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Fake for your life!

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr lieben Leser,
diese Stelle möchte ich heute mal dazu nutzen, um euch dafür zu danken, dass ihr meine Fanfic seit 20 Kapiteln verfolgt bzw. sie kommentiert und favorisiert habt! :) *verbeug* Dankeschön für euer Interesse! ♥ Ich freu mich sehr und hoffe, ihr seid auch weiterhin dabei.

Viel Spaß mit dem neuen Kapitel! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Heute geht es Alfred-zentriert weiter. Jaaa. Eine smarte Leserin auf ff.de hat in ihrem Review angemerkt, dass die Story in letzter Zeit sehr Alfred-zentriert ist und sie die anderen Charaktere vermisst. Tut mir leid, dass die anderen gerade hinten anstehen. Wenn man so krank ist wie Alfred, ist es ab einem gewissen Zeitpunkt halt extrem schwer, noch ein Auge für seine Umwelt zu haben oder auf seine Mitmenschen zuzugehen. Man tendiert dann eher zum Rückzug und verfällt dadurch nur noch mehr seiner Einsamkeit und den negativen Gedankenschleifen/Verhaltensweisen. Mehr zu dem Thema im nächsten Kapitel.
Was ich eigentlich sagen wollte: die anderen Charaktere rücken demnächst wieder mehr in den Vordergrund. Ich hab sie nicht vergessen. In dem Sinne hoffe ich einfach, ihr überlebt die Durststrecke ^^" Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Dag, ihr lieben Leser!
Da ich in diesem Monat die FF-Statistiken einsehen kann, bin ich doch etwas überrascht, wie viele Leute diese Geschichte tatsächlich lesen ... Ehrlich gesagt, das hätte ich gar nicht vermutet.
Lasst mir doch zur Abwechslung auch mal (wieder) einen Kommentar da ;-) Ich würde mich zumindest freuen.

Viel Spaß mit dem neuen Kapitel! ♥ Komplett anzeigen

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{ 01. | Welcome to Sunny State }

Mit einem entrüsteten Seufzen griff der junge Amerikaner nach seinen neuen Sneakers, die bis eben noch unspektakulär in seiner Reisetasche gelegen hatte. Jetzt, nach Begegnung mit einer Schwester, standen sie schräg daneben und wirkten wie zwei herzlos ausgeweidete Schweine.

„Nicht mal Schnürsenkel?! Kann doch nich’ wahr sein...!“ Mehr fiel Alfred beim besten Willen nicht dazu ein. Teils fassungslos, teils wütend ließ er die Schuhe in dem kleinen Schrank verschwinden, der ihm zugeteilt worden war. Er musste hier raus. Er hatte keine Lust auf Leute, die die Schnürsenkel aus seinen Schuhen pulten und während er pinkelte vor der Klotüre patrouillierten! Wie konnten seine verdammten Eltern ihm das nur antun? Einfach unglaublich...!
 

Hitzig Flüche murmelnd, stopfte Alfred den Rest seiner Sachen in den hohen, schmalen Schrank mit der Holztüre. Im Raum war es gefühlte zehn Grad zu warm für seinen Geschmack; er spürte bereits, wie ihm Schweiß auf die Stirn trat. Womöglich wollten sie hier sein Fett nach dem Saunaprinzip schmelzen lassen.
 

Energischen Schrittes ging er durch das spärlich eingerichtete Zimmer und bekam gleich darauf den Fenstergriff zu fassen. Der Spätsommernachmittag zeigte sich von einer untangiert grauen Seite und hatte weder Sonne noch Regen im Gepäck. Alfred konnte das Fenster lediglich auf kipp öffnen. Mehr schien durch eine Sicherung unmöglich. Zusätzlich räkelten sich einige Stäbe vor dem Fenster und waren draußen in die Wand eingelassen. Es war ironisch ihm zu unterstellen, durch den schmalen Fensterspalt zu passen. Vielleicht sollte ihn das Fenster ja motivieren..?
 

Eine erste Brise schlich in den Raum, in dem abgestandene Heizungsluft und der widerliche Geruch von Desinfektionsmittel sowie der Dunst von altem Kantinenessen offenbar schon seit geraumer Zeit vor sich hin vegetierten. Den Luftzug genießend, ließ Alfred kurz die Augen zufallen. Er hatte sich fest vorgenommen, optimistisch zu bleiben. So wie er eben immer versuchte, die Dinge möglichst optimistisch anzupacken. Nur erwies sich dies als schwer, wenn einen die eigenen Eltern in so ein Loch steckten, weil sie der Ansicht waren, ihr Sohn habe ein Problem.

Problem.

Wie das schon klang! Alfred hatte gewiss kein Problem – oder zumindest keines, was man all zu ernst nehmen musste. Er hatte nur irgendwie nicht gut genug aufgepasst. Sonst hätten seine Eltern nie etwas gemerkt, so wie er es sie all die Zeit zuvor eben nie hatte merken lassen. Er hatte keine Probleme. Allein schon aus dem Grund, weil in seiner Familie kein Platz für Probleme seinerseits vorgesehen war.
 

„Ve...?“
 

Alfreds Augen sprangen auf, als er die fremde Stimme hinter sich vernahm. Den Fenstergriff noch in der rechten Hand, wandte er sich zur Zimmertüre herum, wo er einen anderen Jungen erblickte. Alfred hatte es befürchtet – er hatte einen Mitbewohner. Allein schon die Tatsache, dass auf einem der Betten ein kleines Kissen und einige ordentlich gefaltete Kleidungsstücke lagen, hatten ihm dies verraten. Die Frage war nur, mit was für einem Typen er sich das Zweibettzimmer teilen musste. In jedem Fall galt: Angriff war die beste Verteidigung!
 

„Hi!“, drehte er sich deshalb breit grinsend ganz zu dem anderen Jungen herum und ging, ihm die Hand zur Begrüßung entgegen haltend, schnurstracks auf ihn zu. Die verdutzten Augen des anderen begannen daraufhin regelrecht zu leuchten.
 

„Ich hab einen neuen Mitbewohner!“, platzte die Freude samt eines fidelen Lächelns aus ihm heraus. Seinen Worten haftete ein freundlich warmer italienischer Akzent an.
 

Eigentlich war Alfred davon ausgegangen, derjenige zu sein, der den meisten Enthusiasmus in diesem Gebäude besaß – immerhin war er schon immer gut darin gewesen Energie, Begeisterung und Tatendrang zu versprühen –, doch sein Gegenüber schien ihm dahingehend in nichts nachzustehen. Alfred wusste gar nicht, wie ihm geschah, so rasch wurde seine Hand geschüttelt.
 

„Sie haben mir gar nicht gesagt, dass wieder jemand her kommt, ve~! Ich bin Feliciano. Hast du schon deinen Schrank eingeräumt? Und die Station gesehen? Sie ist klein, eigentlich winzig, aber die meisten hier sind sehr nett und abends dürfen wir sogar im Gemeinschaftsraum fern sehen. Wie heißt du?“
 

Alfred war ein bisschen schwindelig, was daran liegen musste, dass Feliciano beim Reden munter durchs ganze Zimmer marschiert war. Einmal um Alfred zu umkreisen, einmal um in dessen Schrank zu spähen – und sich somit die Frage nach dem Einräumen selbst zu beantworten –, und letztlich um zum Fenster hinüber zu gehen und dieses wieder zuzumachen.
 

Etwas perplex fiel Alfred nicht all zu viel dazu ein: „Äh... ja, nein, also...Ich bin Alfred. Und eigentlich hab ich das Fenster gerade erst aufgemacht...“
 

Seine letzte Anmerkung prallte an Felicianos strahlendem Gesicht ab und fiel tot zu Boden. Zusätzlich machte der Braunhaarige eine abwinkende Handbewegung.

„Das ist so aufregend, dass jetzt wieder jemand mit mir das Zimmer teilt! Wenn ich alleine bin, ist das hier so gruselig nachts. Siehst du den Baum da?!“ Ohne sich umzudrehen, deutete Feliciano hinter sich aus dem Fenster. „Wenn der Wind zu stark ist, kratzen seine Äste ständig am Fenster. Das klingt schaurig! Aber wenn du hier bist, muss ich mich ja nicht mehr fürchten, ve~!“
 

„Ha! Wer sich mit mir ein Zimmer teilt, muss garantiert keine Angst haben. Also, wie läuft’n das hier alles so?“ Alfred hatte nicht den Hauch einer Ahnung, warum dieser andere Junge hier war. Feliciano wirkte nicht nur aufgeschlossen und freundlich, sondern sah auch völlig normal aus in seinem gemütlichen, weiten Pulli, unter dem er ein T-Shirt trug. Seine Frisur sagte „gekonnt ungewollt“, sein schmales Gesicht beherbergte lebendige Züge und seine agile Art war genau der richtige Umgang, den Alfred hier drin zu brauchen glaubte. Mit Feliciano im Raum schien selbst die Luft aufgeregt zu vibrieren.

Womöglich war Feliciano nicht mal halb so abgefuckt wie Alfred und stand schon kurz vor seiner Entlassung.
 

„Sie lassen uns hier um 6 Uhr morgens aufstehen!“
 

Alfred glaubte, plötzlich ein tränennahes Glänzen in Felicianos Augen zu entdecken, während es ihm selbst eiskalt den Rücken runterlief.
 

„6 Uhr?“, echote er verschreckt. Felicianos Augen glänzten gleich noch mehr.

„Ja, es ist total schrecklich! Ich bin doch jeden Morgen so müde! Wie soll ein normaler Mensch bitte um 6 Uhr morgens nicht müde sein?!“
 

Das war Alfred auch ein Rätsel. Er liebte und brauchte seinen wohl verdienten Schlaf.

