Meeresflüstern von Coronet (Die Hungerspiele der Annie Cresta) ================================================================================ Kapitel 32: Auf weißen Schwingen -------------------------------- »Haar so seidig glatt, dass es glänzt wie unser zauberhafter Diamant Shine aus Distrikt Eins – das erreichen Sie nur mit GlossUp Boosting Serum! In nur sieben Anwendungen zu einem perfekten Ergebnis, Zufriedenheit garantiert. Werden Sie der Star in Ihrem Alltag! Führende Stylistinnen schwören auf GlossUp. Und für noch mehr Eindruck kombinieren Sie es jetzt gleich mit unserem neuen Stylingpuder, angereichert mit echtem Diamantenstaub direkt aus Distrikt Eins!   Drei, zwei, eins – meins! Die große Tributjagd – ab sofort nur bei dem Mercadore-Superstore deines Vertrauens! Sammel fünf Produktsticker und erhalte einen Blindbag mit einer limitierten Sammlerfigur! Worauf wartest du noch? 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In meiner Fantasie tun sich immer wieder Bilder von der zusammenstürzenden Arena auf. Mal werde ich von einem Stahlträger erschlagen, dann ist es die große Kachel mit der 70 drauf, die ich beim Landeanflug gesehen habe. Aramis hat angesichts dieser Bedenken nur mit den Schultern gezuckt und gesagt »die Spielmacher wissen schon, was sie tun«. Wie gern würde ich mit derselben unbekümmerten Einstellung durch die Arena spazieren ... Ich verkneife mir das Seufzen und bemühe mich lieber um einen zuversichtlichen Gesichtsausdruck. Für meinen Vater. Für den ich das alles hier überhaupt noch tue. Obwohl ich insgeheim hoffe, dass er im Krankenhaus nicht zuschauen kann. Er soll das hier nicht sehen. Genau wie Cyle. Sie sollen sich keine Sorge machen, weil ich die Karrieros jage – und sie sollen ebenso wenig Zeugen werden, wie ich meine Menschlichkeit verrate. Und was die Mentoren angeht ... die sind hoffentlich stolz. Immerhin bin ich noch nicht tot! Damit hätte ich selber am allerwenigsten gerechnet. Amber bestimmt auch nicht. Vielleicht nicht mal Finnick. Ich habe immer wieder versucht, den Gedanken an ihn zu verdrängen, und die Arena mit ihren Gefahren hat dabei geholfen, doch in diesem friedlichen Licht wird der Wunsch, noch einmal seine Stimme zu hören, stärker als je zuvor. Oder in seinen Armen gehalten zu werden, sein Herzschlag ganz nah an meinem ... Wie verrückt ist das eigentlich? Schließlich kenne ich ihn letztlich kaum. Irgendwie habe ich vor der Arena überhaupt nicht darüber nachgedacht, aber nun, da wir schweigend durch die Einöde wandere, erwischt mich die Erkenntnis mit voller Breitseite. Bei den Meeren, die meiste Zeit habe ich Finnick nicht mal leiden können! Wie kann er mir jetzt schon so wichtig sein? Weshalb kann ich mich so gut an seinen Geruch erinnern? Oder an die Art, wie seine Augen zwischen Trauer und Lachen changieren? Wieso weiß ich genau, wie seine Stimme klingen würde, wenn er jetzt zu mir sprechen könnte? Und warum zersplittert der Gedanke an ihn da draußen vor den Fernsehern mein Herz? Zum hundertsten oder womöglich auch tausendsten Mal schließe ich die Anhänger meiner Kette in die Faust. Tränen stechen mir in die Augenwinkel, doch ich schlucke sie herunter, indem ich mit den Lippen ein lautloses »Ich liebe dich« forme. Aramis schaut von der Seite herüber, sagt jedoch nichts dazu. Und so stapfen wir weiter durch das raschelnde Gras, das zwar grüner wird, aber immer noch trocken ist. Auch die traurig anmutenden Bäume werden nun dichter, sodass man fast von einem kleinen Wald sprechen könnte. Abgesehen davon sind wir