Versteckte Stücke der Erinnerungen von Alaiya (Hidden Pieces of Memory) ================================================================================ Erinnerungen ------------ Mit einem Seufzen blätterte Haruka die Seite ihres Buches um und sah kurz auf. Rötliches Licht fiel auf den Wald am Rande Kyotos hinab, wo sie sich an eine Mauer gelehnt niedergelassen hatte und schon seit einer Weile las. Die Sonne ging bereits unter und bald würde sie nicht mehr genug Licht haben. Erneut seufzend streckte sie sich. Sie sah in Richtung des Flusses, hinter dem in geringer Entfernung die Hochhäuser der Metropole standen, und strich sich eine Strähne ihres glatten, schwarzen Haares aus dem Gesicht. Sie sollte sich eigentlich auf den Rückweg machen, immerhin wurde davor gewarnt, sich als Mädchen oder junge Frau allein draußen aufzuhalten, doch vermisste sie die Unruhe der Stadt nicht im Geringsten. Mit einem Tippen gegen den Rahmen fuhr sie ihre Brille wieder hoch. Laut der Uhr, die nun oben rechts in ihrem Blickfeld erschien, war es kurz vor halb sieben. Ein wenig konnte sie noch hier draußen bleiben. Zumindest bis es zu dunkel zum Lesen wurde. Und so wandte sie sich wieder ihrem Buch zu. Es war die übersetzte Fassung eines alten Klassikers. „Alice vom geheimnisvollen Land“ oder, wie der Originaltitel lautete, „Alice in Wonderland“. Sie hatte das illustrierte und gebundene Buch vor einer Woche in einem Antiquariat in Hagashiyama gefunden. Der Einband war etwas abgegriffen, doch genau das war es, was sie an solchen alten Büchern mochte. So blieb sie noch eine Weile sitzen wo sie war, bis es dank dem Zwielicht der Dämmerung zu anstrengend wurde, zu lesen. Nachdem sie das Buch zugeklappt hatte, blieb sie noch einen Moment sitzen und sah zum Himmel hinauf, der im Westen noch immer rötlich verfärbt war. Allerdings würde der Himmel nicht ganz dunkel werden, sondern nur ein etwas dunkleres Blau als am Tag annehmen, da er vom Licht der Stadt erhellt wurde. Sie stand auf und steckte das Buch in ihren Rucksack, ehe sie zu ihrem Fahrrad hinüberging. Dieses schiebend, machte sie sich auf den Weg zur Brücke. Sie fürchtete, dass auch hier irgendwann wieder neue Häuser gebaut werden würden, wie es schon weiter im Norden der Stadt vor einigen Jahren geschehen war. Dann würde man die Ruinen der von dem Erdbeben vor 34 Jahren zerstörten Häuser entsorgen und Teile des Waldes weiter roden, um neuen Platz zu schaffen. Als sie auf der Togetsukyo stand, sah sie sich noch einmal zum Wald des Arashiyama um, in dem noch einige Tempel und Schreine erhalten geblieben waren. Er sah nun, wo es langsam dunkel wurde, irgendwie bedrohlich aus und doch war es verlockend, ihn weiter erkunden zu gehen. Sie blinzelte. Für einen Moment hatte sie geglaubt, eine Gestalt zwischen den Bäumen gesehen zu haben, doch als sie nun genauer hinsah, war was auch immer sie gemeint hatte zu sehen verschwunden. Hatte sie es sich nur eingebildet? Doch da sah sie ein Leuchten zwischen den Bäumen. Jedoch war es kein gleichmäßiges Leuchten, wie das einer LED, sondern flackerte, beinahe wie Feuer. Dabei war es doch verboten, im Wald offenes Feuer mit sich zu führen. Aber vielleicht war es einer der Mönche aus einem der Tempel. Diese galten in der Stadt als etwas eigenbrötlerisch. Nichtsdestotrotz spürte sie den Drang, dem Ganzen auf den Grund zu gehen, zu schauen was dort so seltsam leuchtete. Sie zögerte für einen Moment. Doch dann wandte sie sich zur Stadt. Es war schon spät und sie musste noch einkaufen, wenn sie etwas zu Abend essen wollte, da ihr Kühlschrank am Morgen beinahe leer gewesen war. Wahrscheinlich war es nur ein Mönch. Mit diesem Gedanken schob sie ihr Fahrrad weiter über die alte Brücke, ohne zu bemerken dass ein Paar Augen sie vom Ufer des Flusses aus beobachteten. Mit einer Tüte in der Hand erreichte Haruka beinahe eine Dreiviertelstunde später ihr Apartment, das im siebten Stock eines der Studentenwohnheime im Ukyo-Distrikt gelegen war. Gerade, als sie ihren Schlüssel aus der Tasche fischte, um die altmodische Tür zu öffnen, verkündigte ein Piepen in ihrem Ohr und ein blinkendes Symbol am rechten Rand ihres Blickfeldes, dass ihre Mutter sie gerade anrief. Sie seufzte. „Abheben“, sagte sie, woraufhin ein kurzes Tuten ertönte, ehe sie die Stimme ihrer Mutter hörte. „Hallo, Liebes.“ „Hallo, Mum“, meinte sie, während sie die Tür aufschob und in ihr Apartment trat, das aus nur einem Zimmer und einem sehr kleinen Bad bestand. „Geht es dir gut?“, erkundigte sich ihre Mutter standardgemäß, während sie selbst die Tüte auf die Arbeitsfläche der kleinen Einbauküche rechts von der Eingangstür ablegte. „Ja, natürlich, Mum.“ Sie bemühte sich gar nicht, freundlich zu klingen. „Es ist alles bestens. Was gibt es denn?“ Während sie sprach, schloss sie die Tür und zog sich ihre Schuhe aus. „Nichts, nichts“, erwiderte ihre Mutter. „Nichts Besonderes zumindest. Ich wollte nur hören, ob es dir gut geht.“ „Ja, alles bestens“, wiederholte Haruka. Damit schnippte sie mit den Fingern und machte so das Licht im Wohnteil des Zimmers an – eine der wenigen Modernitäten der Wohnung, auch wenn sie solche wenig misste. „Na ja“, fuhr ihre Mutter fort. „Und ich wollte fragen, ob du nicht zum Abendessen rüber kommen willst. Shin hat seine Freundin auch eingeladen. Du warst lange nicht mehr hier.“ Die junge Frau stöhnte. „Nein danke, Mum.“ Natürlich wollte ihre Mutter sie einladen, weshalb sollte sie sonst anrufen? „Bist du dir sicher, Liebes?“ Ihre Mutter klang besorgt und enttäuscht. „Du hast doch sicher seit Wochen nichts Vernünftiges mehr gegessen.“ „Mum, dafür hat die Universität eine Mensa“, grummelte Haruka. Bei diesen Worten gab ihre Mutter, die den aggressiven Tonfall sicherlich hörte, auf. „Wie du meinst, Liebes. Ich wünsche dir noch einen schönen Abend. Ach ja, und ich soll dich von Yoichi grüßen.“ „Ja, ja“, meinte die junge Frau. „Schönen Abend.“ Damit berührte sie den Träger ihrer Brille, um aufzulegen. Erneut seufzend fragte sie sich, wann ihre Mutter es endlich aufgeben würde. Sie hatte einfach keine Lust, unnötig viel Zeit mit ihrer Familie zu verbringen und dies wussten eigentlich alle sehr genau. Und doch gab es Fumiyama Mayuri nicht auf, ihre Tochter in das Familienleben einbinden zu wollen. Mit einem Ruck erhob sich Haruka und schaltete den Flachbildfernseher an der der Küche gegenüberliegenden Wand ein, ehe sie den Wasserkocher auf der Arbeitsfläche nahm, befüllte und auf achtzig Grad einstellte. Während sich das Wasser erhitzte, kramte die junge Studentin eine Instantsuppe aus der Einkaufstüte hervor. Als der Wasserkocher einen kurzen Piepston von sich gab, füllte sie die Plastiktasse auf und schnappte sich ein Paar Stäbchen aus der Schublade, um sich so vor den Fernseher zu setzen. Die Nachrichten würden bald anfangen. Natürlich hatte ihre Mutter Recht: Sie ernährte sich vorrangig von Instantprodukten, da sie selten Lust hatte, zu kochen und die Schulmensa ihr sowohl zu voll, als auch zu überteuert war. Doch waren diese Nudelsuppen bei weitem nicht so ungesund, wie ihre Mutter immer tat. Außerdem aß sie am liebsten allein. Die Zeit verging, während sie vor dem Fernseher saß und – nachdem sie die Nachrichten gesehen hatte – halbherzig eine Dokumentation über ein Naturreservat in Australien verfolgte. Dabei verwunderte es sie nicht wirklich, dass irgendwann gegen halb zehn an ihrer Wohnungstür geklingelt wurde. Noch bevor sie aufmachte wusste sie, dass es ihr Bruder Shin war, der zusammen mit seiner Freundin Izumi und einem Thermoisolationsbehälter auf der Balustrade des Stockwerkes stand. „Ja, ich weiß, Mum hat dich vorbei geschickt, um mir Essen zu bringen“, bluffte sie, als sie die Tür aufmachte. „Das ist nicht sehr freundlich, Haruka-san“, meinte Izumi und verschränkte ihre Arme. Haruka sah die siebzehnjährige mit den blondgefärbten Haaren und dem knappen weißen Kleid nur an und zog die Augenbrauen hoch. „Ich weiß.