„Warum scheuchen die uns in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett? Das ist doch menschenverachtend! Haben wir hier drin keine Rechte? Das Recht auf Ausschlafen zum Beispiel?!“
 

Feliciano blinzelte betroffen, seine Miene wirkte für geschätzte zwei Sekunden leer. Dann kehrte das Lächeln zurück. Ihnen war beiden aufgegangen, dass Alfred sich nicht besonders gut über die Einrichtung informiert hatte. Sämtliche Worte seiner Eltern hatte er gewissenhaft ignoriert; sie waren durchs eine Ohr rein und durchs andere wieder raus gegangen. Als feststand, dass man ihn zur Klinik verurteilte, hatte er nur eines getan: sich eine Strategie überlegt, wie er möglichst schnell wieder hier raus spazieren konnte. Die Strategie hatte sogar einen Namen: Operation fake for your life!
 

„Man muss uns doch...“ Felicianos Blick sprang einmal nervös von einer Ecke in die andere, bevor er wieder auf dem Neuzugang landete. Blitzartig kam er dann auf Alfred zu, schnappte ihn am Ärmel und flüsterte ein gedämpftes „wiegen!“. Das Wort schien ihm unangenehm zu sein. Und nicht nur ihm – auch Alfred bekam umgehend hochrote Ohren, sodass er reflexartig gegen die Hitze auf seinem Gesicht anschlucken musste. Doch seine Kehle war mit einem Male wie ausgetrocknet, derweil er sich von seinem Zimmernachbarn mitziehen ließ.
 

Wiegen hallte es in seinem Kopf wider.

Tägliches Wiegen morgens um 6 Uhr.

Das war doch pure Schikane!

Alfred holperte hinter Feliciano her und kam sich ungelenk vor. Zum einen, weil er ihn um ein ganzes Stück überragte. Zum anderen, weil nun auch in sein Bewusstsein sickerte, deutlich breiter gebaut zu sein als der feingliedrige Italiener. Dabei hielt sich Alfreds Gewicht in Grenzen; es kratzte nur dezent am Übergewicht. Trotzdem kam er sich gerade unendlich plump vor und versuchte erneut, die beklemmende Röte loszuwerden.
 

Feliciano indes führte ihn unter kontinuierlichem Geplapper über den stechend beleuchteten Gang hinaus, vorbei am Schwesternzimmer, dem gegenüber ein großer Aufenthaltsraum lag. Der verhältnismäßig kurze Flur beherbergte nur wenige Zimmer, deren Türen allesamt geschlossen waren. Alfred konnte nicht abschätzen, wie viele andere „Inhaftierte“ hier einsaßen.

Schließlich blieb Feliciano vor einer Türe stehen. Das Schildchen an der Wand informierte Alfred darüber, dass dies der Raum mit der Waage war. Also der Raum, der ihm ab jetzt tagtäglich die Laune verderben würde.

{ 02. | F50.0 }

Eigentlich würde er jetzt lieber wieder mit Feliciano im Zimmer sitzen und sich Geschichten erzählen lassen...

Alfred konnte den Gedanken nicht abschütteln, als er mit einem steinernen Lächeln auf seine Füße hinabschaute, weil er die Konversation zu groß für den Raum fand. Vor ihm, direkt hinter dem langen Schreibtisch, saß ein Mann Ende 40, der ihm gerade einen Vortrag darüber hielt, wieso er hier war und wie sein Tagesablauf zukünftig aussehen würde. Die Frau in dem strengen Strickpullover und der weißen Bluse darunter, die ebenfalls mit ihnen an dem peinlich aufgeräumten Tisch saß, hatte – abgesehen von ihrer Vorstellung zu Anfang des Gesprächs – kein einziges Wort verloren.
 

Alfred bemühte sich, seinen entspannten Eindruck aufrecht zu erhalten. Es war alles okay, fake for your life!, predigte er sich im Stillen, um sich an seine Prinzipien zu klammern. Rein äußerlich lag auf seinem Gesicht ein tapferes, aber verblassendes Lächeln, was seine Augen längst nicht mehr erreichte.
 

Er war eingesperrt – und es war ihm nie so bewusst geworden wie innerhalb der letzten halben Stunde. Er war eingesperrt, weil er Fehler machte und ihm weder seine Eltern noch die Ärzte zutrauten, sein Leben alleine in den Griff zu bekommen. Dabei war er doch ein großer Junge! Was scherte es denn bitte irgendjemanden, wie er sein inneres Gleichgewicht fand?! Konnte es seinen Mitmenschen nicht einfach egal sein? Warum nur hatten seine Eltern gleich so heftig reagiert?

Alfred kannte die Antwort. Sie duldeten keine weiteren Probleme. Probleme gehörten beseitigt. Deswegen hatten sie ihn abgeschoben. Und deswegen musste er schleunigst beweisen, kein Problem zu sein, sondern ein fitter 16-Jähriger, der im Friede-Freude-Eierkuchenland lebte.
 

Vielleicht würde es ja halb so schlimm werden, immerhin gab es ja noch Feliciano. Er hatte Alfred die wie ausgestorben wirkende Station gezeigt und ihn mit Erzählungen von Italien überhäuft. Dort gab es die beste Pasta weltweit. Alfreds Magen knurrte seitdem, weil sein neuer Zimmernachbar kaum etwas anderes getan hatte, als übers Essen zu reden. Genauer: über Nudeln. Wie man den Teig optimal zubereitete, wie man sämtliche Variationen an Fleisch- und Käsefüllung für Tortellini herstellte und wie man Nudeln al dente kochte. Alfred hatte das Gefühl, nach knapp einer Stunde mit Feliciano mehr über Pasta zu wissen, als es der Durchschnittsbürger in seinem ganzen Leben jemals tun würde. Alfred hätte ihn ja unterbrochen, aber Feliciano wirkte wie im Rausch. Essen war sein Element; das Essen seiner Heimat. Kochen für die Familie.

Alfred hatte insgeheim immerzu angenommen, seine Gedanken würden vom Essen beherrscht werden, aber Feliciano stellte ihn locker in den Schatten!
 

„...Hast du noch Fragen?“, holte die monotone Stimme des Arztes Alfred plötzlich zurück in die Gegenwart. Irritiert blinzelte er und schüttelte dann enthusiastisch den Kopf.

„Nein, alles Roger!“
 

Der Arzt hob skeptisch eine Augenbraue, nickte aber akzeptierend. Heilfroh, endlich das Weite suchen zu können, verabschiedete sich der Blonde schnell und türmte regelrecht aus dem Zimmer. Kaum auf dem Flur, witterte Alfred den Duft von Frischgekochtem und hörte seinen bodenlosen Magen aufmucken. Das Knurren fuhr ihm durch Mark und Bein und ließ ihn wehleidig an seinen heutigen Speiseplan denken. Kein Frühstück, stattdessen hatten sie unterwegs etwas bei einem Drive In geholt und auf der Fahrt hierher verschlungen. Immerhin wollten seine Eltern ja, dass er regelmäßig aß...

Allein der Gedanke an die Burger, die mit Käse überbackene Pommes und die große Cola ließ Alfred das Wasser im Mund zusammenlaufen. Dafür würde er jetzt glatt seine Seele verkaufen. Dafür und für das, was er daheim in seinem Bettkasten, gut versteckt hinter den Packungen mit Modellflugzeugen, gehortet hatte.
 

Interessiert schlenderte Alfred den Gang entlang und erreichte den großen Aufenthaltsraum, der absurd in Esszimmer und Wohnzimmer unterteilt war. Während hinten eine Fernsehecke mit zwei Sofas und einem Regal voller Spiele und Bücher seinen Platz fand, waren vornan drei große Tische zu einzelnen Inseln aufgebaut. Nur auf einem der Sofas saß bereits jemand, wie Alfred neugierig feststellte und den anderen Jungen von oben bis unten scannte. Eine Tasse Tee vor sich auf dem Beistelltisch, hatte der Junge ein Bein über das andere geschlagen und war in ein Buch vertieft. Hemd, Hose und Pullunder waren faltenfrei und strahlend sauber. Er war schlank. Sehr schlank, wie Alfred zu seinem eigenen Bedauern bemerkte und auf die deutlich hervorspringenden Schlüsselbeine stierte.
 

War er etwa der einzige, der ein anderes Problem hatte?
 

Abermals meldete sich sein Magen unbeherrscht knurrend zu Wort und ließ ihn ertappt zusammenfahren. Das Geräusch kam ihm ohrenbetäubend laut vor und veranlasste Alfred dazu, die Hände umständlich vor seinem Oberkörper zu verschränken und von der Türe zurückzutreten. Der Junge auf der Couch schien allerdings nichts gehört zu haben. Glück gehabt!
 

Alfred behielt ihn im Auge, gab sich dann einen inneren Ruck und schlenderte scheinbar sorglos in den Raum.

„Hi! Ich bin-“

„Du bist neu hier und meinst, wir sollten Freunde sein, nur weil wir beide zufällig auf der gleichen Station sind.“ Mitsamt seinen Worten schleuderte der Junge Alfred eine ungenießbare Schärfe entgegen, die ihn gut zwei Armlängen vom Couchtisch entfernt inne halten ließ.

„Ja, genau! Ich bin Alfred und mit Feliciano auf einem Zimmer.“
 

Sich wieder in sein Buch vertiefend, stieß der Sitzende ein gepresstes Lachen aus. Das Geräusch drang höhnend durch seinen skeptisch verzogenen Mundwinkel.

„Na dann ist ja alles gut.“
 

„Alles gut?“
 

Der Junge lächelte still und vielsagend weiter – ohne auf Alfreds Frage einzugehen. Seine Pupillen flogen über die gedruckten Worte hinweg. Es schien, als habe er Alfred völlig aus seiner Wahrnehmung verbannt. Wie charmant! Alfred begriff nicht, wo das Problem des Giftzwergs lag, aber er würde nicht so schnell aufgeben, sondern nahm schnurstracks auf dem Sofa Platz.
 

„Wie war noch gleich dein Name?“ Aufdringlich lehnte sich Alfred weit genug zu dem anderen Jungen hinüber, um über seine Schulter hinweg mitlesen zu können. Davon ganz und gar nicht begeistert, klappte dieser sogleich das Buch zu, rückte ein deutliches Stück beiseite und funkelte Alfred abermals feindselig an.