allerdings ganz alleine auf weiter Flur. Es ist glatt langweilig – bis wir es hören. Den Knall. Die Kanone. Und direkt darauf das ... Krächzen? Flattern? Was ist das? Zeit für Panik bleibt nicht. Zusammen mit Aramis reiße ich die Waffe hoch. Doch niemand ist zu sehen. Weder lebend noch tot. Zumindest kein Mensch. Aus den Bäumen hingegen brechen dutzende schwarz-weiß gefiederte Vögel hervor. Wo waren die eben denn bitte? Wir können doch unmöglich all diese Tiere übersehen haben! Dafür sind die Äste viel zu kahl! In Abwehrhaltung erstarrt lausche ich dem Geflatter. Ausnahmsweise scheint es sich nicht um Mutationen des Kapitols zu handeln, denn die Vögel fliegen genauso erschreckt wie wir durcheinander. Von einem Angriff keine Spur. Lange dauert es nicht, da sinken sie irgendwo in der Ferne erneut auf die Ebene hinab. Von jetzt auf gleich kehrt die Stille zurück. Nicht ein Laut ist noch zu hören. Als wäre nie etwas gewesen. Rücken an Rücken mit mir keucht Aramis auf. »Scheiße man, mein Herz!« Ich japse zustimmend. Zittrig vom ganzen Adrenalin des Tages verlagere ich den Speer von einer Hand in die andere, aber die Ruhe bleibt vollkommen. Keine eiligen Schritte, Gejohle oder verdächtige Geräusche, die von näherkommenden Tributen warnen. Der Tod muss weiter entfernt passiert sein. Aramis lässt mit einem leisen Zischen die Spannung aus ihrem Bogen. »Heute ist echt ... besonders.« Als ich mich zu ihr umdrehe, hat sie die Augen geschlossen. Für einen Moment scheint sie mit den Gedanken woanders. Tief atmetet sie ein. »Noch zehn«, flüstert sie. »Wir sind ganz nah dran an den Top 8 Interviews ...« Daran habe ich schon ewig nicht mehr gedacht. Wen sie wohl bei mir daheim befragen würden? Meinen Vater bestimmt nicht. Vielleicht David? Nach unserem Familieninterview wäre seine Geschichte sicher ein gefundenes Fressen für das Kapitol ... Ich vertreibe den Gedanken rasch durch Kopfschütteln. »Glaubst du, die Karrieros sind für diesen Tod verantwortlich?«, frage ich Aramis stattdessen. Der Frieden verschwindet von ihren Gesichtszügen. »Bestimmt. Die Arena hat für heute genug Opfer gefordert, würd ich behaupten. Ich kann mir vorstellen, dass Shine und ihre Anhänger unerwartet über unsere Freunde aus den Außendistrikten gestolpert sind.« »Oder die, die noch übrig waren.« Nora. Zum ersten Mal seit ... keine Ahnung wie vielen Tagen denke ich an meine kurzzeitige Freundin aus dem Trainingscenter zurück. Ob sie zu den drei gestorbenen Tributen zählt? »Ich bin echt gespannt auf die Abendhymne heute«, spricht Aramis das aus, was ich denke. »Dauert auch nicht mehr lange, schätze ich.« Sie folgt meinem Blick gen Berge, die zusehends die Sonne verschlucken. »Vielleicht sollten wir lieber ein gutes Versteck suchen. Eins, das man auch verteidigen kann.« »Und etwas zu essen brauchen wir auch.« Ich merke erst jetzt, wie sehr mein Magen knurrt. Nachdem er die letzten Tage immer ausreichend gefüllt war, geht der Marsch heute direkt an die Kraftreserven. Der Gedanke an all unsere verlorenen Vorräte brennt in meinen Augenwinkeln. »Oh Annie ...« Aramis klingt ein bisschen wie Cece, wenn diese ihre Hände in die Hüften stemmt, um mit vorgeschobenem Kinn eine ihrer Belehrungen zum Besten zu geben. »Hier gibt’s doch nicht wirklich was Nahrhaftes. Und die Fische sind giftig, das weißte selber.« »Die schon, aber was ist mit den Vögeln?«, werfe ich kleinlaut ein. »Es kann nicht beides tödlich sein, das ist es nie.