“ „Mum macht sich wirklich Sorgen um dich“, versuchte Shin es nun unbeeindruckt. „Ich weiß“, antwortete seine Schwester und nahm ihm den Behälter aus der Hand. „Danke fürs Vorbeibringen.“ „Ich wünsche dir noch einen schönen Abend, O-nee“, meinte Shin. Haruka zögerte. „Ja, euch auch.“ Damit schloss sie die Tür wieder. „Warum ist sie immer so unfreundlich?“, hörte sie Izumis Stimme nur einen Augenblick später durch die geschlossene Tür. „Hockt sie hier immer allein rum.“ „Ja.“ Die Stimme ihres Bruders war ruhig. „Kein Wunder, dass sie keinen Freund hat“, grummelte die Oberschülerin. „Sie will auch keinen“, antwortete Shin. „Lass uns gehen.“ Damit entfernten sich die Schritte und waren schnell verstummt, während Haruka im Inneren ihres Apartments seufzend auf den Behälter in ihrer Hand sah. Thermoisolationsbehälter. Was für ein unnötig kompliziertes Wort. Rätselnd spähte Haruka durch das Dickicht des Waldes und fragte sich immer mehr, ob das, was sie am Tag zuvor gesehen hatte, wirklich ein Mönch gewesen war. Umso mehr sie in den Wald sah, desto unmöglicher erschien es ihr, hier zu laufen. Es gab keinen Pfad durch das Unterholz und die meisten der Mönche waren alt. Sicher würden sie sich einen anderen Weg suchen, wenn sie in den Wald gingen. Doch im Moment sah sie nichts. Keine Leuchten – natürlich nicht, immerhin war der Nachmittag erst angebrochen. Sie schüttelte den Kopf und fragte sich, warum sie sich solche Gedanken darüber machte. Vielleicht, weil sie sich Dinge gerne erklärte. Sie wusste am liebsten genau, was um sie herum passierte und hasste es, sich einer Sache nicht komplett sicher zu sein. Vielleicht hatte sie es sich auch nur eingebildet oder es war eine Art Reflektion gewesen. Mit diesem Gedanken lehnte sie ihr altes, rotes Fahrrad gegen einen der Bäume und holte eine Decke aus ihrem Rucksack, die sie an die Stelle legte, wo sie auch den Tag vorher gelesen hatte. Außer ihr war weit und breit kein Mensch auf dieser Seite des Flusses zu sehen, da es den meisten zu heiß war, um das Haus zu verlassen. Immerhin hatte der August gerade erst begonnen und die schwüle Hitze ließ – wenn überhaupt – erst nach Einbruch der Dunkelheit etwas nach, sodass die meisten Leute sich auch am Wochenende lieber in den klimatisierten Häusern aufhielten. Haruka erinnerte sich daran, wie sie früher, als sie noch jünger waren, zu ihrer mittlerweile verstorbenen Großmutter nach Kyushu gefahren waren, deren Haus nicht einmal über so eine Klimaanlage verfügte. Sie selbst störte die Hitze nicht. Im Gegenteil. Sie genoss den Sommer, speziell nachdem die Regenzeit gerade vorbei war. So versank sie wieder in einem Buch. Eine ältere Mystery-Geschichte. Wie so oft bemerkte sie nicht, wie die Zeit verging und die Sonne weiter über den Himmel wanderte. Selbst die Gestalt, die sich ihr vom Weg aus näherte, bemerkte sie nicht, ehe diese die Stimme erhob. „Ist das ein richtiges Buch?“ Erschrocken sah Haruka auf. Sie erkannte erst, als sie in die wirkliche Welt zurückgefunden hatte, dass ein Mädchen nur wenige Meter von ihr entfernt stand. Das Mädchen in einem hellen, mit Blumenmuster bedruckten Kleid, dessen Gesicht kindlich und ein wenig rundlich wirkte, hatte seine Cyberbrille in ihr Haar hochgeklappt und sah auf das Buch in Harukas Händen. „Ja“, antwortete Haruka schließlich. „Wow.“ Die Stimme des Mädchens klang anerkennend. „Ich habe lange niemanden mehr mit einem Buch gesehen.“ Für einen Moment schwieg Haruka. Es war selten, dass sie hier jemand ansprach. „Ja, das stimmt...“ Tatsächlich lasen beinahe alle Menschen digitale Versionen von Büchern. Selbst im Studium nutzten sie fast nur digitale Bücher. Immerhin hatten diese weder Gewicht, noch nahmen sie unnötigen Platz in der Wohnung weg. Das Mädchen lächelte. Es war ein breites Lächeln, das wie ihr gesamtes Auftreten sehr kindlich und unschuldig wirkte. „Darf ich es sehen?“ Haruka zögerte etwas. „Wenn du mir sagst, wie du heißt“, meinte sie dann. „Aiko“, antwortete das Mädchen freudig. „Hamasaki Aiko.“ „Fumiyama Haruka“, erwiderte Haruka und erntete damit einen verwirrten Blick. „Mein Name.“ „Ach so.“ Das andere Mädchen lächelte verlegen. Mit einem Schulterzucken reichte die Ältere ihr nun das Buch, das dünn gebunden war und sehr mitgenommen aussah. Der Umschlag war so abgegriffen, dass man den Titel kaum noch lesen konnte. Aiko schlug es auf. „1Q84?“, las sie den Titel vor. „Vor hundert Jahren war es recht beliebt“, meinte Haruka. „Natürlich kein wirklicher Klassiker. Aber der Autor war damals sehr berühmt, glaube ich.“ „Hmm...“ Aiko sah auf die erste Seite. „Son...“ „Murakami“, meinte die ältere. „Ah...“ Das Mädchen blätterte weiter und begann offenbar das erste Kapitel zu lesen, wobei sie sich geistesabwesend immer wieder eine Strähne ihres relativ kurzen, hellbraunen Haares hinter das linke Ohr strich. Haruka runzelte die Stirn. Es war das erste Mal seit langem, dass sich jemand für eins ihrer Bücher interessierte. Was ihr allerdings viel seltsamer erschien, war, dass sich das Mädchen einfach neben sie gesetzt hatte und nun einfach las, was weder höflich war, noch dem Verhalten entsprach, was sie normal von einer Mittel- oder Oberschülerin erwartete. Außerdem hatte sie das Gefühl den Namen des Mädchens schon einmal gehört zu haben. Während Aiko einfach las, schweifte Harukas Blick irgendwann wieder zum Wald, der die kleine Wiese hinter der Promenade umgab. Noch immer kein Leuchten – natürlich nicht, denn noch immer schien die Sonne auf sie hinab. Leise seufzend lehnte sie sich gegen die kühle alte Mauer und beobachtete Aiko aus den Augenwinkeln, während ihre Augen über die Seiten huschten. Sie trug ihre Brille hochgeklappt im Haar, hatte diese offenbar wirklich ausgeschaltet. Nach einer Weile sah das Mädchen auf und bemerkte, dass sie beobachtet wurde. „Oh, entschuldige bitte.“ Sie schlug das Buch zu und reichte es Haruka zurück. „Es ist nur... Ich habe wirklich lange kein echtes Buch mehr gesehen.“ „Kein Problem“, log die Ältere. Irgendwie fühlte sie sich mit der Situation überfordert und sie wusste nicht einmal wieso. Normal gab sie ihre Bücher nicht einmal aus der Hand. „Wieso kaufst du richtige Bücher?“, fragte das jüngere Mädchen nun. Haruka merkte, wie sie etwas errötete. „Ich mag es einfach“, murmelte sie und wandte den Blick ab, „das Gefühl der Seiten... Es ist einfach etwas anderes als die digitalen Bücher.“ „Das stimmt...“ Aikos Stimme klang verträumt. Sie schwiegen und Haruka bemerkte, wie ihr Blick wieder zu den hohen, teilweise mit Moos bewachsenen Bäumen glitt und die schattigen Lücken zwischen ihnen absuchte. „Du musst bis heute Abend warten“, riss die Stimme des Mädchens sie aus ihren Gedanken. Verwirrt sah sie es an. „Du musst bis heute Abend warten, um sie zu sehen“, wiederholte Aiko. „Was?“ Das Mädchen lachte leise. „Du hast gestern die Flamme gesehen, nicht?“, meinte sie. „Ja...“ Der Blick der Studentin wurde misstrauisch. „Aber woher weißt du das?“ Verlegen sah Aiko sie an. „Entschuldige. Ich hab dich gestern Abend vom Flussufer aus gesehen.“ Haruka zog ihre Augenbrauen zusammen. „Bist du deswegen hier?“ „Entschuldige“, murmelte das Mädchen. „Ich wollte eigentlich nur schauen, ob du wieder hier bist. Es kommen so selten Leute im Sommer hierher.“ „Dann hast du mir nachspioniert?“, fragte Haruka und merkte dabei, dass ihre Stimme wütend klang. Der Blick des jungen Mädchens wurde bedrückt. „Entschuldige bitte. Ich wollte dich nicht verärgern... Ich war nur neugierig.“ Sie schwieg kurz und sah auf die karierte Decke, auf der sie saßen, hinab. „Außerdem habe ich gehofft...“ Mitten im Satz verstummte sie. „Was hast du gehofft?