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Day and Nights

von

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Prolog

Prolog
 

„Komm, das wird richtig lustig!“

„Ne, wirklich nicht…“

„Spielverderber! Alle machen mit, also los.“

„Wisst ihr eigentlich, wie gefährlich das werden kann?“

„Da wird schon nichts passieren.“

„Und was, wenn man uns erwischt?“

„Wenn wir schnell sind, erwischt uns schon niemand. Also komm‘ endlich!“

„Dann geht doch alleine, ich bleib dann hier.“

„Damit du uns später verpetzten kannst, oder wie?!“

„Wieso sollte ich euch denn verraten?“

„Na, weil wir so großen Spaß hatten und du dich ärgerst, dass du nicht mitgemacht hast!“

„Was soll daran denn lustig sein?!“

„Komm mit, dann siehst du’s.“

„Ich will aber echt nicht.“

„Mann, die anderen sind doch schon vorgegangen. Willst du mich jetz‘ vielleicht alleine gehen lassen?“

„Dann bleib doch einfach auch hier.“

„Alter, geh‘ doch einmal ein Risiko ein. Oder willst du vielleicht zu den langweiligen Spießern gehören?“

„Aber müssen wir denn ausgerechnet so einen Scheiß machen? Können wir nicht einfach wieder zurück in die Disko gehen?“

„Komm‘ schon, Adrenalin und so … Da stehst du doch sonst so drauf!“

„Schon … Aber wir sind betrunken! Da kann das doch nur schief gehen.“

„Gar nicht! Und los jetzt, ich verspreche, es wird rein gar nichts passieren. Spaß, ohne Folgen.“

„Meinst du wirklich?“

„Ja, das ist ganz harmlos.“

„Schwörst du’s?“

„Ja doch! Also was ist?“

„Hmm … Na gut …“

„Na endlich! Dann komm!“

Hallo Hölle

Die Landschaft rauschte an mir vorbei. Und das seit Stunden. Wie viele es genau waren, konnte ich nicht sagen. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, seit ich in dieses Auto gestiegen war. Es hätten mehrere Tage oder auch nur wenige Minuten vergangen sein können, es machte keinen Unterschied. Ich sah allein die Bäume, Sträucher und Büsche an mir vorbeiziehen. Die Sonne stand bereits weit unten am Horizont und erleuchtete in einem hellen orange das Innere des Autos.

Ich wandte meinen Blick vom Fenster ab und lehnte mich im Sitz zurück. Für einen Moment schloss ich die Augen. Das Brummen des Motors dröhnte in meinen Ohren, während ich leicht hin und her geschüttelt wurde. Leise seufzte ich auf, als mein Kopf heftig an der Kopfstütze anstieß.

„Die Straße ist leider etwas schlecht zu fahren.“, erklärte der Fahrer. Ich erschrak etwas, über den plötzlichen Laut, der die ständige Stille durchbrach.

„Ich merk’s.“, antwortete ich. Meine Stimme klang kratzig, ich hatte seit der Abfahrt kein Wort mehr gesprochen.

„Wir sind bald da.“, informierte er mich.

Missmutig wandte ich meinen Blick wieder der Landschaft zu. Ich wollte gar nicht ankommen. Da war es mir egal, ob wir in einer halben Stunde oder auch nie ankommen würden. Ich spürte den Blick des Fahrers im Rückspiegel auf mir, doch ich machte mir nicht die Mühe etwas zu antworten.

„Musst nicht aufgeregt sein. Es wird sich alles zum Guten wenden.“

Mann, hatte der eine Ahnung! Und auf sein blödes Geschwätz hatte ich erst recht keinen Bock. Ich war schon froh gewesen, dass er die letzten Stunden geschwiegen hatte und mich nicht mit Fragen oder guten Ratschlägen oder -am schlimmsten- mit Warnungen bombardiert hatte. Wollte er das jetzt etwa nachholen?

„Warum darf ich nicht vorne sitzen?“ Ich hörte mich an, wie ein kleines trotziges Kind, aber genau das wollte ich auch. Doch Mr Shamon schmunzelte nur leicht. Er konnte dieses Spiel ebenso gut spielen, wie ich.