« Ich bin nicht stolz darauf, dass mir als erstes die unschuldigen Tiere einfallen – aber es ist wie daheim, eine andere Wahl haben wir kaum, wenn wir bei Kräften bleiben wollen. Doch Aramis sieht nicht überzeugt aus. »Und wenn schon, die sind viel zu schnell für den Bogen. Und weg.« »Ja, aber sie sind irgendwo dahinten gelandet. Wenn wir leise bleiben, können wir sie einholen und versuchen, sie vom Baum zu schießen.« »Wenn wir sie denn sehen. Die Viecher sind doch einfach aus dem Nichts aufgetaucht! Oder ist dir vorhin etwa was aufgefallen?« Ich verneine. »Aber da wussten wir auch noch nicht, dass sie da sind. Jetzt sind wir im Vorteil. Wir müssen nur acht geben.« Aramis gibt ein kleines Schnauben von sich. »Na schön«, sagt sie dennoch. Auf der Suche nach einem geeigneten Lagerplatz nehmen wir die Bäume genau ins Visier. Man möchte meinen, dass es einfach sein müsste, das Weiß im Gefieder der Tiere ausfindig zu machen. Die knorrigen Äste sind so dunkel, dass sie beinahe schwarz sind, und höchstens ein paar bemitleidenswerte graue Blätter hängen daran. Trotzdem dauert es bestimmt eine Stunde, ehe ich eine Regung wahrnehme. Eines muss man den Spielmachern lassen – sie haben die Vögel wirklich gut versteckt. Das erhärtet meinen Verdacht, dass sie essbar sind, nur noch mehr. Das Kapitol will es schließlich zu einer Herausforderung machen, an Nahrung zu gelangen. Aber niemals unmöglich. Mit einem Kopfnicken weise ich Aramis auf den Vogel hin, der sich an einen Baumstamm schmiegt, sodass seine weiße Unterseite nicht zu sehen ist. Nur seine Augen blinzeln dann und wann. Aramis zögert nicht. Sie legt an, zielt – und schießt daneben. Unser auserkorenes Opfer stößt einen lauten Warnruf aus und mit ihm schwingen sich sechs, sieben andere Tiere in die Lüfte. »Schieß weiter!«, zische ich, machtlos mit meinem Speer. Zum Glück hat Aramis bereits den nächsten Pfeil an der Sehne. Ich erkenne nicht, ob sie trifft. Erst als der letzte Vogel am Horizont verschwunden und der Köcher leer ist, atme ich aus und sehe mich um. Und tatsächlich – rücklings liegt unsere Beute im Gras. Große schwarze Knopfaugen starren vorwurfsvoll zu mir hoch, aber für Reue ist es zu spät. »Weißt du, was das für eine Art ist?«, frage ich Aramis und mache mich daran, die leeren Pfeile einzusammeln. Hauptsache, ich muss nicht länger als nötig den armen Vogel anschauen. Meine Verbündete zuckt mit den Achseln. »Ne. Nie gesehen. Kenn mich aber auch nicht so mit Federvieh aus.« Sie stupst den Leichnam vorsichtig an. »Sieht jedenfalls nicht sehr gefährlich aus.« »Dann ist gut.« Ich versuche mich an einem Lächeln und bin schockiert davon, wie leicht es mir fällt, den Tod des kleinen Vogels zu ignorieren. Wäre das der alten Annie auch gelungen? »Es wird bald dunkel«, unterbricht Aramis den neuerlichen Gedankenstrudel, der droht, mich mitzureißen. »Dann wird ein Feuer zu gefährlich. Wir sollten uns beeilen. Ich glaube, die Senke dahinten war ganz gut für ein Lager. Was besseres hab ich jedenfalls nicht gesehen.« Da ich in dieser Hinsicht weniger Erfahrung habe, stimme ich zu. Am neuen Lagerplatz angekommen trage ich dafür das nötige Holz zusammen, damit wir das Vogelfleisch garen können. Jetzt macht sich meine Zeit an der Station fürs Feuermachen endlich bezahlt, denn trotz der verlorenen Streichhölzer prasselt rasch ein kleines Lagerfeuer vor uns. Es hat glatt etwas Hypnotisierendes, den Zweigen dabei zuzusehen, wie sie knackend bersten und Fetttropfen Funken sprühen lassen. Wie ein Ballett, das winzige Flammenmenschen nur für uns aufführen ... Kauend sitze ich da und stelle mir vor, dass im Hintergrund eine fröhliche Geigenmelodie