“ Aus den Augenwinkeln sah Aiko sie an. „Na ja, dass ich nicht die einzige bin...“ Die einzige, die... Was?, wollte Haruka fragen, schwieg aber, von sich selbst überrascht. Kurz sah sie zu dem Mädchen, das ihren Blick noch immer verlegen abgewandt hatte, und dann erneut zu den Bäumen hinüber. „Was ist es, was ich gestern gesehen habe?“, fragte sie dann. „Ich kann es dir zeigen“, antwortete Aiko. „Später“, fügte sie nach einer kurzen Pause dann hinzu. „Wir müssen warten, bis es dunkel wird.“ Haruka wollte protestieren, doch das Mädchen lächelte sie nur geheimnisvoll an. „Okay“, murmelte sie schließlich und öffnete ihr Buch. „Dann warten wir halt.“ Nach einer Weile war Haruka erneut in dem Buch über zwei verschiedene Welten versunken. Es spielte zu einer Zeit, die so lange vergangen war, dass sie es sich kaum vorstellen konnte. Immer wieder wanderte ihr Blick zu dem Mädchen, das sich nun einfach auf die Decke gelegt hatte, die Arme hinter dem Kopf um diesen zu stützen. Aiko hatte die Augen geschlossen und immer wieder fragte Haruka sich, ob sie schlief. Die Sonne wanderte weiter über den Himmel, ohne dass jemand anderes hier vorbei kam. Natürlich nicht. Dann, schließlich, versank die Sonne hinter den Bergen im Westen und auf einmal öffnete Aiko ihre Augen. „Jetzt komm“, meinte sie und sprang auf. „Was...?“, setzte Haruka an, als das jüngere Mädchen sie an ihrem Arm zog. „Komm“, drängte sie und setzte mit einer Bewegung ihre Cyberbrille auf. „Und schalt deine Brille ein.“ „Aber meine Sachen...“, begann die ältere. „Die stiehlt schon keiner. Komm.“ Äußerst widerwillig kam Haruka auf die Beine und folgte dem Mädchen, das nun voraus lief, unsicher – ihr Buch noch immer in der Hand. Sie schaltete die Brille an, während Aiko sie zu einer Stelle am Rand des Waldes weiter im Norden führte. Hier gab es einen breiten Weg, der früher vielleicht sogar einmal eine Straße gewesen, nun aber überwuchert war. „Was ist es denn nun?“, fragte Haruka, doch da nahm sie selbst wieder das Leuchten in der Dunkelheit zwischen den Bäumen wahr. Sie verengte die Augen zu Schlitzen, um besser sehen zu können, und meinte schließlich eine einsame Flamme zu erkennen. Doch es erschien eine weitere, dann eine dritte. „Was sind sie?“ Haruka sah zu dem Mädchen neben sich. „Hito-dama“, antwortete dieses und grinste. „Zumindest scheinen sie wie welche zu sein.“ Dabei blieb es jedoch nicht. Auf einmal lief eine kleine, glatzköpfige Gestalt in traditioneller Kleidung von rechts über den Weg. Kurz bevor sie den linken Wegesrand erreichte, sah sie sich zu ihnen um und Haruka musste einen Schrei unterdrücken, als sie erkannte, dass diese Gestalt nur ein großes Auge in der Mitte seines Gesichts hatte. Die Gestalt machte eine Geste, die wie kichern wirkte, verschwand dann aber im Gebüsch. „Hitotsume-koto?“, flüsterte Haruka schließlich. Überrascht sah Aiko sie an. „Ah, du kennst die alten Mythen doch?“ Geistesabwesend nickte Haruka. „Aber...“ Sie wusste nicht wirklich, was sie sagen sollte. Daraufhin nahm das Mädchen sie bei der Hand und führte sie den Weg entlang. Zu verwirrt lief sie einfach mit, ohne darüber nachzudenken. Auf der verwitterten Straße gesellten sich bald andere Gestalten zu ihnen. Manche Figuren erkannte sie aus alten Illustrationen zu Mythen und Märchen. Eine Gruppe Ippon-datara, zwei Nekomata, die einander lautlos anfauchten und dann voraus liefen, die gruselige Gestalt von – so vermutete Haruka zumindest – einer Yama Uba... Auch eine Gruppe Tengu flog über sie hinweg. Doch es waren nicht nur mythologische Gestalten, die nach und nach – teilweise wie aus dem Nichts – auf der Straße erschienen und neben ihnen herliefen. Teilweise waren es normale Menschen, alt wie jung, die erschienen. Manche trugen traditionelle Gewänder, manche die einfache Kleidung, die Haruka meinte dem frühen zwanzigsten Jahrhundert zuordnen zu können, andere beinahe moderne Anzüge. „Was sind sie?“, fragte sie leise, erhielt aber nicht direkt eine Antwort. Sie erreichten das Ende der Straße. Hier stand ein Gebäude, ein großer Schrein, wie Haruka erkannte, der vom Licht eines großen Feuers erhellt wurde. Einige der Gestalten verschwanden, als sie sich dem Licht näherten, während andere aus der Dunkelheit des Waldes hinzu kamen. „Nimm deine Brille ab“, meinte Aiko auf einmal. Haruka sah das Mädchen an, dessen Gesicht einen verträumt glückseligen Ausdruck trug. „Wieso?“ „Mach einfach.“ Mit einen Schulterzucken tat die junge Studentin, wie ihr geheißen und nahm die Brille ab. Auf einmal waren die seltsamen Gestalten, wie auch das große Feuer verschwunden. Sie standen der Dunkelheit des Waldes vor der schon lang eingefallenen Ruine eines Schreins, der schon seit mindestens einem Jahrzehnt nicht mehr genutzt worden war und dessen Mauern teils eingefallen, teils von Moos und Ranken überwuchert waren. Sprachlos setzte sie die Brille wieder auf, nur um so wieder vor einem hell erleuchteten und gar nicht eingefallenen Schrein zu stehen, umgeben von vielen seltsamen Gestalten. „Ich weiß nicht, was sie sind“, beantwortete Aiko nun die vorher gestellte Frage. „Ich habe verschiedene Theorien gelesen. Manche sagen, sie seien Geister, die im System gefangen seien.“ „Geister?“, flüsterte Haruka und sah sich um, musterte die verschiedenen Menschen und Wesen, die sich hier versammelt hatten. Einige Menschen hatten sich an das Feuer gesetzt, während andere am Schrein standen und beteten. Die Gruppe Tengu, die sie schon vorher gesehen hatte, flog zwischen den Bäumen umher. „Ja“, antwortete Aiko, wobei sie dem Blick ihrer Begleiterin folgte. „Ich glaube aber, dass sie Erinnerungen sind.“ „Erinnerungen?“ Haruka fühlte sich wie ein Papagei, der die Worte anderer echote, doch wusste sie zu all dem nicht mehr zu sagen. „Erinnerungen“, wiederholte das Mädchen nun selbst. Eine Windböe wehte einige ihrer Haare in ihr Gesicht. „Erinnerung, die jemand in dieser Domain gespeichert hat, damit sie nicht ganz vergessen werden.“ „Im Wald?“, flüsterte Haruka. „Es gibt sie nicht nur hier“, antwortete Aiko daraufhin. „Du hast sicher auch schon andere gesehen.“ Die Studentin sah zu ihrer Begleiterin. „Andere?“ „Die wenigsten sind so auffällig, wie diese. Aber es gibt sie in der ganzen Stadt. Menschen, Tiere, die nur in der Cyberwelt existieren. Aber die meisten bemerken es nicht, weil sie die Brillen nicht abnehmen.“ Auf diese Worte hin schwieg Haruka. Sie überlegte, welche der Menschen, die sie am Tag sah, ohne mit ihnen zu reden, tatsächlich derartige Geister waren. Wie viele dieser Gestalten hatte sie vielleicht schon gesehen. Hatte sie schon mit welchen geredet ohne es zu wissen? Doch bei diesem Gedanken fiel ihr etwas auf. Obwohl um sie herum reges Treiben herrschte, so hörte sie doch nichts, außer den normalen Geräuschen des Waldes. „Sie sind stumm“, murmelte sie. „Ja“, bestätigte Aiko. „Es sind reine Bilder.“ Erneut verstummte Haruka, während sie die Gestalten weiter beobachtete. Sie dachte an Alice und deren Reise ins Wunderland und glaubte zu verstehen, wie diese sich gefühlt haben musste. Es war, als wäre sie selbst in einer fremden Welt; in einem Traum so bizarr, dass sie sich nicht sicher war, ob es nicht doch ein Alptraum war. Doch Angst hatte sie nicht. Als eine der menschlichen Gestalten sich näherte, streckte sie ihre Hand aus, die wie erwartet einfach durch den jungen Mann, der einen einfachen Anzug trug, hindurch glitt. Dieser ging ein Stück weiter, drehte sich zu ihr um und lächelte. Dann aber zuckte er mit den Schultern, ehe er seinen Weg fortsetzte. „Aber sie bemerken uns?“, stellte sie dann, halb fragend, fest. „Ja“, antwortete Aiko. „Sie scheinen zu wissen, dass wir hier sind.“ Sie schwieg kurz. „Es gibt mehrere Orte wie diesen in der Stadt. Wo es so viele von ihnen gibt. Gerade hier in Arashiyama gibt es viele. Aber auch in Kita, zwischen den Denkmälern.