„Arthur. Arthur Kirkland. Und ich denke, es ist offensichtlich, warum wir beide hier sind. Aber dass sie dich ausgerechnet mit Feliciano auf ein Zimmer gesteckt haben...“ Dezent kopfschüttelnd schien Arthur zusehends amüsierter, je länger er sich den letzten Gedanken auf der Zunge zergehen ließ.
 

Alfred begriff es nicht. Arthur seinerseits legte das Buch mit dem abgenutzten, schwarzen Schutzumschlag auf den Tisch und nahm die Tasse auf, pustete leicht hinein und erlaubte sich dann einen winzigen Schluck Tee.
 

„Trinkst du den Tee überhaupt oder tust du nur so?“
 

„Dir könnte mehr Tee und weniger Schweinefraß nicht schaden!“ Dieses Mal bohrte sich Arthurs Blick genau in Alfreds Bauch, der zugegebenermaßen keine gute Figur machte.
 

„Ich trink auch Tee! Chai Latte und Bubble Tea zum Beispiel!“, platzte es richtigstellend aus Alfred hinaus. Dass er leicht errötete und den Bauch einzog, passierte leider ganz automatisch.
 

Arthurs Gesichtsausdruck wirkte kurzweilig entsetzt. Selbst die spottende Schärfe war ihm gänzlich abhanden gekommen. Dann schüttelte er, etwas Unverständliches murmelnd, erneut den Kopf und stellte seine Tasse zurück auf den Tisch.
 

„Ah, ich nehme an, ihr zwei habt schon großen Hunger“, drang es von der Eingangstüre zu ihnen hinüber. Wenngleich Alfred es nicht zugeben wollte, so begann er sich doch unwillkürlich zu entspannen bei der Aussicht auf Essen. In der Türe stand nämlich eine der Schwestern und schob einen großen, metallenen Essenswagen herein. Auf ihm befanden sich diverse Tabletts, an denen kleine Schilder mit Namen und Zimmernummern hafteten. Das Essen an sich war ordentlich abgedeckt. Alfred fühlte sich mehr denn je daran erinnert, in einer Klinik zu sein.
 

„Ich hab noch Tee, danke.“ Als Zeichen dafür, bedient zu sein, griff Arthur wieder nach seiner Tasse und nahm demonstrativ einen Schluck.
 

„Du weißt, dass dir Tee kein Essen ersetzt, mein Lieber. Also los.“ Die Frau klang lapidar. So als würde sie Unterhaltungen dieser Art tagtäglich mit den Patienten führen. Arthurs missmutiger Miene nach zu urteilen, tat sie das auch.
 

„Na komm, es ist doch nur Essen“, meinte Alfred und wollte den anderen Jungen ermutigen, als er aufstand. Jener schnaubte verächtlich.

„Klar ist es nur Essen, du Idiot!“
 

Alfred wusste gar nicht, warum Arthur ihn in einem fort anherrschte. Aber feststand, dass Arthur samt Tasse die Couch verließ und sich an den Tisch am Fenster setzte. Die Schwester, die irgendwo in den 30ern stecken geblieben schien, aber eine solch freundlich-eiserne Autorität ausstrahlte, dass sich niemand freiwillig mit ihr angelegt hätte, stellte ihm ein Tablett vor die Nase.
 

Etwas verdutzt trottete Alfred aus der Sofaecke und stand dann unschlüssig zwischen den Tischen. Gab es eine feste Sitzordnung? Mit zwei weiteren Schritten stand er neben dem Essenswagen und sah dabei zu, wie die Schwester einen großen Plastikbecher mit Orangensaft auffüllte. Sie schenkte ihm ein munteres Lächeln; Alfred las den Namen Nancy auf dem Schildchen an ihrem Oberteil.

„Du bist unser Neuzugang, Alfred, nehme ich an?“
 

„Jap!“
 

Sie huschte mit dem vollen Becher zu Arthur hinüber. Kaum dass sie zurück war, hob sie zwei Essenstabletts vom Wagen und stellte sie auf den Tisch mit vier Stühlen beim Eingang.
 

„Setz dich doch zu Arthur. Er geht hier mit sehr gutem Beispiel voran.“
 

Mit gutem Beispiel voran? Alfred war zwar nicht sonderlich empfänglich für Ironie, doch in diesem Falle vermisste er sie gänzlich, obwohl er sie durchaus für angebracht hielt. Nichtsdestotrotz ging er zum Fenstertisch, wo der Blonde bereits saß, aber sein Essen noch nicht angerührt hatte.
 

Alfred entdeckte auf dem Tablett eine kleine Schale Salat mit einer hellen Cocktailsauce. In der Mitte stand ein großer Teller, auf dem ein Schlag buttriger Kartoffelbrei glänzte. Daneben eine dicke Scheibe Fleisch mit Soße und Erbsen. Selbst ein Nachtisch war vorhanden: ein kleines Schälchen Schokoladenpudding mit Sahnehaube. All das sah um Längen appetitlicher aus als in der Schule! Wenn Abnehmen so einfach war, würde Alfred sich wohl blitzschnell daran gewöhnen!
 

Die Freude verpuffte in dem Augenblick, als er sein eigenes Tablett und Getränk vor die Nase gestellt bekam. Der Salat wirkte ähnlich, jedoch ohne das köstliche Dressing. Die Kartoffeln waren schlicht gesalzen, die Soße fehlte und anstelle des Bratens hatte er ein mageres Putensteak auf dem Teller liegen. Der Nachtisch bestand aus einer vollreifen Nektarine und in seinem Becher prickelte Mineralwasser vor sich hin.
 

Alfred war dermaßen geschockt, dass er nicht mal mitbekam, wie weitere Patienten, Pfleger und Schwestern den Raum betraten. Jeder peilte automatisch seinen Platz an. Einer der Pfleger setzte sich glatt zu ihnen an den Tisch und sah Alfred forsch an.

„Du bist sicher Alfred? Ich bin Josh. Du solltest essen, bevor es kalt wird.“
 

„Das sieht total vertrocknet aus!“, beklagte Alfred und schob mit seiner Gabel etwas von dem ihm unbekannten Gemüse hin und her. „Wieso hat Arthur Erbsen und ich krieg nur das hier?!“
 

„Du kannst meine Erbsen gerne haben.“
 

„Nichts da!“, unterband Josh sogleich das Tauschangebot. „Hier isst jeder genau das, was er serviert bekommt. Und keiner steht auf, bevor sein Teller leer ist.“
 

Die Nase rümpfend spießte Alfred schließlich einige der ihm unbekannten, weißen Stücke auf und schob sie sich zwischen die Zähne. Seine Miene verzog sich, kaum dass seine zuckerverwöhnten Geschmacksnerven mit dem fremden Eindruck konfrontiert wurden.

„Bah! Was ist das denn?“
 

„Das ist Kohlrabi, du Kretin.“ Ganz so, als würde es ihm Spaß machen, stach Arthur in seine Erbsen und schob sie sich gespielt genussvoll in den Mund.
 

„Jede Wette, du hasst Kohlrabi auch, du-!“

„Jungs, Frieden“, mahnte Josh und konzentrierte sich auf den Neuling. „Sorry, auch wenn du keinen Kohlrabi magst, musst du ihn essen, Alfred. So sind nun mal die Regeln und wir wollen ja alle, dass du gesund wirst. Nicht wahr?“
 

„Ich bin gesund!“
 

Arthur lachte, im Mund noch immer die Erbsen.
 

Josh lächelte milde, aber unbeirrt. Alfred hätte am liebsten die Gabel fallen gelassen und sich umgehend auf den Weg zu dem McDonalds zwei Straßen weiter gemacht, an dem er am Nachmittag vorbei gefahren war. Heute tischte man ihm also widerlichen Kohlrabi auf und morgen?

Frustriert bediente er sich an seinem Salat, der mit einem faden Essig-Öl-Dressing zubereitet war. Das Zeug schmeckte gar nicht so, wie er es kannte. Salat kannte er nämlich nur als Zutat in Hamburgern oder Sandwiches. Bloß stimmte da der Rest und ihm fiel der Salat gar nicht großartig auf. Deswegen war er immer davon ausgegangen, Salat gerne zu essen! Doch da hatte er sich wohl getäuscht.
 

Verstohlen blickte sich Alfred im Raum um und guckte sich die anderen Patienten an. Mittlerweile waren alle Plätze mit Tablett besetzt, bis auf einen. Schwester Nancy kontrollierte die Uhr an der Wand, schaute dann auf den leeren Platz, an dem noch das abgedeckte Tablett stand, und seufzte tief.

„Und auch heute wieder... Ich schau mal, wo unser Feli sich wieder versteckt“, informierte sie den Pfleger am Tisch in der Mitte, der daraufhin mit den Augen rollte, sich aber jeglichen Kommentar sparte.
 

„Kommt Feliciano nicht?“, wunderte sich Alfred und war zu sehr damit beschäftigt, sich verhalten im Essen stochernde Jugendliche anzusehen, als dass ihm aufgefallen wäre, die Frage laut gestellt zu haben.
 

„Feliciano kommt nie freiwillig zum Essen. Dieser verfluchte Idiot.“ Arthur schien dieses Mal nicht verachtend, sondern verbittert. Seine freie Hand griff abrupt nach seinem Messer und schnitt grob ein überraschend großes Stück Fleisch ab.
 

Josh sagte gar nichts. Tischgespräche schienen hier wohl nicht die Regel, wenn Alfred sich das Schweigen so anhörte, doch daheim aß er auch meistens alleine vor dem Fernseher oder Computer. Das Essen wanderte dann mechanisch in seinen Mund. Mehr und mehr und mehr...

Hier musste sich Alfred richtig unangenehm auf seinen Tellerinhalt und den ungewohnten Geschmack konzentrieren. Selbst etwas Süßes zum Nachspülen gönnte man ihm nicht. Seine Eltern hatten ihn in die Hölle geschickt...
 