gespielt wird. Schneller und schneller tanzen die Lichter, in bester Distrikt-Vier-Tradition. Wenn es etwas zu feiern gibt, wirbeln wir daheim ähnlich wild durcheinander, sodass die ganzen Gassen und Plätze von Musik und Gelächter erfüllt sind. Ich fange leise an zu summen. Wenn das Feuer bloß nicht so warm wäre ... es ist schon heiß genug in der Arena. Unwohl rutsche ich ein Stück zurück, aber die Hitze lässt nicht nach. Im Gegenteil, sie scheint mir zu folgen. Für einen Augenblick schmunzle ich über den Gedanken. Dann bemerke ich den Rauch, der sich aus dem Gras ringelt. Direkt neben meinem Stiefel. Fluchend springe ich auf. »Aramis!« Meine Verbündete, ebenfalls in Tagträumen versunken, zuckt zusammen. »Das Feuer!«, brülle ich. »Verdammt –« Ein Blick genügt und Aramis ist auf den Beinen. »Wir müssen das löschen!« Beide treten wir auf den Brandherd ein. Staub und Asche wirbeln durcheinander, doch zu spät. Die ersten Flammen fressen sich längst an mehreren Stellen durch das trockene Gras weg von uns – in Richtung Bäume. Und sobald ein Feuer erlischt, entzünden die Funken neue Halme. In meinem Hinterkopf höre ich Nora den Trainer an der Wildfeuerstation fragen, weshalb es so wichtig ist, Steine um das Holz zu verteilen. Damit sich der Brand nicht ausbreitet. Meine Brust zieht sich zusammen. Bevor mich die Gefahr von meinem Speer trennt, packe ich ihn. Wild fuchtelnd versuche ich, mir die selbstgemachte Katastrophe so vom Leib zu halten. Vergeblich. Als würde das Feuer einem die Zunge rausstrecken, schlagen die Flammen noch höher aus. »Scheiße, scheiße, scheiße ...« »Verfickte Scheiße!«, bekräftigt Aramis. Sie reißt sich ihre Jacke vom Leib und drückt sie auf den Brand. Ebenfalls vergebens. Der dünne Stoff schmort in Sekundenschnelle zusammen. Mit einem Quieken wirft Aramis die Fetzen von sich. »Lauf!«, faucht sie in meine Richtung. »Aber –« »Kein Aber! Willst du sterben?« Ich starre auf die knorrigen Bäume. Deren Blätter rascheln gegeneinander wie der geröstete Seetang daheim am Hafen. Trocken wie die Wüste von Distrikt Fünf. Hinter mir springen die ersten Funken ein, zwei Meter in die Höhe. Ich presse die Lippen aufeinander. Das ist meine Schuld, alles meine Schuld – ich nicke Aramis zu. »Schnell!« Und so rennen wir zum zweiten Mal an diesem Tag um unser Leben. Blind durch die Bäume; Äste schlagen uns ins Gesicht, gegen Arme und Beine ... Ich stolpere über eine Wurzel. Reiße den Fuß frei. Laufe weiter. Immer weiter. Nur Aramis hinterher. Für mich gibt es nichts außer den roten Streifen auf ihrem Top. Sie sind mein Leuchtfeuer, mein Wegführer. Dort ist Sicherheit, verspreche ich meinem Körper bei jedem Schritt. Nur ein bisschen, ein Meter mehr. Gleich dahinten. Fast geschafft! Die Luft in meinen Lungen wird immer dünner. Ihr lautes Pfeifen klingelt mir in den Ohren wie die Ankunft eines Sponsorenfallschirms. Aber ich darf nicht aufgeben, noch nicht ... Das Rot von Aramis’ Top verschwimmt vor meinen Augen. So weit weg ... Ein Ruck geht durch mein Bein. Verflucht! Schon wieder eine Wurzel! Stöhnend hebe ich einen Fuß. Alles tut so weh ... warum nur sind meine Knie ausgerechnet jetzt wackliger als der Pudding im Kapitol? Ich schüttle den Knöchel – zumindest will ich das. Stattdessen spüre ich als Nächstes harte Erde an meiner Wange. Auf der Seite liegend ringe ich um Atem. Riecht es nach Rauch? Oder bilde ich mir das ein? Begleitet von stechenden Schmerzen hebe ich den Kopf ein Stück. Keine Flammen zu sehen. Doch der Himmel nicht weit von mir verschwindet unter dicken