Puppenspieler von Niela_DeAhrel ([Mephisto x Rin x Yukio x Amaimon]) ================================================================================ Prolog: Vorhang auf ------------------- Puppenspieler Prolog: Vorhang auf Der Vorhang ist geschlossen Und Furcht raubt mir die Luft Wer wartet auf mein Kommen Mein Herz zerreißt die Brust Ich will euch alles geben Ich schenk euch meinen Traum Vorhang auf... (Unheilig, "Vorhang auf") Es war pink und auf dem Einband funkelten unzählige, kleine Herzchen und Sterne. Ein metallenes Schloss hielt das kleine Büchlein fest verschlossen und in goldenen Lettern prangte das Wort »Tagebuch« auf dem Buchdeckel. Man konnte gut und gerne behaupten, dass dieses Teil zwischen all den Papieren, Akten und Berichten, die sich auf Mephistos Schreibtisch türmten, unweigerlich das Augenmerk auf sich lenkte. Rin Okumura hatte es jedenfalls schon längst in seinen Bann gezogen. Nachdenklich neigte der Teenager seinen Kopf zur Seite und verschränkte die Arme vor der Brust. Sollte er...? Der Schulleiter hatte ihn vor gut vierzig Minuten bezüglich seines Hangs, im Unterricht einzunicken, zu sich bestellt. Nach einer kurzen Strafpredigt, die man nicht ernsthaft als solche bezeichnen konnte, wenn man sie mit den Rügen verglich, die er von dem Alten immer bekommen hatte, war Mephisto jedoch abberufen worden. Irgendwo in der Schule gab es wohl ein akutes Problem. Rin sollte derweil im Büro warten. Zunächst hatte sich der Teenager all den Schnickschnack angeschaut, den der Prinzipal in gläsernen Vitrinen ansehnlich ausgestellt hatte. Es handelte sich hauptsächlich um Modelkits, Gimmicks und Doujinshis. Rin rollte die Augen. Der Clown hatte eine merkwürdige Auffassung von japanischer Kultur und dem dazugehörigen Lebensstil. Kurz darauf hatte der Teenager jedoch das Tagebuch entdeckt und haderte seitdem mit sich selbst. Sein Gewissen verbot ihm, das Buch auch nur falsch anzusehen. Seine Neugier hingegen, machte keinen Hehl daraus, dass es ihn reizte herauszufinden, was darin niedergeschrieben stand. Sicherlich nur albernes, unnützes Zeug, aber es wäre sicherlich unterhaltsam, etwas mehr über Mephisto in Erfahrung zu bringen. Rins akzentuierten Ohren zuckten, als sie herannahende Schritte vernahmen und eine bekannte Stimme durch den Flur hallte. Mephisto! Ohne weiter darüber nachzudenken, schnappte sich der Teenager das Objekt seiner Begierde und schob es hastig in der Innentasche seines Schulblazers. Gerade rechtzeitig denn Sekunden später öffnete sich die Bürotür und der Schulleiter trat ein. »Viel Lärm um Nichts!«, scherzte der ältere Dämon und gluckste über seinen eigenen Scherz. »So, Okumura-kun, wie waren wir verblieben?« »Irgendwo zwischen einer Strafpredigt und deiner Schwärmerei für die Kunst des Ikebanas.« »Tatsächlich... nun dann hast du sicherlich begriffen, dass du nicht ständig im Unterricht einschlafen solltest. Deine schlechten Angewohnheiten gehen schließlich zurück auf mich, deinen Vormund, und ich habe ein gewisses Image zu wahren. Du kannst jetzt gehen.« Mit einer wegwerfende Handbewegung bedeutete der Schulleiter dem Teenager das Büro zu verlassen. Entrüstet schnaubte dieser. »Was, das ist alles? Da hättest du mich auch gleich entlassen können, dämlicher Clown!« Doch dieser ignorierte Rins Protest geflissentlich. Er hatte sich bereits wieder hinter seinen Schreibtisch geklemmt, überflog emsig seine Papiere und setzte unter einige seine Unterschrift, ohne noch einmal aufzublicken. Rin schüttelte fassungslos und genervt den Kopf, als er die Tür von außen hinter sich schloss.  Zeitgleich wanderte seine Hand über die kaum sichtbare Ausbuchtung an seiner Brust. Hoffentlich war es dieses Buch auch wert, dass er dreißig kostbare Minuten seiner Jugend mit sinnloser Warterei vergeudet hatte... ***TBC*** Kapitel 1: Puppenspieler ------------------------ ]Puppenspieler Kapitel 1: Puppenspieler Die Reise führt durch Wald und Täler. Über Brücken Berg und Land. Folgte Sternen Flut und Lichtern. Ist der Weg auch unbekannt[...] Irgendwann einmal Bin ich angekommen und bin zu Haus. Irgendwann einmal... (Unheilig, »Puppenspieler«) Rin saß auf seinem Bett und hatte sich anscheinend in ein dickes Grimoire vertieft. Tatsächlich las er heimlich in Mephistos kleinem, pinken Tagebuch, welches er vor den Augen seines Zwillingsbruders im Inneren des Schmökers verbarg. Dieser saß am Schreibtisch, brütete über seinem Lehrplan und warf nur gelegentlich einen kontrollierenden Blick zu zu seinem Bruder. Leider entpuppten sich die Einträge in dem Buch als alles andere als spannend. Offenbar hatte der Schulleiter