Spuren im mexikanischen Sand von Yulia_Federkiel (NCIS: Los Angeles) ================================================================================ Kapitel 10: ------------ Kapitel 10 – Auf Messers Schneide   „Fünf Minuten bis zur Übergabe“, meldete der Techniker aus dem Überwachungswagen per Funk an alle Einheiten, ehe er sich schließlich an die Person neben sich wandte. „Sind sie soweit, Agent Callen?“   Ein letztes Mal noch ließ Callen seinen Blick über die Aufnahmen der Überwachungskameras wandern und ging in Gedanken erneut die wenigen Fakten durch, die sie in diesem Fall zusammengetragen hatten. Schließlich senkte er den Kopf zu einem kaum merklichen Nicken.   „In Ordnung, ich schalte Sie jetzt auf Drahtloskommunikation“, erklärte der Techniker sachlich und überreichte ihm ein schlicht aussehendes Basecap der L.A. Lakers. „Passen Sie gut darauf auf und lassen Sie kein Wasser herankommen. Hetty bringt mich um, wenn ich ihr das Mikrofon im Futter nicht ordnungsgemäß zurückbringe.“   Unwillkürlich huschte ein Grinsen über Callens Miene. „Ich werde mir Mühe geben.“ Mit diesen Worten zog er sich das Basecap tief ins Gesicht,  nickte dem Techniker zum Abschied kurz zu und verließ den Wagen.   ~*~*~*~*~*~*~   Es dauerte nur den Bruchteil von Sekunden, bis Callen mit der Umgebung verschmolzen war. Wie ein Chamäleon passte er sich den Menschen um sich herum an und folgte dem gemächlichen Strom der Passanten in Richtung Norden, wo die schmale Straße bald auf einen kleinen Platz treffen würde.   „Sam, ich nähere mich dem Zielort. Nicholls soll sich in Bewegung setzen!“ Ein leises Knacken ertönte in seinem Ohr, direkt gefolgt von einer knappen Bestätigung seines Partners. Kurz darauf tauchte der Petty Officer in Callens Blickfeld auf und bewegte sich mit raschen Schritten durch die Menschenmenge.   Das Spiel hatte begonnen.   Callen hatte sich lange genug mit den Gegebenheiten auseinandergesetzt, um nun genau zu wissen, was ihn erwartete. Der Platz an sich war eher von unscheinbarer Natur und bestand aus nicht viel mehr als einem zweispurigen Kreisverkehr, einer mittelmäßig gepflegten Rasenfläche in der Mitte und mehreren kleinen Cafés, die mit ihren Tischen die Bürgersteige belagerten.   Der eigentliche Treffpunkt, ein schlichter Recycling-Mülleimer, befand sich auf der nördlichen Seite des Mittelkreises, direkt neben einer viel besuchten Bushaltestelle. Callen musste kein Genie sein, um zu erkennen, dass die Entführer diesen Treffpunkt keinesfalls wegen der schönen Aussicht gewählt hatten. Denn die Bushaltestelle war keineswegs ihr einziges Problem.   „Eric, Nell, Statusbericht!“   „Wir haben zwei Kameras aus Nordosten, die direkt auf die Bushaltestelle gerichtet sind“, spulte Nell die Informationen wie üblich mit der Geschwindigkeit eines ICEs herunter. „Bisher ist alles ruhig, aber wir verlieren Nicholls immer wieder aus den Augen, wenn ein Auto durchs Bild fährt. Sam versucht gerade, uns einen anderen Blickwinkel zu verschaffen. Außerdem konnten wir die Überwachungskameras auf dem U-Bahnhof anzapfen. Nur für den Fall…“   „Verstanden.“ Callen ließ seinen Blick unauffällig über den Platz wandern und sah, wie sein Partner sich gerade in einem der Cafés ganz in seiner Nähe niederließ. Das war also erledigt.   Rasch setzte sich Callen wieder in Bewegung und schlenderte scheinbar interessiert an den Geschäften vorbei, bis er schließlich an einem Ständer mit Sonnenbrillen anhielt. Mehrere Modelle wanderten durch seine Finger und in sein Gesicht, doch in Wirklichkeit hatte Callen nur eines im Blick: den kleinen Spiegel, der ihm einen guten Blick auf das Geschehen im Hintergrund verschaffte.   