pagenkopf wirbelte im Sturm des teils instabilen Plasmas. Die bernsteinfarbenen Augen hatten sich am Ungetüm vor ihnen festgesogen. Das Mädchen war ausschließlich auf den bevorstehenden Kampf fokussiert. Ein erstaunlich starker Fokus für sein Alter.
 

Da griff der Werff an.
 

Der Kopf schnellte nach vorn. Das Mädchen wich mit unglaublicher Agilität aus und hackte mit der Lichtklinge zur Seite. Es hackte dem Monster den hässlichen Kopf ab. Und verharrte in der künstlich erzeugten Blutfontäne, die aus dem abgetrennten Körper strömte. Mit einem Gesicht, das alles ausdrücken könnte, außer Ekel. Anju schüttelte sich vor Abneigung. War das eben wirklich passiert?
 

Das besiegte Monster löste sich in Pixel auf. Und gab den Blick auf Anju frei, die hinter ihm gestanden hatte. Das Mädchen sah sie aus hellen Raubtieraugen an. Anju blickte aus verschreckten Rehaugen zurück. Sie versuchte es mit: „Wa...?“ Der Holocron reagierte. „Sie hat dich beobachtet. Sie wird dich verraten. Vernichte sie.“ Und das Mädchen stürmte los. Mit einem aktiven Lichtschwert. Einem richtigen Lichtschwert.
 

Kein Jedi-Anwärter, der nicht auf dem Weg zum Ritter war, besaß diese unberechenbare Waffe. Anju hatte kein Lichtschwert. Sie hatte Übungsschwerter. Abgeschwächte Versionen, die den Plasmafluss streng regulierten. Ein Herbststurm. Ein echtes Lichtschwert war dagegen wie ein Orkan. Ein Lichtschwert war reine Energie. Es schnitt durch alles. Es war unaufhaltsam, außer für ein weiteres Lichtschwert. Anju wich im letzten Moment nach links aus. Die Klinge brannte sich dampfend durch die Ranken und Büsche des Unterholzes. Anju spürte den Schmerz der Zweige und Blätter, sie quietschten ohrenbetäubend, wie eine Gabel auf einem Teller, in ihrem Tod. Sie hatten nicht sterben wollen. Was wollte schon sterben... Nur humanoide Lebewesen spürten diesen Drang ab und zu in sich keimen. Keine andere Lebensform war fähig, sich den eigenen Tod zu wünschen.
 

„Du hast dich umbringen wollen, nicht wahr?“, hatte Kriss fortgesetzt: „Aber ich hab dich davon abgehalten. Daher hast du nun eine Lebensschuld bei mir. Schließlich hab ich dich gerettet, ja?“ Anju war zu überrumpelt gewesen, um irgendetwas anderes zu antworten als: „Ja...“

Der Wandel

Komisch, an was Anjus Hirn denken musste, während es in Lebensgefahr schwebte. Kriss hatte sie einmal gerettet, ja. Aber diesmal würde sie sicher nicht auftauchen. Anju musste aufhören, in der Vergangenheit zu schwelgen. Sie brauchte ihren Geist in der Gegenwart. Wach. Fokussiert. Der Moment war entscheidend. Der Moment, in dem die glühende Klinge durch die Luft schnitt, stinkendes Ozon hinterlassend, das leise vor sich hinbrutzelte. Nicht die Lebensschuld bei Kriss, nicht das Versäumnis, Kriss ohne ein nettes Wort gehen gelassen zu haben. Nicht die stechende Leere, die sie hinterlassen hatte. Anju wollte nicht sterben. Sie wollte herausfinden, was es mit der sonderbaren Lücke in der Sicherheitsaufzeichnung auf sich hatte. Sie wollte wissen, woher der Holocron kam und welchen dunklen Machtanwender er bewahrte. Sie wollte diesen Kampf gewinnen.
 

Anju streckte die Hand nach dem fremden Mädchen aus. Die Macht reagierte. Der blanke Wunsch nach Überleben war der Energie, die alles in Bewegung, im Fluss hielt, wahrhaftig genug, um ihm zu folgen. Sie floss. Anju fühlte, wie sie floss. Ohne Sicherheitsschranken, ohne Mäßigung, selbstverständlich wie früher.
 

