Alles nochmal? von Teelicht1 ================================================================================ Kapitel 2: Das gleiche Leben? ----------------------------- Als Light wieder etwas sehen konnte, stand er mitten in seinem alten Kinderzimmer und blickte sich lächelnd um. Einen Moment lang musste er tief durchatmen und sich klar machen, dass er tatsächlich wieder am Leben war, und dass er wahrhaftig hier stand, in seinem alten Zimmer, das in den letzten Jahren seines Lebens nur noch als Abstellkammer gedient und voller Kisten gestanden hatte. Die Kisten waren nun verschwunden und stattdessen sah alles wieder genauso aus, wie damals, bevor er ausgezogen war, um mit Misa zusammen zu ziehen (Die Erinnerung daran ließ ihn kurz innerlich erschaudern). Allerdings sah es nicht ganz genauso aus. Aus den Augenwinkeln konnte er erkennen, dass im Regal die Schulbücher für die Oberstufe fehlten und an ihrer Stelle Bücher der unteren Jahrgangsstufen platziert waren. Ihn wunderte dies jedoch nicht, da er schließlich schon damit gerechnet hatte, jünger zu sein als zuvor. Wo er schon mal dabei war, wie alt war er denn nun überhaupt? Sein Blick fiel als erstes auf den Kalender, der an seiner Wand hing. Die Seite, die aufgeschlagen war, zeigte den Monat April im Jahr 2000 an. 2000, das bedeutete, dass er jetzt gerade vierzehn Jahre alt war. Das hieß wiederum, er würde noch etwas mehr als drei Jahre warten müssen, bis Ryuk das Death Note „ausversehen“ in die Menschenwelt fallen lassen würde. Drei lange Jahre…. „Light!“, hörte er auf einmal seine Mutter von unten hoch rufen. „Musst du nicht langsam zur Schule?“ „Ja! Ich bin schon so gut wie unterwegs!“, antwortete er ihr wie aus Reflex und zuckte im selben Moment beim Hören seiner eigenen Stimme zusammen, die einen ungewohnten und irgendwie unangenehmen Klang hatte. Das klang ganz nach…Urgh….Stimmbruch…. Na danke, dass er das jetzt auch nochmal erleben durfte. Im Vertrauen darauf, dass er in seinem Ordnungswahn wie immer die Schultasche schon am Abend zuvor gepackt hatte, griff er einfach nach ihr und seiner Jacke und verließ das Zimmer. „Bis später!“, rief er noch seiner Mutter und seiner Schwester, die am Frühstückstisch saßen, zu und machte sich auf den Weg. Er wollte erst seinen altgewohnten Gang, die Straße runter in Richtung seiner alten Schule nehmen, stockte jedoch, als ihm ein etwas einfiel. Er war vierzehn. Das bedeutete gleichsam, dass er noch gar nicht in die Oberstufe ging, sondern in die Mittelschule musste. Light seufzte und drehte sich um, um den richtigen Weg zu seiner „neuen“ Schule einzuschlagen. Oh Gott, würde er den ganzen Mist etwa wieder durchnehmen müssen? Als die Schule nach zehn Minuten in sein Blickfeld kam, überlegte er sich, ob er wirklich hingehen und diesen langweiligen Blödsinn ertragen sollte. Was brachte es, sich dort abzuquälen, wenn er alles sowieso schon konnte (abgesehen davon, dass er es damals auch schon gekonnt hatte)? Allerdings war Schwänzen leider ziemlich problematisch, da dies seinen sorgsam gepflegten Ruf als Musterschüler und perfekten Sohn schädigen würde. Seine Abwesenheit würde nach spätestens einer Woche unangenehme Fragen aufwerfen und somit den ganzen Schein, für dessen Erhaltung er vorher so sorgsam gearbeitet hatte, zunichtemachen. Anscheinend blieb ihm also nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen und die großen Tore der Schule zu durchschreiten. Er erinnerte sich noch gut daran, wo sich seine Klasse befand und wo sein Sitzplatz war und auf dem Weg dorthin begrüßte er diverse Freunde, auf die selbe Art, mit der er es damals immer gemacht hatte. Er kannte noch alle ihre Namen, auch wenn es ihm eigentlich egal war, und sein höfliches Lächeln und seine lockeren Witze wirkten noch genauso ehrlich und freundlich wie früher und waren doch genauso falsch und oberflächlich, wie sie es auch in seiner früheren Existenz schon gewesen waren. „Hey Light! Kommst du denn jetzt am Wochenende mit uns mit ins Kino?