die Funktion eines Tagebuchs mit einem Protokollheft verwechselt. Außer Tagesabläufen war darin jedenfalls nichts vermerkt. Nicht ein einziger Eintrag bot auch nur einen leichten Vorgeschmack auf Mephistos Geheimnisse, Wünsche oder Emotionen. Einzig die pinke Tinte und die Herzchen, die Mephisto anstelle von Punkten malte waren ein wenig faszinierend. Aber nur wenn man nicht sowieso schon längst die Meinung vertrat, dass der Dämon femininer war, als es für einen Mann angemessen wäre. Doch dafür brauchte man nicht dessen Tagebuch. Man musste nur einmal die Farben seiner Kleidung betrachten, um zu diesem Schluss zu gelangen. Trotz der eintönigen Einträge las der Teenager eifrig weiter. Irgendwo musste es einfach eine interessante Info für ihn geben. Außerdem konnte er sich so erfolgreich vor dem Lesen des langatmigen Sachtexts aus dem Grimoire drücken, den Ihnen Shura als Hausaufgabe aufs Auge gedrückt hatte. Nach 10-15 weiteren Einträgen verließ Rin jedoch die Zuversicht, noch irgendetwas Interessantes über den Direktor herauszufinden. Wofür besaß der Dämon ein Tagebuch, wenn er es nur fürs Protokollieren seiner Arbeit vergeudete? Genervt stöhnte der Teenager und ließ sich rückwärts in sein Kissen fallen. So machte die Sache doch überhaupt keinen Spaß! »Nii-san, hast du Probleme mit einem Textabschnitt? Das Buch ist recht schwer zu verstehen, oder?« »Kein Stück, es ist bloß stinklangweilig...«, erwiderte Rin unüberlegt. Dass er von Mephistos Tagebuch sprach, während Yukio das Grimoire meinte, merkte er erst einen Herzschlag später. Innerlich verfluchte er sich für diesen Ausrutscher, denn er wusste ganz genau, dass sein jüngerer Bruder jetzt nachhaken würde. »Langweilig? Aha..« Der Lehrer für Anti-Dämonen-Pharmakologie wurde hellhörig. Das Rin generell seine Hausaufgaben und Theorie an sich langweilig fand war nichts Neues. Doch, dass er den Sachtext aus dem alten Schmöker nicht als schwierig empfand, war anhand seiner gewaltigen Bildungslücken - vor allem in Wortwahl und Schrift - nahezu unvorstellbar. Zudem sprach der schuldbewusste Blick seines großen Bruders Bände. Genervt verengte Yukio seine Augen zu Schlitzen und erhob sich von seinem Platz um sich mit verschränkten Armen und strengem Blick vor Rin aufzubauen. »Liest du wieder heimlich Mangas, anstatt dich auf deine Hausaufgaben zu konzentrieren? Her damit!« Auffordernd streckte er seine Hand aus. Aufgebracht sprang er vom Bett und funkelte seinen jüngeren Bruder zornig an. »Ich lese keine Mangas! Und selbst wenn: Hier in unserem Zimmer bist du bloß mein kleiner Bruder und nicht mein Lehrer! Du kannst nicht einfach irgendetwas von mir einkassieren!« In seinem Zorn bemerkte er jedoch nicht, dass kurzzeitig winzige, blaue Flämmchen an seinem umherpeitschenden Schweif aufzüngelten, und flugs auf das Tagebuch übersprangen, was nun aufgeschlagen mitten im Bett lag. Yukio ignorierte den Tobsuchtsanfall seines großen Bruders geflissentlich und starrte für einige Sekunden auf das brennende Inferno, das sich vor ihm entfaltete. Dass es derart aggressiv loderte, war bislang nur einmal vorgekommen; bei seinem Kampf gegen Amaimon. Zu diesem Zeitpunkt war Rins Bewusstsein jedoch fast gänzlich von Satans Flammen verschlungen worden und hatte nichts mehr von seiner menschlichen Seite an die Oberfläche gelassen. Doch jetzt war er allerhöchstens hitzköpfig und verbohrt, nicht aber willenlos. Bevor er sich allerdings in weitere Überlegungen diesbezüglich vertiefte, hechtete Yukio geistesgegenwertig nach dem Feuerlöscher. Das hatte nun eindeutig Priorität. Rin hatte von dem Chaos noch nichts mitbekommen, als er aber den resoluten Blick seines jüngeren Bruders bemerkte, drehte er sich zu seinem Bett um und erstarrte vor Schreck. Mephistos Tagebuch brannte lichterloh! »Scheiße verdammt... mach was! Das Ding darf nicht abfack-!« Just in diesem Moment drückte der jüngere Zwilling den Auslöser am Feuerlöscher und weißes Pulver verteilte sich unkontrolliert halb auf dem Bett, halb auf dem Boden und, zu dessen Verdruss, auch halb auf Rin, der unglücklicherweise im Weg gestanden hatte. »-eln... ja danke auch, Brillenschlange!« Gereizt klopfte er sich das Pulver von Haaren, Haut und Kleidung. »Sei froh, dass ich dir überhaupt helfe. Sich wegen einer Kleinigkeit wie einem Manga so dermaßen aufzuregen,dass deine dämonische Seite erwacht, ist doch mehr als albern. Du hättest fast das ganze Jungenwohnheim niedergebrannt, ist dir das klar?!