Schnee und Teufelstriller von ImSherlocked (eine kleine Oneshot-Sammlung) ================================================================================ Kapitel 1: Schnee und Teufelstriller ------------------------------------ Schnee und Teufelstriller Der Schnee fiel leise, und er fiel endlich wieder. Seit vier Jahren hatte es keine weiße Weihnacht mehr in London gegeben, Sherlock interessierte das zwar wenig, John freute sich aber unheimlich darüber. Schnee zum heiligen Fest hatte irgendwie etwas… beruhigendes, etwas heimeliges, etwas, über das man sich freuen konnte, etwas, das einen vom Stress ablenkte, den man in der Vorweihnachtszeit ziemlich oft hatte. Normale Menschen waren ja schon damit überfordert, Geschenke einzukaufen, die Wohnung zu schmücken, Verwandte zu besuchen und noch irgendwie die Arbeit unter einen Hut zu bekommen und John beneidete diese Leute. Er hatte das alles nämlich auch…. Und er hatte Sherlock. Zusätzlich. Und der machte mehr Arbeit als alles andere zusammen, doch es störte John nicht. Nein, es hätte John nicht gestört, wenn der selbsternannte Consulting Detectiv einen Auftrag oder irgendeine andere Beschäftigung gehabt hätte, doch dem war leider nicht so. Sherlock schob schreckliche Langeweile, denn anscheinend machten sämtliche Verbrecher Londons Weihnachtsferien oder waren ebenfalls so im Stress, dass sie vergessen hatten, nebenbei noch ihren eigentlichen Job auszuüben, um Sherlock nicht in den Wahnsinn zu treiben. Besser jedoch wäre formuliert, John nicht in den Wahnsinn zu treiben, denn das taten sie mit ihrem Nichts-Tun und Sherlocks daraus resultierenden abwechselnden Anfällen von Hyperaktivität und Lethargie. An diesem Morgen war es besonders schlimm gewesen. Sherlock hatte Geige gespielt, nicht weiter schlimm, John genoss es, wenn Sherlock Geige spielte, meistens verwöhnte er seine Ohren mit wunderschönen Melodien und sogar zu Weihnachtsliedern hatte der überzeugte Atheist sich hinreißen lassen – doch an diesem Morgen… Sherlock hatte in den letzten Tagen eine besondere Vorliebe für den Komponisten Giuseppe Tartini entdeckt, dessen Namen John vorher nicht einmal ansatzweise vernommen hatte, doch nun kannte er ihn. Gut. Ausführlich. In seiner vollkommenen, schrecklichen Pracht. Denn anders als sonst hatte Sherlock die sogenannte Teufelstrillersonate noch nicht gekannt, sondern sich die Noten gekauft und angefangen zu üben. Und nein, es war nicht schön, wenn man auf der Geige übte, besonders nicht dann, wenn das Stück so kompliziert war, dass John Probleme damit hatte, überhaupt eine klare Melodie zu erkennen. Die ganze Nacht hatte Sherlock sich verbissen am letzten Satz versucht und – John musste ihm dieses Zugeständnis machen – inzwischen hörte er sich alles nicht mehr ganz so schief an wie vor drei Tagen, doch nachdem er geschlagene zwei Stunden Übungszeit mit nur drei Takten verbracht hatte, die sich immer und immer wiederholten, war John die Hutschnur hochgegangen. Üben nachts um vier ertrug er, die ganze Nacht durch auch, er hatte schließlich Ohropax, aber solche Dissonanzen… zwei Stunden lang und am frühen Vormittag, das war eindeutig zu viel des Guten. Also war er geflohen, in den Schnee geflohen, hatte sich vorher seine Winterjacke geschnappt und war kopflos in das wirbelnde Weiß gestürmt. Sherlock hatte wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, dass er gegangen war, aber wie sollte es auch anders sein? Er wusste, dass Sherlock seine Gespräche mit John fortsetzte, wenn dieser nicht einmal mehr im Raum oder gar in der Wohnung war, dass er es einfach nicht mitbekam, wenn er tief in Gedanken versunken war oder Geige übte oder sein drei Nikotinpflasterproblem hatte oder nach einer Woche Schlafentzug dann doch endlich auf der