“, fragte einer seiner Freunde und winkte ihm zu. „Ja, klar, warum nicht?“, antwortete er sofort, setzte sich an seinen Platz und hielt ein Augenrollen zurück. Ganz toll, jetzt durfte er den Babysitter spielen für Kinder, die schon damals, als er im selben Alter gewesen war, intellektuell nicht auf seiner Stufe gestanden hatten. Die erste Stunde begann mit Mathematik und als die Mathelehrerin begann irgendwelche Formeln an der Tafel zu notieren, musste Light ein Gähnen unterdrücken. Quadratische Gleichungen…. Die hatte er früher auch schon gekonnt, bevor die Lehrerin sie erläutert hatte und jetzt musste er dieselbe kindliche Erklärung haargenau nochmal hören. Dachte die Frau etwa, dass sie mit Dreijährigen reden würde? Er schlug sein Schulheft auf und tat so, als würde er fleißig wie alle anderen mitschreiben. Nach einiger Zeit kontrollierte er die Uhrzeit auf seinem Handy, wobei sein Blick beiläufig auf die Datumsanzeige fiel, die den 26.04.2000 anzeigte. Er überschlug die Zeit kurz in seinem Kopf. Es waren noch exakt 1311 Tage, bis er am 28.11.2003 das Death Note finden sollte. Die Frage war nur, was er solange machen sollte, bis es endlich soweit war. Er hatte definitiv nicht vor, die nächsten dreieinhalb Jahre mit dem selben langweiligen Schulalltag zu verschwenden, wie er schon in seinem vorherigen Leben gezwungen gewesen war. Das Mädchen, das am Nachbartisch saß, schob ihm einen Zettel zu, als sich die Lehrerin wieder von der Klasse weggedreht hatte. Light faltete den Zettel auseinander und las ihn gelangweilt. Es war ein Liebesbrief, und zwar genau der gleiche, den Light damals schon erhalten hatte. Er erkannte sogar den selben Rechtschreibfehler, bei dem sie ‚unbedingt‘ mit ‚d‘ am Ende geschrieben hatte und er erinnerte sich daran, dass er nach dem Erhalten dieses Briefes für ein paar Wochen mit ihr ausgegangen war. Sie war zwar nicht besonders schlau oder interessant, sah aber dafür sehr gut aus und die anderen aus der Klasse hatten erwartet, dass er sich mit ihr treffen würde. Somit hatte er, um den Anschein zu erhalten, normal zu sein, den Ansprüchen der anderen entsprochen. Abgesehen davon, war in seinen Augen generell auch sonst kaum jemand schlau genug oder in irgendeiner Hinsicht interessant. Wenn er genau darüber nachdachte, kam ihm dabei sogar nur eine einzige Person in den Sinn, die diesen Anforderungen gerecht wurde und die würde er erledigt haben, sobald er das Death Note wieder in seinen Besitz gebracht hatte. Er spürte den abwartenden und erwartungsvollen Blick des Mädchens auf sich liegen und überlegte, wie er nun diesmal reagieren sollte. Am einfachsten wäre es natürlich, einfach wieder ‚Ja‘ zu sagen und sich für ein paar Wochen mit ihr einzulassen, die Frage war nur, ob es sich lohnen würde. Er dachte darüber nach, wie es damals mit ihr gewesen war und das erste, was ihm in den Sinn kam, waren Hello-Kitty-Aufkleber, Kinobesuche von lächerlichen Teenie-Komödien, die so dumm und einfallslos waren, dass man beim Vorspann schon Gefahr lief sämtliche Gehirnzellen abzutöten und so widerlich pinke Herzchen, mit denen sie, als sie ihn zuhause besucht hatte, seine Hefte zugekleistert