“ Als Haruka nichts erwiderte, lächelte das Mädchen, dessen Gesicht im Schein des digitalen Feuers schimmerte, sie an. „Ich kann sie dir zeigen, wenn du willst.“ Langsam nickte die Studentin. „Ja...“ Mehr brachte sie im Moment nicht hervor. Licht fiel durch das Fenster auf Harukas Futon, blendete sie. Sie lag schon seit einer Weile wach, konnte sich aber, da es Sonntag war, nicht dazu motivieren, aufzustehen. Nun bewegte sie murrend die Hand zu ihrer Brille, die neben dem Futon lag, setzte diese auf und schaltete sie ein. Sofort erschien die Uhrzeit in ihrem Blickfeld, wie auch eine kurze Wettervorhersage für den Tag, die nach einer Minute verschwand. Es war bereits kurz vor elf. Noch immer dachte sie an die seltsamen Ereignisse des vergangenen Tages, dachte an Aiko und an die seltsamen Gestalten. Erinnerungen, die nicht vergessen werden sollten... Wenn das stimmte, fragte sie sich, wer sie in das System einprogrammiert hatte. Doch während sie darüber nachdachte, fiel ihr noch etwas anderes ein. „Explorer öffnen“, sagte sie leise, aber deutlich, woraufhin sich ein Dialogfenster in der Luft vor ihr auftat. Natürlich war dieses nicht wirklich dort, sondern war nur eine mithilfe der Brille erzeugte Illusion. Trotzdem konnte sie ebenso eine Tastatur erzeugen, indem sie die Hände hob, was von den Sensoren der Brille selbst erkannt wurde. „Hamasaki Aiko“, gab sie in eine Suchmaschine ein. Denn irgendwo hatte sie den Namen schon einmal gehört, dessen war sie sich sicher. Glücklicher Weise war es recht klar, mit welchen Zeichen der Name geschrieben wurde, so dass sie direkt beim ersten Versuch die richtige Variante nutzte, denn sie sah Bilder des Mädchens, das ihr gestern Gesellschaft geleistet hatte, in den Vorschauen für die gefundenen Artikel. Junges Programmiergenie, Mittelschülerin gewinnt Informatikpreis und Tochter tritt in die Fußstapfen der Legende lauteten einige der Überschriften. Nun erinnerte Haruka sich. Aiko war jenes Wunderkind, das nicht nur eine Lösung auf das Präzessionsproblem der Brillen gefunden hatte, sondern auch ein Programm zur Domainüberwachung und -sicherheit geschrieben hatte und mit diesem vor zwei Jahren den Informatikpreis von Osaka gewonnen hatte. Außerdem war sie die Tochter von Professor Hamasaki Juichi, der an der technischen Universität in Bunkyo, Tokyo lehrte und als Koryphäe seines Faches galt. Was machte so ein Wunderkind und vermutlicher Programmiernerd draußen in der Natur? Rechnete man nicht eigentlich damit, dass solche Personen ihren gesamten Tag in einem abgedunkelten Zimmer vor Holobildschirmen verbrachten? Sie schüttelte den Kopf. Dann startete sie eine neue Suchanfrage. „System Geister“, tippte sie ein, da ihr keine bessere Beschreibung für das gestern gesehene einfiel. Tatsächlich fielen die ersten Ergebnisse ungenau aus und hatten nichts mit dem gestern beobachteten Phänomen zu tun. Schließlich jedoch stieß sie auf verschiedene Einträge in Message-Boards, die genau das beschrieben, was sie gesehen hatte. Harukas Augen flogen über die Zeichen, in der Hoffnung etwas neues zu erfahren, fanden jedoch nicht viel mehr, als Aiko ihr am Tag zuvor erzählt hatte. Niemand schien genau zu wissen, worum es sich bei diesem Phänomen handelte, auch wenn die Theorien weit reichten. Wie Aiko ihr bereits erzählt hatte, glaubten viele, dass es Geister waren, während andere die Theorie der Erinnerungen teilten. Manche redeten auch davon, dass es ein Programm in den Brillen gab, das unterbewusste Vorstellungen in Bilder umwandelte, woraufhin jedoch die Frage gestellt wurde, warum mehrere dasselbe sahen. Jedenfalls schien es solche Erscheinungen nicht nur in Kyoto, sondern auch in vielen anderen Städten, teilweise auch Dörfern, zu geben. Jedoch fand sie keine Einträge darüber, ob es diese auch außerhalb Japans gab. Nach kurzem Zögern schloss sie die Fenster, die sich vor ihr geöffnet hatten, mit einer Handbewegung und stand auf. Sie trug über Nacht nur ein weißes T-Shirt und eine Unterhose, verstand nicht, wieso manche Leute extra Geld für Nachtwäsche ausgaben. Wie jeden Morgen befüllte sie als erstes den Wasserkocher, schaltete diesen ein und ging dann auf die Toilette. Gerade als sie sich das Gesicht wusch und dafür ihre Brille abgesetzt, aber nicht ausgeschaltet hatte, gab diese einen kaum hörbaren Signalton von sich und ein Symbol erschien am rechten Rand, der ineinander übergehenden Gläser. Überrascht stellte Haruka fest, dass es sich um eine Email handelte und setzte die Brille, nachdem sie ihr Gesicht abgetrocknet hatte, wieder auf. Mit einer Handbewegung öffnete sie die Mail. Hallo Fumiyama-san, las sie. Ich hoffe ich störe dich nicht. Ich wollte dich fragen, ob du noch so einen Ort sehen willst. Wenn, schreib mir. Wir können uns heute Nachmittag um vier an Togetsukyo treffen. Ich würde mich sehr freuen. Hamasaki Aiko Die erste Frage, die Haruka durch den Kopf schoss war, warum das Mädchen ihre Emailadresse hatte. Doch dann erinnerte sie sich daran, dass diese zum einen über das Studentenverzeichnis der Universität einsehbar war, zum anderen daran, dass das Mädchen ein Computergenie war und sicher auch andere Möglichkeiten kannte, die Kontaktdaten anderer Leute herauszufinden. Sie las mehrfach über die geschriebenen Worte, während sie das heiße Wasser in eine Tasse füllte und Teepulver hinzufügte. Schließlich zuckte sie aber mit den Schultern. Sehr gern. Haruka, antwortete sie einfach, ehe sie den Fernseher einschaltete und sich mit ihrem Tee davor setzte. Als sie am Nachmittag an der Brücke, die als eines der wenigen Bauwerke in der Gegend noch regelmäßig restauriert wurde, ankam, wartete Aiko bereits auf sie. Anders als am Tag zuvor trug das Mädchen ihre Haare dieses Mal zu einem Zopf gebunden und trug eine kurze, dunkelgrüne Hose zusammen mit einem hellen, ärmellosen Shirt anstatt des Kleides. Sie lächelte sie an. „Du bist wirklich gekommen.“ „Natürlich“, antwortete Haruka, die selbst einen knielangen Rock und ein ebenso ärmelloses, aber grünes Shirt trug. Verlegen sah Aiko sie an. „Entschuldige bitte.“ „Woher hast du meine Emailadresse?“, fragte die junge Frau nun. Das Mädchen zuckte nur mit den Schultern. „Ich hab nach deinem Namen gesucht und hab ihn über das Universitätsverzeichnis gefunden.“ Beinahe war Haruka überrascht, dass sie doch den einfachsten, offensichtlichsten Weg genutzt hatte. „Lass uns gehen“, meinte Aiko nun. „Wohin?“ „Zu dem Ort, den ich dir zeigen will“, antwortete das Mädchen und zwinkerte ihr zu. Die Ältere seufzte. „Okay. Dann zeig mir den Weg.“ Aiko nickte und ging voraus. Es war beinahe ungewohnt für Haruka, ihr Fahrrad nicht bei sich zu haben, wenn sie sich außerhalb der eigentlichen Stadt aufhielt. Aber heute war sie mit der U-Bahn in die Nähe des Flusses gefahren und den Rest des Weges gelaufen, da sie angenommen hatte, dass es unpraktisch sein würde, das Rad dabei zu haben. „Du studierst klassische Literatur?“, fragte Aiko, während sie der Promenade am Ufer entlang folgten. „Ja.“ Natürlich stand auch dies im Verzeichnis der Universität. „Deswegen deine Liebe zu alten Büchern?“ Das Mädchen lächelte sie an. Für einige Sekunden dachte Haruka darüber nach. „Na ja, ich würde eher sagen, dass ich es wegen der Liebe studiere.“ Sie schwieg kurz. „Außerdem verwenden wir auch an der Universität nur noch Digitalformate.“ „Natürlich“, murmelte Aiko und wirkte etwas enttäuscht. „Ist auch praktischer... Aber irgendwie schade.“ „Einer unserer Professoren sagt, es ginge am Ende ja doch nur um den Inhalt“, erklärte die Studentin. Daraufhin erwiderte Aiko nichts, sondern ging einfach schweigend weiter, den Blick nun auf das glänzende Wasser des Flusses gerichtet. „Und du?