Sie ergriff das Mädchen. Konzentrierte sich auf den Mittelpunkt der Masse, schlug zu. Der kleine Körper flog davon. Das Gesicht maßlos überrascht. Das hatte es nicht kommen gespürt. Mit hässlicher Wucht schlug das Mädchen an einem Baumstamm auf. Der Aufprall riss ihm den Griff des Schwerts aus der Umklammerung, der ohnehin zu dick für die Kinderhand gewesen war.
 

Der Holocron erlosch.
 

Das Lichtschwert erlosch.
 

Das Mädchen rutschte am Stamm herab und blieb zwischen den knorrigen Wurzeln liegen. Verdreht, mit zur Seite geknicktem Kopf, wie eine Puppe. Die Augen geschlossen.
 

Der pure Überlebenstrieb ließ Anjus Geist frei. Anju sah die Welt um sich wieder im Kontext, nicht isoliert von einzelnen Momenten. Ihr Herz klopfte so heftig, das es den ganzen Körper erschütterte. Ihre Hände zitterten, die Beine zitterten. Doch Anju brach nicht zusammen. Stur blieb sie in ihrer halb hockenden Position, wie ein Raubtier vor dem Sprung. Sie schwankte nur leicht. Und dachte: nein. Immer wieder. Nein, nein, das Kind war nicht tot, nein, alles gut, gleich bewegte es sich wieder... Lang genug hinsehen, nur lang genug warten und es wachte wieder auf. Es war nicht tot.

Ein anderer Gedanke drängte sich durch das Geflecht von Selbestbeschwichtigungen. Vielleicht war das Kind tot.

Geh hin, überzeug dich.
 

Nein, gleich wachte es wieder auf. Und wenn das geschah, sollte Anju nicht mehr da sein. Oder das Schwert. Ohne die Waffe war das Kind nur, was es war. Ein unbedrohliches, beschützenswertes Kind.
 

War es tot?
 

Anju war schwindelig. Sie räusperte sich. Sie musste sich zusammenreißen. Sie war Padawan. Sie war Teil des Jediordens. Der Tod gehörte zum Leben, ein Jedi akzeptierte das Ende. In dem kurzen Augenblick, vor dem letzten Herzschlag seines Lebens begrüßte der Jedi den neuen Zustand, in den sein Körper überging. Das Kind war auch Teil des Ordens gewesen. Was hieß „gewesen“? Anju musste zu ihm. Sie musste es herausfinden. Dann akzeptieren. Anju stand auf.
 

Die Augen starr auf das Ziel gerichtet schwankte die Padawan wie eine Betrunkene auf den Baumstamm zu. Neben dem bewegungslosen Körper sank sie auf die Knie herab. Griff an den zarten, dünnen Hals. Nichts. Keine Regung, kein Klopfen. Haut wie Wachs. Eklig warmes Wachs. Erschrocken zog Anju die Hand zurück. Sie sah dem Mädchen ins Gesicht. „Es tut mir leid.“
 

Der Klang der eigenen Stimme löste etwas in Anju. Eine Starre. Tränen rannen ihr aus den Augen. Anju fühlte sie rinnen. Sie fühlte ihr Herz schlagen, ihre Lungen schwellen. Sie nahm die Hand des Kindes fest in die eigene, hob sie an ihre Stirn und dachte mit aller Gewalt, während sie es flüsterte: „Es tut mir wirklich leid, wirklich leid...“
 

Das hätte nicht passieren dürfen.
 


 

Mit dem leichten Körper des Mädchens in den Armen traf Anju im Heilzimmer ein, der Krankenstation des Tempels. Sie ging einfach in den Raum und wartete dort stumm, bis die diensthabende Heilerin sie bemerkte. Sie sagte kein Wort zu ihr. Schließlich konnte sie es sich nichtmal selbst erklären.
 

Anju wusste noch immer nicht, wie das hatte passieren können. Obwohl sie sich manchmal bei dem Gedanken erwischte: die Macht war schuld. Ohne Rücksicht auf die Zerbrechlichkeit des kleinen Organismusses hatte sie ihn weggeschleudert. Rücksichtslos. Nur darauf bedacht, das eigene Leben zu schützen. Nein, Moment, das war Anju gewesen. Sie hatte ihr Leben schützen wollen. Sie hatte sich ihren Instinken überlassen. Wie ein Tier gehandelt. Nein, die Macht hatte den Schlag ausgeführt. Anju hatte sie nicht angewiesen.
 