hatte. Nein, er würde in diesem Leben wohl einen anderen Weg einschlagen. Wenn es sein musste, gab es hier schließlich noch genügend andere Mädchen, die er als „Alibi-Freundin“ benutzen konnte und die dafür töten würden, um mit ihm zusammen zu kommen. Wow, verblüfft hob er eine Augenbraue, selbst in seinen eigenen Gedanken hatte das gerade arrogant geklungen – allerdings war es trotz allem die Wahrheit. Die nächsten Stunden vergingen unerträglich langsam und Light wusste nicht, was schlimmer war: die unsäglich langweiligen Unterrichtsstunden, bei denen er wusste, dass er garantiert mehr über das Thema wusste, als der gerade unterrichtende Lehrer, oder die Pausen, in denen er glaubhaft so tun musste, als würde er sich mit seinen ‚Altersgenossen‘ bestens verstehen und wahnsinnig viel Spaß mit ihnen haben, während er im Kopf alle Primzahlen von 2 bis 99991 aufzählen musste, um nicht einzuschlafen bei spannenden Gesprächsthemen wie „Mein Freund hat mit mir Schluss gemacht, jetzt weiß ich nicht mehr, was ich mit meinem Leben anfangen soll.“, „Meine Eltern sind ja sooooo gemein, weil mir nicht erlauben, dass ich mit vierzehn ein Zungenpiercing bekomme.“ und „Urgh, Kotoris neue Frisur sieht aus wie der Waschmob unserer Putzfrau.“ Als er sich auf dem Heimweg befand, wusste er, dass er das definitiv nicht die nächsten 1311 Tage wiederholen würde. Was auch immer passieren würde, er würde einen Weg finden, diesem lächerlichen Schulkram zu entkommen, sonst würde er womöglich schon vor Langeweile sterben, bevor er überhaupt eine Chance hatte, das Death Note wieder aufzuheben. Während Light darüber nachdachte, was er ändern konnte, um der Hölle des Schulalltags zu entkommen, rechnete er nicht damit, dass sich schon längst etwas ereignet hatte, was all seine Grübeleien nichtig machte. Als er in seine Wohnstraße einbog, fielen ihm direkt die vielen Streifenwagen, die am Straßenrand standen und zum Teil sogar das Blaulicht eingeschaltet hatten und die Anzahl der Polizisten, die die Straße abzusichern schienen, auf. Auch hatten sich einige Menschen an den Ecken versammelt um einen Blick zu erhaschen und miteinander zu tuscheln. Mit gerunzelter Stirn ging er weiter und blickte sich um, um nach seinem Vater Ausschau zu halten. Wenn es hier einen Einsatz gab, dann musste sicherlich auch Polizeichef Yagami anwesend sein. Vielleicht hatte Light ja sogar Glück und er würde auch ein paar Einblicke in den Fall erhalten, der sich hier abgespielt haben musste und würde helfen dürfen, ihn zu lösen. Er war damals zwar schon fünfzehn gewesen, als sein Vater ihm das erste Mal erlaubt hatte, sich mit den polizeilichen Akten zu befassen, doch vielleicht durfte er in diesem Leben schon etwas früher daran arbeiten. Ein netter Gedanke war es jedenfalls und es würde ihm zumindest ein bisschen die Langeweile vertreiben, die ihn zu verschlucken drohte. „Tut mir Leid, Junge, aber du darfst hier nicht weiter gehen. Hier ist alles abgesperrt.“, riss ihn einer der Polizisten aus seinen Gedanken und versperrte ihm den Weg. „Aber ich wohne hier!“, widersprach Light und setzte sein ahnungsloses Unschulds-Gesicht auf. „Ich möchte nur nach Hause.“ „Das geht im Moment nicht, Kleiner.“ Der Beamte ließ sich nicht beirren und verschränkte die Arme vor der Brust. „Der Tatort muss abgesichert werden.“ Light beschloss das „Kleiner“ zu ignorieren und argumentierte weiter. „Aber mein Vater ist der Einsatzleiter für diesen Fall.“, beharrte er. „Holen Sie ihn her und er wird mich weiterlassen.