In dem verzerrten Bild konnte Callen Renko erkennen, der sich in Arbeitskluft unter eine Gruppe Müllmänner gemischt hatte und nun mit einer Laubpike bewaffnet den ungepflegten Rasen von Abfällen befreite. Kaum mehr als fünf Meter entfernt hatte sich Petty Officer Nicholls wie ein Häufchen Elend an einen Laternenpfahl gelehnt. Immer wieder wanderten seine Blicke Hilfe suchend zu Renko, doch dieser gab sich alle Mühe, seine Tarnung aufrecht zu erhalten.   „Renko, verzieh dich da“, flüsterte Callen unwirsch in sein Mikrofon. „Nicholls Augen kleben an dir, als hättest du sie mit Super Glue* eingeschmiert.“ „Und ich dachte, er steht auf meine Uniform“, gab Renko mit einem gespielten Seufzen zurück. „Aber was soll’s, er war eh nicht mein Typ.“   Callen musste unwillkürlich schmunzeln. So eigenbrötlerisch Mike Renko manchmal auch sein konnte, in solchen Situationen war sein Humor einfach unübertroffen. Doch noch ehe eine weitere Bemerkung über seine Lippen kommen konnte, schlug Sam plötzlich Alarm: „Aufpassen, Leute, Bus auf sieben Uhr!“   Sofort waren sämtliche Frotzeleien vergessen und das gesamte Team schaltete wieder auf höchste Konzentration. Callen verließ seinen Posten und beobachtete, wie eine Flut von Menschen aus dem Bus hervorquoll und Nicholls fast verschluckte. Immer wieder brach der Sichtkontakt ab, auch weil Callen ständig auf seinen eigenen Weg achten musste, um nicht versehentlich in einen Passanten zu rasseln.   „Sam, Renko, könnt ihr was erkennen?“, fragte Callen über Funk, während er gerade einem sehr großen Babywagen ausweichen musste, der mitten auf dem Gehweg stand. „Bisher nicht viel“, gab Renko zu Protokoll. „Da steht ein Schuljunge bei Nicholls, aber noch keine Spur von unserem Kontaktmann.“   Endlich hatte auch Callen wieder freie Sicht und sah, wie Nicholls die Hand ausstreckte und einen kleinen Gegenstand von dem Schuljungen entgegennahm. Doch erst, als der Petty Officer ihn an sein Ohr führte, erkannte G., was es war.   „Verdammt, das ist ein Handy!“, kam Sam im nächsten Augenblick zur selben Erkenntnis. „Das Treffen spielt sich direkt vor unserer Nase ab!“   „Eric, Nell, ihr müsst das Signal abfangen!“, befahl Callen den beiden Technikern. „Renko, kannst du wieder näher herankommen?“ „Nicht, wenn die das Gelände beobachten“, gab dieser zähneknirschend zurück. Auf der anderen Leitung stritten sich Eric und Nell über die Unmöglichkeit, aus über hundert Telefonaten auf kleinstem Raum ein bestimmtes herauszufiltern.   Kurz, Callen musste gar nicht erst nachzufragen, wie ihre Chancen standen. Innerlich fluchend beobachtete er, wie Ian Nicholls das Handy in den Mülleimer warf und sich eilig vom Treffpunkt entfernte. Das letzte, was Callen von Nicholls erkennen konnte, war der große Aktenkoffer mit den gefälschten Unterlagen über Afghanistan.   Sie hatten ihn verloren.   ~*~*~*~*~*~*~   Mehrere hundert Kilometer weiter südlich ahnte noch niemand, was sich soeben im fernen Los Angeles zugetragen hatte. Kensi und Deeks saßen eingeengt auf der Rückbank des Kleinwagens, den ihre Gastgeberin in einer unscheinbaren Gasse geparkt hatte, und beobachteten angespannt die Umgebung. Die Siedlung, in der sie sich befanden, war – wie Deeks es beschreiben würde – so fernab jeglicher Zivilisation, dass selbst die Tarnung als verliebtes Touristenpärchen die beiden NCIS-Agenten nicht vor einer Entdeckung hätte bewahren können. Und so mussten sie, besonders zu Kensis Missfallen, im Auto warten, während Eva und ihr Partner Riccardo einen Rundgang durch die wenigen Straßen machten.   