„Kann ich wenigstens das Fenster aufmachen?“

Vor etwa einer Stunde hatte ich schon einmal den elektrischen Fensterheber ausprobiert, doch das Fenster ging nicht zu öffnen. Wie erwartet.

„Nein, ich denke, das ist keine gute Idee.“

„Ach kommen Sie“, Ich löste mich von der Fensterscheibe „mir ist heiß. Und Ihre doofe Klimaanlage geht ja nicht. Haben Sie etwa Angst, ich könnte während der Fahrt aus dem Fenster springen und davon laufen?“

Mein Fahrer seufzte laut auf und bediente von vorne den Schalter, damit mein Fenster etwas herunterfuhr. Sofort spürte ich einen angenehm kühlen Luftzug, der um meine Nase wehte. Endlich wieder frische Luft. Meine Haare wurden zerzaust und landeten in meinem Gesicht, doch das war mir nur recht. Kurz darauf schloss sich das Fenster wieder und ich lehnte mich abermals in meinem Sitz zurück.

Langsam hatte ich echt keinen Bock mehr. Diese ewige Autofahrt, auf Straßen, die kaum mehr als Straßen bezeichnet werden konnten, war schon Qual genug. Reichte das denen denn nicht schon? Anscheinend nicht, denn Mr. Shamon machte keinerlei Anstalten, mich jetzt schon aus diesem verdammten Auto rauszulassen.

Ich seufzte noch einmal laut auf, in der Hoffnung, es würde irgendetwas an meiner Situation ändern. Doch es half alles nichts, denn etwa eine halbe Stunde später tauchte ein großes Gebäude am Ende der Straße auf und wir hielten schließlich auf dem großen Kiesweg davor. Ich schnallte mich ab und öffnete die Tür.

„Warte einen Moment hier.“, meinte mein Fahrer, der ebenfalls ausgestiegen war. Er ging einige Schritte auf einen Mann zu, der anscheinend schon auf unsere Ankunft gewartet hatte. Ich beobachtete die beiden, wie sie sich die Hände schüttelten und einige Worte austauschten. Währenddessen öffnete ich den Kofferraum und hievte meinen Koffer nach draußen. Mir war heiß und ich wollte einfach nur noch weg von hier.

Stattdessen kam Mr. Shamon gemeinsam mit dem anderen Mann zu mir und sagte, während er den Deckel des Kofferraums zuschlug: „Ron, das hier ist Mr. Pugman, der Leiter des Internats.“

Ich betrachtete den dicken Herrn vor mir, der mir seine Hand hinstreckte. Er hatte ein schreckliches Doppelkinn und außerdem so wenige Haare am Kopf, dass ich mich witziger weise in genau diesem Moment fragte, ob er überhaupt eine Haarbürste brauchte. Kurz bevor er seine Hand wieder zurückziehen wollte, streckte ich meinen Arm doch aus und schüttelte sie.

„So, du bist also Ron.“, stellte Mr. Pugman überflüssigerweise fest, während er mich einer eingehenden Betrachtung unterzog.

Ich nickte leicht. „So sieht‘s aus.“ Mir war es unangenehm, dass er mich so eingehend musterte. Ich kam mir vor, wie ein Stück Fleisch auf dem Rindermarkt.

„Du weißt, warum du hier bist?“, fragte Pugman.

„Glauben Sie, ich wäre einfach so mitgekommen ohne, dass ich wüsste, warum man mich ein Jahr einfach so einsperren wird?“, gab ich zurück, nicht ohne gewaltig die Augen zu verdrehen. Für wen hielt der mich? Nur weil ich ein bisschen Scheiße gebaut hatte, sollte ich auf einmal nicht mehr klar im Kopf sein? Zu meiner Überraschung brach der Internatsleiter in lautes Gelächter aus, kaum hatte ich den Satz zu Ende gesprochen.