“, setzte Haruka an, als ihr die Stille zu drückend wurde. „Du bist ein Genie, habe ich gelesen.“ Nun war es die jüngere, die etwas brauchte, bis sie antwortete. „Ja, das sagen sie.“ Sie hatte den Blick gesenkt. „Dabei...“ Mit einem Kopfschütteln unterbrach sie sich selbst. „Es ist eigentlich nicht so schwer... Das Programmieren...“ Bei diesen Worten lächelte sie matt und wenig überzeugend. Aus den Augenwinkeln sah Haruka sie an. War es nicht etwas, worauf man stolz sein konnte, wenn man in so jungen Jahren bereits einen begehrten Preis gewonnen hatte? „Du bist in der zweiten Klasse der Oberstufe, oder?“, fragte sie weiter. „Ja“, erwiderte das andere Mädchen. „Wieso kommst du hierher?“ „Du meinst zum Wald?“ Aiko blieb stehen und sah sie an, woraufhin Haruka nickte. „Na ja“, begann die jüngere. „In der Stadt ist es immer so laut... Niemand lässt mich in Ruhe...“ Leise seufzte sie. „Und meine Mutter...“ Sie brach den Satz ab. „Darüber sollte ich mit dir nicht reden...“ Damit setzte sie ihren Weg fort und Haruka schwieg. Zumindest war sie nicht die einzige, die von ihrer Mutter genervt wurde. Allerdings schien das Mädchen nicht darüber reden zu wollen, weswegen sie auch nicht weiter fragte. „Da wären wir“, meinte Aiko schließlich und zeigte auf die Brücke, die sie erreicht hatten. Es war eine ältere Autobrücke, die – wie auch die dorthinführende Straße - offenbar länger nicht mehr genutzt worden war. Gras und andere Pflanzen wuchsen aus dem Asphalt heraus und eine hölzerne Schranke, an der ein verwittertes Warnschild hing, versperrte den Weg. „Ich bin mir recht sicher, dass wir hier nicht lang sollen“, murmelte Haruka. „Aber das, was ich dir zeigen will, ist auf der anderen Seite“, antwortete Aiko und duckte sich unter der Schranke hinweg. „Ich war schon öfter hier. Es sind zwar Ruinen, aber es ist sicher. Vertrau mir.“ Ich kenne dich gerade einmal einen Tag, wollte Haruka sagen, schwieg aber und folgte ihr schließlich nach einigem Überlegen. Die Brücke führte zum alten Arashiyama-Viertel, das von einem schweren Erdbeben vor 34 Jahren zerstört worden war. Haruka wusste nicht genau, warum es nicht wieder aufgebaut worden war, wie die anderen damals zerstörten Teile. Zwar hatte sie gelesen, dass man damals irgendwelche gefährlichen Baustoffe zwischen den Trümmern vermutete, doch wusste sie, dass dies mittlerweile widerlegt war. Trotzdem hatte sie ein mulmiges Gefühl, als sie dem jüngeren Mädchen über die Brücke folgte. Von der Überführung aus konnte sie die Ruinen kaum sehen, da diese von einer Mauer am Flussrand verdeckt wurden. Erst, als sie die Brücke überquert hatten, sahen sie das weite Feld, das ehemals ein Stadtviertel gewesen war. Tatsächlich waren nicht alle Häuser eingestürzt, sondern standen noch – zumindest teilweise. Bei einigen fehlten Teile der Dächer und auch einige Wände waren an manchen Stellen eingestürzt. Manche Häuser schienen jedoch komplett unbeschädigt, während von anderen nur die Grundrisse zu erkennen waren. Die meisten der Häuser waren einstöckig gewesen und teilweise noch in einem altmodischen Stil, der mit runden Fenstern und teilweise geschwungenen Dächern an Pagoden erinnerte. Mittlerweile wuchsen Gras und andere Pflanzen zwischen den Gebäuden. Kleine Bäume streckten sich teilweise aus Ruinen hervor, während die ehemaligen Grünflächen des Stadtteils komplett verwuchert waren. „Komm“, meinte Aiko. Erst jetzt bemerkte Haruka, dass sie stehen geblieben war. Sie nickte. „Ich dachte, wir wären da“, stellte sie dann fest. „Noch nicht ganz“, erwiderte das andere Mädchen und übernahm wieder die Führung. So gingen sie weiter durch die Ruinen, während die Sonne müde auf den ansonsten menschenleeren Stadtteil hinab fiel. Aiko führte Haruka weiter nach Westen, wo einige Treppen zu einer Art Plattform hinab führten, von der aus sie das Ruinenfeld überblicken konnten und auch in der Ferne die Hochhäuser der modernen Stadt sehen konnten, die durch eine Mauer von den Ruinen abgetrennt waren. „Warum es wohl niemand wieder aufgebaut hat...?“, murmelte Haruka. „Ich habe gehört, dass der Stadtteil von einer Privatperson gekauft wurde“, meinte Aiko. „Aber das ist nur ein Gerücht“, fügte sie hinzu, als die Ältere sie fragend ansah. „Ich weiß es nicht wirklich.“ Sie lehnte sich vorsichtig gegen die alte Brüstung am Rande der Plattform, die offenbar noch stabil genug war, sodass sie die Belastung aushielt. „Jetzt müssen wir warten.“ „Erscheinen diese Geister alle nur, wenn es dunkel ist?“, fragte Haruka. „Die meisten“, antwortete Aiko. „Aber ich weiß auch nicht warum.“ Sie lächelte. „Mir ist das Ganze selbst auch ein Rätsel.“ „Hmm...“ Mit einem Gefühl von Wehmut sah die Ältere über die Ruinen hinweg und versuchte, sich vorzustellen, wie all dies vor dem Erdbeben ausgesehen hatte. Es war schade, dass es nur noch so wenig alte Häuser in der Stadt gab. Dabei war diese früher einmal für ihre Denkmäler, alten Tempel und Paläste bekannt gewesen, war sie doch einmal – vor langer Zeit – die Hauptstadt Japans gewesen. Zwar standen einige der Gebäude noch immer – wie der alte Palast, der goldene Pavillon und einige andere auch – doch waren viele irgendwann dem Wandel der Zeit zum Opfer gefallen. „Möchtest du Tee?“, riss Aikos Stimme sie aus ihren Gedanken. Das Mädchen hielt ihr eine Thermoskanne und eine Kunststofftasse entgegen. „Warme Getränke sind bei der Hitze eigentlich besser bekömmlich, weißt du?“ Zögerlich nahm Haruka die Tasse entgegen und ließ sich einschenken. Als sich Aiko an den Rand der Plattform setzte, tat sie es ihr gleich und ließ die Beine hinabbaumeln. „Du wirst wahrscheinlich Informatik studieren, oder?“, versuchte sie nach einer Weile der Stille ein Gespräch anzufangen. Aiko sah auf ihren eigenen Becher Tee. „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht.“ „Du bekommst sicher ein Stipendium“, murmelte Haruka. Die Jüngere seufzte. „Das sicher...“ Sie schien eine Weile mit sich darüber zu hadern, was sie sagen sollte. „Wenn es nach meinem Vater ginge, würde ich jetzt schon studieren.“ „Dein Vater ist ziemlich berühmt, oder?“, fragte die Ältere, die von den Sachen, die sie am Morgen gelesen hatte, bisher nur am Rande etwas mitbekommen hatte, da sie sich, auch wenn sie die Cyberbrillen und viele der Programme nutzte, nie wirklich mit diesen Dingen auseinander gesetzt hatte. Leicht nickte das Mädchen. „Ja, kann man so sagen.“ Nach diesen Worten schwieg sie wieder. „Wenn er in Tokyo arbeitet, siehst du ihn wahrscheinlich selten.“ Haruka sah zu ihr hinüber. Nun sah auch Aiko sie an. „Meine Eltern sind geschieden.“ „Tut mir leid“, murmelte die junge Frau und wandte den Blick ab. Ja, sie war sicher nicht die einzige, die Probleme in der Familie hatte. Wahrscheinlich hatte sogar jeder junge Mensch, egal ob er noch zu Hause lebte oder, wie sie, alleine wohnte, etwas, worüber er sich beschweren konnte, wenn es um seine Eltern ging. Beinahe fühlte sie sich schlecht, dass sie sich oftmals so sehr über ihre Mutter aufregte. „Weißt du“, begann sie schließlich halblaut. „Meine Mutter hat sich auch von meinem Vater scheiden lassen, als ich noch sehr jung war... Ich hab meinen Vater danach nie wieder gesehen und meine Mutter ist mit einem anderen Mann zusammen gezogen. Mein jüngerer Bruder ist sein Sohn.“ Nun war es an Aiko, sie anzusehen. „Oh...“, brachte diese nur hervor. „Ich mag Keigo, ihren Freund, nicht“, fuhr Haruka fort. „Aber sie möchte immer so tun, als seien wir eine große, glückliche Familie.“ Sie nahm einen Schluck des Tees. „Außerdem gefällt es ihr nicht, dass ich studiere.