Sie saßen bereits eine ganze Weile schweigend nebeneinander, als Deeks schließlich das Wort ergriff. „Glaubst du, dass wir sie hier finden werden?“ In seiner Stimme schwang eine Niedergeschlagenheit mit, die Kensi von ihrem Partner in dieser Form noch überhaupt nicht kannte. Nachdenklich sah sie ihn einen Augenblick lang an, dann seufzte sie. „Sie ist hier“, erklärte sie mit so viel Zuversicht, wie sie im Moment aufbringen konnte. Dann jedoch kehrten die Sorgenfalten auf ihre Stirn zurück. „Aber was mir viel mehr Kopfzerbrechen bereitet, ist die Frage, wie wir sie ohne Unterstützung hier wieder heraus bekommen.“   „Wir sind nicht ...“, wollte Deeks gerade zu einer Korrektur ansetzen, als ihm die Bedeutung von Kensis Worten klar wurde. „Du traust Eva immer noch nicht.“ Es war keine Frage. Und Kensi war absolut nicht in der Stimmung, jetzt über vergangene Fälle und alte Bekanntschaften zu streiten, also wechselte sie so unauffällig wie möglich das Thema.   „Das hier ist nicht Los Angeles“, argumentierte sie. „Hier gelten andere Regeln. Falls wir zuhause mal in der Klemme stecken, dann ist die Verstärkung meistens nur ein paar Blocks entfernt. Und selbst wenn das nicht klappt, gibt es immer noch Eric und Nell, die mit ein paar Tastenanschlägen das Unmögliche hinbekommen.“   Deeks runzelte skeptisch die Stirn. „In Rumänien hat dich das aber kaum gestört“, warf er ein, doch Kensi tat seine Bemerkung sofort mit einem Augenrollen ab. „Rumänien war etwas anderes“, meinte sie unwirsch. „Da waren Sam und Callen dabei. Und außerdem ging es um Hetty.“ „Und jetzt sind eben Eva und Riccardo dabei“, konterte Deeks, für den das Thema keinesfalls gegessen war. „Und es geht um Nancy Nicholls. Also, was stört dich wirklich?“   Kensi funkelte ihren Partner wütend an und für einen Moment hatte Deeks das Gefühl, den Bogen wie schon so oft überspannt zu haben. Doch dann verschwand die Härte plötzlich aus Kensis Gesicht und machte einer Miene Platz, die man mit viel Fantasie als Verletzlichkeit interpretieren konnte.   „Genau das“, flüsterte Kensi kaum hörbar und senkte den Blick. „Das Mädchen, Nancy. Sie dürfte eigentlich gar nicht hier sein. Sie sollte zuhause mit ihren Freunden spielen und glücklich sein. Stattdessen ist sie ein Spielball für irgendwelche Drogenbosse, die auf ihrem Rücken Krieg spielen wollen.“   Wenn Deeks überrascht über die Worte seiner Partnerin war, so zeigte er es nicht. Stattdessen legte er vorsichtig seine Hand auf ihre. In jeder anderen Situation hätte er sich für diese Geste einen Boxhieb eingefangen, doch jetzt war Kensi dankbar für sein Verständnis und ließ ihn gewähren.   „Ich weiß“, sagte er mitfühlend. „Das ist nicht richtig. Aber genau deshalb sind wir hier und kämpfen. Deshalb sind wir Polizisten.“ Auf Kensis Gesicht erschien ein mattes Lächeln. „Du bist ein Polizist“, stichelte sie, allerdings ohne den üblichen herablassenden Tonfall. „Ich bin Special Agent. Und hast du mir nicht mal erzählt, dass du nur Cop geworden bist, weil die Frauen auf Uniformen stehen?“   Nun konnte Deeks nicht mehr an sich halten und brach in unterdrücktes Gelächter aus, in das Kensi nur wenige Augenblicke später einstimmte. „Auch“, gab er grinsend zu. „Aber das ist eine lange Geschichte. Und da drüben kommt Eva.“   Kensis Blicke zeigten deutlich, dass dieses Gespräch noch nicht beendet war, doch da die beiden mexikanischen Polizisten kurz darauf tatsächlich in den Wagen stiegen, sollte Deeks noch einmal eine Gnadenfrist erhalten.   „Und, habt ihr sie gefunden?“, fragte dieser dann auch wie aus der Pistole geschossen, noch ehe sich Eva und Riccardo ganz zu ihnen umgedreht hatten. „Es gibt gute und schlechte Neuigkeiten“, erklärte Eva ein wenig kryptisch. „Einer von meinen Kontakten im Dorf konnte bestätigen, dass in den letzten Tagen ein Kind ins Haus gebracht wurde, das auf die Beschreibung eurer Nancy Nicholls passt.“   Erleichtert atmete Kensi auf, doch schon meldete sich Riccardo zu Wort, der – anders als Eva – nicht sonderlich zufrieden aussah. „Das war auch schon die einzige gute Nachricht. Nach unseren Beobachtungen befinden sich vier Männer im Gebäude, alle im Erdgeschoss und alle bewaffnet“, berichtete er ernst. „Und es gibt keine Anzeichen dafür, dass das Mädchen im Haus ist.“   „Das hatten wir doch schon geklärt, Ricco“, fuhr Eva ihrem Kollegen recht unwirsch in die Parade. „Das Kind kann genauso gut im ersten Stock gefangen gehalten werden.“ „Oder dort befinden sich noch mehr armados“, gab Riccardo ungehalten zurück, doch Eva hatte ganz offensichtlich beschlossen, ihn zu ignorieren, denn sie wandte sich demonstrativ von ihm ab und sah die beiden NCIS-Agenten fragend an. „Hat noch jemand Einwände?“   ~*~*~*~*~*~*~   Natürlich folgten auf diese Frage keinerlei Antworten, und da sich Riccardo schließlich der Mehrheitsentscheidung beugte, befanden sich unsere beiden NCIS-Agenten schon ein paar Minuten später in Lauerposition hinter dem Haus.   Evas Plan war genauso einfach wie selbstmörderisch: Sie und Riccardo würden die Aufmerksamkeit der Männer im Haus durch ein nicht weiter spezifiziertes Ablenkungsmanöver auf sich ziehen und so den Weg für Kensi und Deeks frei machen. Die beiden sollten dann die hintere Häuserwand empor und auf den Rundumbalkon klettern, von dem aus sie über ein kleines, offenstehendes Fenster im ersten Stock einen – hoffentlich freien – Zugang zum Haus bekamen.   Dass Eva auf Riccardos Nachfragen bezüglich der Ablenkung keine Antwort wusste, störte die junge Mexikanerin dabei ebenso wenig, wie das Problem, dass Kensi und Deeks einfach mal lautlos die Kleinigkeit von zwei Metern Höhenunterschied überwinden mussten.   Kensi jedoch fühlte sich unangenehm an ihr Gespräch mit Deeks aus dem Wagen erinnert und nur die Tatsache, dass sie selbst keinen besseren Plan hatte, hinderte sie daran, ihre Meinung kundzutun. Stattdessen hockte sie nun hinter einem ziemlich übel riechenden Müllcontainer und beobachtete aufmerksam die Gestalten, die sich hinter den zugezogenen Gardinen im Erdgeschoss bewegten.   „Das ist Wahnsinn“, murmelte sie kopfschüttelnd, während ihre Blicke inspizierend von der Hauswand zum Balkon im ersten Stock wanderten. Deeks wandte sich zu ihr um. „Aber es ist unsere einzige Chance“, flüsterte er ihr aufmunternd zu. „Außerdem haben wir schon viel verrücktere Sachen durchgezogen.“   Kensi nickte. Natürlich hatte Deeks Recht, auch wenn sie ihm das wohl so niemals sagen würde. „Okay, los geht’s“, ordnete sie also an und setzte sich in Bewegung. Wie zwei Schatten huschten die beiden über die kleine Grasfläche zum Haus, flink, lautlos und ungesehen. Erst als sie die steinerne Fassade des Hauses erreicht hatten, hielt Kensi für einen Augenblick lang inne und lauschte. Irgendwo aus der Ferne glaubte sie, Evas markante Stimme zu hören, aber aus dem Inneren des Hauses konnte sie keinen Ton vernehmen. Vorsichtig riskierte sie einen Blick durch das nächste Fenster, doch die Vorhänge waren zugezogen und so dicht, dass sie kaum etwas erkennen konnte.   