Wolken, deren Unterseite in der Dämmerung unheimlich glüht. Sogar das Knistern und Knacken von brechenden Ästen kann ich hören. Das ist gar nicht gut! Mithilfe meines Speers ziehe ich mich zurück auf die Füße. Wo ist Aramis? Ich sehe sie nicht mehr. Vor mir sind nur Bäume. Und neben mir. Hinter mir. Überall sind Bäume. Bäume und Rauch und die Flammen nähern sich prasselnd. Warum war ich nur so dumm? Warum nur bin ich jetzt noch so dumm? Ich muss weiter! Ich stütze mich auf den Speer, als wäre er eine Krücke. Besser langsam anstatt gar nicht, denk ich, Zähne zusammengebissen. Ein Fuß vor den anderen, dann merke ich gar nicht mehr, wie müde meine Muskeln sind ... Es knackt schon wieder zwischen den Bäumen. Ob sie im Fernsehen nun eine gefährliche, drängende Musik einspielen? Vielleicht ein elektronisches Stück? Reden Caesar und Claudius vor lauter Aufregung durcheinander? Flackern überall rote Warnanzeigen auf? Vergessen die Zuschauer in ihre Popcorneimer zu langen, weil ihre Herzen in einem Rhythmus mit meinem klopfen? So müssen sich die Heldinnen in den alten Büchern gefühlt haben, die ich als Kind am liebsten gelesen habe. Trotzdem würde ich wetten, dass man aus meiner Geschichte keinen Roman stricken kann. Wenn, dann wäre jemand anderes die Heldin, so wie – Shine. Shine Lavellan aus Distrikt Eins, die blonde Schönheit mit den Saphiraugen und dem bitterbösen Lächeln auf den zarten Lippen. Die Favoritin des Publikums. Die Anführerin der Karrieros. Die mir gegenübersteht. »Na, das ist aber eine schöne Überraschung. Hätte ja nicht gedacht, dass ich dich nochmal in einem Stück wiedersehe.« Ich lecke mir über die trockenen Lippen. Nein. Das kann unmöglich sein. Das muss eine Täuschung sein – der Rauch vernebelt bestimmt nur meine Gedanken! »Nett, dass du extra für mich ein Signalfeuer gemacht hast.« Shine gluckst über ihren eigenen Witz. Die Axt in ihrer Hand hängt locker an ihrer Seite, als hätte sie gar nicht vor, diese zu benutzen. Aber es sind ihre Augen, die ihre Wachsamkeit verraten. Sie durchbohren mich geradezu, kalt und hart wie der Diamant, mit dem sie so oft verglichen wurde. Meine Brust schmerzt schon wieder. Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass der Grund mein Herz ist, das viel zu schnell schlägt. Als wolle es davonfliegen. Stumm mustert Shine mich. Auf ihrer Axt klebt Blut. Getrocknetes Blut. Wie magnetisch angezogen starre ich darauf. Nur eine Frage hämmert durch meinen Kopf: Wem gehört es? Wem? Pon? Shine folgt meinem Blick. Ihr Mundwinkel windet sich zu einem Ausdruck, der zu grausam für ein Lächeln ist. »Hübsch, nicht? Ich sammle fleißig Andenken.« Automatisch schüttle ich den Kopf. Wo ist nur Aramis? Ist sie rechtzeitig entkommen? Und wo sind überhaupt die anderen Karrieros? Shine wird doch unmöglich alleine unterwegs sein! Ohne die Füße zu heben, weiche ich langsam zurück. So kann es nicht enden. So darf es nicht enden! Shine streichelt derweil über die Schneide ihrer Axt, den Blick irgendwo neben sich gerichtet, wo sie wahrscheinlich eine Kamera vermutet. »Meine gute Freundin hier freut sich schon darauf, Bekanntschaft mir dir zu machen. Diesmal entkommst du mir nicht, kleine Annie«, säuselt sie in einem gespielt sanften Ton. Bilder aus meinem ersten Albtraum in der Arena tauchen vor meinem inneren Auge auf. Ein toter Pon zu Shines Füßen. Und zu ihm gesellen sich weitere Opfer. Das Gesicht der kleinen Wyatt, bleich und blutleer. Lauter Tribute, deren Namen ich mittlerweile vergessen habe ... Wut lodert in mir auf. So wird es nicht enden! Ich richte den Speer auf Shine. Beine auseinander, Knie gebeugt – wie Amber und Floogs es mir gezeigt haben. »Unterschätz mich nur«, zische ich. Perlend erklingt Shines Lachen. »Du bist so süß!