„Aber, aber. Hier wird doch niemand eingesperrt. Das Internat „Neuvelden“ bietet ihren Schülern ausreichend Gelegenheit, ihrer eigenen Freizeit nachzugehen und sich frei zu betätigen. Allerdings wird ihnen nebenbei der notwendige Respekt für Autoritätspersonen, sowie das Verhalten in der Gesellschaft gelehrt. Aber kein Grund zur Sorge, Sie werden sich hier sicher wohlfühlen.“

Für mich hörte sich das gerade eben an, wie aus einem Werbekatalog auswendig gelernt und das nicht gerade überzeugend.

„Okay, meine Arbeit ist getan.“, mischte sich nun Mr. Shamon, mein Betreuer vom Jugendamt ein. Er zog mich ein paar Schritte zur Seite und reichte mir einen Zettel. „Wenn du noch irgendwelche Fragen hast, kannst du mich anrufen. Mach‘s gut.“ Dann schlug er mir noch einmal auf die Schulter, stieg in den Wagen, nickte mir durchs Fenster noch einmal zu und fuhr rückwärts vom Hof.

Jetzt gibt es kein Zurück mehr, ging es mir durch den Kopf. Wie wahr.

Also drehte ich mich um, um mein neues Zuhause für das nächste Jahr genauer in Augenschein zu nehmen. Das Gebäude war irrsinnig groß und ebenso alt. Die grauen Backsteine wurden von großblättrigem Efeu fast ganz bedeckt und von hohen alten Fichten vollständig umrahmt. Alles in einem wirkte das Internat ziemlich gemütlich und ruhig und doch überkam mich ein eiskalter Schauer bei dessen Anblick.

„So, ich zeig dir gleich mal dein Zimmer, damit du deinen Koffer abstellen kannst.“, sprach mich Mr. Pugman von der Seite an. Ich schnappte mir meinen Trollie und rollte ihn hinter mir in Richtung Eingang des Gebäudes. Währenddessen schwärmte mir Pugman weiter von der wunderbaren Lage des Internats vor: „Hier links grenzt der Wald, der ebenfalls zum Besitz des Internats gehört, an. Gleich dahinter gibt es einen kleinen See mit einer großen Artenvielfalt von Fischen.“ Dann erklärte er mir noch, dass das Gebäude ein ehemaliger Familienbesitz war und erst vor kurzem verstaatlicht wurde.

Ich nickte nur hin und wieder, denn eigentlich war es mir herzlich egal, wem hier was gehörte. Außerdem störte es mich, wie oft Mr. Pugman das Wort „Internat“ wiederholte. Das hier war kein Internat, das war ein Gefängnis. Davon war ich überzeugt.

„Ich denke, du wirst dich hier gut zurechtfinden. Auch mit den anderen Schülern sollte es keine Probleme geben.“

Ich stutzte kurz. „Aber … das ist doch ein Internat für Schwererziehbare. Wie soll es denn da keine Probleme geben?“

Mr. Pugman lachte erneut laut auf und blieb kurz stehen, um mit mir auf einer Höhe zu gehen. „Bis jetzt hatten wir die Jungs gut unter Kontrolle. Wahrscheinlich machen sie aber auch keinen Ärger, weil sie keinerlei Kontakt zu Mädchen haben und so ihr pubertäres, männliches Ego nicht beansprucht wird. Zwar gibt es hin und wieder kleine Streitereien, die jedoch…“

„Moooment!“, rief ich und hielt die flache Hand in die Luft. „Heißt das, das hier ist ein reines Jungeninternat?“

„Aber natürlich. So, wie es zur Tradition gehört.“

Na toll! Mein einziger Hoffnungsschimmer war gerade erlischt. Eingesperrt. Ein Jahr lang. Und das mit nur Jungs! Das hatte ich nicht verdient! Zu allem Überfluss fing der Direktor auch noch an, mich über die Vorteile eines reinen Jungeninternats aufzuklären. Irgendwo zwischen „bessere Konzentration“ und „emotionale Weiterentwicklung“ traten wir ins Gebäude ein und ich begann mich umzuschauen.