Die Heilerin erhob sich von ihrem Platz hinter dem Schreibtisch, auf dem sich Protokolle von Untersuchungen stapelten. Der Tempel war voller Kinder. Kinder wurden oft krank. Das Heilzimmer war erst selten so leer gewesen wie in dieser Nacht.
 

Vermutlich spürte die Frau sofort, was Anju hier hereintrug. Einen Leichnam. Darum blieb sie wohl auch so ruhig. Wozu beeilen, im Angesicht des Todes. Der dauerte. Der ließ sich Zeit. Wie auch allen um ihn herum. Das Kind würde noch für den Rest seines Lebens tot sein. Absurder Gedanke.
 

Die Heilerin wies zur Seite, auf eines der vielen Krankenlager. „Leg sie dahin.“, sagte sie mit sanfter Stimme: „Vorsichtig.“ Anju tat, was man ihr gesagt hatte, obwohl sie sich fragte, warum vorsichtig? Sie bettete das Kind auf die weiche Matte, als ob es nur schlafen würde. „Gut.“, meinte die Heilerin: „Nun setz dich. Ich kümmer mich um das Kind.“ Anju setzte sich auf die nächste Matte, im Schneidersitz, und betrachtete von dort aus die regungslose Brust vor ihr. Ein Stück Fleisch. Mehr war ein toter Körper nicht. Keine Energie mehr, nur noch eine Ansammlung aus Rohstoffen.
 

Die Heilerin war neben die Leiche getreten. Sie kniete sich hin. Hob beide Hände über den Torso. Anjus schwache Stimme meinte: „Unnötig, sie ist tot. Nichts mehr da.“ „Schh.“, wies die Heilerin sie sanft an. Es begann zu brenzeln.
 

Anju sah seit einigen Jahren die Macht nicht mehr. Als Kind hatte sie sie gesehen. Wirken, in allem um sie. Doch der Eindruck war verblasst. Irgendwann war sich Anju nicht mehr sicher gewesen, das jemals wirklich gesehen zu haben. Doch nun sah sie es. Ein Glühen. In der Luft. Es wurde größer, deutlicher. Unter den offenen Handflächen der Heilerin. Es tastete nach dem Kind. Es schien zurückzuschrecken. Die Heilerin blickte erschrocken auf. „Dunkelheit!“
 

Es war witzig, dass Jedi ein so komplexes Konzept wie das Böse mit so etwas Simplem wie Dunkelheit gleichsetzten. Anju hatte nie Angst vor der Dunkelheit gehabt. Sie verstand nicht, was die mit für Jedi-Philosophie moralisch unvertretbaren Gedanken, Gefühlen und Taten zu tun haben sollte. Sicher, die Metapher, Erkenntnis und Wissen als Licht, Gefühle und Instinkt als Dunkelheit... Je länger Anju sich mit den Lehren des Tempels beschäftigte, desto unklarer schien die Grenze zu werden. Im Grunde schien da gar keine Grenze zu sein. Aber das gehörte so. Der Weg zur Erleuchtung war gepflastert mit Verwirrung und Kopfschmerzen, wie Jocasta Nu gern verkündete. Bei dem Streben nach Weisheit durfte man sich nicht von Unklarheiten abschrecken lassen, denn gerade hinter ihnen lagen die entscheidenden Einsichten.
 

Das Glühen wurde wieder stärker. Diesmal schlüpfte es durch die Haut in den leblosen Körper hinein. Füllte ihn an, ließ ihn selbst erstrahlen, mit einer Intensität, die Anju die Tränen in die Augen trieb. Wie ein Atemzug hob das Glühen die schmale Brust des Kindes, senkte sie wieder. Anju schreckte zusammen. Hoffnung keimte in ihr auf, doch Anju schob sie schnell zur Seite. Nein, sie durfte noch nicht hoffen, es könnte auch alles ganz anders sein als es wirkte. Sie starrte auf die sich hebende und senkende Brust. Sie wollte die Hand darauf legen. Ein Herz spüren. Ihre Hand hob sich wie von allein. Die Haut veränderte sich. Die Haut im Gesicht des Mädchens. Verlor den entrückten Glanz, das Wachs schien zu schmelzen und sich zur samtig weichen Oberfläche einer richtigen Haut zu wandeln. Wieder beweglich zu werden. Anju nahm die Hand des Mädchens. „Wie...“ Wieder wurde ihr schwindelig.
 