« Rin schnaubte und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust, bevor er sich murrend verteidigte: »Übertreiber! Erstens brennt ein ganzes Haus nicht so schnell ab und zweitens ist hier doch sowieso niemand außer uns! Aber damit das klar ist! Die Flammen hätten nicht erwachen sollen, so sauer war ich nicht! Ich weiß selbst nicht wie das so ausarten konnte! Muss an Mephistos Tagebuch liegen, oder so....« »Sir Pheles Tagebuch? Nii-San...« »Bevor du anfängst rumzumotzen, hilf mir lieber das vermaledeite Teil zu finden... auch wenn nichts Interessantes drin steht.« »Nii-san...!!! Was sagt dir das Wort Privatsphäre?!«, fragte Yukio entrüstet und schämte sich sofort für seinen Bruder. Er war ja viel von seinem Rin gewöhnt, aber so etwas hatte er ihm dann doch nicht zugetraut. »Scheiß auf Privatsphäre! Der Clown benimmt sich viel zu mysteriös; da kann es echt nicht schaden, mehr über ihn zu erfahren.« Der Mittelklasse-Exorzist seufzte resigniert und schob sich die Brille auf der Nase zurecht. Wahrscheinlich war es sowieso längst zu spät, seinem Bruder noch adäquates Benehmen beibringen zu wollen. Doch, noch bevor sich Yukio in Bewegung setzte, wurde ihm schlagartig schummerig und ein stechender Schmerz fuhr ihm durch den Leib. Keuchend hockte er sich hin und presste seine Hand gegen die Körperstelle, an der sich Leber und Milz befinden mussten. »Nii-San...« Aber Rin schien ebenso unter starken Schmerzen zu leiden, denn auch er sank zu Boden und er atmete viel zu heftig. »Verdammt... ist das eine Art Angriff...?« »Ich weiß nicht! Bislang ist mir e-ein derartiger Vorfall... noch nicht u-untergekommen!« Was war nur los mit ihnen? War es wirklich ein Angriff? Gab es Dämonen, die solche Fähigkeiten besaßen? Oder war es gar ein weiterer Dämonenkönig? Die Fragen blieben vorerst unbeantwortet. Denn bevor Yukio darüber nachdenken konnte, umfing ihn die Schwärze einer tiefen Ohnmacht. ***** Als Rin die Augen wieder aufschlug, spürte er, dass seine Gelenke schmerzten und er nicht länger auf dem Dielenboden in seinem Schlafzimmer lag... seine ausgetrocknete Kehle brannte und eine beißende Kälte kroch durch den Stoff seiner Kleidung. Mühsam rappelte er sich auf, ächzte aufgrund seiner steifen Glieder und hielt nach seinem Bruder Ausschau. Er hatte Mühe überhaupt etwas zu sehen, denn die Lichtverhältnisse waren miserabel. Doch er musste auch nicht lange suchen. Direkt neben ihm lag der Exorzist und rollte sich hustend auf den Rücken. Rin rappelte sich auf und bemerkte, dass er sich an das spärliche Licht außergewöhnlich schnell gewöhnt hatte. Mittlerweile konnte er seine Umgebung gut erkennen. Dennoch war er ratlos. Wo zum Geier, war er hier nur gelandet? Es wirkte wie eine Steinwüste... überall wehte Sand und Staub durch die Luft und zerklüftete Steine stießen wie groteske, spitze Fangzähne aus dem Untergrund durch die Erdoberfläche. Das matte, rötliche Licht tauchte die Szenerie in eine bedrohliche Atmosphäre und auch die kahlen Büsche und Bäume, erweckten den Anschein von Trostlosigkeit. Der beißende Gestank von Schwefel kroch ihm in die Nase und er musste sich zusammenreißen, um sich nicht an Ort und Stelle zu übergeben. »Wo sind wir hier...?« fragte Yukio neben ihm und kam nun ebenfalls auf die Beine. Auch er drehte sich nach allen Seiten, doch sein erstaunter Gesichtsausdruck wollte nicht weichen. »Wenn du es schon nicht weißt, woher soll ich es dann bitte wissen?« Die Zwillinge sahen sich an und auf beiden Gesichtern lag ein Hauch von Verzweiflung. Sie ahnten natürlich beide, wo sie hier gelandet waren, doch so recht wollten sie sich nicht eingestehen, dass dies Gehenna sein könnte. »Lass uns mal schauen, ob wir irgendwo einen Anhaltspunkt finden.« sprach Yukio schließlich und setzte sich in Bewegung. Rin wollte schon hinter ihm hertraben, als sie plötzlich zwei Gestalten bemerkten, die stramm durch den Sand vor ihnen marschierten. Umgehend versteckten sich die Zwillinge hinter einem großen Felsen und linsten im Verborgenen an ihm vorbei. Rin führte seine Hand zum Griff von Kurikara, um es im Notfall blitzschnell hervor zu ziehen, während Yukio seine beiden Feuerwaffen aus den Holstern zog und entsicherte. Ein Junge, etwa in ihrem Alter, mit dunkelviolettem Haar und einer frech abstehenden gezwirbelten Strähne mitten auf dem Haupt schritt an der Seite einer wunderschönen Frau, deren goldgelocktes Haar wie eine Kaskade über ihren Rücken fiel. Doch so schön die Frau auch war, Rins Blick glitt automatisch immer wieder zu dem Jungen. Er zog unweigerlich alle Aufmerksamkeit auf sich, wie ein Star im Rampenlicht. Dabei trug er nur ein unauffälliges bordeauxfarbenes Satinhemd, eine Krawatte mit schwarz-weißem Schachbrettmuster darauf und eine simple schwarze Anzugshose. Kleidung, die in diesem trostlosem Licht nicht halb so stark auffiel, wie das strahlend weiße Spitzenkleid der jungen Frau. Irgendetwas an dem Jungen wirkte so vertraut. War es vielleicht diese gewisse Ähnlichkeit mit dem Schulleiter, die Rins Aufmerksamkeit von der blonden Schönheit ablenkte? Der Halbdämon sprach laut aus, was ihn gerade beschäftigte: »Weißt du dieser Kerl da erinnert mich an...