Couch eingeschlafen war. Das alles ertrug John stumm, weil er Sherlock mochte, weil er eine tiefe Freundschaft zu seinem Mitbewohner empfand und weil er wusste, dass dieser eben so war, wie er war und nicht anders. An jede seiner Macken hatte John sich inzwischen gewöhnt oder ignorierte die, an die er sich nie gewöhnen würde. Und wenn Sherlocks Gesellschaft so unerträglich war wie an diesem Tag, an dem er sich einfach nur etwas Ruhe, Frieden und einen angenehmen Mitbewohner gewünscht hatte – schließlich war heute Heiligabend – machte er einen seiner längeren Spaziergänge durch die weißen Straßen und Gassen Londons, die beinahe vollkommen verlassen wirkten. Spät war es noch nicht, einige Geschäfte hatten in den großen U-Bahnstationen noch geöffnete Ladentüren, doch die Dunkelheit kroch am Horizont schon empor und bald würde jeder Mensch zu Hause bei seiner Familie sitzen und mit ihnen zu Abend essen, nette Gespräche führen, vielleicht ein wenig Fernsehen schauen und dann ins Bett gehen. Nicht so John. Er war sich ziemlich sicher, dass sich Sherlock aus Protest gegenüber der gesellschaftlichen Norm, Weihnachten zu feiern, diese schreckliche Sonate gekauft hatte und nun damit versuchte, den Grinch oder ähnliches herbeizurufen, nur um Weihnachten zu canceln. Unwillkürlich stellte John sich die Frage: Was bezweckte Sherlock damit? Der Detektiv wusste ganz genau, mit was er John vergraulen konnte und dass er es genau damit getan hatte. Und er wusste auch, dass John gern Weihnachten feierte und es überhaupt nicht leiden konnte, wenn er diese Tradition nicht durchführen konnte. Doch um sich selbst gegenüber ehrlich zu sein, war er für dieses Jahr nicht gut gerüstet gewesen, denn letztes Jahr war eine Katastrophe geworden. Greg hatte nicht kommen können, Molly war bei ihren Eltern zu Besuch, Mrs. Hudson hatte Probleme gehabt, sich wegen ihrer Hüfte zu bewegen und Sherlock? Sherlock war einem Fall nachgejagt, ohne Rücksicht auf Verluste, hatte sich eine Kugel an der Wade eingefangen und John bis Neujahr die Ohren vollgeheult, weil er sich kaum bewegen konnte. Wieso sollte es also dieses Jahr anders sein? Gäste hatte er erst gar nicht eingeladen, für ein Weihnachtsessen hatte er nicht eingekauft. Wenn er gegen Abend nach Hause kam, würde er sich einfach mit Tee und Rum vor den Kamin setzen, ein bisschen lesen und dann ins Bett gehen. Vorausgesetzt, Sherlocks Stradivari schwieg endlich und ließ ihm das letzte bisschen Ruhe und Frieden, dass er sich vom Heiligabend erwartete. War er altmodisch? Wahrscheinlich ein bisschen. Aber in diesem Fall wollte er es sogar sein, die ganze Welt war altmodisch, wenn es um Weihnachten ging. Nur Sherlock Holmes scherte sich einen Dreck darum. Natürlich. Doch John war nicht einmal wütend deshalb, das ging schon lange nicht mehr. Natürlich, ab und zu hatte er kleine Ausraster, doch Sherlocks Launen hatten ihn schon lange nicht mehr in eine wütende Grundstimmung versetzt. Als Resignation konnte man das Gefühl eher beschreiben, er wusste schlicht nicht mehr, was er machen sollte. Sich dem zu beugen wäre das einfachste gewesen. John blieb stehen und atmete durch, als er endlich den Regent’s Park erreicht hatte. Der See war zugefroren, die Enten hatten sich auf einen Haufen ans Ufer gelegt um sich gegenseitig zu wärmen und einige Schneeflocken bedeckten ihr Gefieder. Es schneite immer noch, unablässig, eine gute Handbreit Pulverschnee bedeckte den Boden bereits und als John den Blick nach oben schweifen ließ und in die Wolkendecke schaute, stellte er fest, dass es so schnell auch nicht wieder aufhören würde zu schneien. Geschlossenes Grau, normalerweise ein sicherer Indikator für tagelangen Regen, in diesem Fall also für tagelangen Schnee und es schneite erst seit