Das Glühen wurde schwächer. Anju keuchte erschrocken auf. „Nicht!“ Die Heilerin beruhigte sie, mit leiser Stimme: „Keine Sorge, alles ist gut.“ Doch es war schon zu spät. Anju war bereits hysterisch. Sie drückte fest die Hand des Kindes und brüllte: „Nicht! Sie darf nicht noch einmal sterben! Tu doch was, tu was!“ Die Heilerin tat was. Sie löste eine Hand vom Körper des Kindes, streckte sie gegen Anjus Stirn und ein dumpfer Schlag löschte das Bewusstsein der aufgeregten Padawan aus.

Im Schlaf

Das Licht pulsierte. Dunkelrotes, schmutziges Licht. Hässlich unstetes, zuckendes Licht. Der ganze Raum war voll mit dem Licht. Ein ebenso breiter wie hoher wie langer Raum, auf den ersten Blick perfekt kubisch. Doch etwas war falsch an ihm. Oder war es das Licht, das ihn falsch erscheinen ließ... Weil nie alle Wände gleichzeitig sichtbar waren. Jenseits des Lichts, im Flackern und den Verunreinigungen wohnte Schwärze. Die drängte. Als ob sie den ganzen Raum verbergen wollte, schien die Schwärze gegen das Licht anzukämpfen, stieß vor, wo der rötliche Schein schwächer wurde, und wich nur träge zurück, wenn das Rot zurückkehren wollte.
 

Manchmal war eine Gestalt sichtbar. Meistens nicht.
 

Dem Geist fiel sie erst nach langer Betrachtung auf. Doch, da war jemand. Eine humanoide Form. Ganz in Schwarz gekleidet, darum tat sich die Finsternis so leicht dabei, sie zu verschlucken. Manchmal würgte sie die Form hervor, überließ sie dem roten Glühen, hielt nur an einzelnen Stellen Kontakt. Da, wo sie ihre Schatten warf. Der Geist wagte sich näher.
 

Die Gestalt meinte: „Noch nicht.“ Der Geist fragte: „Wer bist du?“, doch die Gestalt beharrte: „Jetzt noch nicht. Ich fühle es noch nicht.“
 


 

Als Anju die Augen aufschlug, nur mühsam, mit aller Gewalt gegen das Blei ankämpfend, das jemand in ihre Lider gefüllt hat, war ihr erster visueller Eindruck ein Datenpad. Mit Ordnungscode. Auditiv begleitet von Meisterin Jocasta Nus alter, trockener, entschlossener Stimme: „Das hattest du falsch eingeordnet.“ Anju wollte lächeln. Höflich sein und sagen: „Das tut mir leid.“ Doch ihre Gesichtsmuskeln fühlten sich taub und geschwollen an und ihre Zunge wollte auch nicht richtig funktionieren. Meisterin Nu winkte ab. „Schon gut, mein Kind, ich dachte nur, vielleicht brauchst du Lesestoff. Ich wollte ja Blumen mitbringen, aber Meisterin Ashkenay hat das nicht gutgeheißen.“ „Blumen von Coruscant sind voller Keime und Ungeziefer!“, kam die Zusatzinformation von irgendwo weiter weg, vermutlich einem anderen Zimmer. Anjus Augen fielen wieder zu, gegen ihren Willen.
 

„Ist dir schonmal aufgefallen, wie sehr Ashkenay wie Arschgeweih klingt?“, hörte Anju ihre Meisterin leise anmerken. Wie bitte, was hatte diese alte, ehrenwerte Frau eben gesagt? Schlagartig öffneten sich Anjus Augen wieder. Sie musterte die Archivarin und wirkte dabei wohl irgendwie ermahnend – sie fühlte sich bloß entgeistert – denn Nu setzte ein unschuldiges Lächeln auf. „Was? Ich wollt es nur erwähnt haben. Es ist schön, wenn einem so kleine Details auffallen, beweist, dass der Verstand in der Gegenwart ruht.“ „Hat sie gerade bemerkt, dass mein Name wie Arschgeweih klingt?“, mischte sich die Stimme von weiter weg erneut ein, diesmal deutlich näher: „Dieses Bonmont bringt sich seit rund zehn Jahren. Ihr angeblicher Verstand ruht, aber nicht in der Gegenwart...“ Eine im Vergleich zu Nu nur unbedeutend jünger wirkende Frau trat in Anjus Gesichtsfeld, vermutlich Meisterin Ashkenay. Anju selbst kannte sie nur als die Heilerin. Einen Namen hatte sie noch nie zu ihr gehört.
 