« »Sir Pheles!«, erwiderte der Jüngere wie aus der Pistole geschossen. »Wow, kannst du neuerdings Gedanken lesen? Wenn ja, bring mir bei, wie es funktioniert!« Yukio rollte mit den Augen und schüttelte ungeduldig den Kopf, während er sich den Ansatz seiner Nase mit Daumen und Zeigefinger massierte. »Ich kann natürlich keine Gedanken lesen. Das da vorne IST Sir Pheles. Schau ihn dir doch an! Die Haare, der Blick, die Statur, die Größe, ja selbst das rote Hemd! Er trägt es immer unter dem Blazer seiner Kleidung...« Rin warf seinem Bruder einen fragenden Blick zu. Grinsend stieß er ihn mit dem Ellenbogen in den Rippenbogen und konnte sich einen zweideutigen Kommentar nicht verkneifen: »Ich frage jetzt lieber nicht nach, was der Clown sonst noch so unter seinem Blazer alles trägt, hm?« »Diese latente Unterstellung habe ich jetzt geflissentlich überhört, Nii-San!«, fuhr Yukio auf. Seine Gesichtsfarbe hatte sich um ein paar Nuancen rötlicher verfärbt. Rin lachte, hielt sich dann aber die Hand vor den Mund. »Pscht, Yukio! Schluss mit den Blödeleien! Sonst hören sie uns noch.« Umgehend linste der Ältere um den Stein herum und starrte wie gebannt den Jungen an. Die starke Ähnlichkeit zum Schulleiter war definitiv vorhanden, doch ihm fehlten einige Aspekte, die ihn dann doch von Mephisto unterschieden. Zum einen war der Kerl da einfach viel zu jung, 15 oder 16 Jahre höchstens. Zum anderen fehlte dieser markante Ziegenbart. Und vor allem fehlte dieses kokette, verspielte Grinsen, das der Clown stets zur Schau trug. Dieser Kerl wirkte nahezu teilnahmslos... also eher so wie Amaimon. Es konnte sich also unmöglich um Mephisto handeln. Rin spitzte die Ohren und lauschte. Er musste sich stark konzentrieren, doch schließlich konnte er hören, was die zwei Personen miteinander besprachen. »...nicht so ein griesgrämiges Gesicht. Das macht dich hässlich!« »Sehr gut!« »Mephisto...«, knurrte die Frau ungehalten, doch sie kam nicht zu Wort. Rin stockte... Mephisto? War er es also wirklich? »Nein! Seid still! Ich will es nicht hören, Mutter!« fuhr der Junge auf und drehte sich mit gefletschten Zähnen zu der Frau um. Zornig schritt er vor ihr auf und ab, offensichtlich unentschlossen, ob er sie nun lieber anfallen wollte oder einfach weitergehen sollte. »Ich weiß, dass Dämonen sich nicht um ihre Brut kümmern, aber das was Ihr getan habt, ist selbst für unsereins schlichtweg unverzeihlich. Ihr habt zugelassen, dass er mir vor Euren Augen meine Würde und meinen Stolz raubt. Ihr habt nichts unternommen, als er... während er...« Der junge Dämon verstummte, blieb stehen und ballte die Fäuste so fest, dass kurz darauf sein eigenes Blut von seinen Fingern tropfte. Sein Körper zitterte vor Wut und sein Blick war gesenkt. Das Geräusch einer schallenden Ohrfeige durchschnitt die Luft wie eine knallende Peitsche. Rin und Yukio zuckten unweigerlich zusammen. „Du elende Missgeburt,“ schnarrte die Frau, „was ich mich doch für dich schäme!« Sie blickte ihren Spross aus eiskalten blauen Augen an und spuckte ihm verächtlich vor die Füße. Dann seufzte sie theatralisch und fuhr sich mit den Fingerspitzen genervt durch ihr langes Deckhaar. »Es sollte eine Ehre für dich sein, dass dein Vater dich und dein Antlitz so sehr liebt... aber stattdessen muss ich mir dein furchtbares Gejammer anhören... wenn es nach mir ginge, hätte ich dich längst in Stücke gerissen! Du bist kein Dämon, du bist eine Schande für unser respektables Geschlecht!« Sofort sank der junge Dämon vor ihr auf die Knie. Er zitterte nicht länger als er sich über die leicht angeschwollene Wange rieb. Ein irres Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab, als sich sein seine grasgrünen Pupillen wieder gen Boden richteten. Spitze Zähne blitzten messerscharf in seinem Mund auf, als sich das Lächeln zu einem breiten, grausamen Grinsen verzog. Nun endlich war die Ähnlichkeit zum Schulleiter der True Cross Akademie auf groteske Art und Weise unbestreitbar. Rin keuchte vor Entsetzen. »Ich hasse Euch! Oh, wie ich Euch zutiefst verabscheue! Noch seid Ihr stärker als ich, aber wartet nur. Eines Tages werde ich es Euch heimzahlen... ich werde in Assiah lernen Euch und Vater zu bekämpfen, auf die grausamste und schmerzvollste Manier, die ich mir ausmalen kann! Und Ihr, Mutter, Ihr werdet die Erste sein, an der ich diese Praktiken ausprobiere. Dann seid Ihr diejenige, die winselt und um Gnade fleht!