Direkt gegenüber dem Eingang ging eine große Holztreppe nach oben. Links blickte ich in einen großen Speisesaal. Ich atmete erleichtert auf, als ich nicht, wie ich mir vorgestellt hatte, einen langen Tisch mit unendlich vielen Stühlen an den Seiten erblickte, sondern einen, zugegebenermaßen recht gemütlichen Raum, in dem mehrere kleine Tische wirr herumstanden.

Dann gab es neben der Treppe noch einen kleinen Durchgang, der in ein weiteres Zimmer führte. Ich erfuhr von Pugman, dass es sich hierbei um den Aufenthaltsraum handelte.

„Du kannst ihn dir später nochmals genauer anschauen, ebenso wie das restliche Gelände.“, meinte er, während wir die Treppe hinauf gingen und schließlich in einem langen Gang vor einer der vielen Türen stehen blieben.

Unwillkürlich verstärkte ich den Griff um meinen Koffer, denn nur ganz am Ende des Korridors war ein Fenster, sodass der größte Teil des Ganges nicht beleuchtet war. Gerade so konnte ich erkennen, wie die grüne Farbe an der Wand abgeblättert war.

„Nate wird dir sicherlich helfen, dich hier einzuleben.“

„Nate?“, fragte ich und zog die Augenbrauen nach oben. Ich ahnte Schlimmes.

„Ja, dein Zimmerkollege.“

„Zimmerkollege?“, schnaubte ich. „Ich muss mein Zimmer teilen?“ So bedrohlich, wie ich konnte, starrte ich dem Direktor in die Augen, doch der blieb davon unbeeindruckt. Stattdessen nahm er den Türgriff und öffnete die quietschende Tür. Und erst nachdem ich keinerlei Anstalten machte, einzutreten, gab er mir von hinten einen kleinen Schubs und ich stolperte nach drinnen.

Unsicher betrachtete ich den hell erleuchtenden Raum. Die rechte Seite des Zimmers war komplett kahl. Ein Bett stand am Fenster, dann ein Schrank und ein Regal. Ich atmete hörbar ein. Doch was mich am meisten an diesem Zimmer fesselte, war nicht meine zukünftige Seite des Zimmers, sondern die Linke. Die Möbel waren genau spiegelverkehrt angeordnet, doch waren keineswegs kahl oder langweilig. Das Bett war das einzige, was aufgeräumt und sauber wirkte. Darum herum lagen Klamotten am Boden, auf dem Regal. Allerhand leere Flaschen standen herum, ein alter Pizzakarton schaute unter dem Bett hervor und an den Wänden gingen Poster von halbnackten Frauen. Doch das, was mich am meisten fesselte, war der riesige Boxsack, der direkt neben der Tür von der Decke hing. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was für ein Typ dieser Nate war.

Unruhig ging ich hinüber zu meinem Bett, das heißt, ich wollte hinüber gehen, denn auf dem Weg stolperte ich über ein Paar Hanteln und landete laut fluchend auf dem Boden.

„Verdammt, was suchen die auf dem Boden?“

Einen Moment war wieder ganz still im Zimmer, während ich mein schmerzendes Bein hielt. Dann sagte jemand hinter mir: „Hätte ich sie vielleicht auf den Schrank legen sollen, wo sie dir auf den Kopf gefallen wären?“

Blitzartig drehte ich meinen Kopf und sah über die Schulter zur Tür, wo die Stimme herkam. Einen kurzen Augenblick sahen der Junge und ich uns nur an, dann ging er an mir vorbei und meinte währenddessen: „Wär‘ wahrscheinlich besser gewesen … “

„Hey!“ Ich rappelte mich auf und zog mein T-Shirt zurecht. „Kein Grund gleich au- „

„Dein Koffer steht auf meiner Seite.“ Nate warf sich mit voller Wucht auf sein Bett und deutete auf meinen Koffer, der meiner Meinung nach genau in der Mitte des Zimmers stand.

„Hä?“ Mitten im Satz brach ich ab.