Gut, so würde sie wenigstens niemand stören. Rasch wandte Kensi sich zu ihrem Partner um und wollte ihm einen stummen Wink geben, doch Deeks schien ihre Gedanken bereits vorausgeahnt zu haben und hatte sich unter dem Balkon in Stellung gebracht.   Ein kurzes Nicken, ein stummes Lächeln, ein tiefer Atemzug. Dann nahm Kensi Anlauf und ließ sich von Deeks mit aller Kraft nach oben katapultieren. Ein heftiger Ruck ging durch ihren Körper, als ihre Hände sich um das faserige Holz des Geländers schlossen.   Knack.   Kensis Herz setzte einen Schlag aus, als das verräterische Geräusch gleich einem Trommelschlag in ihrem Kopf verhallte. Erschrocken hielt sie die Luft an und lauschte.   Eins. Zwei. Drei.   Aber außer dem adrenalindurchströmten Rauschen ihres eigenen Blutes war weit und breit nichts zu hören. Als Kensi bei zehn angekommen war, wagte sie endlich, sich zu bewegen. Ihre Arme schmerzten bereits, doch die vielen Stunden an der Kletterwand hatten sie abgehärtet. Ein einziger, schwungvoller Armzug, dann fand Kensi mit ihren Füßen Halt und rutschte lautlos über das Geländer.   Sie hatte es geschafft.   ~*~*~*~*~*~*~   Sonderlich viel Zeit zum Jubeln konnte sich Kensi jedoch nicht nehmen, denn die wirklichen Schwierigkeiten hatte sie noch längst nicht überwunden. Und da sie von hier oben keine Möglichkeit hatte, Deeks beim Klettern zu helfen, war sie nun vollkommen auf sich allein gestellt.   In geduckter Haltung und so lautlos wie möglich bewegte sich Kensi über die morschen Bohlen, aus denen der Balkon gezimmert worden war, und jedes einzelne Knacken im Holz trieb ihren Puls noch weiter in die Höhe. Aus Evas Bericht wusste sie, dass ihr Ziel – das offene Fenster – sich irgendwo rechts von ihr befinden musste, doch es wäre selbstmörderisch, wenn sie sich ohne den leisesten Schimmer, was oder wer sie dort erwartete, ins Feindesland vorwagte.   Also schlich Kensi zuerst in die entgegengesetzte Richtung und versuchte, dicht an die Häuserwand gedrängt einen flüchtigen Blick auf die Geschehnisse jenseits der Mauern zu werfen.   Was sie allerdings zu sehen bekam, trug nicht gerade zu ihrer guten Laune bei.   Soweit sie es erkennen konnte, bestand der erste Stock aus drei Zimmern, die durch einen kleinen Flur verbunden waren. Von dort aus gelangte man über eine schmale Holztreppe ins Erdgeschoss. Das kleinste Zimmer war vergleichsweise gewöhnlich eingerichtet: ein ungemachtes Bett, ein Stuhl und ein großer Wandschrank, dessen Flügeltüren leicht offen standen – nichts, was auch nur im Entferntesten gefährlich aussah.   Auch im nächsten Raum waren keine Personen zu entdecken, doch bereits die Einrichtung sorgte dafür, dass Kensi sich zunehmend unbehaglich in ihrer Haut fühlte. An den Wänden reihten sich russische AK-Sturmgewehre an europäische Maschinengewehre und auf dem großen Tisch in der Mitte lagen ein gutes Dutzend Halbautomatikwaffen, die Kensi zweifellos als Besitz der US-Navy identifizieren konnte.   Spürbar beunruhigt kehrte Kensi zu ihrem Ausgangspunkt zurück und gab Deeks, der sich wieder in den Schutz der Mülltonnen zurückgezogen hatte, ein Zeichen. Die Fenster zum letzten Zimmer waren mit Milchglasfolie überzogen gewesen, sodass Kensi kaum etwas dahinter erkennen konnte, doch der vorgeschobene Riegel und das dicke Schloss waren ein eindeutiges Zeichen dafür, dass dort jemand gefangen gehalten wurde.   Und den würde sie jetzt auf jeden Fall befreien!   Immer noch auf äußerste Heimlichkeit bedacht, schob Kensi das halb geöffnete Schiebefenster nach oben und schlängelte sich vorsichtig hindurch. Von unten drangen gedämpfte Sprechgeräusche an ihr Ohr, aber von den Männern unten schien keiner das Bedürfnis zu haben, die Treppe heraufzusteigen.   