„Aber ich hab keinen Hunger, wirklich!“, hörte er mit einem Male Felicianos vertraute Stimme zetern. Der Junge schlich, Schwester Nancy im Rücken, in den Raum und scheute zurück wie ein Pferd, als er den leeren Platz mit dem Tablett sah.
 

„Here we go again...“ Arthurs Gabel schnellte wie eine Guillotine in seinen Salat hinab. Cocktailsoße tropfte auf dem Weg zu seinem Mund auf sein Tablett.

Feliciano hatte sich derweil hingesetzt und starrte steif auf sein Abendessen, von dem Schwester Nancy soeben den Deckel hob.
 

Von Feliciano abgesehen, saß an dem Tisch nur noch ein zierliches Mädchen, das sich zumindest alle zwei Minuten überwinden konnte, einen winzigen Bissen zu sich zu nehmen. In ihrem blonden, kurzen Haar leuchtete eine hübsche Schleife. Doch davon abgesehen wirkte sie fahl und blass, fast durchsichtig. Wenn Alfred ehrlich war, war von hier aus zwischen ihr und Feliciano kein all zu großer Unterschied zu erkennen. Auch Feliciano sah so weiß aus wie eine Wand, hielt die Hände verkrampft in seinen weiten Ärmeln verborgen und wippte unterm Tisch nervös mit den Füßen.
 

Lediglich am Tisch in der Mitte wurde in einem einigermaßen normalen Tempo gegessen. Ein Mädchen, das noch korpulenter war als Alfred, aber mindestens genau so groß wie er, warf immerzu vergleichende Blicke zu den anderen. So als versuche sie, so langsam zu essen wie ihre Tischgenossen. Aber Alfred erkannte es ganz genau: sie hatte Hunger. Sie war es gewohnt, mehr und vor allem schneller zu essen...
 

Im Gegensatz zu ihm pickte sie tapfer ihren Kohlrabi und kaute ihn umständlich lange. Selbst als sie plötzlich merkte, beobachtet zu werden und ihr Blick auf Alfreds traf, stockte sie nur ganz kurz. Ihr Gesicht war rund, ihre Augen ausdrucksstark und ein liebevolles Lächeln zauberte sich auf ihre roten Lippen.

Ja, sie beide würden sich vermutlich gut verstehen, schätzte Alfred. Selbst wenn er gerade nicht mal fähig war zu beurteilen, ob er sie attraktiv fand oder nicht. Ihr nettes Gesicht gefiel ihm. Außerdem strahlte sie etwas Warmes aus, schien sich dessen aber überhaupt nicht bewusst. Mehr machte es den Anschein, als verstecke sie sich in ihrem weiten Kleid und hinter ihrem langen, hellen Haar.
 

Alfred war froh, als er sein Tablett endlich geleert hatte. Die Portion kam ihm im Nachhinein viel zu klein vor. Sollte das etwa alles gewesen sein? Selbst die Nektarine hatte er verputzt und sie war noch das Genießbarste gewesen. Arthur hingegen hatte seinen köstlichen Pudding bislang nicht mal angerührt. Stattdessen strich er mit der Gabel über den Kartoffelbrei, von dem ihm übel zu werden schien. Er wirkte frustriert.
 

Feliciano sah nur gequält auf seinen Teller herab.
 

Feliciano sah auch dann noch auf seinen Teller herab, als einige Patienten bereits aufstehen durften. Andere blieben trotz ihrer leeren Teller sitzen, blickten unruhig umher, strichen sich durchs Haar und zupften unsichtbare Fusseln von ihrer Kleidung.
 

Arthur hatte sich erfolgreich durch das Abendessen gekämpft und spülte missmutig den Rest seines Saftes hinunter. Kaum hatte er dies getan, stand er auch schon auf. Alfred wollte folgen, wurde jedoch von Josh, der ihm eine Hand auf den Unterarm legte, zurückgehalten.

„Deine halbe Stunde ist noch nicht um.“
 

„Halbe Stunde?“ Für Alfred wurden die Regeln hier immer suspekter.
 

Josh nickte: „Ich hab die Uhr im Blick, Alfred. Keiner, bei dem wir befürchten müssen, dass er sich nach dem Essen übergibt, darf einfach so gehen. Ihr bleibt alle noch eine halbe Stunde sitzen nach dem Essen. Das bremst den Drang.“
 

„Ich...“ Wieder war da Fassungslosigkeit, die Alfred mechanisch den Hals zuschnürte. Er erbrach nicht nach dem Essen, zumindest nicht bei so geringen Mengen. Er erbrach generell selten; es war gar nicht der Rede wert! Meistens blieben all die Kalorien genau da, wo er sie hinstopfte: in seinem Körper. Das sah man doch!

„Ich hab das nur ein paar Mal gemacht!“
 

„Auch ein paar Mal ist ein paar Mal zu viel. Und wie ich schon sagte: wir wollen alle nur, dass ihr gesund werdet.“
 

„Ich bin gesund!“ Alfreds erneuter Protest schien auf taube Ohren zu stoßen. Das war doch unfair! Am großen Mitteltisch saßen immer noch einige Jugendliche, die wesentlich schlanker waren als er. Die saßen auch garantiert zurecht dort ihre Zeit ab. Aber er? Er war nicht annähernd so schmal und das Erbrechen hatte ihn auch nie schmal gemacht. Dafür hätte er es vermutlich regelmäßiger tun müssen, doch dazu fehlte ihm meist der Antrieb. Seltsam, er steckte sonst in alles mögliche Energie, aber nicht darein, sein Essen wieder loszuwerden.
 

Das dicke Mädchen war auch längst fort. Bei ihr nahm doch auch keiner an, dass sie sich auf direktem Weg ins Bad begab. Warum dann bei ihm?

Missgelaunt wartete Alfred und spielte nebenbei mit seiner Gabel.
 

„Deine Zeit ist um“, hörte er Josh irgendwann sagen. Am Tisch beim Eingang hatte sich nichts geändert. Das dürre Mädchen kämpfte nach wie vor tapfer, aber bei Feliciano schien sich rein gar nichts zu tun...
 

Alfred war gespannt, wann er seinen Mitbewohner zurück im Zimmer erwarten konnte.

{ 03. | inappetītus vs. 26,9 }

Feliciano kam und kam nicht zurück. Alfred hatte gar nicht bewusst auf ihn gewartet, sondern sich im Zimmer versucht einzurichten. Aber viele seiner Sachen waren konfisziert worden von der Schwester, die auch die Schnürsenkel aus all seinen Schuhen gefummelt hatte. Womit sollte man sich bitte ohne Handy, Laptop oder Videospiele beschäftigen? Alfred wusste zwar, dass er ab morgen auch Sport auf dem Programm stehen hatte, aber das half ihm heute nicht weiter. Außerdem hatte er keinen Bock mehr auf übermäßige Bewegung, obwohl er bis vor einem halben Jahr sogar noch begeistert Baseball gespielt hatte. Danach war er Hals über Kopf aus der Schulmannschaft ausgetreten; seine Eltern hatten es nicht mal bemerkt. Sie fragten nicht und er sagte lieber nichts...
 

Zu seinem Bedauern bot das Zimmer aber nicht sonderlich viele Unterhaltungsmöglichkeiten. Die in einem zarten Creme-Ton gestrichenen Wände waren – von einigen Landschaftsskizzen über Felicianos Bett abgesehen – nackt. Die beiden Betten standen jeweils an einer Raumseite und verfügten über einen hellen Holznachttisch. Neben der Türe war links und rechts je ein Kleiderschrank. Zwischen Schrank und Bett an der Wand befand sich noch ein Schreibtisch mit Stuhl. Aber was sollte Alfred mit einem Schreibtisch? Er schrieb nicht mal Tagebuch und da er offiziell Ferien hatte, würde er auch ganz bestimmte keine Schularbeiten dort verrichten.

Höchstens an dem neuen Modell einer Boeing 747 SCA samt Space Shuttle könnte Alfred arbeiten. Seine Eltern hatten ihm den großen Modellbaukarton am heutigen Morgen ungelenk in die Hände gedrückt – wohl um ihr schlechtes Gewissen zu besänftigen. Soweit Alfred es beurteilen konnte, war der Karton auch unangetastet durch den Schwestern-Zoll gekommen. Immerhin etwas also... Aber um sich jetzt mit vielen Einzelteilen zu befassen – und das Modell entsprach der Schwierigkeitsstufe 5, also hatte es nicht nur viele, sondern sogar eine ganze Menge Einzelteile! – kam sich der blonde Klinikneuling zu hibbelig vor.

Ihm fehlten sein Fernseher, sein DVD-Player und sein NintendoDS, ganz zu schweigen vom Internet. Er sollte wirklich zusehen, hier schleunigst wieder raus zu kommen. Sonst würde er noch vor Langeweile krepieren und seine Eltern würden sich darüber ärgern, nicht nur massenhaft Kohle in die Klinik gesteckt zu haben, sondern auch noch eine kostspielige Beerdigung ausrichten zu müssen.
 

Auf Felicianos Schreibtisch standen einige kleine Pappboxen; Alfred wollte nicht spionieren, aber als er den Deckel von einer hob, entdeckte er lauter Briefe. Kein Wunder. Wenn Feliciano so eine riesige Familie hatte, brauchten die ihm ja alle nur eine Karte zu schreiben und schwupps war die Box voll! Alfred bezweifelte, dass seine Eltern ihm etwas per Post schicken würden. Das war irgendwie nicht ihr Stil und seiner auch nicht.
 

Die Bücher und Zeitschriften, die Feliciano teils auf dem Schreibtisch, teils unter dem Nachttisch liegen hatte, konnten Alfred auch nicht vom Hocker reißen. Abgesehen von der Bibel(!) und einigen Architekturmagazinen, stand alles irgendwie in Verbindung mit Kochen, Essen und Inneneinrichtung. Wie kontraproduktiv war das denn bitte?

Auf die zwei komischen Bücher, die seine Mutter ihm noch kurz vor der Abreise aufgeschwatzt hatte, hatte Alfred aber auch keine Lust. Ihm war nicht nach lesen.
 