« Im selben Atemzug wirft sie die Axt. Gerade rechtzeitig ducke ich mich. Den Luftzug der Schneide knapp über meinem Haar fühle ich trotzdem. Dann höre ich den dumpfen Aufschlag der Waffe hinter mir. Die Arme weit ausgebreitet, zeigt Shine mir ihre leeren Hände. »Deine Chance. Na los, Annie. Ziel auf mich!« Das kann doch nur eine Falle sein. Bestimmt hat sie ein Messer im Ärmel verborgen. Was jetzt? »Glaubst du, deine Freunde werden dir den Rücken decken?«, frage ich. Das Zittern in meiner Stimme lässt sich nicht verbergen, aber lieber habe ich es da als in den Händen. Shine zuckt mit den Schultern. »Wer weiß? Vielleicht kommt mir ja dein niedlicher Pon zur Hilfe?« Ich schlucke. »Niemals.« »Ach ja?« Das ist nicht Shines Stimme. Sondern eine männliche. Mein Herz schrumpelt auf Rosinengröße. Ausgerechnet Floyd tritt ein paar Schritte entfernt von Shine zwischen den Bäumen hervor. Die zieht ihre Stirn kraus. »Das ist mein Opfer, kapiert?« »Ach ja? Sieht mir eher nach Teekränzchen aus.« Shine schnaubt. »Ist nicht jeder so ein uncharmanter Granitkopf wie du.« »Ach Kinder, streitet euch doch nicht!« Nun kommt auch noch Slay aus der Dunkelheit der aufsteigenden Nacht. Er besitzt doch glatt die Frechheit, mir zuzuzwinkern. »Teilen macht am meisten Spaß, nicht wahr? Ich hab mich schließlich schon lange drauf gefreut, Annie mal näherzukommen.« »Wollt ihr nicht vielleicht noch Maylin fragen, ob sie mich töten will?« Die Worte rutschen mir einfach so raus. Erschrocken beiße ich auf die Innenseite meiner Wange. Doch Slay grinst nur. »Willst du etwa nett sein und ihr endlich den ersten Kill schenken? Was für eine Verschwe-« Weiter kommt er nicht. Die Worte sterben auf seinen Lippen, zusammen mit dem Licht in seinen Augen. Das Letzte, was jemals aus Slays Mund entkommt, ist ein Schwall Blut. Er schafft es noch, auf die Pfeilspitze zu schauen, die aus seiner Brust ragt. Dann fällt er um. Sein Kanonenschlag vibriert dem Erdbeben gleich durch meine Knochen. Selbst Shine wird bleich. In Sekundenschnelle zieht sie ein Schwert hervor und weicht von der Leiche zurück. »Du Biest! Wer ist da?« Und lauter schreit sie: »Maylin! Beweg deinen Arsch her, verdammt noch mal!« Eine Reaktion lässt nicht lange auf sich warten. Aramis’ nächster Pfeil schlägt haarscharf neben Floyd in einen Baum ein. Leider ist damit auch ihre Position verraten. Nicht nur die Karrieros erkennen sie, sondern ich ebenso. Sie kauert hinter einem struppigen Busch, legt bereits neu an. Blutige Striemen ziehen sich über ihr Gesicht, aber in ihren Augen funkelt Entschlossenheit. Ich begreife nicht, woher sie die Kraft für das Grinsen nimmt. Floyd wendet sich ihr mit geballten Fäusten zu. »Mutig, aber dumm«, höhnt er. Aramis schießt erneut, doch er ist vorbereitet und weicht aus. Bevor sie es schafft, einen weiteren Pfeil zu ziehen, ist er über ihr. Ich sehe, wie Floyd ausholt – und tue es ihm unwillkürlich gleich. Ich reiße den Arm nach hinten, lockere den Griff um meinen Speer ... Mit einem Schlag des Schwerts zerteilt Floyd Aramis’ Bogen. »Mach sie fertig!«, johlt Shine. Aber Aramis gibt nicht auf. Selbst ohne Waffe zögert sie nicht, sich sofort auf Floyd zu stürzen. In einem Knäuel gehen die beiden zu Boden. Wenn ich doch nur ein klares Ziel hätte! Dann könnte ich den Speer werfen ... bestimmt ... ich bin schließlich gut darin ... ich könnte treffen, ihn töten ... Shine wendet sich wieder mir zu. »Und jetzt zu dir, kleine Schlampe. Diesmal bezahlst du!