« Die Dämonin schnaubte verächtlich. »Mach dir nichts vor! Keiner kommt nach Assiah, ohne das Gehenna Gate zu durchschreiten... wenn du also dorthin willst, dann musst du es deinem Vater erklären und der wird sein kleines, hübsches Spielzeug sicherlich nicht entwischen lassen, damit es in aller Seelenruhe seinen Untergang planen kann.« Erschüttert starrte Rin auf die Szenerie. Diese Frau dort, diese Dämonin... war Mephistos Mutter? Wie konnte sie ihn dann so hart behandeln? Und was war das mit Mephistos Vater? Hatte er es richtig interpretiert, dass Mephisto ebenfalls ein Sohn Satans war? Bevor er jedoch diese wirren Gedankengänge vertiefen konnte, kehrte das seltsame Gefühl von zuvor wieder - Schmerzen im Leib und diese ziehende Übelkeit. Auch Yukio neben ihm sah so aus, als durchlebe er erneut die gleiche Prozedur. Keuchend krallten sich die beiden Jungs an den Felsen. Doch diesmal dauerte es nicht halb so lang, bis die Zwillinge sich der Schwärze hingaben, die sie in eine tiefe Ohnmacht entführte. ********* Wieder kam Rin als erster zu sich. Hektisch rappelte er sich auf und schaute sich um, bevor er sich beruhigt auf die Bettkante fallen ließ. Sie befanden sich beide wieder in ihrem Zimmer. War das alles etwa nur ein Traum gewesen? Nein, dafür hatte es zu real gewirkt... und außerdem hätte er sich etwas so makaberes sicherlich nicht zusammenspinnen können, selbst wenn er gewollt hätte. Sein Blick richtete sich auf das aufgeschlagene, pinke Tagebuch neben sich. Entsetzt bemerkte er, wie sich die zuvor blank geglaubten Seiten mit blutroten Lettern füllten. Hastig überflog der Teenager die Textzeilen und sein Blick weitete sich. Alles, was er in dieser seltsamen Vision, wenn man es so nennen konnte, gesehen hatte, stand nun in Worten niedergeschrieben: Die exakten Dialoge, selbst die Handlungsabläufe, bis hin zu den Gedanken, des jungen Mephisto, die er nicht vernommen hatte: ... an diesem Tage beschloss ich, die legendäre geheime Pforte zu suchen. Ich würde nach Assiah gehen, koste es, was es wolle. Und wenn ich auf dem Weg dorthin verreckte, war es immer noch besser, als sich meinem Schicksal zu unterwerfen. Ich würde ein Exorzist werden, um zu lernen, Mutter und Vater... nein... Lilith und Satan zu vernichten! Yukio stand mittlerweile neben ihm und sah genauso entsetzt auf die Buchstaben, wie Rin es tat. »Sir Pheles muss sein Tagebuch mit einem zusätzlichen Siegel gesichert haben, das deine blauen Flammen aufgehoben hat. Offensichtlich ist dieses Tagebuch mit einem Zauber versehen, der die Erinnerungen von Sir Pheles haargenau so wieder gibt, wie er sie erlebt hat... und wir haben da gerade etwas aus seiner Vergangenheit erfahren, was wir nicht hätten sehen sollen, Nii-San.« Für einen andächtigen Augenblick schwieg der jüngere Zwilling, bevor er weitersprach: »Ich weiß noch nicht, wie ich damit umgehen soll... aber du musst ihm dieses Buch umgehend wieder zurückgeben.« »Was?! Nach der Erkenntnis, dass Mephisto einer unser Halbbrüder und ebenfalls ein Sohn Satans ist? Niemals! Denk nach, Yukio, damit haben wir ihn in der Hand! Und außerdem will ich mehr von ihm wissen... ! Das hier ist der Schlüssel zu all seinen Geheimnissen!« Yukios Gesichtsausdruck schien sich nicht zwischen Wut und Verblüffung entscheiden zu können. Schließlich jedoch entschied sich der Exorzist für eine wütende Strafpredigt: »Rin! Wie kannst du das überhaupt noch in Betracht ziehen, nach allem, was wir gesehen haben?! Das ist abartig!« Uh-oh... es war selten, dass Yukio seine höfliche, brüderliche Anrede für ihn fallen ließ und ihn direkt mit dem Vornamen ansprach. Es war nie ein gutes Zeichen. Schließlich schien er jedoch zu einer unerwarteten Erkenntnis gekommen zu sein. Denn er beruhigte sich schlagartig und betrachtete Rin abschätzend. »Nein warte... sag nicht du hast nicht verstanden, worüber sie gesprochen haben...?« »Nun, Mephisto war wegen irgendwas sauer, was sein Vater, also Satan getan hat... und seine Mutter hat sich wie ne Bitch verhalten ... uhm... und deshalb will Mephisto sie beide gepflegt in den Arsch treten... aber ansonsten, wüsste ich nicht, was es da noch Wichtiges gab...« Er hielt inne, als er Yukios fassungslosen Blick bemerkte. Offenbar war ihm doch irgendetwas Essentielles entgangen. »Natürlich... Subtexte sind für dein Erbsenhirn ein Fremdwort!