“ Dabei wusste sie nicht einmal, wieso sie all das erzählte. Normal redete sie ungern über diese Dinge, über sich selbst. Aber irgendwie fühlte sie sich, als sei sie es dem anderen Mädchen schuldig. Vielleicht weil sie selbst so viele Fragen stellte. Vielleicht auch, weil sie bisher gar nichts erzählt hatte. Die Blicke der beiden Mädchen trafen sich für einen Moment, auch wenn keine der beiden etwas sagte. Schließlich lächelte Haruka. „Aber was soll's. Ich lebe deswegen allein.“ Aiko sah wieder auf den Becher in ihrer Hand. „Ich...“, begann sie, schüttelte dann aber den Kopf und nippte an ihrem Tee. Für einen Moment wartete die Ältere noch darauf, dass der Satz fortgeführt wurde, doch als dies nicht geschah wandte sie sich wieder der Stadt zu. Nun schwiegen sie, während die Sonne hinter ihnen immer weiter unterging und langsam hinter den Bergen verschwand, wobei sich der Himmel im Osten bereits verfärbte. Dann, vollkommen unvorbereitet für Haruka, begann es. Es waren einzelne Lichter, die im Ruinenfeld unter ihnen angingen, als würden wieder Menschen in den längst verlassenen Häusern wohnen, die nach und nach wieder in ihrem ursprünglichen Zustand erschienen. Dann erschienen Schatten auf den Straßen zwischen ihnen, die langsam zu richtigen Gestalten wurden. Wie auch im Wald am Vortag, waren es viele verschiedene Gestalten. Manche trugen altmodische Kleidung, andere fast moderne. Viele schienen normale Menschen zu sein, doch auch hier waren manche Wesen aus Fabeln zu sehen und Haruka war sich nicht einmal ihrer Namen sicher. „Schau“, hörte sie die Stimme des anderen Mädchens neben sich und hob ihren Blick. Aiko zeigte auf den Himmel, von wo sich eine hell leuchtende Gestalt hinabschlängelte. „Ein Drache“, erkannte Haruka, doch die andere schüttelte den Kopf. „Seiryuu.“ Es war Donnerstag und der Universitätsalltag kam Haruka zäher vor, als sonst. Sie hatten heute neben „Europäischer Literatur zwischen 1950 und 2050“ „japanische Kulturgeschichte“ und einfachen Englischunterricht gehabt. Nun saß sie ausnahmsweise tatsächlich in der Mensa und sah auf ihren Teller hinab. Donnerstag war Currytag, wie sie hatte feststellen dürfen, und während sie lustlos auf dem zu trockenen Hähnchenfleisch in zu milder Currysoße herumkaute, musste sie feststellen, dass ihr die Variante aus dem Supermarkt wahrscheinlich besser geschmeckt hätte. „Fumiyama-san?“, drang eine Stimme in ihr Bewusstsein, als Genta, einer der anderen Literaturstudenten mit einem Tablett neben ihr stand. Aus ihren Gedanken gerissen sah sie auf. „Ja?“ „Ist der Platz neben dir noch frei?“ Er zeigte auf den runden, am Boden fest montierten Hocker neben ihr. Für einen Moment verwirrt sah sie auf den Plastikstuhl und dann zu ihm. „Ja, ja, natürlich.“ Er nickte dankend und setzte sich neben sie. „Du wirkst etwas abwesend“, stellte er dann fest. Ein Stück Hühnerfleisch durch die Soße hin- und herschiebend stellte sie fest, dass er - natürlich - recht hatte. „Hmm“, machte sie. „Ja, wahrscheinlich.“ „Ist irgendwas passiert?“, fragte er. Sie musterte den etwas schlaksigen jungen Mann, der ein Hemd über seinem Shirt trug. Es war selten, dass jemand versuchte, mit ihr über private Dinge zu reden. Wahrscheinlich, weil ohnehin bekannt war, dass man dahingehend von ihr selten eine Antwort bekam. Wenngleich niemand sie bewusst mied, so wussten ihre Studienkollegen, dass sie eine Einzelgängerin war und respektierten sie - davon einmal abgesehen, dass nur zwanzig Prozent der Studenten in ihrem Semester weiblich waren und die Geschlechtergruppen meist unter sich blieben, wenn es gerade keine Feiern gab. „Nein“, beantwortete sie seine Frage knapp. „Eigentlich nicht. Ich hatte nur ein... Sehr interessantes Wochenende.“ Sie seufzte leise. Für einen Moment sah er sie an. „Du wirkst wie jemand, der Liebeskummer hat. Hast du jemanden kennen gelernt?“ Schockiert blickte sie ihn an. „Nein. Nein. Nein!“ Sie wiederholte das Wort mehrfach, was er mit einem matten Lächeln bedachte. „Natürlich nicht“, antwortete er, als sei dies selbstverständlich. Er wandte sich seinem Teller zu, auf dem sich klassisches Curry mit Reis befand. Während er die ersten paar Löffel aß, herrschte Schweigen und Haruka ging wieder dazu über, die Reste des Fleisches über ihren Teller zu schieben. „Es schmeckt wirklich nach nichts, was?“, meinte Genta mit Blick auf ihren nur halbleeren Teller. „Ja“, erwiderte sie und verzog den Mund. Dann stand sie auf einmal auf. „Tut mir leid, Ishida-kun. Mir ist gerade etwas eingefallen, das ich noch in der Bibliothek nachschauen wollte. Bis später.“ Damit nahm sie ihr Tablett. „Bis später“, konnte der junge Mann nur verdattert sagen, ehe sie ihr Tablett schon zur Abgabe brachte und dann aus dem Speisesaal der Mensa verschwand, wohl wissend, dass ihr Verhalten unfreundlich war. Die Bibliothek der Universität enthielt natürlich keine Bücher. Viel mehr war es eine Domain, die von mehreren Räumen aus für registrierte Studenten zugänglich war und über die sie diverse Artikel und literarische Werke - von Romanen, über Sachbücher, hin zu normalen Lexika - aufrufen konnten. Sie hätte diese tatsächlich auch von der Mensa aus aufrufen können, doch galt es generell als furchtbar unhöflich in dieser für sich zu lesen, speziell während man noch aß. Als unhöflicher sogar, als jemanden einfach stehen zu lassen. In einem der Arbeitsräume, die vorrangig für Bibliotheksrecherche genutzt wurden, setzte sie sich an einen der Tische. Der kahle, zierdelose Raum war im Moment vollkommen leer, so dass sie sich ungestört ans Fenster setzen konnte. Sie befand sich im siebzehnten Stockwerk des Nordgebäudes der neuen Universität für Kulturwissenschaften, Linguistik und Philosophie, welche in zwei miteinander verbundenen und äußerlich rundlich wirkenden Hochhäusern untergebracht war. Das Nordgebäude, das sich eigentlich im Nordwesten vom Südgebäude befand, hatte gesamt 26 Etagen, sein größerer Bruder 32, womit die Gebäude jedoch bei weitem nicht die höchsten der Stadt waren. Von hier aus konnte Haruka nur auf die vor Hitze flimmernde Straße hinabsehen, da das wenige Grüngelände der Universität sich auf der anderen Seite des Gebäudes befand. Seufzend schüttelte sie den Kopf, als ihr die Worte Gentas einfielen. Was sie faszinierte, waren die verborgenen Geheimnisse, die Dinge, die schon fast vergessen waren - all das fesselte ihre Gedanken. Natürlich hatte sie auch einige Male an Aiko gedacht, doch immerhin war diese nicht nur ein junges Genie, sondern auch die erste, die ihre Vorliebe für echte, physische Bücher nicht als „seltsam“ betitelte. Mit einem erneuten unbewussten Kopfschütteln, strich sie ihre Haare zurück und rief das Verzeichnis der Bibliothek auf. Nachdem sich die Suchmaske geöffnete hatte, suchte sie nach Bildbänden über die Geschichte der Stadt, speziell Arashiyama. Es dauerte nur einen Moment, ehe ihr 124 Ergebnisse allein in japanischer Sprache angezeigt wurden - Bücher, Bildsammlungen, teilweise auch Videos, die vielleicht falsch getagt waren. Nicht wenige der Ergebnisse behandelten das Erdbeben, das den Stadtteil zerstört hatte, doch was Haruka suchte, waren Bilder und Informationen dazu, wie Arashiyama, wie Kyoto davor einmal ausgesehen hatte. Vor dem Erdbeben und bevor man, um mehr Raum zu schaffen, viele der einfachen ein- oder zweistöckigen Häuser abgerissen hatte. Sie wiederholte und verfeinerte ihre Suchanfrage, bis sie schließlich fand wonach sie suchte. Da sie erst um halb drei ihre nächste Vorlesung hatte, blieb ihr Zeit, so dass sie bald vollkommen in ihre Ergebnisse versunken war. Beinahe hätte sie sogar ihre Vorlesung in Sprachgeschichte vergessen, hätte nicht eine eingehende Email das Video, das sie sich nun anschaute, unterbrochen. Sie lächelte. Die Email war von Aiko. Hallo Fumiyama-san, Ich weiß, du bist wahrscheinlich heute noch länger an der Universität, aber ich wollte dich trotzdem fragen, ob du heute Abend vielleicht Zeit hättest. Es gibt etwas, das ich dir nur heute zeigen kann. Wenn du willst, triff