« Alles Zarte verschwindet aus ihrem Gesicht, als sie mit einem Schrei vorwärts stürmt. Gerade so gelingt es mir, den ersten Schlag ihres Schwerts abzuwehren. Die Griffstange meines Speers vibriert derart unter der Wucht, dass mir die Zähne aufeinanderklappern. Im Hintergrund keuchen Floyd und Aramis. Und plötzlich mischt sich auch noch der Himmel ein. Hundert Kanonen scheinen auf einmal zu feuern, danach rast eine Steinlawine den Berg hinab und zuletzt reißt das Himmelszelt auf wie die Erdspalten. Es blitzt. Für einen Moment ist es viel zu hell, dann herrscht tiefschwarze Nacht. Ich kneife die Augen zusammen. Lauernd umkreist Shine mich. »Wie lächerlich«, faucht sie. Ihr Blick zuckt zwischen Himmel und mir umher. »Jetzt greifen auch noch die Spielmacher ein, damit du überhaupt eine Chance gegen mich hast!« Herausfordernd grinst sie mich an, doch in mir sind keine Worte mehr. Schon gar nicht für sie. Ich warte nur. Auf den nächsten Blitz. Und dann schlage ich mit der flachen Kante des Speers zu. Gegen den Schwertgriff in ihrer Hand. Meine Gegnerin quiekt. Aber ich habe nur Augen für ihre Waffe. Zu meiner Überraschung liegt sie tatsächlich auf der Erde, ein Spiegel des wilden Himmels. Erste Tropfen fallen darauf. Und es ist kein Blut. Sondern Wasser. Regen. »Du – du!« Shine brüllt zusammen mit dem Donner. Ich verstehe kaum was, alleine der Zorn in ihren Augen ist genug, damit ich das Schwert wegtrete und wieder Abstand zwischen uns bringe. Der Wind wird stärker. Er zerrt meine Haare aus dem Zopf und treibt sie mir ins Gesicht. Weder das Knäuel aus Aramis und Floyd noch Shine kann ich so richtig ausmachen. Ein Umstand, den Shine dafür ausnutzt, mich erneut anzugreifen. Verzweifelt schlage ich nach ihr, erwische allerdings nur Luft. Inzwischen bloß mit blanken Fäusten tänzelt die Tributin vor mir, weicht meinen Hieben voller Leichtigkeit aus. Schnell wie Amber duckt sie sich; zielsicher wie Floogs tritt sie nach meinen Schwachstellen. Sie lässt mir keine Zeit für Gedanken. Oder Sorgen. Ich will nur noch leben. Überleben. Und dann höre ich Floyd. Er schreit lauter als aller Donner auf einmal. »JAAA!« Wieder wirbeln Shine und ich herum. Nur, dass dieses Mal ich überrascht keuche. Zu Floyds Füßen liegt Aramis. Reglos wie Slay. Arme und Beine stehen in einem komischen Winkel ab. Aber das ist nicht das Schlimmste. Sondern Floyds Schwert, das aus ihrer Brust ragt. Schwer atmend stützt er sich darauf ab und wischt sich den Dreck von der Schläfe. Ein roter Faden läuft aus seinem Mund und dennoch stößt er triumphierend eine Faust in die Luft. Ich blinzle. Ein Blitz erhellt die Szene. Aramis am Boden. Ihre Augen geschlossen. Das Blut in einer Pfütze um sie. Tot. Der Donner kehrt zurück. Diesmal ist alles laut und still zugleich. Ich höre weder den Schrei, der sich aus meinem Inneren schält, noch das Gewitter. In meinen Ohren ist nur Piepen, als würde ich daheim in Vier vor dem Fernseher sitzen und hätte eine schlechte Verbindung. Ich stolpere rückwärts. Weg von Shine, weg von Floyd – weg von Aramis Leiche. Alles in mir schreit danach, zu laufen. Besonders als ich eine weitere Regung unter den Bäumen wahrnehme. Nur wenige Meter von Floyd entfernt drückt Maylin sich an einen Stamm. Und neben ihr ... Ich ringe nach Luft wie ein Fisch an Land. Meine Füße bewegen sich keinen Schritt weiter. »Nein!« »Annie!