Seufzend beschloss er nachzusehen, ob vielleicht im Aufenthaltsraum mehr los war und wie weit Feliciano mit seinem Abendessen war. Doch schon als er sich dem großen Raum näherte, konnte er durch das gläserne Fenster neben der Türe Felicianos unangerührten Teller erkennen. Der Italiener saß in sich zusammengesunken davor, seine Schultern zitterten leicht. Ihm gegenüber saß Schwester Nancy und arbeitete unberührt in irgendwelchen Akten. Es wirkte wie ein eingespieltes Ritual.
 

Erst als Alfred den Raum betrat, konnte er auch das feine Wimmern hören. Was war denn los? Weinte Feliciano etwa? Und wenn ja, warum unternahm Nancy nichts?
 

Schnell kam Alfred zum Tisch hinüber und ließ sich auf den leeren Stuhl direkt neben Feliciano fallen. Tatsächlich konnte er nun aus direkter Nähe die geröteten Augen des Braunhaarigen erkennen. Auch seine Nase lief leicht und auf seinen Wangen klebten die Überreste von Tränenspuren.
 

„Was ist los?“, fragte Alfred alarmiert. Sein Mitbewohner schniefte herzerweichend.

„Alles gut, ich hab nur keinen Hunger.“
 

Von all dem höchst verwirrt, sah Alfred zur Krankenschwester hinüber, die nun beim Schreiben inne hielt und Feliciano ermahnend anschaute.

„Du hast noch fünf Minuten. Wenn du dein Essen bis dahin nicht angerührt hast, weißt du ja, was passiert.“
 

Neue Tränen bildeten sich sogleich in Felicianos Augen. Eine wuchs in Sekundenschnelle zu einem dicken Tropfen heran und fiel direkt auf das Tablett. Sein gesamter Körper war von einem unterschwelligen Zittern eingenommen. Alfred fand es gruselig. Wie konnte Feliciano, der ihm vorhin so viel von Essen vorgeschwärmt hatte, im Angesicht seines eigenen Abendessens dermaßen verzweifeln?
 

„He, es ist gar nich’ so schlimm! Stell dir doch einfach vor, es wäre Pasta?! Du liebst doch Pasta!“, probierte Alfred seinen Zimmernachbarn aufzuheitern. Allerdings schienen seine Bemühungen nicht zu fruchten und wenn Alfred ehrlich war, würde er diese kalte Masse auch nicht mehr essen wollen. Die Essenszeit war seit über einer Stunde vorbei und auf der dunklen Bratensoße hatte sich bereits eine dicke Schicht grober Fettaugen gebildet.
 

Schwester Nancy klappte die Akte zu, in der sie bis gerade gearbeitet hatte.

„Was ist denn los, Herzchen, hm? Immer gleich zu weinen, ist doch keine Lösung.“
 

„Ich möchte aber nicht essen...“
 

„Du kennst aber doch die Regeln. Du musst deinen Teller leer essen.“
 

„Besser nicht...“ Als Zeichen dafür, sich nicht umstimmen zu lassen, schob Feliciano sein Tablett ein Stück gen Tischmitte. Schwester Nancy sah ihn einige Sekunden durchdringend an.

„Dein letztes Wort also?“
 

„Aber Feliciano! Du hast sogar Schokopudding! Scho-ko-pudding!“ Alfred war fassungslos und wollte nach dem Schälchen greifen, rechnete aber nicht mit Nancys fantastischen Reflexen. Sie schlug ihm auf die Finger wie einem kleinen Kind, noch bevor er das Schälchen zu fassen bekam.

„Das ist Felicianos Essen, nicht deins! Und weil er es nicht möchte, bekommt er jetzt etwas Leckeres zu trinken.“ Entschlossen stand Schwester Nancy auf und nahm das Tablett mit sich.
 

Feliciano wirkte weder zufrieden noch beruhigt.
 

Alfred schwieg, indessen er den anderen Jungen betroffen studierte. Felicianos Füße wippten immer noch ungestüm, so als würde er am liebsten aufspringen und davon laufen. Nicht weiter überraschend: seit Alfred ihn kannte, war Feliciano immer in Bewegung gewesen. Hier hin, dort hin, jenes zeigen, dieses machen...

Aber seine Haut war dünn wie Papier und von den Tränen waren seine schillernden Augen unschön aufgequollen. Er sah erbärmlich aus. Nicht gesund oder lebensbejahend, sondern einfach nur müde und ausgelaugt. War jede Mahlzeit solch ein Prozedere für ihn?
 

Verhalten benutzte Feliciano seinen rechten Ärmel, um sich einmal schnell übers feuchte Gesicht zu putzen. Doch auch das verwandelte ihn nicht wieder in den Jungen, der Alfred vorhin so offenherzig begrüßt hatte. Er glich mehr einem verzweifelten Kind, das von der Gesamtsituation überfordert war und seinen Willen trotzdem vehement durchzusetzen versuchte.
 

„Mir schmeckt der Fraß hier auch nich'“, startete Alfred einen weiteren Versuch, um Feliciano aufzumuntern. „Aber wie kannst du nur nein zu Schokopudding sagen?! Hach Mann, ich hätt' jetzt gern ’nen Schokomuffin. Und einen doppelten Cheeseburger, Countrypotatoes und einen Caramelfrappuccino. Das wär was...!“

Alfred konnte jede einzelne Zutat quasi schon schmecken, so sehr sehnte er sich nach der aromatischen Wonne.
 

Sich ein bisschen auf seinem Stuhl zurücklehnend, lächelte Feliciano verklärt.

„Einen Caramelfrappuccino...? Ich kann großartige Frappuccinos machen, ve~! Mein Fratello liebt sie. Ich würde dir ja auch gern einen machen, damit du mal probieren kannst!“
 

„Würdest du?!“ Alfred ging das Herz auf. Fast wäre er Feliciano um den Hals gefallen.
 

„Na sicher! Wir bräuchten erst mal einen sehr guten Kaffee, also für meinen Fratello nehme ich immer Kaffee. Aber wenn du Kakao lieber magst, geht das auch! Dann brauchen wir noch ein selbst gemachtes Vanilleeis – ich mache Vanilleeis immer selber, mit echter Vanille und Sahne, weißt du? –, und dann noch Soße und geschlagene Sahne. Die Sahne kann man bei uns auf dem Dorf ganz frisch bekommen, ve~!“
 

„Whoa, geil! Wann dürfen wir hier mal raus? Dann können wir die Zutaten holen und-“
 

„Ihr zwei holt erst mal gar nichts.“ Kühl zerschnitt Nancy jedes Fünkchen Enthusiasmus und donnerte einen großen Plastikbecher vor ihnen auf den Tisch. Der Inhalt wirkte schleimig und sah wie durchsichtiger Sirup aus.
 

Felicianos Lächeln zerfiel leidend zu Staub.
 

„Du hast es nicht anders gewollt“, zeigte sich Nancy anhaltend streng und nahm wieder auf dem Stuhl gegenüber Platz, um in der nächsten Akte zu arbeiten.
 

Alfred traute sich nicht zu fragen, um was es sich nun genau bei dem Getränk handelte. Entweder es war pure Chemie (das würde ihn wenig stören) oder gequirlter Tintenfisch (das würde ihn enorm (ver)stören!).
 

„Haben sie vielleicht ’nen Keks oder so was?“, entschied er sich schließlich zu fragen. Irgendwas in ihm verlangte lautstark nach Süßem. Alfred konnte es einfach nicht ändern. Er war es halt gewöhnt, am Abend zu naschen. Heute hatte er den ganzen Tag über noch nicht genascht. Da war doch gegen ein paar Kekse oder Chips nichts einzuwenden. Vielleicht fiel es Feliciano ja auch leichter, etwas zu sich zu nehmen, wenn er Gesellschaft beim Essen bzw. Trinken hatte?
 

„Einen Keks?“ Die Schwester hob pikiert eine Braue. „Freundchen, du bist zum Abnehmen hier. Du meinst doch nicht, dass ich dich da abends mit Keksen füttere?!“
 

Abnehmen...

Alfred wandte ertappt den Blick ab und stieß betroffen Luft aus. Nur weil er abnehmen musste, hieß das doch noch lange nicht, dass man ihm jegliche Lebensfreude vorenthalten durfte?! Er hatte keine Kekse, keine Schokomuffins, keine Waffeln, keine Eiscreme, keine Cola, keine M&Ms, keine Cracker, keine Chips – das konnte nicht lange gut gehen. Irgendwann brauchte er dieses Zeug einfach! Die Aussicht, ohne schmackhafte Lebensmittel zu sein, machte ihn jetzt schon unbeschreiblich nervös. Dabei war er noch nicht mal einen Tag lang hier! Wenn er geahnt hätte, was ihn hier drin erwartete, hätte er sich strikt geweigert, überhaupt herzukommen!
 

Plötzlich ungeheuer deprimiert, beobachtete der Blonde, wie Felicianos rechte Hand mit den langen, dürren Fingern nach dem Becher griff, ihn dezent hin und her schob und schließlich anhob. Als handele es sich um pures Gift, führte er ihn zum Mund, wagte aber lange nicht, einen Schluck zu nehmen.
 

„Halt dir die Nase zu und kipp’s einfach runter! Dann können wir gehen!“ Nicht zu essen war doch so unendlich viel schwerer als zu essen! Warum quälte sich Feliciano nur so sehr? Alfred hatte dafür keinerlei Verständnis. Selbst an jenen Tagen, an denen er bis zum Mittag nichts zu sich nahm, hatte er spätestens ab dem Nachmittag einen mörderischen Kohldampf und musste dann einfach essen. Meistens sogar eine ganze Menge.
 

„Alfred, lass uns doch bitte wieder alleine.“ Schwester Nancys Tonfall war mehr als eindeutig: er sollte gehen. Dabei hatte er doch Recht! Alfred begriff einfach nicht, wie es jemanden so verflucht viel Überwindung kosten konnte, einen läppischen Becher auszutrinken oder ein Abendessen runterzuwürgen. Vor allem jemand wie Feliciano, der ja nun alles andere als dick war! Wovor hatte er denn bitte solche Angst? Doch nicht ernsthaft vorm Zunehmen?
 