gestern Abend. Spätestens morgen würde der Verkehr also lahm liegen. Aber was interessierte ihn das, er wollte niemanden besuchen und zu einem Fall würde er sich über die Feiertage nicht überreden lassen, so viel stand fest und so viel war ihm heilig. Gerade wollte er den ersten Schritt in den unberührten Schnee und den menschenleeren Park wagen, als ein leises kurzes Klingeln die Stille zerriss. Sein Handy. Sms. Wahrscheinlich von Sherlock. Von wem sonst? Harry hatte ihm über seinen Blog Weihnachtsgrüße zukommen lassen, der Rest seiner Freunde würde kurz anrufen und dieses Thema nicht über Sms abhandeln. Also Sherlock. Das hatte er gut deduziert!, schoss es ihm durch den Kopf und er musste schmunzeln. Ein Blick auf sein Handy verriet ihm, dass er tatsächlich recht gehabt hatte. Sherlock hatte ihm geschrieben. 16:37h Wir haben keine Milch mehr. -SH John seufzte ausgiebig und setzte seinen Weg fort. Im Laufen antwortete er. 16:38h Heute Morgen war die Flasche noch fast voll! 16:40h Jetzt ist sie aber leer. –SH Sherlock hatte innerhalb so kurzer Zeit fast einen Liter Milch vernichtet? Gut, das war nicht ungewöhnlich, aber normalerweise passierte das nur, wenn er an einem Fall arbeitete und nicht zum Essen kam. Milch war dann sein Nahrungsersatz. John konnte sich aber daran erinnern, dass Sherlock am Morgen zumindest flüchtig gefrühstückt hatte. 16:42h Ich bin überhaupt nicht an der Reihe, die Milch einzukaufen. Außerdem kaufe ich sie immer nur zu deinem persönlichen Vergnügen und habe selten selbst davon etwas! Er war nicht egoistisch, es ging ihm lediglich ums Prinzip. Er wollte nicht der Laufbursche sein, nicht am Heiligabend. 16:43h Für dich sind es gerade keine zwei Minuten bis zur Baker Street Station. Bring Milch mit. –SH Am liebsten wäre John sofort nach Hause gerannt und hätte Sherlock angeschrien, doch er würde sowieso nur auf taube Ohren stoßen. Für einen kurzen Moment blieb er stehen, das Handy in der Hand, die Augen geschlossen. Bis zehn zählend, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Dann machte er sich tatsächlich auf den Weg die Milch zu kaufen, außerdem noch ein paar andere Sachen, um nicht mit hungrigem Magen ins Bett zu gehen. Brot, Butter, Aufschnitt und Salat, es würde kurz entschlossen Weihnachts-Sandwich geben. Und anders als erwartet stand er nicht als einziger an der Kasse an, einige wenige teilten sein Leid stumm und mit trübem Blick. Für sie alle musste Weihnachten genauso schön sein, wie für ihn auch. Also war er doch nicht allein auf dieser Welt! Auf eine kranke Art und Weise befriedigte ihn dieser Gedanke zutiefst. Wieder ein Piepsen. 17:01h Hast du die Milch gekauft? –SH John antwortete nicht darauf, sondern schlug direkt den Heimweg ein, damit der Salat nicht eines gewaltsamen Kältetodes starb und man die Milch später nicht lutschen musste… wobei er das Sherlock, um sich gegenüber ehrlich zu sein, durchaus gegönnt hätte. Mit größter Mühe friemelte er an dem Schloss der Haustür herum, bis er es mit fast steifgefrorenen Fingern endlich geöffnet hatte und betrat den Hausflur. Von oben war im Moment kein Laut zu vernehmen, hoffentlich hatte Sherlock die drei Takte endlich auf die Reihe bekommen oder es aufgegeben, sie immer und immer wieder zu üben, wobei die zweite Möglichkeit eher unwahrscheinlich war. Ein Sherlock Holmes gab nicht einfach so auf, auch wenn er damit die Nerven seines Mitbewohners empfindlich überstrapazierte. Nein, ein Sherlock Holmes zeigte auch dann keine Rücksicht, wenn sein Mitbewohner schon auf dem Zahnfleisch ging und kurz davor war, mit Gegenständen nach ihm zu schmeißen. Natürlich hatte John das nie getan, abgesehen von diesen zwei winzigen Ausnahmen, aber es wäre durchaus eine Überlegung wert. Er stieg die siebzehn Treppen