“ Natürlich konnte Light nicht mit Sicherheit wissen, ob sein Vater tatsächlich für diesen Einsatz zuständig war, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass sein Vater bei einem Polizeieinsatz, der sich auch noch so kurz vor ihrer Haustür abspielte, nicht zugegen war. Soichiro Yagami würde garantiert darauf bestehen, hier die Ermittlungen leiten zu dürfen. „Light.“, hörte er plötzlich eine Stimme von weiter vorne, die ihm vertraut vor kam. Als er Aizawa erblickte, der auf ihn zu kam, riss er kurz überrascht die Augen auf. Mit der Afrofrisur und ohne den Bart, den er in den letzten Jahren des Kira-Falls getragen hatte, sah er wieder ganz ungewohnt aus. „Hallo, Herr Aizawa.“, begann Light. „Wissen Sie, wo ich meinen Vater finden kann?“ Aizawa, der nun vor ihm stand, legte eine Hand auf Lights Schulter. „Light, weißt du…. Ich….es ist so, dass…. Du musst jetzt….“, stammelte er, unschlüssig, was er eigentlich sagen wollte. Er öffnete seinen Mund erneut, ohne dass diesmal jedoch ein Ton heraus kam und schloss ihn schließlich wieder. Misstrauisch betrachtete Light den Polizisten. Sein Gesicht schien sehr ernst und verkrampft und seine Augen, die Blickkontakt mit Lights Augen zu vermeiden wollen schienen, sahen leicht gerötet aus. In Lights Kopf setzten sich die einzelnen Puzzleteile blitzschnell zusammen. Großer Polizeieinsatz…. vor seiner Haustür…. Absperrungen…. gaffende Menschen (und waren das da vorne etwa Reporter?)…. Aizawa in Trauer…. Wie reagierte ein normaler, mitfühlender, vierzehnjähriger Junge in so einer Situation nochmal? Haargenau! Angstvoll weitete er die Augen und sah den Kollegen seines Vaters mit dem besten Erschrocken-sein-Gesicht, das er hatte, an. „Ist…ist mit meiner Familie alles in Ordnung?“, fragte er und war positiv überrascht, wie brüchig und verzweifelt er doch klang. „Es geht doch allen gut, oder?“ Aizawa räusperte sich und wich einem Blickkontakt weiterhin aus. „Es fällt mir schwer das zu sagen, Light.“, brachte er schließlich mit belegter Stimme hervor. „Aber es ist so, dass… Also es gab eine Geiselnahme und…“ „Sind sie verletzt? Wo sind sie?“, rief Light und gratulierte sich selbst zu der Panik, die seine Stimme durchzog. Aizawa senkte den Blick nun vollkommen zu Boden. Er schien zu überlegen, wie er es Light am besten erklären sollte. Light jedoch konnte sich schon denken, was die schreckliche Nachricht beinhalten würde. Er hatte längst begonnen zu verstehen und den Sinn dahinter zu erkennen. Das Wesen, das ihm im MU begegnet war, hatte schließlich gesagt, dass das Schicksal von einigen wenigen Menschen verändert werden würde, damit man bewirken konnte, dass Light zu dem bestimmten Zeitpunkt in drei Jahren nicht so leicht in die Nähe des Death Notes kommen konnte. Er ärgerte sich ein wenig, dass er nicht schon früher daran gedacht hatte. Der Grund, warum Light hier zur Schule ging, war, dass seine Familie hier lebte. Wenn er also von hier verschwinden sollte, musste man seine Familie somit entweder dazu bringen umzuziehen, oder man sorgte dafür, dass Light anders gezwungen war, wegzugehen, in dem man sie umbrachte und Light entweder in ein weit entferntes Waisenhaus gesteckt wurde oder man ihn zu fremden Adoptionseltern brachte. Trotzdem war es ein bisschen enttäuschend, dass diese Mächte tatsächlich zu glauben schienen, ein einfacher Ortswechsel würde reichen, um ihn vom Death Note fern zu halten. Als ob es mit siebzehn Jahren nicht ein Leichtes für ihn werden würde, sich einfach einen Tag lang davon zu stehlen und wieder hier hin zurück zu fahren. Selbst wenn er sich zu dieser Zeit im Ausland befinden würde, was unwahrscheinlich war, so würde er doch keine Probleme haben, dafür zurück nach Japan zu fliegen. „Light, vielleicht solltest du mit zu dem Wagen dort drüben kommen und dich erst einmal hin setzten.