Alfreds Streitlust blitzte auf, verkroch sich aber auch direkt wieder, als er der Krankenschwester mitten ins Gesicht blickte. Ihre Augen gaben ihm den dringenden Ratschlag, sich niemals und unter gar keinen Umständen mit ihr anzulegen.
 

Die Hände in den Taschen seines Hoodies, scharwenzelte Alfred kurz darauf wieder aus dem Raum. Wieso durften hier eigentlich nur diejenigen etwas essen, die offenbar um alles in der Welt nichts essen wollten? Feliciano würde garantiert Kekse bekommen, wenn er danach fragte!
 


 

{ + + + + + }
 

„Aufstehen!“
 

Alfred blieb vor Schreck beinahe das Herz stehen. Der Raum wurde von künstlichem Deckenlicht geflutet, die Zimmertüre stand sperrangelweit offen und seine Nachtruhe hatte soeben ein jähes Ende gefunden.
 

Noch völlig verklärt, rollte er sich auf den Bauch und stöhnte ins Kopfkissen. Draußen war es zappenduster. Im Bett gegenüber tat sich nichts. Gut, wenn Feliciano sich nicht bewegte, sah man auch keinen Grund dazu. Leider hatte Alfred die Rechnung ohne die Schwester gemacht, die ihm im nächsten Moment brutal die Bettdecke wegzog.

„Hopp, hopp! Raus aus den Federn! Ich hab euch schon vor 20 Minuten geweckt!“
 

20 Minuten? Alfred hatte keine Ahnung, wo besagte 20 Minuten abgeblieben waren, aber sein Verstand war noch irgendwo im Traumland unterwegs. Dies änderte sich schlagartig, als er sich nun müde aufsetzte und dann einen Blick auf seinen Zimmernachbarn warf.
 

Feliciano hatte gestern Abend noch beinahe eine halbe Stunde gebraucht, bis er seinen Becher geleert hatte. Kalorien in trinkbarer Form. Etwas Anderes konnte man ihm da unmöglich aufgetischt haben. Alfred hatte es ehrlich gesagt reichlich übertrieben gefunden – wenn der Junge keinen Appetit hatte, sollte sie ihn doch einfach lassen –, doch nun änderte er seine Meinung. Denn bisher hatte er den Italiener nur in weiten Klamotten gesehen. Jetzt zog dieser sich den Schlafanzug aus – und darunter kamen ein Longshirt, ein T-Shirt und eine Jogginghose zum Vorschein. Alfred traute seinen Augen nicht. Lage um Lage wurde Feliciano dünner und dünner. Es war ein Leichtes seine Schulterblätter spitz unter dem Stoff herausragen zu sehen. Wie sämtliche andere Knochen, die er besaß, spähten sie durch seine Anziehsachen wie wilde Tiere.
 

Der Anblick jagte einen eiskalten Schauer durch Alfreds Rückgrat und ließ ihn regungslos auf der Bettkante ausharren. Eigentlich wollte er gar nicht stieren, es war nur so, dass er noch nie so etwas in natura gesehen hatte...
 

Als Feliciano seinen Bademantel über die letzte Schicht Kleidung gezogen hatte und seine Schranktür schloss, fühlte sich Alfred ertappt. Ertappt und dicker als jemals zuvor. Der Moment verging jedoch schnell; Feliciano schien ihn nämlich gar nicht zu bemerken, sondern agierte wie in Trance. Seine Augen waren geschlossen, in etwa so, als würde er herzlich lachen. Nur dass er wie benommen aus dem Raum schlurfte.
 

Alfred sprang gleich darauf von der Bettkante auf und fischte auf dem Weg nach draußen seinen eigenen Bademantel aus seinem Schrank. Mittlerweile war es 06:28 Uhr und er konnte schon die kleine Patientenschlange vor dem berüchtigten Zimmer erkennen. Feliciano schien es, trotz seines weggetretenen Zustandes, plötzlich extrem eilig zu haben. Wie ein Gespenst glitt er an den verbliebenen Patienten vorbei und bibberte sich in der Reihe nach vorne. Die meisten waren entweder nicht wach genug, um zu bemerken, dass er ihnen ihren Platz stahl oder es störte sie einfach nicht. Alfred wollte dennoch höflich bleiben und stellte sich hinten an. Den Kopf gegen die Wand gelehnt, driftete er kurzweilig zurück in einen leichten Schlaf, bis ihn jemand leicht am Oberarm berührte.
 

„Du bist dran“, sagte ein großer, rosafarbener Plüschberg mit sanfter Stimme. Alfred rieb sich über die Augen und bemerkte dabei, dass ihn nicht nur die Müdigkeit halb blind machte, sondern er obendrein seine Brille auf dem Nachttisch vergessen hatte. Zu dumm aber auch...
 

„Ich kann nich’ wirklich viel von dir erkennen so aus der Nähe, aber danke...“
 

Durch den rosa Plüschberg fuhr ein kurzer Schrecken. Er zuckte zurück und lief dann rasch den Gang hinunter, ohne noch einen Ton zu verlieren. Je weiter er sich entfernte, desto klarer wurden für Alfred die Konturen. Das flauschige Rosa schmiegte sich in die Form eines langen Bademantels, der die mütterliche Figur der großen Blondine umgab. Das gestern offen getragene Haar hatte sie heute früh zu einem schlichten Dutt gebunden.
 

„Heute noch?“, raunte in dem Moment jemand genervt und Alfred drehte schnell den Kopf herum. In der Tür zum Zimmer of doom stand eine schmale Asiatin mit Cleopatrafrisur und schwarz-grünen Gelnägeln. Ihr Augenmake-up bestand aus einem dicken Kajalstrich.
 

Alfred kam ihrer schlechten Laune nach, zog nach Aufforderung seinen Bademantel aus und hopste dann, nur in Unterwäsche und Schlafanzug, auf die flache Waage. Gleichzeitig wurde seine Körpergröße gemessen. Nachdem sich Cleopatra vergewissert hat, dass Alfred auch wirklich Alfred war und er ihr hoch und heilig geschworen hatte, heute früh noch nichts gegessen oder getrunken zu haben, schrieb sie alles wütig in eine Akte, auf der sein Name stand.
 

Danach tippte sie murmelnd etwas in den Taschenrechner, der auf ihrem kleinen Schreibtisch lag und sah anschließend wieder zu Alfred auf.

„..macht einen BMI von 26,9. Genau wie bei deiner Voruntersuchung, wie ich hier sehe.“
 

„Na dann.“ Was sollte Alfred auch großartig dazu sagen? Außer dass er, als er sich zuletzt gewogen hatte, noch geschätzte 11 Kilo leichter war. Aber die Information verschwieg er lieber.
 

Cleopatra stützte die Ellbogen auf den Tisch und spitzte die Finger zu einem Dreieck, auf dessen Mittelpunkt sie ihr Kinn ablegte.

„Du weißt ja, was das bedeutet.“ Ihre künstlich kreierten Katzenaugen ließen Alfred kein Entkommen. Irgendwie begann er, sich furchtbar unwohl zu fühlen – in etwa wie eine Maus in der Falle – und schlang unbewusst seinen Bademantel dichter um seinen Körper.
 

„Dass ich zu fett bin?“, riet er feixend.
 

„Dass du Übergewicht hast. Wenn ich hier drin etwas nicht hören möchte, dann die Worte ‚Ich bin zu fett’.“, korrigierte Cleopatra scharf seine Ausdrucksweise und deutete ihm seufzend, dass er gehen konnte. Alfred ließ sich das garantiert nicht zwei Mal sagen. Wenn wirklich jeder Morgen so glorreich begann, dann Mahlzeit! Es überraschte ihn nicht im Geringsten, dass die Leute hier drin so kaputt waren und immerzu traurig auf ihre Teller gafften.
 

Trotzdem, irgendwie drückte die Tatsache, so viele Kilos zugenommen zu haben, auf seine Stimmung. Es wurde nicht besser, als er zurück auf sein Zimmer kam und sein Zeug für die morgendliche Duschroutine aus seinem Schrank sortierte.
 

Die Station besaß zwei Duschräume, die zwar über einzelne Kabinen verfügten, aber da vier Stück nebeneinander standen, konnte von Privatsphäre keine wirkliche Rede sein. Alfred trottete unmotiviert zur Männerdusche und bereute nicht, so spät dran zu sein. Jene, die als erste beim Wiegen angestanden hatten, waren auch zuerst duschen gewesen und jetzt schon wieder raus. Es waren gleich zwei Kabinen frei, von denen er sich für die äußere entschied. In der kleinen Kabine hatte man die Möglichkeit, einen Plastiksitz herunterzuklappen und seine Anziehsachen an den stumpfen Haken an der Türe aufzuhängen. Alfred drehte an der Armatur und ließ sich das Wasser lauwarm über den gesamten Körper laufen. Ohne sich in irgendeiner Form zu regen.
 

Er war zu fett...

In seinem Hinterkopf blitzte die magische Zahl 25 auf, die im gestrigen Gespräch mit dem Arzt gefallen war. Sie galt als sein erstes Ziel. 25 – aber er war beinahe bei 27.
 

Was für einen BMI Feliciano wohl hatte? Oder Arthur? Beide waren kleiner als er und ganz andere Figurtypen, aber dennoch... Er hatte vor nicht all zu langer Zeit auch noch anders ausgesehen. Er war so viel sportlicher und fitter gewesen! Beim Baseball wurde er auch alle paar Monate gewogen und gemessen. Muskelmasse war schwerer als Fettmasse, so viel war Alfred im Gedächtnis hängen geblieben und sein Trainer war stets vollkommen zufrieden gewesen. Lediglich beim letzten Kontrollcheck hatte er Alfred etwas kritisch betrachtet und ein „na das ist ja doch etwas mehr, als ich erwartet hatte“ verlauten lassen. Nicht auszudenken, was er zu Alfreds jetzigem Gewicht sagen würde! Er hätte einen womöglich dezent beiseite genommen und einem empfohlen, freiwillig das Team zu verlassen.
 