empor und betrat die Wohnung. Sherlock übte tatsächlich nicht, er saß in seinem Lieblingssessel, die Geige und den Bogen auf den Knien und hatte die Augen geschlossen. Offensichtlich dachte er angestrengt über etwas nach, denn er bemerkte John nicht. Dieser seufzte laut, schüttelte den Kopf und trug die Einkäufe in die Küche, um sie in den Kühlschrank zu räumen. „Bitte hab dieses Mal keine Ohren in der Gemüseschublade…“, flehte er leise und öffnete die Tür. Und tatsächlich: keine Ohren in der Schublade, stattdessen ein abgetrennter Fuß im obersten Fach. „Sherlock!“, fluchte John laut und hätte diesen Fuß am liebsten sehr tief im Hintern seines Mitbewohners versenkt, er besann sich jedoch, atmete erneut durch und zählte bis zehn. Schließlich war es Weihnachten, das Fest der Liebe, des Friedens und der Besinnung. Nichts für Sherlock. Offenkundig. Mit geübten Handgriffen sortierte John die wenigen Lebensmittel in den Kühlschrank und möglichst weit weg von dem schon leicht stinkenden Fuß. An den merkwürdigen Geschmack, den manchen Lebensmitteln nach einer gewissen Zeit in diesem Leichenteillager anhaftete, hatte er sich gewöhnt. An den Anblick würde er sich niemals gewöhnen. Und nein, John konnte nicht anders. Dafür würde er Sherlock zur Rede stellen! Wütend stürmte er in das gemeinsame Wohnzimmer und baute sich vor seinem Mitbewohner auf. „Was denkst du dir eigentlich dabei, jetzt auch noch abgetrennte Füße anzuschleppen? Du bist schlimmer als jede Katze, die mir stolz tote Tiere vors Bett legt!“, fauchte er und rang um Fassung. An jedem anderen Tag wäre es ihm wahrscheinlich egal gewesen, aber schließlich war heute Heiligabend. Das würde er nicht auf sich sitzen lassen! Doch anstatt ihm eine ähnlich trotzige Bemerkung an den Kopf zu werfen, schaute Sherlock ihn nur eine Weile an, nahm dann seine Geige wieder hoch und setzt den Bogen an. Er würde doch jetzt nicht… „Nein Sherlock, nicht schon wieder dieses schreckliche Stück!“, jammerte John verzweifelt, wandte sich von ihm ab und massierte sich mit zwei Fingern den Nasenrücken. Und Sherlock? Was tat der? Grinste, holte Luft und begann erneut, genau die drei Takte zu spielen, mit denen er John schon am Vormittag verjagt hatte. Und sein Plan zeigte Wirkung. John warf verzweifelt die Hände zur Decke, fluchte und verschwand wieder nach draußen. Sobald er außer Hörweite war, sprang Sherlock auf, versenkte die Geige in ihrem Kasten und machte sich ans Werk. John indes stapfte wütend durch den immer noch fallenden Schnee die Baker Street hinunter. Für heute war seine Toleranzgrenze wirklich erreicht, er haderte schon mit sich, vor Mitternacht überhaupt noch einmal zu Hause aufzuschlagen. Irgendein Pub hatte für einsame Menschen bestimmt noch eine geöffnete Tür, ein warmes Feuer und ein kühles Bier… doch noch war es nicht richtig dunkel, nur die Abenddämmerung legte sich langsam über die weiße Stadt. In diesem Moment fühlte John sich einsam. Wieso war er gegangen und hatte nicht wie jedes andere Mal Sherlock Launen einfach ertragen? Dann hätte er wenigstens Gesellschaft gehabt und wäre nicht wie letztes Jahr einsam gewesen? Aber wieso sollte es auch anders sein… Mit Sherlock erlebte man selten „normale“ Tage und das war auch gut so, nur ab und zu… ein wenig Normalität… dagegen hätte John nun wirklich nichts einzuwenden. Müde vom vielen Laufen irrte er durch die Gegend, von Straßenlaterne zu Straßenlaterne und wusste nur noch wage, wo er sich eigentlich befand. Weit weg von der Baker Street auf jeden Fall nicht, aber weit genug, um genug Distanz zwischen ihn und Sherlocks Geigenspiel gebracht zu haben. Vielleicht noch eine kleine Runde durch den Regent’s Park und dann…? Ja, dann wohl oder übel zurück nach Hause, denn Johns Magen knurrte