« Der Jüngere warf die Hände in die Luft und stöhnte genervt. »Sei‘s drum... dann muss ich halt allein mit der Erkenntnis leben. Du wirst das Buch aber morgen zurückgeben und dich bei Sir Pheles dafür entschuldigen, dass du es an dich genommen hast. Verstanden?« »Verstanden...« grummelte der ältere Zwilling verärgert und kratzte sich nachdenklich den Hinterkopf... was zum Teufel waren denn Subtexte?! *******TBC******* Kapitel 2: Spiegelbild ---------------------- Puppenspieler Kapitel 2: Spiegelbild Manchmal kommst du mich besuchen Und erinnerst mich daran[...] Wenn du heute vor mir stehst Und ich in deine Augen seh, Macht alles Sinn. Denn ohne deinen Schmerz Hätte ich nie die Kraft gefunden, So zu sein, wie ich heute bin. (Unheilig, »Spiegelbild«) Erschöpft ließ sich Mephisto auf die, mit pinkfarbenem Brokat gepolsterte, Chaiselongue fallen und legte die Beine hoch. Die Erneuerung jedes einzelnen Siegels und Schutzzaubers, welche seine Schüler vor Übergriffen von Dämonen schützten, hatte ihn mehr Energie gekostet, als er sich eingestehen wollte. Heute Nacht würde eine Stunde Schlaf wahrscheinlich nicht ausreichen, um seine Reserven wieder aufzutanken. Mit einem Fingerschnipp wechselte er von seiner offiziellen Schulleiter-Kleidung in den sehr viel bequemeren Honey-Honey-Sisters-Yukata und kuschelte sich zufrieden in die großen, weichen Sofakissen. Seine Augen fielen schon fast automatisch zu, als er aus dem Augenwinkel heraus den kleinen, grünen Hamster bemerkte, der von der Rückenlehne des Möbelstücks auf seinen Schoß hinabrutschte und dort zufrieden an einem Cashewkern knabberte. Mit einem sanften Lächeln auf den Lippen kraulte der Schulleiter über das Köpfchen des possierlichen Tieres. Der Hamster schlang die Reste des Kerns hinunter und strich sich reinlich die letzten Krümel von der Schnute, bevor er mit einem Ploff in seine menschlich anmutende Gestalt wechselte und sich eng an Mephistos Brust schmiegte. Offensichtlich genoss der Erdkönig die Aufmerksamkeit, die ihm sein großer Bruder entgegenbrachte, auch wenn sein stumpfer Blick und monotoner Tonfall keinerlei Emotionen an die Oberfläche trug. »Endlich bist du wieder da, Aniue.« Amaimon schlang begrüßend die Arme um den Oberkörper des Schulleiters, während dieser ihm mit der rechten Hand durch das weiche, grüne Haar streichelte. »Unser kleiner Bruder hat dein Tagebuch gefunden und mitgenommen.« Mephistos Grinsen verbreiterte sich. »So? Sehr schön... dann verläuft soweit alles nach Plan.« Amaimons spitze, krallenartige Fingernägel fuhren sanft den Nacken des älteren Dämons auf und ab. Er fühlte die Gänsehaut des Anderen und bemerkte, dass sein Körperduft deutlich pheromonlastiger wurde. Als Geschöpf des Erdelements war Amaimons Geruchssinn noch um einiges ausgeprägter als bei anderen Dämonen – dafür konnte er nicht so weit sehen wie zum Beispiel der König der Fliegen, Beelzebub. Er liebte Mephistos Aroma: Eine Komposition aus Bergamotte, Sandelholz und Zimt - ebenso sinnlich und betörend wie sein großer Bruder schön war. Der Erdkönig seufzte wohlig als er tief durch die Nase einatmete. Er hätte ewig auf ihm liegen und seinen Duft inhalieren können. Doch beschäftigte ihn ein quälender Gedanke: »Warum?« »Huh? Sprich bitte in ganzen Sätzen mit mir, Otouto. Ich habe nämlich keine Ahnung, was du mir sagen möchtest.« Nervös kaute Amaimon auf seinem Daumennagel. Er traute sich kaum diese Frage zu stellen, so sehr sie ihn auch beschäftigte. Das Thema überhaupt auch nur anzuschneiden, war so lange ein absolutes Tabu gewesen. Er konnte gar nicht an einer Hand abzählen, wie oft sein großer Bruder ihn deswegen angefahren oder - was er persönlich für noch schlimmer hielt – ihn mit seinem eiskalten Blick und Schweigen gestraft hatte. Der Erdkönig seufzte. Er hatte bereits den ersten Schritt gewagt, da konnte er nun schlecht kneifen. Mephisto würde jetzt ohnehin so lange nachhaken, bis er mit der Sprache herausrückte. »Warum erlaubst du Okumura Rin, dass er in unserer Vergangenheit rumwühlt? Macht es dir nichts aus?« Unmittelbar hörten Mephistos Streicheleinheiten auf und Amaimon fürchtete schon, dass er einen Sturm heraufbeschworen hatte. Doch der Schulleiter blieb gelassen. Er war lediglich erstaunt über die Frage. Amaimon hatte gelernt, dieses Thema zu umgehen. Dass er es nun so geradeheraus ansprach zeigte ihm, dass sich sein jüngerer Bruder mehr um ihn sorgte, als ihm bewusst war. »Du möchtest meine Intention erfragen, richtig? Nun, ich verrate meine Motive nicht, bevor sich der letzte Vorhang schließt. Du wirst schon sehen, was ich bezweckte, wenn sich mein Plan entfaltet. Lass dir versichert sein, es ist die Mühe Wert. Außerdem habe ich mit meiner Vergangenheit mittlerweile abgeschlossen. Auch wenn es nichts an der Tatsache ändert, dass ich Satan nach wie vor vernichten will und einen weiten Bogen um Gehenna machen werde. Wie steht es mit dir... macht es dir etwas aus?