Finera - Dawn of the Dark von Kalliope ================================================================================ Kapitel 29: Milenas Maschine ---------------------------- 19. Oktober - Rain - „Level 100?“ Rain betrachtete das Raichu mit großer Ehrfurcht. „Unglaublich.“ Sie kannte niemanden, der ein Pokémon auf einem so hohen Level besaß oder überhaupt jemals getroffen hatte. Je höher die Level waren, desto schwieriger fiel das Training. Level 100 war die ultimative Stärke, die ein bestimmtes Pokémon erreichen konnte. Stärker konnte es nicht mehr werden. „Wer hat es trainiert? Woher kommt es?“ Milena griff in die Tasche ihres Laborkittels und holte einen knallroten Apfel hervor, den sie Raichu reichte. Das alte Pokémon beschnüffelte den Apfel kurz, klemmte ihn dann zwischen die Vorderpfoten und nagte daran herum. „Ich habe es vor einer Weile von seinem Trainer bekommen. Raichu hat sein Leben lang auf die Voltilamm-Herde eines Schäfers aufgepasst und Tag für Tag gegen die wilden Pokémon in der Umgebung gekämpft. Als es zu alt wurde, konnte er es nicht mehr gebrauchen und verkaufte es an einen Trainer. So wanderte es von Besitzer zu Besitzer und verlor allmählich die Lust am Kämpfen. Daraufhin habe ich es erworben und für meine Forschungen benutzt. Es kann bei mir bleiben, bis es stirbt.“ Rain nickte. Also hatte Raichu sein Zuhause verloren, weil es zu alt war, dabei war es stark. Konnte es wirklich auf diese Weise einen so hohen Level erreichen? Irgendwo tief im Hinterkopf nagten Zweifel an ihr, doch Rain ignorierte sie, immerhin fiel ihr selbst keine bessere Erklärung dafür ein. „Und wofür ist diese Maschine jetzt gut? Was hat sie mit Raichu zu tun?“ Anstatt darauf zu antworten, tätschelte Milena den Kopf des Pokémon und ging rüber zu ihrem Schreibtisch, wo einige Unterlagen offen ausgebreitet waren. Sie nahm eines ihrer Notizbücher und drehte sich erst dann wieder zu ihrer jungen, neugierigen Assistentin um. „Wenn Pokémon gegeneinander kämpfen, sammeln sie Erfahrungspunkte, die schließlich zu einem Anstieg ihres Levels führen. Im Grunde genommen sind Level nur eine Maßeinheit.“ Rain nickte. Das war nichts Neues. Jeder Pokémontrainer wusste das, doch sie unterbrach Milena nicht. „Ich setze die Level der Pokémon gerne mit Energie gleich“, fuhr Milena fort und blätterte dabei in ihrem Notizbuch herum. „Je höher ihr Level ist, desto mehr Energie können die Zellen bereit stellen, was zu stärkeren Attacken und einer höheren Widerstandskraft führt. Durch das Training erlangen die Zellen also Stück für Stück einen höheren Energielevel. Irgendwann ist diese Energie auf einem Niveau, die die Zellen zur Veränderung anregt – es kommt zu einer Entwicklung.“ Rain nickte erneut. Das klang logisch und war eigentlich auch nichts Neues. Wenn Pokémon stärker wurden, entwickelten sie sich. „Was ist mit Entwicklungen, die durch Items wie beispielsweise den Wasserstein ausgelöst werden?“ „In diesem Fall gehe ich davon aus, dass die Zellen durch die chemische Struktur des Items in Schwingungen geraten. Schwingungen erzeugen wieder Energie, die wiederum zur Entwicklung führt.“ „Und was ist, wenn sich zum Beispiel ein Evoli durch Freundschaft oder Zuneigung entwickelt?“ Milena klappte ihr Buch zu. „Du passt sehr gut auf, Rain. Das gefällt mir. Ich habe noch nicht ganz genau entschlüsselt, wie diese Art von Entwicklung funktioniert, aber es muss ebenfalls eine Energieform ausgelöst werden, die die Zellen zur Entwicklung anregt. Womöglich sind hormonelle Vorgänge, die durch die chemische Veränderung im Gehirn bei großer Freundschaft oder Zuneigung ausgelöst werden, der Schlüssel.“ Sie kratzte sich an der Nasenwurzel und öffnete das Notizbuch dann auf einer ganz anderen Seite als zuvor. „Jedenfalls verstehst du das Prinzip der Entwicklung, nicht wahr?