unüberhörbar und ihm war inzwischen ziemlich kalt. Vielleicht hatte Sherlock sich immerhin dazu herabgelassen, den Kamin anzuheizen, damit sie sich abends davor setzen konnten, doch John bezweifelte es stark. Dem Detektiv war selten kalt, das war anscheinend einfach nicht so wichtig und die Festplatte in dessen Kopf durfte schließlich auch nicht überhitzen… John lachte leise. Wie zuvor lag der Park verlassen, einige kleine Schneewehen hatten sich sogar gebildet und durch den Verlust des Tageslichtes wurde es auch deutlich unangenehmer und kälter. Der Wind nahm zu, der Schnee fiel nicht mehr nur einfach, er wehte einem ins Gesicht, es war schwierig, die Augen offen zu halten und die Atemwolken wurden auch sofort weggetragen. Das Gesicht gen Boden gerichtet ging er stur weiter quer durch den Park um nach Hause zu gelangen. Nase und Ohren wurden allmählich taub und auch seine Füße… Weiter kam er im Denken nicht, denn plötzlich klatsche etwas, dass sich bedenklich nach Schneeball anfühlte an seinen Hinterkopf. Vollkommen konsterniert blieb er stehen und konnte die Situation so schnell gar nicht verarbeiten. Als er sich das letzte Mal umgeschaut hatte, war weit und breit eindeutig niemand zu sehen gewesen. Woher kam dieser Schneeball also und wer hatte es gewagt, ihm diesen einfach so aus purer Lust und Laune an den Hinterkopf zu werfen? Gerade jetzt, wo John am liebsten alles meucheln würde, was ihm zum falschen Zeitpunkt vor die Füße am? Als er sich umdrehte um nach dem „Angreifer“ Ausschau zu halten, traf ihn ein weiterer ziemlich großer Schneeball direkt auf der Brust. Weh tat es durch die dicke Winterjacke nicht, es war aber unangenehm. Durch den Schnee entdeckte er eine Gestalt, relativ weit entfernt und nicht gut zu erkennen, allerdings schwarz gekleidet, groß und hager. Sah Sherlock zum Verwechseln ähnlich. John ging einige Schritte auf den „Fremden“ zu und erkannte, dass es sich tatsächlich um Sherlock handelte, der den nächsten Schneeball schon fertig in der rechten Hand hielt, damit dann auch ausholte und mit einiger Wucht nach John warf. Ein deutliches tiefes Lachen war zu vernehmen, als Sherlock sich danach aus dem Staub machte und in den Schnee davonrannte. John jedoch war dem letzten Schneeball im letzten Moment ausgewichen und beinahe außer sich vor Wut. Was bildete dieser Idiot sich jetzt auch noch ein? Hatte er ihn für diesen Tag nicht schon genug geärgert und musste ihn nun auch noch mit einer Schneeballschlacht in den absoluten Wahnsinn treiben? Was dachte sich der Kindskopf, der er offensichtlich war, dabei? Das galt es, herauszufinden! Ohne weiter nachzudenken rannte John Sherlock hinterher, der damit anscheinend ausnahmsweise nicht gerechnet und deshalb ein eher gemütliches Tempo angeschlagen hatte. Ein eindeutiger Fehler. John kam seinem Mitbewohner schnell näher und als dieser bemerkte, dass er tatsächlich verfolgt wurde, war es schon längst zu spät. John setzte zum Hechtsprung an, fiel Sherlock in den Rücken und dieser der Länge nach in eine Schneewehe. Atemlos blieb John auf seiner erfolgreich erjagten Beute sitzen und hoffte, dass Sherlocks Gemüt sich im eiskalten Schnee etwas abkühlen würde. Mit allem rechnete er jetzt. Versuche, sich zu befreien, lautes Jammern, ignorieren der Situation, doch nichts von alledem trat ein. Stattdessen schüttelte es den Körper unter ihm unablässig und John, der damit erst gar nichts anfangen konnte, begriff schnell, dass Sherlock anscheinend laut lachte, das jedoch durch den Schnee gedämpft wurde. Das Lachen ließ und ließ nicht nach, doch John erbarmte sich noch lange nicht, sich von seinem Mitbewohner zu erheben. Dafür hatte auch er gerade viel zu viel Spaß. Endlich hatte er einen kleinen Sieg über Sherlock errungen und endlich hatte er auch einmal etwas für den Meisterdetektiv nicht Vorhersehbares getan, auf das er zurecht stolz sein konnte und auch war. Nachdem das Lachen verebbt war und der Arzt sich ganz langsam Sorgen machte, ob es Sherlock auch gut ging, erhob er sich und half dem Geschlagenen auf die Füße. Diesem konnte man das kindische Grinsen einfach nicht aus dem Gesicht wischen. „Was hast du dir dabei gedacht?