Alfred ließ den Kopf weit genug nach vorne fallen, um das Kinn auf der Brust ablegen zu können. Er sah wenig von sich selber, so ohne seine Brille. Aber was er spürte, wenn seine Hände über seinen Körper wanderten, sprach für sich.

Er war zu fett geworden und das war binnen weniger Monate geschehen. Kein Wunder, dass sie auf den Schulfluren angefangen hatten, hinter seinem Rücken zu tuscheln. Er hatte es verdient: er hatte sich gehen lassen und nicht aufgepasst...
 

Matthew war kein bisschen pummelig, geschweige denn zu dick. Aber Matthew war für Alfred nur ein Mensch auf einem Foto, das er auf Facebook entdeckt hatte, und der meilenweit von ihm entfernt lebte. Dort, wo sein Vater ständig Station machte, wenn er auf Geschäftsreise war...
 

Mit Daumen und Zeigefinger kniff sich Alfred hasserfüllt in den weichen Bauchspeck. So lange und so fest, bis seine düsteren Gedanken mit dem Wasser im Abfluss verschwanden und er wieder bereit war, der Welt ein Lächeln zu präsentieren.

{ 04. | A LONG WAY HOME }

Auf seinem Frühstücksteller lag eine Scheibe Mehrkornbrot, deren eine Hälfte mit hauchdünn geschnittenem Käse belegt war. Auf der anderen Hälfte befand sich Magerquark, Tomate und Kresse. Daneben stand ein Kännchen fettarme Milch und ein Schälchen mit etwa zwei Esslöffeln Müsli. Außerdem bekam Alfred heute sogar ein kleines Glas Saft, nur wollte er es gar nicht haben. Dafür erinnerte ihn die brennend-schmerzende Stelle an seinem Bauch zu sehr daran, wie schlecht seine letzten Monate verlaufen waren und wie mies er sich eigentlich fühlte. Vielleicht hätte er einfach eher auf seinen ehemaligen Teamkollegen Brad hören sollen...
 

„Morgens gibt’s bei uns auch Tee. Möchtest du welchen?“, wurde Alfred nun von der aufmerksamen Schwester mit den langen, brünetten Haaren gefragt, die heute in der Frühschicht arbeitete.
 

Sein Blick glitt daraufhin automatisch zu Arthur hinüber, der bereits eine Tasse Tee vor sich stehen hatte. Sein Frühstück wirkte auch wesentlich einladender als Alfreds, was diesen nicht sonderlich überraschte. Er musste immerhin all das überflüssige Fett loswerden. Tee wäre vielleicht ein guter Anfang, also nickte er freudig und tat so, als würde er ungesüßten Tee total lieben.
 

Mit den Fingern, die eben noch seinen Bauch gepiesackt hatten, umschloss er kurz darauf die warme Tasse und sah aus dem Fenster. Auch heute früh schien niemand sonderlich gesprächig. Das Personal wirkte fast so müde wie die Patienten und selbst Arthur war lediglich daran interessiert, sich bestmöglich durch das Ärgernis namens Frühstück zu quälen.
 

Alfred probierte nach einigen Minuten den Tee und befand ihn für zu bitter. Dass er nach Wildkirsche schmeckte, hielt er für ein Gerücht. Grimassierend stellte er die Tasse zurück auf den Tisch und gähnte ungeniert, die Hand nicht vor den Mund gehoben. Die Zeit verging, ohne dass er sein Brot oder das Müsli probierte. Er war zu müde. Schlafen wäre eine gute Maßnahme, aber an Essen war gerade nicht zu denken...
 

„Iss, sonst hältst du gleich den Ablauf auf“, bemerkte Arthur nach einigen Minuten, ohne Alfred eines Blickes zu würdigen.
 

„Ablauf? Was für’n Ablauf?“
 

„Na die Therapiezeiten! Sie haben dir doch bestimmt für heute früh eine Stunde mit deiner Ernährungstherapeutin auf den Plan gesetzt?“
 

Alfred musste kurz in seiner Erinnerung wühlen – er hatte leider nicht ganz so aufmerksam zugehört, als er gestern zur Besprechung war –, aber er meinte, tatsächlich etwas in der Art gesagt bekommen zu haben.

„Achso! Ja, ich glaub schon, aber-“

„Die mögen es hier drin nicht, wenn du deine Therapiezeit nicht einhalten kannst, nur weil du deinen Teller nicht leer kriegst.“ Es klang ja beinahe wie ein gut gemeinter Rat. Aber eben nur beinahe. Um tatsächlich an so was wie aufrichtiges Mitgefühl glauben zu können, vermisste Alfred die nötige Empathie in Arthurs Stimme. Anstatt einen Blickkontakt zuzulassen, starrte Arthur nämlich lieber konsequent Kondenswasser an, das sich draußen am unteren Rand der Fensterscheibe gebildet hatte und einst klammer Morgennebel gewesen war.
 

Alfred knirschte missmutig mit den Zähnen.

„Ich hab aber noch gar keinen Hunger! Sollen sie’s mir doch stehen lassen, dann ess ich’s später. Is’ doch alles halb so wild!“
 

Es stimmte sogar: Frühstück am sehr frühen Morgen war überhaupt nicht Alfreds Ding. Wenn Frühstück, dann erst am späten Vormittag und zwar Donuts, Muffins, Waffeln oder Pfannkuchen. Oftmals war seine erste richtige Mahlzeit aber das Mittagessen oder ein Schokoriegel, den er sich auf dem Weg zur Schule irgendwo kaufte. Also garantiert kein Müsli oder Butterbrot. Das, was auf seinem Speiseplan einem Brot am ähnlichsten kam, war ein Sandwich von Subway oder ein Burger mit Spiegelei und Speck.
 

Von Arthur kam ein verachtendes „Das glaubst aber auch nur du!“, das Alfred endgültig entmutigte. Er musste doch abnehmen, also wenn er keinen Hunger hatte, war es doch unsinnig, darauf zu bestehen, dass er seinen verfluchten Teller leer aß?! Die sollten sich hier mal nicht so haben! Er war ja schließlich nicht so dürr wie andere, die die Kalorien fraglos brauchten.
 

Erneut gähnend, lehnte sich Alfred träge auf seinem Stuhl zurück. Da die Frühschicht wohl etwas rarer besetzt war als die Spätschicht, befanden sich heute nur eine Schwester und ein Pfleger im Raum, die auf die anderen beiden Tische verteilt waren.
 

Feliciano hatte den Kopf auf die rechte Hand gestützt und strich geistesabwesend mit dem Löffel durch seinen Stracciatella-Joghurt. Sich das Spektakel einige Minuten ansehend, schmollte Alfred weiter – er war müde, er war so verdammt müde! Er wollte schlafen und nicht essen! –, bis der Pfleger vom Nachbartisch auf ihn aufmerksam wurde.
 

„Etwas nicht in Ordnung?“, kam er zu ihnen hinüber.
 

„Es is’ kurz nach 7! Mehr brauch ich wohl nich’ zu sagen!“, konterte der Morgenmuffel in Alfred, der sich nicht von noch jemandem vorschreiben lassen wollte, was er wann zu essen hatte. Ihm selbst war nicht bewusst, wie unverschämt es wirkte, doch Arthur stoppte mitten beim Biss in sein Marmeladenbrötchen.
 

Der Pfleger war für einen unbestimmten Moment perplex, eher er sich an den Tisch setzte und Alfred streng ins Visier nahm.

„Wir mögen es hier nicht, wenn man unfreundlich miteinander umgeht.“
 

Daher hatte Arthur also diese nette Ausdrucksweise. Offenbar fand hier Gehirnwäsche statt und erst wenn man sprach und machte wie befohlen, durfte man wieder nach Hause. Bis dahin wurde man mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen, auf eine Waage gezwungen und mit völlig dämlichem Teller-leer-ess-Zwang gequält! Wie sollte man da noch motiviert sein für den Tag?!
 

Der Pfleger blieb vollkommen ruhig und ließ sich von Alfreds aufmüpfigem Gesichtsausdruck in keiner Weise provozieren.

„Das ist dein erster Morgen bei uns, oder?“
 

„Ja, und ich hab keinen Hunger. Ich frühstücke morgens nicht. Erst recht nicht zu dieser Zeit! Ich mein, es ist gerade mal viertel nach sieben und ich hab eigentlich Ferien! Ich weiß gar nicht, was all der Stress soll! Hier drin kann’s doch total egal sein, ob wir um 6 oder um 12 aufstehen. Kann ich nich’ einfach wieder ins Bett gehen und später frühstücken?“
 

„Nein, kannst du nicht. Ein geregelter Tagesablauf ist wichtig für euch und eure Genesung.“ Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. „Und deswegen solltest du jetzt mit deinem Frühstück anfangen.“
 

„Aber ich kann’s doch genau so gut später essen!“
 

„Nein. Jetzt ist Frühstückszeit und dein Tag beginnt, genau wie der aller anderen, mit einer gesunden Mahlzeit zur vorgeschriebenen Zeit.“
 

„Ich hab aber noch keinen Hunger, verdammt!“ Immer beharrlicher verstrickte sich Alfred in die für ihn nicht zu gewinnende „Diskussion“. Mittlerweile hatte nicht nur Arthur vergessen zu kauen, sondern auch sämtliche anderen Patienten. Der ganze Raum starrte Alfred an, als sei er verrückt. Dabei war er ganz sicher nicht derjenige, mit dem hier etwas nicht stimmte! Die anderen hatten doch Probleme damit, ihr Essen runter zu kriegen oder drinnen zu behalten! Die meisten hatten sogar mitsamt dem Frühstück irgendwelche bunten Pillen serviert bekommen. Das sprach doch wohl für sich!
 