“, versuchte Aizawa hilflos die Situation besser in den Griff zu bekommen. Dem Polizisten schien es sichtlich schwer zu fallen, die schlechte Botschaft zu übermitteln. „Ich will mich nicht setzen!“, widersprach Light mit hysterischer Stimme. „Ich will wissen, was mit meiner Familie ist! Ich will mit meinem Vater reden.“ Normalerweise hätte er niemals einen so aufbrausenden und kreischenden Ton benutzt, aber nun war er der Teenager, der einfach nur Angst um seine Eltern hatte. Bei Aizawa schien dieser Ton jedenfalls auch zu wirken, da er es nun plötzlich doch schaffte, Light in die Augen zusehen, während er einmal tief durchatmete. „Es tut mir ja so leid.“, sagte er schließlich und seine Stimme war ein wenig fester als zuvor, seine Augen schienen jedoch erneut anzufangen zu wässern. „Aber deine Eltern und deine Schwester… sie sind leider bei der Geiselnahme getötet worden.“ Light ließ diese endgültige Nachricht für den Bruchteil einer Sekunde auf sich wirken, bevor er anfing, die Rolle zu spielen, die alle von ihm erwarteten…. Er saß auf dem Rücksitz eines Polizeiautos und starrte mit leerem Blick auf die vorbeiziehenden Bäume und Häuser, als sie in Richtung seines neuen Heimes fuhren, das sich am Rande der Kanto-Region befinden sollte. Es war nun fünf Tage her, dass er gestorben, zurückgekehrt und seine Familie getötet worden war. Nachdem Aizawa ihm von der Tragödie erzählt hatte, hatte Light alle Register gezogen, die in Sache „Trauerzeigen“ möglich waren. Zuerst hatte er den Kopf geschüttelt und es geleugnet. Er hatte Aizawa einen Lügner genannt und ihn angeschrien. Als dann noch andere Polizisten dazu kommen mussten, um Aizawas Worte zu bestätigen, hatte er das Gesicht in den Händen vergraben und angefangen geräuschvoll zu weinen. Bei der Erinnerung daran, musste Light aufpassen, nicht angewidert sein Gesicht zu verziehen, da man ihn im Rückspiegel sehen konnte. Gott, war das demütigend gewesen, als er sich auf den Boden legen und schreien musste. Aber ausnahmslos alle hatten ihm geglaubt. Alle dachten, sie hätten einen verzweifelten Jugendlichen vor sich, dessen Welt soeben zu einem Trümmerhaufen zusammengebrochen war. Alle hatten Mitleid gehabt mit dem armen Jungen, der nun niemanden mehr hatte und hilflos war. Als nächstes hatte man ihn zu der Polizeipsychologin gebracht, wo er das Trauerspiel mit dem Namen „Der arme, kleine, einsame Junge“ ein weiteres Mal vorspielen durfte. Sie hatte ihm diverse Fragen bezüglich seiner Familie und seines Gemütszustandes gestellt und ihn dabei mit Keksen und heißer Schokolade abgefüllt. Da er, außer einer im Altersheim lebenden und an Demenz leidenden Großmutter, keine lebenden Verwandten mehr hatte, wurde von den Kollegen seines Vaters beschlossen, dass Light die nächsten Tage bis zu der Beerdigung bei einem von ihnen wohnen sollte, bevor er ins Waisenhaus geschickt werden würde. Weil Aizawa im Moment ein schreiendes Kleinkind zuhause hatte, erklärte sich Ide dazu bereit, Light für die paar Tage Unterschlupf zu gewährleisten. In diesen Tagen hatte er, wenn er nicht gerade von Ides nerviger Freundin mit Eis vollgestopft wurde (Warum, zum Teufel, wollte keiner begreifen, dass er Süßigkeiten hasste?), Zeit, sich über seine mögliche Zukunft, aber auch seine Familie Gedanken zu machen. Sollte er sich schuldig fühlen, weil er keine richtige Trauer verspürte, wenn er an sie dachte? Der