“, entfuhr es John unwirsch und er warf seinem Mitbewohner einen anschuldigenden Blick zu, „das ganze Theater heute… musste das wirklich sein?“ Sherlock hingegen blieb die Ruhe selbst. „Natürlich musste das sein. Einmal mehr hast du unter Beweis gestellt, dass du kaum intelligenter bist als Anderson an seinen besten Tagen.“ John schnappte nach Luft, um etwas zu erwidern, klappte dann den Mund aber wieder zu und beließ es dabei. Genug Unfrieden für heute und diese Beleidigung, die aus Sherlocks Sicht wahrscheinlich eher einem Kompliment war, denn immerhin bezeichnete er John als „intelligenter als Anderson“, kam den unzähligen gleich, die er schon lange Zeit vorher hatte über sich ergehen lassen. Nichts Neues also, nichts, worüber man sich jetzt noch mehr aufregen müsste. „Schon okay… wir sollten einfach nach Hause gehen.“, schlug John vor und deutete in Richtung Baker Street. Sherlock warf einen schnellen Blick in die Richtung und schritt dann zügig voran. „Natürlich sollten wir das.“ John schloss sich kommentarlos an und starrte auf den Hinterkopf des anderen. Wie gern hätte er ihm auch noch einen Schneeball dorthin geworfen, aber auf diese Stufe würde er sich heute nicht mehr herablassen. Morgen oder übermorgen… oder zu einem anderen geeigneten Zeitpunkt würde Sherlock schon noch sehen, was er davon gehabt hatte, ihm heute einen Schneeball an genau diese Stelle zu werfen. „Und muss ich mir gleich wieder dieses schreckliche Stück anhören?“, fragte John nach und schloss zu Sherlock auf. Dieser schaute nur äußerst amüsiert und antwortete schnippisch: „Wenn du so viel Wert darauf legst, kann ich dir gleich gern noch eine Kostprobe dessen geben, was ich über den Tag erarbeitet habe…“ „Untersteh dich!“, fuhr John ihm dazwischen und kramte nach seinem Haustürschlüssel, fand ihn jedoch nicht. Hatte er ihn liegen lassen? Sherlock trat an ihm vorbei auf die Haustür der 221b Baker Street zu und öffnete diese wohlgemerkt mit Johns Schlüssel, den er ihm vorher aus der Jackentasche entwendet hatte und betrat das Haus. Ohne etwas zu sagen, folgte John ihm. Immerhin war der Schlüssel nicht verloren gegangen… Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, war Sherlock schon längst oben in der Wohnung verschwunden. Was für ein Tag… dachte John sich und machte sich ebenfalls auf den Weg. Am Treppenabsatz angekommen, umfing ihn wohlige Wärme, die aus dem Wohnzimmer zu kommen schien. War der Kamin doch angeheizt worden? Er riskierte einen Blick in den Wohnraum und war überrascht, welche Veränderung sich hier vollzogen hatte. Sherlock hatte dekoriert – hatte es zumindest versucht, und die vorher überhaupt nicht weihnachtliche Wohnung in ein Winterwunderland verwandelt. Das Chaos überzog zwar noch immer jeden kleinstmöglichen freien Raum, aber es war unumstritten als weihnachtlich zu bezeichnen. Und das alles in der kurzen Zeit, in der John das zweite Mal weg gewesen war. Er musste einen ziemlich doofen Gesichtsausdruck machen, denn Sherlock, der gerade mit einem Tablett aus der Küche kam, schaute ihn verwundert an, schwieg aber eisern. „Warst.. du das?