« Dass Amaimon über diese Frage erstaunt war, sah man ihm an den weit aufgerissenen Augen an. Seit wann interessierte es Aniue, ob ihm irgendetwas missfiel? Normalerweise spielten seine Meinung und seine Gefühle in Mephistos Plänen nur eine untergeordnete Rolle. Aniue sagte, was er zu tun hatte, und er tat es, ohne sich zu beklagen. So war es schon immer gewesen, so würde es immer bleiben. Langsam richtete sich der Erdkönig auf und schaute argwöhnisch in die Augen seines Bruders, doch außer dem üblichen Schalk war darin nichts zu entdecken - das perfekte Pokerface. Dennoch fühlte er sich versunken in seinen tiefschwarzen schlitzförmigen Pupillen. Mephisto war der Einzige, von Satans Söhnen, der keine blauen Augen hatte, sondern diese satte, grasgrüne Iris. Und er hatte diese Art von Schönheit an sich, die einen die Welt um sich herum vergessen ließ. Unbewusst fuhr Amaimons Hand über Mephistos Wange und strich sanft über die zarte Haut. Das Gesicht des Schulleiters schien so makellos, wie das einer kostbaren Porzellanpuppe. Viele unterschätzen daher die Stärke des Dämons, doch das war ein fataler Trugschluss, der schon vielen das Leben gekostet hatte. Dass Mephisto ein meisterhafter Stratege mit eiskaltem Kalkül war, machte ihn, gepaart mit diesem Aussehen, nur noch bedrohlicher. Doch auch er konnte Satan nicht das Wasser reichen. Und vielleicht war dies einer der Gründe, warum der Sohn Liliths sich so stoisch dagegen wehrte, sich dem König der Dämonen zu unterwerfen. Ein kokettes Lächeln huschte über die Gesichtszüge des Schulleiters. Er kannte den gierigen Blick, mit dem Amaimon ihn bedachte, nur zu gut. Doch so schön Mephisto auf andere wirken mochte, er selbst hasste sein betörendes Äußeres– das Erbe seiner Abstammung. Jedes mal wenn er in den Spiegel sah, erschrak er regelrecht über die Feinheit seiner androgynen Gesichtszüge, die Fülle seiner pinken Lippen und die hagere, viel zu feminin geschnittene Statur. Allerdings musste er auch eingestehen, dass sich sein Körper schon oft genug hier in Assiah als nützlich erwiesen hatte, wenn er ihn gezielt einsetzte. Er wäre sicherlich immer noch eine No-Name-Nummer im True Cross Orden, wenn er nicht das ein oder andere hochrangige Ordensmitglied im Vatikan mit seinen Reizen bezirzt hätte, um es im Anschluss daran damit zu erpressen. »Nein, mich stört es nicht.«, holte Amaimon ihn schließlich aus seinen Gedanken in die Realität zurück. »Aber ich habe auch kein Problem damit, dass Vater mich gelegentlich zur körperlichen Befriedigung nutzt... es beschäftigt mich zumindest eine Weile. Gehenna ist ja leider nicht sonderlich aufregend für einen so starken Dämon wie mich.« Mephisto gluckste erheitert über die Nonchalance mit der sein jüngerer Bruder über das Thema körperlichen Missbrauch sprach. Jeder Mensch hätte entsetzt über dieser Aussage die Hände über den Kopf zusammen geschlagen, doch für Dämonen war Sex, neben dem Aspekt der Befriedigung, auch eine Art, schwächere Dämonen zu unterwerfen und sie gefügig zu machen – vergleichbar vielleicht mit Rangordnungskämpfen in der Tierwelt. Amaimon hatte kein Problem damit, dass es stärkere Dämonen als ihn gab... im Gegenteil, er entwickelte sogar eine gewisse Faszination für solche. Zum Beispiel war er gnadenlos besessen von Satans blauen Flammen. Mephisto hingegen scheute vor irgendwem zu Kreuze zu kriechen. Er hatte einen stark ausgeprägten Stolz und war lieber sein eigener Boss, als diese Rolle jemand anderem zu gewähren. Sich dominieren zu lassen kam überhaupt nicht in Frage für ihn, es sei denn er ließ es willentlich zu. »Ich halte nun einmal am liebsten selbst die Fäden in der Hand.« Der Schulleiter umfasste Amaimons Krawatte und zog den jüngeren Dämon zu sich herab, bis sich ihre Lippen fast berührten. »Fühl dich also privilegiert, Otouto, dass ich deine wilde Leidenschaft gelegentlich zu schätzen weiß. Nun nimm dir schon, was dir zusteht. Ich bin ganz dein.