Tod seines Vaters war immerhin nichts Neues für ihn. Das hatte er schließlich schon einmal mitgemacht und auch dabei war er mitverantwortlich gewesen. War er diesmal wieder Schuld? Wenn er es vor sich selber verleugnen wollte, konnte er behaupten, es sei die Schuld des Verbrechers gewesen. Das sagten ja schließlich auch alle anderen. Ein Mann hatte sich an Soichiro Yagami rächen wollen, weil dieser ihn wegen Raubmord überführt und für zwanzig Jahre ins Gefängnis hatte stecken lassen. Dieser Mann war zu dem Haus der Yagamis gefahren und hatte die sich dort befindende Frau und Tochter des Polizisten als Geisel genommen um ihn in die Falle zu locken. Als sich Lights Vater freiwillig hatte ausliefern wollen, um sein Leben gegen das der anderen beiden zu tauschen, nicht wissend, dass der Entführer sie schon längst getötet hatte, war er seinem eigenen Tod direkt in die Arme gelaufen. Nach dem Dreifachmord, hatte der Mann wohl noch einen Fluchtversuch unternommen, war aber nach kurzer Zeit festgenommen worden und saß nun in Haft, wo er auf seine Verurteilung warten durfte. Aber Light wusste, dass dieser Mann nicht den Racheakt unternommen hätte, wenn es nicht für die Veränderung von Lights Aufenthaltsort nötig gewesen wäre. Also ja, indirekt war er ganz eindeutig schuld. Also wieso verging er dann nicht vor Schuldgefühlen und Reue? Gut, er hatte nie auch nur einen Funken Reue oder Wehmut verspürt für die Morde, die er mit dem Death Note ausgeführt hatte, aber diesmal war es seine ganze Familie! Diesmal war es seine kleine Schwester, die noch ein Kind gewesen war! Aber trotzdem bescherte es ihm weder schlaflose Nächte noch Albträume. Dass seine Familie gestorben war, tat ihm…. leid. Er hatte nicht gewollt, dass ihr Leben frühzeitig auf so grausame Weise beendet wird und er hätte eine andere Alternative bevorzugt. Aber er trauerte nicht. Er konnte keine Trauer oder Verzweiflung in sich entdecken, egal wie tief er auch danach suchte. Und er überlegte sich, ob es vielleicht genau die Art war, wie ein Gott beschaffen sein musste. Ein Gott konnte nicht bei manchen Menschen eine Ausnahme machen und mehr für sie sorgen als für andere. Ein Gott musste allen Menschen gleich gegenüber stehen und gerecht sein. Somit war er wirklich der perfekte Gott, denn ohne emotionale Bindungen zu irgendeinem menschlichen Wesen, konnte er seine Urteile absolut neutral und gerecht fällen. Ein Gott musste über den weltlichen Dingen stehen. Ein Gott musste allerdings NICHT in einem landschulheimähnlichen Zimmer mit fünf anderen Personen schlafen! Das war jedenfalls sein Gedanke, als er den Raum betrat, der von nun an sein neues Zimmer darstellen sollte und auf drei, auf die Zimmerecken verteilte, Etagenbetten starrte. Eine Kinderbetreuerin mit Überbiss und Bärchenpullover zeigte ihm freudestrahlend sein neues Bett und wo er seine Sachen unterbringen konnte, während Light sich zusammenreißen musste, um nicht schreiend davon zu laufen und von nun an als Straßenkind auf Parkbänken schlafen durfte. Zu sechst in einem Zimmer? Zu sechst? In was für einem Waisenhaus war er denn hier gelandet? Das war Japan, eine der führenden Industrienationen und kein Drittewelt-Land. Er atmete tief ein, als sein vierjähriger Zimmernachbar ihm ein breites Grinsen schenkte und ein mit brauner Pampe (er wollte lieber nicht wissen, was das war) beschmiertes Spielauto überreichen wollte, und versuchte sich innerlich zu beruhigen. Noch 1306 Tage… Noch.... 1306… Tage… Danke fürs Lesen und bis zum nächsten Mal^^ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)