„Dein Koffer. Er steht in meiner Hälfte.“ Wie, als müsse er mit einem fünfjährigen Kind sprechen, deutete er erst auf mich, dann auf den Koffer und machte eine wegwischende Handbewegung.

„Okay…“ Ich starrte Nate einige Augenblicke verwirrt an, dann machte ich ihm die Freude und bewegte meinen Koffer einen Meter weiter in meine Hälfte des Zimmers hinein.

„In Ordnung so?“, fragte ich mit aufgesetztem Lächeln.

Nate nahm sich eine Zeitschrift vom Nachttisch und lehnte sich auf seinem Bett zurück. „Geht doch.“

Das Internat war tatsächlich genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte: Arrogante Jungs, die irgendein Problem mit sich und der Welt hatten. Und größtenteils wahrscheinlich auch noch gewalttätig waren.

„Wir sehen uns später nochmal.“, wandte sich der Internatsleiter noch einmal an mich, dann sagte er zu Nate: „Und du!“, bedrohlich deutete er mit dem Finger auf ihn. „Naja, halte dich an das, was wir vorhin besprochen haben.“

Zur Antwort schnaubte der Dunkelhaarige jedoch nur und machte keine Anstalten, irgendwie auf Mr. Pugman einzugehen, der kurz darauf aus dem Zimmer verschwand.

Ich legte meinen Koffer hin und öffnete den Reißverschluss. Obwohl, dieser Nate sah eigentlich nicht sonderlich gewalttätig aus, wie er so dasaß und in seiner Zeitschrift blätterte. Seine schwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht und hin und wieder wippte er mit seinem rechten Fuß.

Während ich meine Sachen aus dem Koffer holte und auf dem Boden stapelte, warf ich immer wieder Blicke zu ihm um ihn genauer unter die Lupe zu nehmen. Normalerweise war ich immer ziemlich gut darin, den Charakter anderer Menschen schnell richtig einzuschätzen. Bei Nate war ich mir jedoch überhaupt nicht sicher, zu welchem Typ Mensch er gehörte.

„Was glotzt du denn die ganze Zeit so?“ Erschrocken fuhr ich zusammen. „Hab ich was im Gesicht, dass du mich ständig beobachten musst?“

Unwillkürlich spürte ich, wie ich mich ertappt fühlte. „Sorry.“, nuschelte ich wandte meinen Blick wieder meinen Klamotten zu. Ich hörte, wie sich Nate vom Bett erhob und einige Schritte auf mich zuging. Ich wagte nicht, ihn anzusehen.

„Hör mal, Kleiner. Nur weil du neu bist, musst du hier nicht auf nettes, unschuldiges Bürschchen machen.“

„Wie meinst du das?“, fragte ich und fixierte Nates Füße, die dich vor mir standen.

„Weißt genau, wie ich’s meine!“, blaffte er mich an und ehe ich reagieren konnte, hatte Nate meinen Kragen gepackt und auf die Beine gezerrt. Erst jetzt merkte ich, wie groß er doch war und wie leicht er mich verletzten könnte.

„Und wehe, du schaust mich noch einmal so blöd an.“

Ich schluckte, während er immer noch meinen Kragen festhielt.

„Hey Nate“, sagte ich laut, obwohl er doch nur wenige Zentimeter von mir weg stand. Ich wollte nicht wie ein kleiner Junge rüberkommen, schließlich war ich aus demselben Grund in diesem Internat, wie er selbst. Und das sollte er auch sehen. „Du stehst in meiner Hälfte.“ Schnell hob ich den Blick und sah in seine Augen. Sie waren dunkelgrün.

Nate blieb einem kurzen Moment starr stehen, dann zeichnete sich ein kleines Lächeln auf seinen Lippen ab.

„Gut pariert, Kleiner.“, sagte er, ließ mich los und setzte sich wieder aufs Bett. Langsam zog ich mein Shirt glatt und hockte mich wieder vor meinen Koffer. Mit zusammengekniffenen Lippen räumte ich weiter meine Sachen aus dem Koffer und auf den dunklen Parkett. Doch diesmal vermied ich es, Nate auch nur eines Blickes zu würdigen.