mich um sechs vor dem Ginkaku-ji. Ich würde mich sehr freuen. Aiko Etwas, das sie ihr nur heute zeigen konnte? Haruka runzelte die Stirn. Trotzdem antwortete sie, ohne groß darüber nachzudenken. Gern. Es war viertel vor fünf, als die Philologieübung vorbei war und Haruka in den Aufzug der Universität stieg. Mit einem Blick auf die Uhr entschied sie sich, dass es sich nicht lohnte, zu ihrem Apartment zu fahren, wenn sie in nur etwas mehr als einer Stunde beim silbernen Pavillon im Osten der Stadt sein wollte. Außerdem fuhr sie von hier aus nur wenige Minuten mit der U-Bahn dorthin. So machte sie einen Abstecher in den Supermarkt, der sich im zweiten Geschoss des Südgebäudes befand, um sich etwas zu trinken und ein wenig Gebäck zu kaufen, ehe sie mit dem Aufzug zur U-Bahnstation fuhr. Natürlich waren die Wagons überfüllt, doch fand Haruka einen Platz im dritten Zug in Richtung des Sakyo-Distrikts. Hier, rund um die beiden berühmten Pavillons, die damals nur dank Hilfe der vereinten Nationen wieder aufgebaut worden waren, gab es noch einige kleine Häuser, die im alten Stil gebaut waren. Keine Hochhäuser, keine modernen Designerhäuser. Einfache Häuser, großteils wahrscheinlich ohne viel Isolierung und ohne Klimaanlage, so wie sie es von ihrer Großmutter kannte. Da hier viele der alten Gebäude noch standen, war dieser Teil ganz am Rand der Stadt ein Touristenmagnet, weshalb sie sich sicher war, dass er, anders als manche der einzeln gestreuten Denkmäler der Stadt, auch noch lange erhalten bleiben würde. Sie hatte gelesen, dass es früher ein Kulturerbe in der ehemaligen Kaiserstadt gab, doch viele der damals geschützten Gebäude standen heute nicht mehr. Größtenteils, weil sie verschiedenen Katastrophen zum Opfer gefallen und danach nie wieder aufgebaut worden waren. Manches – so schien es – war jedoch einfach „verloren“ gegangen. Zwischendurch sah sie besorgt zum Himmel, an dem von Süden her immer mehr Wolken in ihre Richtung trieben, die nach Regen aussahen. Sie ärgerte sich, dass sie keinen Schirm mitgebracht hatte. Dafür hätte sie jedoch nach Hause gehen müssen. Es war kurz vor sechs, als Haruka in der Ferne die winkende Gestalt Aikos erkannte, die nun auf sie zugelaufen kam. „Fumiyama-san!“ Trotz der schwülen Hitze trug Aiko eine lange Hose, auch wenn sie weiterhin ein T-Shirt trug. Zudem hatte sie eine Umhängetasche unter dem Arm. „Bin ich zu spät?“, fragte sie, obwohl sie sicherlich selbst die Uhrzeit in einer Ecke ihres Blickfeldes erkennen konnte und damit sah, dass sie eigentlich sogar einige Minuten zu früh war. „Nein, ich bin nur direkt von der Universität aus hergekommen“, antwortete Haruka. „Das hättest du nicht müssen“, meinte die Jüngere schnell. „Ich fand es praktischer.“ Haruka lächelte sie an. „Mach dir deswegen keine Gedanken.“ Aiko zögerte und schürzte die Lippen. „Okay.“ Sie verschnaufte etwas, da sie das letzte Stück der Strecke hergelaufen war. Schließlich machte die Studentin ihrer Neugierde Luft: „Was kannst du mir nur heute zeigen?“ Zwinkernd grinste Aiko sie an. „Ich dachte, du wärst selbst schon drauf gekommen.“ Haruka runzelte die Stirn. „Welches Datum haben wir heute?“, half Aiko ihr nach. „Wir haben den 16. August...“ Die Ältere überlegte weiter. Da fiel ihr ein, dass einige ihrer Kommilitonen heute selbst auf ein Fest hatten gehen wollen. „Hat es mit O-Bon zu tun?“ „Bingo“, antwortete das Mädchen. Sie bedeutete ihr – erneut – zu folgen und ging in Richtung des hier nicht zuletzt durch die Wolken bereits dunkel werdenden Ostens. Haruka folgte ihr. Sie wusste, dass die Häuser, die hier am Berghang gebaut waren, relative Neubauten waren und ehemals die Stadtgrenze hinter den Gärten der Tempelanlagen verlief. Doch nun drängten sich bis zu einem guten Viertel der Höhe des Berges die Häuser auch hier eng aneinander, auch wenn es nur einfache Häuser mit ein oder zwei Stockwerken waren. Zielsicher führte Aiko sie zum Rand des Viertels. Hier tat sich hinter dem Wohnviertel eine weite Fläche auf, die im Osten von einem Wald begrenzt wurde. Nur schwach zeichnete sich zwischen dem Gras etwas ab, was früher wohl einmal ein Weg gewesen war, doch die beiden Mädchen folgten diesem nicht. Stattdessen liefen sie an der Mauer, die die Grundstücke Richtung Osten begrenzte entlang. Nun wurde es schnell dunkler. Die Sonne war bereits hinter den Wolkenkratzern im Westen verschwunden und die Wolkendecke über ihnen zog sich immer weiter zu. Seufzend sah Haruka auf. „Wir werden wahrscheinlich nass werden.“ „Na und?“, erwiderte Aiko. „Wir sind doch nicht aus Zucker.“ Die junge Frau seufzte, folgte ihr aber weiter den Pfad entlang. Da erkannte sie in der Ferne einige andere Gestalten, welche auch von Aiko entdeckt wurden. „Ich habe dir ja gesagt, dass wir nicht die einzigen sind, die davon wissen. Und das hier geschieht nur einmal im Jahr“, erklärte sie. „Komm. Sonst sind wir zu spät.“ Seufzend folgte Haruka ihr. Nachdem sie dem Verlauf der Mauer für eine Weile gefolgt waren, bogen sie rechts nach Osten ab und liefen nun eine Art Trampelpfad den Berg hinauf entlang. Sie waren nicht die einzigen, die diesem Pfad folgten. Die drei Gestalten, die Haruka bereits zuvor gesehen hatte, lief ein Stück vor ihnen und als sie sich in Richtung der Stadt, in der mittlerweile die Lichter angingen, drehte, sah sie auch hinter ihnen eine Gruppe aus fünf offenbar ebenfalls jungen Leuten. Obwohl es nun dunkel war, sahen sie auch als sie den Wald betraten keine im System der Cyberbrillen eingeschlossenen Illusionen und langsam begann sich Haruka zu fragen, wo sie eigentlich hingingen. Sie folgten nun einem Weg am Rande des Waldes. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie beinahe schon eine dreiviertel Stunde liefen. „Es ist so ruhig“, murmelte sie, als sie sich an das Video erinnerte, das sie in der Bibliothek gefunden hatte. Aiko drehte sich mit fragendem Blick zu ihr herum. Für einen Moment blieben sie beide stehen und lauschten. Bis auf ein leises Knacken von Ästen, die vereinzelten Rufe verschiedener Vögel und das Summen einzelner Insekten war wenig zu hören. Wahrscheinlich versteckten sich die meisten so nah an der Stadt lebenden Tiere vor den Menschen. „Es ist beruhigend“, meinte Aiko schließlich. Haruka schüttelte den Kopf. „Das meine nicht...“ Sie suchte nach einem Weg es auszudrücken. „Früher war es nachts allgemein lauter... Nicht in den Städten, sondern die Insekten.“ „Du meinst die Grillen und Zikaden“, antwortete das jüngere Mädchen, als sie weiterliefen. „Meine Großmutter hat immer davon geredet.“ „Ja, meine Großmutter auch“, erwiderte Haruka. „Sie hat sich gleichzeitig darüber beschwert, wie laut es damals war, aber auch darüber, wie leise es heute ist.“ „Ich habe noch nie eine Zikade gehört“, murmelte Aiko. „Jedenfalls keine echte.“ Die Studentin dachte etwas nach. „Selbst als ich klein war, gab es kaum noch welche.“ „Ja...“ Nach diesen Worten schwiegen sie wieder, während sie weiter liefen. Sie erreichten schließlich eine Stelle, an der sich die Waldgrenze noch weiter bergauf wandte, sodass sie auf einen freien Platz zuliefen. Mittlerweile waren sie weit genug von der Stadt entfernt, dass es zwar nicht komplett dunkel war, es jedoch schwer genug wurde, etwas zu erkennen. „Was machen wir hier?“, fragte Haruka schließlich, als sie nun stehen blieben und sie erkannte, dass offenbar auch die anderen, die sie vorher gesehen hatte, wie noch einige mehr, sich hier auf der Wiese versammelt hatten. „Es dauert noch ein wenig“, antwortete Aiko. „Wir sind etwas früh.