«, hauchte er gierig und erntete ein erregtes Stöhnen. Der Erdkönig ließ sich nicht zweimal bitten. Kaum waren die verführerischen Worte ausgesprochen, fiel er über seinen großen Bruder her, wie ein Rudel ausgehungerter Wölfe über ein Stück Fleisch. ***-***-***-*** Wie er es seinem jüngeren Bruder versprochen hatte, hatte sich Rin am nächsten Tag so früh, wie es ihm möglich war, auf den Weg zum Faust Anwesen gemacht – in seinem Fall die Mittagspause, da er wie üblich verschlafen hatte. Ihm war mulmig zumute, als er mit dem pinken Tagebuch in der Hand vor Mephistos Bürotür stand. Wie der Andere wohl auf seine Tat regieren würde? Sicherlich, Mephisto gab sich gern als lockerer, stets gut gelaunter Spaßvogel aus, doch spätestens seit der Erinnerungssequenz wusste Rin, dass der werte Herr auch ganz anders konnte. Was also würde der Schulleiter mit ihm anstellen? Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch einfach davon zu laufen und dem Drang zu seiner eigenen Tat zu stehen und sich dafür zu entschuldigen, schritt Rin vor der Tür auf und ab. Gelegentlich hob er die Hand, doch dann traute er sich doch nicht zu klopfen und ließ sie wieder sinken. Seufzend betrachtete er den Augenkrebserregenden Einband. Warum hatte er dieses Teil überhaupt an sich genommen? Warum hatten seine doofen blauen Flammen, dass magische Siegel nur gebrochen? Und warum, zum Teufel noch eins, war das alles nicht viel einfacher? Zudem beschäftigte ihn immer noch das Thema Subtexte. In der Schule hatte er sich zumindest die Bedeutung des Wortes von Bon, Shima und Konekomaru erklären lassen. Die drei Jungs aus Kyoto hatten ihm eine Definition nach der Anderen um die Ohren geknallt und es hatte gerade Bon sehr viele Nerven gekostet, dem Halbdämon den Sinngehalt in einfachen Worten nachvollziehbar zu erklären, bis dieser es letztendlich begriffen hatte. Subtext umfasst in einem Begriff, dasjenige was »eigentlich« gesagt werden soll beziehungsweise wird. Es ist eine Art zusätzliche Interpretation einer expliziten Aussage oder eines Geschehens. In einem Text wäre es demnach als »Zwischen den Zeilen Lesen« zu bezeichnen. Im Falle von Mephistos Vergangenheitssequenz bedeutete es, dass es zusätzlich zu dem tatsächlich Passierten auch einen versteckten, bloß angedeuteten Umstand gab, der sich dem Betrachter nicht auf Anhieb erschloss, sondern durch genaues zuhören und -sehen hineininterpretiert werden musste. Rin hatte lange überlegt, was Yukio als Subtext in diesem Zusammenhang gemeint haben könnte, doch schließlich war er zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis gekommen. Offensichtlich war er zu dumm, um irgendeinen verborgenen Sachverhalt aus der gezeigten Sequenz herauszufiltern. Das wurmte ihn. Er wollte schließlich auch mehr über seinen mysteriösen Halbbruder in Erfahrung bringen, damit er ihm nicht ganz auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Die ganze Grübelei hatte ihm jedoch sein akutes Problem nicht abgenommen. So straffte der Teenager die Schultern, klopfte an das massive Eichenholz der Bürotür und wartete. Aus dem Inneren war kein einziger Laut zu vernehmen. Rin versuchte es noch einmal, indem er noch energischer und fester klopfte, doch auch diesmal bat ihn niemand herein oder öffnete die Tür. Versuchsweise drehte Rin am goldenen Knauf und, siehe da, die Bürotür war nicht abgeschlossen. Wie unaufmerksam der Schulleiter doch war. Machte er sich nie Sorgen, dass man ihm seine Unterlagen entwendete? Oder andere persönliche Besitztümer... Trotz Mephistos Abwesenheit betrat der Halbdämon das Büro vorsichtig, huschte hinüber zum opulenten Schreibtisch und schob das pinke Tagebuch zwischen ein paar Kladden und Akten, die sich auf der Arbeitsfläche stapelten. Dann stahl er sich blitzschnell davon, ohne zu bemerken, dass zwei purpurfarbene Knopfaugen jede seiner Bewegungen verfolgt hatten. Als Rin aus dem Anwesen stolpert, war er nicht nur außer Atem sondern auch unsäglich erleichtert. Er hatte sich gerade eine Menge Ärger erspart und war um eine Entschuldigung herum gekommen. Auch wenn sein Gewissen ihn innerlich für seine Feigheit tadelte. Er gab sich noch ein wenig Zeit, sich von seiner übereilten Flucht zu erholen, dann trabte er schnurstracks zurück zum Schulgebäude. Die Mittagspause war nun fast vorbei und sein knurrender Magen wies ihn dezent darauf hin, dass er doch noch etwas essen sollte, bevor der Nachmittagsunterricht begann. So setzte er sich zehn Minuten später auf seinen angestammten Platz unter dem großen Sakura-Baum auf dem Pausenhof. Just in dem Moment, in dem er seine vorbereitete Bento-Box endlich im Chaos seiner Umhängetasche ausfindig gemacht hatte, übermannte ihn wohlbekanntes, Übelkeit erregendes Gefühl und stechender Schmerz. »Wahhh... verdammt... das kann doch jetzt nicht... ich hab doch...!“ fluchte der Teenager unglücklich und kippte zur Seite weg, als er zum wiederholten Male in eine Ohnmacht gezogen wurde. ~*~ TBC ~*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)