Das Mädchen.

Anju wollte den Kopf drehen, um sich umzusehen, doch er bewegte sich nicht richtig. Schwankte nur etwas hin und her. Meisterin Ashkenay deutete den Versuch richtig. Besänftigend legte sie eine rauhe, warme Hand auf Anjus Unterarm. „Alles gut. Dem Kind geht es gut und dir geht es auch gut.“ „So gut es einem gehen kann...“, fügte Meisterin Nu hinzu: „...wenn einen eine Großmeisterin geistiger Gewalt ausknockt.“ „Sie war sehr aufgeregt.“, rechtfertigte die Heilerin sich, dem Ton nach zum wiederholten Mal in kurzer Zeit. Sie klang müde. Meisterin Nu lachte trocken auf. „Ha. Eine Ohrfeige und ein Schlückchen Schnaps wär wohl keine Option gewesen?“ „Nicht jeder hier versucht alles mit Alkohol zu lösen.“ Ob sich die beiden Frauen schon lang anfeindeten? Sie wirkten erstaunlich routiniert dabei. Doch Anju fühlte keine Abscheu in ihnen. In keiner von beiden. Sie amüsierten sich. Erstaunt bemerkte Anju, das Wortgefecht machte den alten Jedi-Meisterinnen diebisch Freude. Sie sah einen friedlichen, sonnengelben Fluss zwischen den beiden. Das Band zwischen ihnen. Nur für einen kurzen Moment, dann war es wieder weg. Doch Anju hatte es bereits registriert. Die Dicke und Wärme des Bandes brachte sie zum Lächeln. Endlich waren auch ihre Gesichtsmuskeln wieder aufgewacht.
 

Meisterin Nu bemerkte: „Wir scheinen das Kind zu belustigen.“ „Ein Glück.“, meinte Ashkenay: „Ich begann zu befürchten, wir strengen uns hier ganz umsonst an.“ „Sie lächelt generell nicht viel.“, erklärte Nu. Seltsame Aussage. Anju lächelte so gut wie immer, wenn Nu sie ansah. „Ein Griesgram also.“, stellte Ashkenay fest. „Eher Melancholiker.“, berichtigte Nu, und an Anju: „Darum hab ich dir auch ein besonders heiteres Werk mitgebracht. Es heißt: Freedon Nadds Fall.“

„Also, wenn das nicht heiter klingt... Aber Moment, das hast doch du geschrieben.“

„Ich hab einiges geschrieben, und in aller Bescheidenheit auch dieses Kleinod geballten Wissens.“

„Findest du keine freiwilligen Leser mehr, dass du es einem kranken Kind bringst, das nicht weglaufen kann?“

„Korrekt.“

Beide Frauen lachten.
 


 

„Eine kurze Zwischenfrage.“, unterbrach Meister Windu sie, als Anju in ihrer ausführlichen Erzählung zu der Stelle mit dem Holocron gekommen war: „Wurde keine Gestalt von dem Würfel ausgestrahlt?“ Nun, da es der Meister ansprach, fiel auch Anju auf, wodurch sich die Situation von allen ihren Vorstellungen eines solchen Geschehens abhob. Anju kannte es natürlich nur von Bildern, schließlich hatte niemand unter dem Rang eines Meisters Zugang zu diesen Speichermedien. Doch scheinbar baute ein Holocron, sobald man ihn aktivierte, das holografische Pendant zu jener Person auf, dessen Wissen in ihm gespeichert ist. Dieses Abbild sprach mit einem, nicht der Würfel selbst. Doch nachts, in der Übungshalle, war da keine holografische Projektion gewesen. Oder hatte sie etwas verborgen, hatte Anju sie bloß nicht sehen können?
 