Mit dieser Information im Rücken überwand Kensi rasch die kurze Strecke bis zur verbarrikadierten Zimmertür und hatte bereits das erste Schloss geknackt, als sich auf der anderen Seite der Tür plötzlich etwas regte. Sofort hielt Kensi inne und drückte ihr Ohr an das Schlüsselloch.   Für einen Augenblick glaubte Kensi, sich verhört zu haben, doch dann war es wieder da: ein leises Wimmern. Das musste Nancy sein! Fast schon in Rekordzeit knackte Kensi das zweite Schloss, zog den Riegel zurück und … sah direkt in ein Paar vor Schreck weit aufgerissener Kinderaugen.   Das kleine Mädchen kauerte verängstigt auf einer alten Matratze, die gefesselten Hände dicht an ihre Brust gepresst. Ein dicker Streifen Paketband klebte quer über ihrem Gesicht, doch soweit Kensi das beurteilen konnte, schien sie unverletzt. Rasch griff Kensi nach ihrem Taschenmesser und kniete sich neben Nancy, die offenbar noch zu sehr unter Schock stand, um wirklich auf sie zu reagieren.   „Ich bin Polizistin“, flüsterte Kensi ihr beruhigend ins Ohr, während sie sich an den Fesseln zu schaffen machte. „Alles wird gut, ich bin gekommen, um dich hier rauszuholen.“   Nancys Blick wanderte zur geöffneten Zimmertür und wieder zurück zu Kensi, die gerade die Schnüre der Fußfesseln durchtrennt hatte. „Hör mir zu, Nancy“, versuchte Kensi leise, auf das Mädchen einzuwirken. „Du musst jetzt ganz leise sein und genau tun, was ich dir sage. Dann verspreche ich dir, dass du bald wieder bei deinem Vater zuhause bist. Okay?“   Bei der Erwähnung ihres Vaters huschte für einen Augenblick ein hoffnungsvoller Ausdruck über Nancys Gesicht – genau die Reaktion, die Kensi sich erhofft hatte. Wieder sah Nancy zur Tür, dann nickte sie.   Kensi schenkte ihr ein aufmerksames Lächeln und nahm sie bei der Hand. Nancy war noch ein wenig wackelig auf den Beinen, doch sie schafften es, ungesehen bis zum geöffneten Fenster zu gelangen. Dann jedoch erklang das knarrende Geräusch von Schritten auf der Treppe.   „Los, da lang!“, flüsterte Kensi ihrem Schützling zu und zog sie mit sich zum geöffneten Fenster. Das Knarren wurde lauter. Sie würden es nicht schaffen. Hektisch sah Kensi zur Öffnung der Treppe, wo sich bereits ein Schatten auf den Stufen abzeichnete, und traf dann eine Entscheidung.   „Du musst jetzt alleine weiter“, flüsterte Kensi hastig. „Mein Partner steht unten und wartet auf dich. Lauf!“ Dann gab sie dem Kind einen Stoß, zog mit einem Ruck das Fenster nach unten und huschte blindlings durch die Tür zu ihrer Linken. Gerade noch rechtzeitig, denn schon hörte sie aus dem Flur eine tiefe Männerstimme rufen.   Einen Moment lang hielt Kensi inne und versuchte mit geschlossenen Augen, ihren Atem zu beruhigen. Wie lange würde der Mann brauchen, bis ihm die offenen Schlösser an Nancys Gefängnis auffielen? Hatte er das Verschwinden des Mädchens vielleicht sogar schon entdeckt?   Vorsichtig horchte Kensi an der Zimmertür und versuchte, ein paar Wortfetzen aufzunehmen, doch erfolglos. Das massive Holz dämpfte die Stimmen zu einem einzigen, sinnlosen Gemurmel, das ihr in ihrer Situation keineswegs weiterhalf.   ‚Los, konzentrier dich‘, ermahnte sie sich selbst in Gedanken. Wenn die Männer herausfanden, dass Nancy verschwunden war, tat sie gut daran, ebenfalls nicht mehr hier zu sein. Und um das zu schaffen, musste sie bei klarem Verstand sein.   