Die Minuten vergingen, in denen ich Kleidung, Bücher, Schulsachen und anderen Kram zusammenlegte oder ordnete. Ich wusste beim besten Willen nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Die dicke Luft im Zimmer was deutlich zu spüren und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als aus Nates Gegenwart zu verschwinden. Natürlich hätte ich raus gehen können, um mir die wundervolle Natur anzuschauen, die Mr. Pugman so gelobt hatte, aber noch weniger, als mit meinem neuen, miesepetrigen Zimmergenossen zusammen zu sein, wollte ich meinen Kerker besichtigen. Egal, wie viele Fische in dem bezaubernden See des Internats herumschwammen, für mich war und blieb es ein Ort, an dem ich festgehalten wurde. Und ich konnte gut darauf verzichten, ihn mir genauer anzusehen.

Kurz hob ich den Blick, als ich merkte, wie Nate zu mir hinübersah.

„Was ist?“, grunzte ich schlechtgelaunt. Ich durfte ihn nicht ansehen, und er beobachtete mich schon seit Minuten?

Nate zuckte die Schultern. „Gleiches Recht für alle. Da stehst du doch so drauf.“ Er fixierte mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Darauf, dass er mich verarschte und sich über mich lustig machte, konnte ich gut verzichten.

„Du hast doch keine Ahnung, worauf ich stehe.“, nuschelte ich und legte ein Paar Socken zu den anderen.

„Schön.“, meinte Nate und ging zu seinem Schreibtisch, um eine Flasche Cola zu nehmen, ehe er sich wieder aufs Bett fallen ließ und seine Zeitschrift zur Hand nahm. „Interessiert mich auch nicht.“

Das hatte ich auch nicht erwartet. Ich erhob mich und ging zu meinem Kleiderschrank hinüber. Als ich hineinsah, waren weder Fächer noch Schubladen angebracht. Lediglich eine Kleiderstange hing darin.

„Gibt’s gar keine Kleiderbügel?“, fragte ich Nate. Selbst in dem schlechtesten Hotel gab es wenigstens Hacken, an denen man seine Klamotten aufhängen konnte.

„Also ich hab welche.“, antwortete Nate, ohne von dem Artikel, den er gerade las, aufzusehen.

„Aha.“, machte ich nur und stand ein bisschen blöd vor dem Kleiderschrank herum. „Uuund … gibst du mir welche?“

„Nö.“ – Klare Antwort.

Angepisst schloss ich die Türen. Ich hätte mir auch einfach Kleiderbügel aus Nates Schrank nehmen können, aber dann wäre ich vermutlich tot.

In dem Moment kam ein schriller Ton aus dem Lautsprecher oberhalb der Tür. Kurz darauf noch einer. Ich wartete, was passieren würde, doch nichts geschah. Etwa eine Minute später erhob sich Nate plötzlich und ging zur Tür hinaus.

„Hey!“, rief ich hinter ihm her und folgte ihm in den Gang. „Was ist los?“

Ohne sich umzudrehen antwortete Nate: „Es gibt Essen.“

Achso. Schnell folgte ich Nate die Treppe hinunter und lief am untersten Absatz Mr. Pugman in die Arme. Auch darauf hätte ich gut verzichten können.

„Ron!“, sagte er laut, „Du hast dich also schon mit Nate angefreundet.“

„Nein!“, kam es gleichzeitig aus Nates und meinem Mund. Ich rief es laut aus, um ja nicht den Verdacht zu bestätigen, Nate wäre irgendwie nett zu mir gewesen. Er dagegen sprach es mit betont gleichgültiger Stimme aus, während er an Pugman vorbeiging.

„Weißt du, er hat es nicht leicht. Er hatte schon so viele Zimmerkollegen und nie hat er sich mit ihnen verstanden.“ Mr. Pugman seufzte schwer und sah Nate nach, wie er in der nächsten Tür verschwand.