“ Sie lächelte und legte ihre Tasche auf dem Boden ab, ehe sie begann, in dieser zu kramen. Noch bevor die Ältere fragen konnte, was sie vorhatte, holte die Schülerin eine Decke aus der Tasche und breitete diese unter einem der Bäume aus, um sich drauf zu setzen. Als es ihr bedeutet wurde, setzte sich Haruka daneben, wenn auch vorsichtig, da sie auch im Dunkeln nicht zu viel zeigen wollte und nur einen knielangen Rock trug. Schließlich überkreuzte sie die Beine so gut es möglich war. Wieder einmal herrschte etwas angespanntes Schweigen zwischen ihnen, bis dieses von Aiko gebrochen wurde. „Glaubst du, dass es früher besser war?“ Haruka sah auf. „Was meinst du?“ „Na ja, früher...“ Das Mädchen, das die Haare auch heute zu einem Zopf gebunden trug, sah sie nicht an. „Als es noch Zikaden gab und das Arashiyama-Viertel noch stand. Als man noch richtige Bücher hergestellt hat und es keine Cyberbrillen gab.“ Schweigend sah Haruka auf den dunklen Hang vor ihnen, auf denen die anderen, die hergekommen waren, in kleinen Gruppen beieinander standen oder saßen. „Ich weiß es nicht“, antwortete schließlich. „Ich meine, es ist schade... Es ist schade, dass es keine richtigen Bücher mehr gibt. Und einige der Häuser, die sie nicht wieder aufgebaut haben, waren sicher eindrucksvoll. Ich hätte auch gerne einmal die Zikaden gehört. Aber es gab damals sicher andere Probleme. Ich meine, denk an den medizinischen Fortschritt der letzten Jahre.“ Für einen Moment schwieg sie. „Vielleicht war es damals schöner... Besser... Aber ich weiß es nicht. Wie auch?“ Aiko antwortete nicht sofort. Sie hatte ihre Beine an ihren Körper herangezogen und legte nun ihr Kinn auf ihren Knien ab. Eine angenehm kühle Brise wehte über sie hinweg, brachte aber auch den Geruch von Regen mit sich. Mit einem Seufzen registrierte Haruka einige Momente später, wie einzelne schwere Tropfen hinab fielen, auch wenn sie unter dem Baum zumindest vorerst trocken blieben. „Weißt du“, begann schließlich Aiko. „Ich würde gerne mehr sehen von der Welt.“ Sie seufzte schwer. „Nach der Schule würde ich gern ein anderes Land sehen. Reisen. Etwas anderes sehen als Kyoto und Tokyo.“ Ihr Blick wanderte auf das noch dunkle Feld. „Ich weiß noch nicht, ob ich danach Informatik oder Computertechnik studieren will. Vielleicht mag ich auch etwas ganz anderes machen. Aber nur weil es mein Vater will...“ Erneut seufzte sie. „Meine Mutter will allein deswegen nicht, dass ich studiere.“ Vorsichtig sah Haruka zu ihr hinüber. „Streiten deine Eltern noch immer?“ Aiko nickte. „Jedes Mal wenn sie sich sehen. Dabei sind sie schon so lange geschieden.“ Für einen Moment glaubte Haruka, sie würde weinen, doch keine Tränen zeigten sich auf dem Gesicht des Mädchens. Langsam wurde der Regen stärker, doch brachte es offenbar niemanden dazu, den Ort zu verlassen. Einige der anderen Menschen, die hierher gekommen waren, hatten Regenschirme. Andere nutzten Blusen, Jacken oder Taschen um sich etwas vor dem Regen zu schützen. „Manchmal frage ich mich, ob sie sich je geliebt haben“, murmelte Aiko. Für einen Moment zögerte Haruka, legte dann jedoch ihren linken Arm um die Schultern des Mädchens, das sie daraufhin kurz ansah. „Weißt du“, fuhr diese leise fort. „Es ist nicht so, dass ich es nicht mag, das Programmieren. Mein Vater hat es mir beigebracht und ich habe es eigentlich immer gemocht. Nur ist es manchmal so eintönig... Und...“ Sie unterbrach sich kurz, offenbar unsicher, ob sie fortfahren sollte. „Seit ich diesen Preis bekommen habe, halten mich alle für ein Genie und manche in meiner Klasse trauen sich scheinbar kaum, mit mir zu reden. Nur meine Mutter ist nicht begeistert. Und mein Vater versucht mich seitdem die ganze Zeit für irgendwelche Projekte zu begeistern.“ Noch einmal ließ sie ein leises Seufzen hören. „Ich glaub, du bist die erste Person seit langem, die halbwegs normal mit mir redet, Fumiyama-san.“ Haruka lächelte sie matt an. Erst jetzt merkte sie, dass das Mädchen wirklich einsam war. Irgendwie hatte sie immer angenommen, dass eigentlich jeder mit einem jungen Genie befreundet sein wollte – selbst wenn es keine echte Freundschaft wäre. Dass es kaum jemanden gab, der mit ihr reden würde – daran hatte sie gar nicht gedacht. Dabei war sie eigentlich ein nettes Mädchen. „Du kannst mich einfach Haruka nennen“, meinte sie. Das Gesicht der Schülerin hellte sich etwas auf. „Danke“, murmelte sie. Dann sah sie auf einmal auf. „Es ist beinahe soweit.“ Haruka ließ ihren Arm sinken. Mit einem Schwung stand Aiko auf und bot ihr die Hand an, um ihr aufzuhelfen. Als sie beide standen wandten sie sich, wie auch alle anderen, Richtung Norden, wo auf einmal einige Gestalten wie aus dem Nichts erschienen. Die Gestalten erinnerten mehr als jene, die sie am Wochenende gesehen hatten, an Geister; wirkten durchsichtig und etwas farblos, während man ihre Gesichter kaum erkennen konnte. Sie waren in kurze Sommerkimonos gekleidet und trugen jeweils eine Fackel. Sie positionierten sich an bestimmten Stellen am Hang und auf einmal wurde auch Haruka klar, was es war und warum sie es nur heute sehen konnte. Sie hatte davon gelesen. Gozan no Okuribi war eine kyotoeigene Tradition zum O-Bon-Fest, bei der verschiedene Zeichen aus Feuer an den Berghängen, die die Stadt umgaben angezündet wurden. Doch da die Stellen, wo einst die Feuer angezündet wurden, mittlerweile größtenteils bebaut waren und durch die vielen Hochhäuser, die Feuer ohnehin nicht mehr so weit sichtbar waren, wie es einst der Fall war, fand das Fest auf diese Art schon länger nicht mehr statt. Die Fackeln zündeten die Feuer an, die das „Dai“-Zeichen bildeten. Ungeachtet des Regens wurde die Nacht von den Flammen erleuchtet. Haruka erschrak beinahe etwas, als sie spürte, wie sich Aikos Hand um die ihre legte, reagierte aber nicht darauf. Nass klebten ihre Haare und auch ihr Shirt mittlerweile an ihrem Körper, als einige richtung Norden sahen. Dort erschien nun das nächste Zeichen, auch wenn die Stelle, an der es einst angezündet wurde, eigentlich nicht einmal mehr von hieraus sichtbar gewesen sein sollte. Doch im Moment schien es, als sei die leuchtende moderne Stadt ganz verschwunden. Erinnerungen... Ob es früher einmal nachts wirklich so dunkel gewesen war? Ohne dass sie darüber nachdachte, sah sie Aiko von der Seite an, woraufhin diese ihren Blick erwiderte. Sie lächelte. Auf einmal musste Haruka wieder daran denken, was Genta gesagt hatte, wusste dabei aber nicht einmal wieso. Sie merkte, dass sie etwas errötete, und versuchte den Gedanken zu verdrängen. Wäre Genta nicht gewesen, würde sie nicht daran denken, oder? „Hamasaki-san“, begann sie, nur um etwas zu sagen. Da streckte sich Aiko auf einmal und im nächsten Moment spürte sie, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, ihre Lippen auf den ihren. Beide sahen sich verlegen an. „Du kannst mich Aiko nennen“, murmelte die Jüngere dann und lächelte. • • • • • • • Nachwort: Nein, ich kann mich einfach nicht kurz fassen. Ich habe so schon gemerkt, dass es schwer wird die eigentliche Story UND das "Shojo-Ai" vernünftig reinzubringen. Hätte gern noch ein paar mehr Kapitel draus gemacht. :P Bin am überlegen noch etwas mit den beiden zu schreiben. Ich wollte noch einige Anmerkungen zum Inhalt machen. Wie schon in der Kurzbeschreibung erwähnt, spielt die Geschichte in Kyoto im Jahre 21XX. Die Stadt hat sich sehr verändert und viele der ehemaligen Kulturschätze wurden nach Naturkatastrophen nicht wieder aufgebaut. Falls sich einige wundern, was Haruka Mitten im August an der Universität macht: Ich habe mir gedacht, dass die Ferien in über 100 Jahren nicht unbedingt mehr zur selben Zeit liegen, wie sie es heute tun. Damit sind in Kyoto nun die Ferien im Juli. ;) Das Semester fängt jeweils etwas früher an und hört dafür etwas früher auf. Und ja, ich hab ein wenig Subtext in Richtung Umweltschutz eingebracht. Na ja, ich hoffe, dass die Geschichte vielleicht dem ein oder anderen Gefallen hat :) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)