« Sommersprossen. Ich sehe nur Sommersprossen auf einem vom Kinderspeck gezeichneten Gesicht, die ein paar unschuldige, himmelblaue Augen umrahmen. »Pon? Pon!« Shine lacht, zumindest reißt sie den Mund weit auf. Sie gestikuliert in Richtung der beiden Neuankömmlinge. Weist auf Aramis und Floyd, dann mich. Fordernd streckt sie eine Hand aus. »Na los May, gib mir dein Kama! Ich will es richtig zu Ende bringen!« Maylin packt ihre komisch gebogene Waffe fester. Sie sagt überhaupt nichts, sondern hält Pon nur mit einem Arm zurück. Und er ... er redet dafür umso schneller auf sie ein! Er zupft an ihrer Jacke, als wäre sie seine Freundin – »Pon!« Ich winke mit dem Speer, als könnte er mich dadurch besser verstehen. »Pon, lauf weg! Lauf!« Warum regt er sich nicht? Er trägt sogar einen Speer identisch zu meinem bei sich! Weshalb ist er hier? Und wieso verschwindet er nicht? Er sieht mich einfach nur an und ... schüttelt den Kopf? Er kann doch unmöglich Maylin vertrauen! »Bitte«, schreie ich noch einmal. Deute mit dem Speer in den dürftigen Wald hinter mich. Versuche ihm zu bedeuten, dass wir uns dort treffen sollen. Gleichzeitig zischt Maylin etwas und dann rennt er endlich. Mehr muss ich nicht wissen. Ich mache ebenso auf dem Absatz kehrt. Der einzig freie Weg ist der zurück, aber das ist besser als mich Shine zu stellen. Die bekommt ohnehin gerade andere Probleme, denn ich höre, wie Maylin sich weigert, ihre Waffe auszuhändigen. »Du kannst mich mal! Vielleicht habe ich ja bessere Pläne?« »Willst du dich mir etwa widersetzen?« »Du bist eine Tyrannin, Shine!« »Wenigstens leistet sie was, nicht so wie du«, mischt sich jetzt auch Floyd ein. Maylins nächste Antwort ist zu weit entfernt, um sie zu verstehen. Dankbar für jede Sekunde erkaufte Zeit fliege ich so schnell über die Wurzeln hinweg wie nie zuvor. Pon lebt. Pon ist frei! Ein neuer Blitz jagt den Himmel entlang. Auf sein grelles Licht folgt Dunkelheit und mit ihr kommt die Sintflut. Unbarmherziger Regen prasselt auf mich hinab. Hunderte kleine Kältenadeln piksen meinen Nacken und ich möchte gleichzeitig lachen und weinen. Oder schreien? Ausgerechnet die Arena rettet jetzt mein Leben! Und Aramis musste sterben ... Ein Schluchzer bricht aus mir frei. Gras und Bäume verschwimmen zu einer einzigen braunen Pfütze vor meinen Augen. Das ist alles so ungerecht! Warum sie? Warum ist das der Preis? Warum sie und Slay und nicht Maylin? Warum bin ich so elendig feige? Zitternd reibe ich mir das Gesicht, doch der Regen ist zu stark. Egal ob ich weine oder nicht, weder Pon noch der Weg sind zu sehen. Dafür verwandelt sich die bis eben so trockene Erde zu meinen Füßen in eine Schlammrutsche. Typisch. Kaum glaube ich die eine Gefahr gebannt, geschieht das nächste Unglück! »Dann bringt mich doch endlich um!«, brülle ich in den Weltuntergang hinein. »Beendet es!« Außer einem weiteren Blitzschlag passiert jedoch nichts. Wütend, ängstlich, erschöpft – ich weiß nicht, welches Gefühl es ist, das mich blindlings weiterstürmen lässt. Ich weiß nur, dass es sich verdient anfühlt, als der Schlamm unter mir wegrutscht. Anstatt mit den Armen zu rudern, lasse ich es einfach geschehen. Wie ein Stein falle ich. Schneller und schneller rolle ich einen Abhang hinab. Dann treffe ich auf etwas Hartes. Schon wieder verlässt die Luft meine Lungen. Vielleicht zuckt der nächste Blitz am Himmel in Wirklichkeit nur durch mein Blickfeld – auf ihn folgt jedenfalls endgültige Schwärze.     Die 70. Hungerspiele – Liveticker Dauer: 8 Tage, 10 Stunden, 06 Minuten || Gefallen: 16 || Am Leben: 8 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)