„Kann ich dann nicht in ein anderes Zimmer?“ Ein letzter Hoffnungsschimmer erklomm in mir. „Vielleicht ist er besser drauf, wenn er ein Zimmer für sich hat?“ Innerlich flehte ich Pugman an, er würde meinem Vorschlag zustimmen.

„Hmm … Nein. Das bringt nichts.“ Ich sank in mich zusammen. „Und nun komm‘ mit.“

Widerwillig ließ ich mich von dem Internatsleiter in den großen Speisesaal führen, den ich ja bei meiner Ankunft schon kurz gesehen hatte. Doch diesmal war er gefüllt mit allen Jungs, die im Internat lebten und an den Tischen saßen. Am hintersten Eck des Raumes erblickte ich Nate, der bei einer Gruppe von Typen abklatschte.

„Da hinten ist dein Platz.“ Mr. Pugman deutete mit dem Kinn in eine Richtung. „Den Platz behältst du das gesamte Jahr, die Tische dürfen nicht verschoben werden …“ Während er weiter die Ess- und Raumregeln runterbetete und mich durch den Raum lotste, betete ich immer wieder: Bitte nicht neben Nate, bitte nicht neben Nate, nicht neben Nate. Doch, wie sollte es auch anders sein, steuerten wir genau auf den Platz am Tisch von Nate und seinen Freunden zu. Gerade lachten sie noch ausgelassen, als ein Typ Nate mit dem Ellenbogen anstieß und in meine Richtung nickte. Augenblicklich verstummten sie.

„Hier ist dein Platz und lass‘ dir von den Jungs alles Restliche erklären.“, informierte mich Pugman, als wir am Tisch angekommen waren.

„Hi.“, sagte ich und nickte in die Runde, „Ich bin Ron.“

Dass man mich hier mit ausgebreiteten Armen und einem Grinsen, das von hier bis nach Texas reichte, empfangen würde, hatte ich nicht erwartet. Wirklich nicht. Aber dass sie mich wie ein Kaugummi an einer Schuhsohle ansehen würde, hatte ich auch nicht gedacht. Aber nun gut, ich würde einfach meinen Charme spielen lassen.

Vorsichtig deutete ich auf den einzig freien Stuhl am Tisch. „Darf ich…“

„Besetzt.“ ,raunte der Typ neben mir. Ich warf ihm von oben einen flüchtigen Blick zu. „Da sitzt mein Kumpel Spence.“ Kühl sah er mir ins Gesicht und verzog dabei keine Miene.

„Achso, das wusste ich nicht….“

„Rick, erzähl ihm keine Lügen.“, kam es von Pugman. „Du weißt, dass Spencer nicht mehr kommen wird, also lass Ron sich hinsetzen. Auch wenn es dir schwerfällt zu akzeptieren, dass Spencer in einem…“

„Ich hab’s geschnallt, Mann.“, unterbrach Rick Mr. Pugman und wandte sich seinem Essen zu.

Die Situation wurde mehr und mehr unangenehm für mich, also nahm ich das einfach mal als Einverständnis, mich setzten zu dürfen. Außerdem hatte ich nicht vor, während des gesamten Essens über stehen zu bleiben. Schließlich ging auch Pugman zum nächsten Tisch und ließ uns alleine.

„Muss man sich das Essen selbst holen?“, fragte ich nach einer Weile, in der keiner der Jungs etwas gesagt hatte, sondern mich nur feindlich gemustert hatten.

Doch wie als hätten sie nichts gehört, antworten sie nicht auf meine Frage. Unbehaglich sah ich von einem zum anderen. Als ich bei Nate ankam, bemerkte ich dass er sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, mir grimmige Blicke zuzuwerfen. Stattdessen rührte er mit einem Strohhalm in seiner Cola herum. Auch gut.

Langsam führte ich meine Hand zum Kopf uns strich mir über die Stirn. Es war schlimmer hier als ich angenommen hatte und mir war schnell klar, dass es mein einziger Wunsch im nächsten Jahr sein würde, dass dieses Jahr doch möglichst schnell vergehen möge!



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