“, ungläubig betrat John das Zimmer und streifte seine schwere und inzwischen nasse Winterjacke von den Schultern. „Nein. Ich? Auf keinen Fall, ich dachte du kennst mich inzwischen gut genug, John. Nein, die Weihnachtswichtel kamen gerade zum Kamin herein, als du die Haustür geschlossen hattest und haben alles dekoriert“, mit vor Sarkasmus triefender Stimme stellte Sherlock das Tablett auf den kleinen Tisch am Kamin, an dem auch die zwei Sessel ordentlich aufgestellt standen. Decken hingen über den Lehnen und Johns Pantoffeln standen vor seinem Sessel. „Da haben sich die Weihnachtswichtel aber große Mühe gegeben“, konterte John nur leise und hängte seine Jacke über einen Stuhl in der Nähe. Sie würde schon von allein trocknen. Kurze Zeit später fand er sich in seinem Sessel wieder, die Füße in warmen Socken, die Decke um die Schultern gelegt und eine heiße Tasse Kakao mit selbst eingekaufter Milch in der Hand und starrte Sherlock immer noch ungläubig an, der seinerseits stur ins Feuer blickte. Wieso…?, fragte John sich insgeheim, wusste aber nicht, wie er die Frage formulieren sollte. „Das ganze Theater mit der Sonate nur, um mich aus der Wohnung zu entfernen? Das hättest du aber auch leichter haben können…“, meinte er nach einiger Überlegung und schlürfte an seinem Getränk. Wieder einmal verstand er Sherlock nicht. „Nein, ich hätte es nicht leichter haben können. Ich wollte dieses Stück schon immer einmal spielen, nur war es mir entfallen und durch einen Klienten im Herbst kam es mir wieder in den Sinn. Gefällt es dir tatsächlich nicht?“, erkundigte sich sein Gegenüber und warf einen Blick zu dem Notenpult, auf dem die Sonate stand. „Das fragst du mich, nachdem du mich damit zweimal erfolgreich aus der Wohnung vertrieben hast? Nein, natürlich gefällt es mir nicht. Wie auch, es hört sich furchtbar an!“ „Ich übe schließlich auch noch.“, verteidigte Sherlock sich und blieb vollkommen gelassen. „Ja, du übst noch, das habe ich am Rande mitbekommen.“, spottete John leise und verdrehte die Augen. All die schiefen Töne, verunglückten Lagen- und Saitenwechsel, das ständige Wiederholen von kurzen Passagen und diese furchtbaren Triller… es war John eher schwer gefallen, das nicht mitzubekommen. Er seufzte und beließ es dann dabei. In diesem Punkt war der Detektiv einfach unverbesserlich. Niemals würde er lernen, zu den Zeiten zu üben, zu denen John sowieso nicht im Haus war. Anscheinend legte er es darauf an, genau dann zu üben, wenn John es überhaupt nicht ertragen konnte. „Und wieso die ganze Dekoration? Du kannst doch Weihnachten gar nicht ausstehen.“ Sherlock erwiderte den bohrenden Blick nicht minder stur. Er hatte John einen Gefallen machen wollen und dafür war dieser schlicht im Weg gewesen. Zeitlich war es schon ganz schön knapp geworden, er hatte damit gerechnet, John mit diesem Stück eher aus der Wohnung zu befördern, aber im Endeffekt hatte es zum Glück doch noch gereicht. Auch Sandwiches und Kakao hatte er noch vorbereiten können, bevor er John auf seine ganz unkonventionelle Art und Weise wieder eingefangen und nach Hause geschleift hatte. Er selbst mochte Weihnachten nicht, doch es bedeutete John viel, eine Erkenntnis, die Sherlock im letzten Jahr zur gleichen Zeit gekommen war. Es war auch ein Dankeschön für all die durchwachten Nächte, Gefahren, Hunger- und Durststrecken und alle Launen, die John hatte ertragen müssen. Nur würde Sherlock das natürlich niemals offen zugeben. John schienen zeitweilig die gleichen Gedanken gekommen zu sein. Bevor er jedoch weiter nachfragen konnte, öffnete Sherlock den Mund und sagte leise: „Fröhliche Weihnachten, John“ ___________________________________________________ Damit ihr eine Vorstellung davon bekommt, mit was genau Sherlock John in den Wahnsinn getrieben hat, habe ich hier eine kleine Kostprobe für euch: http://www.youtube.com/watch?v=rsfCHZK8W6w&feature=related So ab Minute 12 ca, das davor ist alles noch relativ harmlos ;) lg Sherly Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)