Anju antwortete: „Nein, da war keine Gestalt. Die Box hat nur geglüht.“ Meister Windu rieb sich nachdenklich das Kinn. Doch sagte: „Gut, fahr fort.“
 

Anju stand exakt in der Mitte des Ratsaals, da, wo das Blumenornament am Boden seinen Blütenstaub hatte. Vier der zwölf amtierenden Jedi-Meister des hohen Rats waren anwesend. Mace Windu, Shaak Ti, Adi Gallia und Saesee Tiin. Alle Augen waren aufmerksam und forschend auf Anju gerichtet. Ob ihr das unangenehm auffiel? Sie konnte nicht umhin, nervös zwischen den lebenden Legenden um sich hin- und herzusehen. Obwohl ihr Meister Tiin bereits eingangs versichert hatte, sie brauche keine Angst zu haben. Doch er, in ihrem Alter und ihrem Zustand in so erlauchter Gesellschaft, wäre sicher auch unruhig gewesen. Anju schämte sich nicht wegen ihrer Unsicherheit. Unter vielen Ähms und Ähs und längeren Pausen erzählte sie auch den Rest der Vorkommnisse.
 

„Der Jüngling heißt Ada Har-Leki.“, informierte Meisterin Shaak Ti die anderen, nachdem Anjus stockender Vortrag endlich zu Ende war: „Ein Mensch von Coruscant, sie ist hier geboren worden. Mit drei hat Meister Ordoon sie in den Tempel gebracht. Nun ist sie sieben. Ihre Lehrer sind alle sehr zufrieden mit ihr, keiner hat von auffälligem Verhalten während der letzten Zeit berichtet.“ Wie respektvoll von den Meistern, Anju nicht gleich nach ihrer Erzählung wieder hinausgeschickt zu haben. Scheinbar waren sie bereit dazu, die Padawan an den bisherigen Erkenntnissen teilhaben zu lassen. Doch Anjus Beine waren noch schwach. Also setzte Anju sich, mitten in die dottergelbe Scheibe am Boden. Mit einem leichten Nicken in ihre Richtung signalisierte ihr Ti, dass die sonst inakzeptable Geste ausnahmsweise toleriert wurde. Sie fuhr fort: „Ada liegt noch immer in tiefem Schlaf, alle konsultierten Heiler bestätigen, dass man nicht sagen kann, wann und ob sie überhaupt wieder aufwachen wird. Eine Möglichkeit, an die in ihrem Kopf gespeicherten Erinnerungen zu kommen, sehe ich derzeit noch nicht, doch ich denke weiter darüber nach.“ Windu dankte ihr für den Bericht und wandte sich danach an Gallia. Die junge Corellianerin nahm den Ball auf und begann: „Auch nach gründlicher Durchsuchung des Übungssaals wurde nichts Ungewöhnliches entdeckt. Der Holocron, von dem Padawan Anju eben berichtet hat, muss also als verschwunden angesehen werden. Die Gefahr, die von ihm ausgeht, ist unabsehbar. Ich werde die Suche schrittweise ausweiten, dazu brauche ich zusätzliche Hilfskräfte.“ Windu nickte zustimmend. Gallia sprach weiter: „Wer das Programm in der Nacht gestartet hat, ist nicht verzeichnet. Es wurde um 2 Uhr 34 Standardzeit aktiviert und lief bis exakt 3 Uhr. Das Videomaterial um dieses Zeitfenster wird eben gesichtet und ausgewertet. Bisher sieht man nur Ada auf dem Weg von ihrem Quartier zum Übungssaal. Sie trägt dabei nichts bei sich, keinen Holocron, kein Lichtschwert.“ „Interessant.“, stellte Windu fest. „Dafür sieht man die anwesende Padawan Anju, rund drei Stunden vor Start des Programms, mit allen genannten Gegenständen von ihrem Quartier aus zur Übungshalle gehen und diese betreten.“, endete Gallia.
 

Keinen in dem Saal schien die Nachricht zu schockieren. Selbst Anju fühlte sich eigentümlich ruhig, als sie es hörte.



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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Von:  rikku1987
2014-07-05T14:41:50+00:00 05.07.2014 16:41
Oha das ist mal ein ding hat hier jemand eine gespaltene Persönlichkeit. Äußerst interessant
Von:  rikku1987
2014-07-03T03:39:53+00:00 03.07.2014 05:39
Endlich geht es weiter und gleich so gut
Von:  rikku1987
2014-07-03T03:39:53+00:00 03.07.2014 05:39
Endlich geht es weiter und gleich so gut
Von:  rikku1987
2013-10-10T23:36:18+00:00 11.10.2013 01:36
Wow einfach nur wow tolle geschichte toller schreibstill wow


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