“ „Ja. Je mehr Energie die Zellen bereitstellen können, desto höher ist das Level eines Pokémon. Die Energie führt zu einer Entwicklung, sobald ein für die Pokémon-Art individuelles Niveau erreicht ist“, fasste Rain noch einmal zusammen und schaute dabei zu Raichu, das mittlerweile den Apfel verspeist hatte und mit den Resten des Stils spielte. Selbst ein so altes Pokémon war noch verspielt. Sie musste lächeln, als sie das sah. „Genau. Machen wir nun einen Gedankensprung. Stell dir vor, dass ein Pokémon sehr, sehr viele Kämpfe gewonnen hat und mittlerweile einen sehr hohen Level hat. Level 90 zum Beispiel. Ein weiterer Anstieg des Levels wird immer schwieriger, weil die Zellen bereits ein hohes Energieniveau haben und das Training immer schwerer fällt. Trotzdem kann der Level von Zeit zu Zeit noch ansteigen. Das Pokémon erreicht Level 95, Level 98, Level 99. Was passiert dann?“ „Es …“ Rain zögerte. Ja, was dann? „Es erreicht Level 100?“ Milena nickte knapp. „Richtig. Irgendwann erreicht es Level 100. Und danach? Wieso ist bei Level 100 Schluss?“ Sie machte eine Kunstpause, in der sie geräuschvoll das Buch zuklappte und zurück auf den Schreibtisch legte. „Level 100 bezeichnet den Zustand der ultimativen Energiebereitstellung. Mehr kann ein Pokémon nicht erreichen. Mehr Energie können die Zellen eines Pokémon nicht produzieren. Bei Level 100 ist die natürliche Grenze gesetzt. Genau das habe ich erforscht. Mit Hilfe dieser Maschine ist es mir möglich die Zellen eines jeden Pokémon durch Energie von außen soweit anzuregen, dass eine Entwicklung ausgelöst wird. Im Moment schaffe ich es noch nicht, dass dieses Energieniveau dauerhaft in den Zellen gespeichert werden kann, doch das ist nur eine Frage der Zeit.“ „Also kann mit dieser Maschine künstlich eine Entwicklung herbeigeführt werden, ohne dass sich der eigentliche Level des Pokémon verändert?“ „So ist es.“ „Und dabei erleidet das Pokémon keine Schmerzen oder etwas in der Art?“, fragte Rain vorsichtig weiter. Sie dachte sofort an Team Rocket, das damals durch Radiowellen die Karpador im See des Zorns zu einer Entwicklung getrieben hat. Die Karpador wurden dabei gequält, weshalb sie als Garados nicht gerade friedliche Gesellen gewesen waren. „Keinerlei Schmerzen oder Qualen. Das Pokémon entwickelt sich einfach.“ In Milenas Stimme schwang Stolz mit. „Das nächste Ziel wird sein, dass ich mit dieser Maschine auch den Level eines Pokémon erhöhen kann, ohne dass dafür Kämpfe notwendig sind. Allerdings werde ich daran noch eine Weile arbeiten müssen, denn diese Prozedur dürfte zum jetzigen Zeitpunkt noch sehr anstrengend für das Pokémon sein.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Genug davon, ich möchte dich nicht länger von deinem Feierabend abhalten.“ Rain sah zu, wie Milena sich die Notizbücher unter den Arm klemmte, das Raichu zurück in seinen Pokéball zog und sie dann zur Tür winkte. „Wir sehen uns morgen.“ „Schönen Abend noch, Milena.“ Milena betrachtete sie ganz genau. „Ja, den wünsche ich dir auch.“ Gemeinsam eilten sie zum Fahrstuhl. Erst als Rain in ihrem Zimmer auf dem Bett lag und ihre Gedanken weiter um die Maschine kreisten, die Milena entwickelt hatte, wurde ihr bewusst, welche Ausmaße diese Forschung hatte. Diese Maschine würde, sollte sie an die Öffentlichkeit gelangen, mit Sicherheit den Protest vieler Trainer mit sich bringen, die ihre Pokémon über Jahre in mühevoller Arbeit auf hohe Level brachten. Und dann, etwas später, fiel Rain noch etwas auf. Milena hatte die Tür zum Labor nicht verschlossen. Sie setzte sich auf. Ein kleiner Blick konnte doch nicht schädlich sein, nicht wahr? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)