Rasch ließ Kensi ihren Blick durch den Raum schweifen und wägte ihre Möglichkeiten ab. Sowohl das Bett als auch der Wandschrank boten ihr ein gutes Versteck, doch sobald die Männer das Verschwinden des Mädchens bemerkt hatten, wäre sie auch hier nicht mehr sicher. Nein, sie musste hier raus. Und zwar ganz dringend!   Kurz spielte Kensi mit dem Gedanken, sich in der benachbarten Waffenkammer eine Pistole zu holen und sich kurzerhand den Weg freizuschießen, doch diesen Gedanken verwarf sie sofort wieder. Sie war hier schließlich in Mexiko und – rein theoretisch – könnte man sie allein schon für das Betreten dieses Hauses ins Gefängnis werfen. Was bei einer Schießerei geschehen würde, dass wollte sie sich gar nicht erst ausmalen.   Nein, das Risiko konnte sie nicht eingehen.   Die Stimme aus dem Flur war mittlerweile lauter geworden, und das stetige Knarren des Holzbodens verriet Kensi, dass ihr mehr und mehr die Zeit davonlief. Schnell und leise huschte sie zum Fenster und schob den Riegel zur Seite. Ein unangenehmes Quietschen ertönte, als Metall über Metall schabte, doch schließlich war es geschafft. Ohne auf die Reaktionen jenseits der Zimmertür zu achten, schlängelte sich Kensi durch den Fensterrahmen und atmete endlich wieder Frischluft ein.   Plötzlich zerriss ein lauter Knall die abendliche Stille. „Ahí está!“** Erschrocken drehte sich Kensi um und sah drei Männer, die jetzt genau da standen, wo sie noch vor wenigen Augenblicken selbst gewesen war. Drei Pistolen wurden gezückt, doch Kensi dachte gar nicht daran, sich zu ergeben. Noch ehe die erste Kugel ihren Weg in den Lauf der Waffe gefunden hatte, hechtete Kensi zur Seite und stürzte sich blindlings über das Geländer. Keine zwei Sekunden später war die Luft erfüllt vom Donner des Kugelhagels.   ~*~*~*~*~*~*~   „Kensi‼!“   Fassungslos musste Deeks mit ansehen, wie seine Partnerin unsanft auf dem harten Boden aufkam und einen Moment lang regungslos liegen blieb. Am liebsten wäre er sofort zu ihr gerannt, doch gerade, als er sich aufrichten wollte, schlugen mit einem lauten Krachen mehrere Bleigeschosse in die Häuserwand neben ihm ein.   Wüst fluchend zog sich Deeks wieder in seine Deckung zurück.   Kensis Verfolger hatten es offensichtlich nicht durch die schmale Fensteröffnung geschafft und schossen nun blindlings in der Gegend umher. Doch Deeks zweifelte keinen Augenblick daran, dass zumindest ein Teil von ihnen bereits auf dem Weg ins Erdgeschoss war.   „Komm schon, Kensi!“ Und tatsächlich, genau in dem Augenblick, als der erste Verfolger auf dem Balkon auftauchte, kam wieder Leben in seine Partnerin. Peng! Peng!   Wieder knallten Schüsse durch die Luft. Diesmal jedoch galten sie nicht der NCIS-Agentin, sondern dem Mann auf der Brüstung. Peng! Der Mexikaner duckte sich und verschwand sofort wieder hinter der Häuserwand. Kensi nutzte die Gelegenheit und rannte, so schnell ihre Beine sie tragen konnten. Keuchend erreichte sie das Versteck und sank neben ihrem Partner zu Boden.   „Bist du okay?“, fragte Deeks besorgt und betrachtete skeptisch ihr schmerzerfülltes Gesicht. „Geht schon“, brachte Kensi mit zusammengepressten Lippen heraus. „Das… war knapp.“   „Dann lass uns verschwinden, ehe deine Freunde herausbekommen, wohin du verschwunden bist“, schlug der Detective vor und hielt seiner Partnerin die Hand zum Aufstehen hin. Dankbar nahm Kensi die Hilfe an und gemeinsam flüchteten die beiden in Richtung Auto.       * Super Glue ist eine in den USA weit verbreitete Klebstoffmarke. Ich konnte Callen ja schlecht von UHU reden lassen. ** Spanisch: „Da ist sie!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)