„Du isst dein Frühstück – jetzt! So sind nun mal die Regeln.“
 

„Das sind doch schei-!“ Alfred fuhr zusammen, als unerwartet ein höllischer Schmerz sein Schienbein zu zerteilen schien. Das „scheiß Regeln!“, was er dem Pfleger an den Kopf knallen wollte, ging in seinem erstickten Schmerzensschrei unter. Arthur hatte ihn getreten – und das nicht zu knapp.
 

Der Pfleger hatte es zwar nicht sehen können, musste es aber ahnen. Nichtsdestotrotz ließ er die Angelegenheit auf sich beruhen, erhob sich von seinem Stuhl und schenkte Alfred ein geheucheltes „Schön, dass du es eingesehen hast“, bevor er zufrieden zum anderen Tisch zurück schlenderte.
 

War das unfair oder war das unfair?! In Alfreds Augen brannten erste Ansätze von Tränen, so sauer war er. Eilig blinzelte er sie weg und biss sich auf die Unterlippe. Seinem Gefühl nach zu urteilen, glotzten ihn immer noch alle an wie ein Zirkustier. Normalerweise hatte er ja nichts gegen Aufmerksamkeit einzuwenden, aber das hier war eindeutig die falsche Art von Aufmerksamkeit. Er fühlte sich bevormundet und wie ein kleines Kind behandelt! Nicht nur, dass man ihm die Schnürsenkel aus den Schuhen nahm, all seine Schokoriegel und seine Spielsachen beschlagnahmte – nein, er musste sich hier blind jeder noch so absurden Regel unterwerfen und wurde obendrein auch noch von seinem Tischnachbarn getreten! Wo blieben denn seine verdammten Rechte? Warum ließen sich die anderen Patienten das nur gefallen? So was konnte doch unmöglich förderlich sein für die Gesundheit?!
 

Innerlich von Wut und Zorn erschüttert, griff Alfred nach seinem Saft und stürzte ihn in einem garstigen Zug hinunter. Vielleicht verweigerte Feliciano ja deswegen das Essen, weil er es auch nicht richtig fand, wie man hier drin mit ihnen umsprang. Alfred hätte es gerne so ausgelegt, aber ein nagender Teil seines Herzens wusste leider, dass dem nicht so war. Feliciano und viele andere hatten lange vor dem Klinikaufenthalt beschlossen zu hungern.
 


 

{ + + + + + }
 

Alfreds Tag wurde partout nicht besser. Zwar hatte er letztlich klein beigegeben und sich sein dämliches Frühstück reingezwungen (ohne auch nur noch ein Wort mit Arthur zu wechseln, den das aber wenig tangierte), doch er war irgendwie vom Regen in die Traufe geraten. Die strenge Frau vom Arztgespräch am Vortag hatte ihn nämlich unter ihre Fittiche genommen und ihm rund eine Stunde lang etwas von Ernährung, Ernährungsgrundsätzen und Ernährungsumstellung erzählt.
 

Alfred hatte den absoluten Musterschüler gemimt und immer nur brav gelächelt und genickt – denn natürlich wusste er, dass es nicht förderlich fürs Gewicht war, wenn er abends Schokoladen-Brownie-Eis, Gummitierchen oder Chips mit Barbecue-Geschmack in sich reinstopfte. Dass man in der Klinik dafür sorgen wollte, dass er sich regelmäßig und gesund ernährte, stieß ihm irgendwie sauer auf. Die Frau erklärte ihm zwar mit plausiblen Worten, warum insbesondere ein ausgewogenes Frühstück wichtig war, aber Alfred wusste ohnehin, dass er Zuhause niemals die Disziplin aufbringen würde, an Schultagen zeitig genug aufzustehen, um sich ein Brot zu schmieren oder ein Müsli zu machen. An Wochenenden war das Hoch der Gefühle fertigen Waffelteig zu backen, nebenbei fern zu sehen und so lange Waffeln mit Sprühsahne, Nutella und Marshmallow Creme zu essen, bis die ganze Teigflasche verbacken war und er alles noch mal wiedersah. Die Tatsache behielt er allerdings für sich.
 

Es war ihm unangenehm genug, dass die schlanke Frau, die auch heute wieder eine lupenreine, weiße Bluse trug und ihr Haar bis zur absoluten Unbeweglichkeit mit Haarspray betoniert hatte, ihn in einem fort nach seinen Essgewohnheiten ausfragte:

Wann, was, wie viel, warum ab dem späten Nachmittag immer so viel, warum sogar manchmal so viel, dass er sich hinterher übergab...?
 

Alfred konnte oder wollte sich dazu nicht äußern und tat es lapidar ab. Es war einfach so. Weil er eben Hunger hatte und weil er gerne aß und weil dies und weil das und weil jenes. Warum musste alle Welt aus einer Mücke einen Elefanten machen?
 

Die Ernährungstherapeutin mit dem melodischen Namen Claire Brooke hatte ihn die meiste Zeit mit unangerührter Miene angeschaut und dann ihre Notizen ergänzt, bevor sie dazu überging, Alfred vorzurechnen, wie viele Kalorien er hier drin bekam, wie viele Kalorien er überhaupt pro Haupt- und Zwischenmahlzeit zu sich nehmen sollte und dass er unter anderem an der Gruppentherapie, der Kunsttherapie und am Sportprogramm teilnehmen würde. Das alles war seinem „Stundenplan“ zu entnehmen.

Außerdem hatte sie betont, wie gut sie es doch fand, dass er Baseball spielte und dass er unbedingt dabei bleiben sollte. Alfred hatte in dem Moment die Luft angehalten und wie ein Verbrecher auf seine Füße gestarrt. Dass Frau Brooke davon ausging, er spiele noch Baseball, hatte er wohl seinen Eltern zu verdanken...
 

Nach dem unangenehmen Teil des Gesprächs kam der lästige, denn Frau Brooke legte ihm irgendwann ein Arbeitsblatt unter die Nase, mit dessen Hilfe sie Alfred den Kreislauf von Nichtsessen, Überessen und Übergeben erläutern wollte. Pfeile führten in verschiedene Richtungen und zeigten auf diverse Symbole. Daneben waren meist freie Linien.
 

„Bis zu unserer nächsten Stunde möchte ich, dass du dir dieses Arbeitsblatt ganz genau anschaust, Alfred“, begann Frau Brooke im besten Erzieherinnenton. „Versuch einmal, kleine Überschriften für das zu finden, was du siehst.“
 

War das ernst gemeint? Alfred befürchtete es... Begeisterung konnte er dem aber nicht entgegen bringen. Stattdessen probierte er es nonchalant herunterzuspielen, indem er gewohnt lächelte und abwinkte.

„Kein Problem!“
 

Frau Brooke schien seine Laune jedoch völlig gleichgültig zu sein. Sie ließ sich weder von seinem vorgetäuschten Strahlen noch seiner aufgesetzten Aufgeschlossenheit beeindrucken, sondern machte einfach weiter im Text.

„Wenn du dann deine Überschriften gefunden hast, möchte ich, dass du diese kleinen Linien neben den Symbolen benutzt, um aufzuschreiben, wie du dich fühlst, wenn du das tust.“
 

„Ich soll aufschreiben, was ich fühle, wenn ich“, Alfred deutete auf das nächstbeste Symbol, das ein Törtchen war, „Kuchen esse?!“
 

„Ja. Oder auch, wann du an Kuchen oder Süßigkeiten denkst und was du dann denkst.“
 

War das nicht irgendwie bescheuert? Alfred kam nicht drum herum, seine Ernäherungstherapeutin mit hoch gezogenen Augenbrauen und blanker Miene anzusehen. Wieso um alles in der Welt musste er so einen Quatsch machen?
 

„Ich dachte, ich bin zum Abnehmen hier?!“
 

„Abnehmen und sich gesund ernähren beginnt im Kopf. Das gilt es erst mal zu verstehen.“ Als Zeichen dafür, alles gesagt zu haben, legte Frau Brooke ihren Kugelschreiber aus der Hand und stand auf. Alfred nahm zögerlich das Arbeitsblatt an sich und erhob sich dann ebenfalls.

Was hatte er denn jetzt bitte effektiv gelernt? Eigentlich doch gar nichts. Diese Klinik war für ihn eine totale Zeitverschwendung! Er wollte nicht irgendwo aufschreiben, wie er sich fühlte. Er wollte eigentlich nicht mal darüber nachdenken, was er fühlte! Wie kam er nur möglichst schnell wieder aus diesem Irrenhaus raus? Er hatte sich zwar vorgenommen, die Dinge irgendwie positiv in Angriff zu nehmen und allen zu demonstrieren, dass es ihm gut genug ging, um auf direktem Wege wieder entlassen zu werden, aber so langsam dämmerte ihm, dass das vielleicht nicht so einfach werden würde. Frau Brooke hatte er wenig imponieren können, ganz gleich wie sehr er sich bemühte. Die Frau stand seiner Unbeschwertheit so positiv gegenüber wie ein Eisberg einem Kaminfeuer...
 

Der Flur war wie so oft patientenleer, als Alfred samt seiner „Hausaufgabe“ und seinem Stundenplan zurück auf sein Zimmer trottete und sich dort ohne Umwege auf sein Bett fallen ließ. Den Blick zur Decke gerichtete, stieß er ein wehleidiges Ächzen aus.

„Wieso muss ich so ein dämliches Arbeitsblatt machen?!“ Seine Stimme pendelte irgendwo zwischen trotzig und wütend. „Ich hab Ferien, verdammt!“
 

„Ve~“, kam es mitfühlend von Feliciano, der, wie Alfred jetzt bemerkte, noch genau so am Fenster stand und in einer Zeitung las wie vorhin schon. Dies höchst seltsam findend, stützte sich Alfred auf die Ellbogen und betrachtete den in diverse Kleiderschichten eingepackten Feliciano. Seine Finger wurden größtenteils von den langen Ärmeln der dunkelgrünen Kapuzenjacke verschluckt, unter der Alfred spontan ein T-Shirt und einen Pulli zu sichten glaubte. Zusätzlich fiel dem Blonden auch wieder die extreme Hitze im Raum auf: es war stickig und völlig überheizt hier drin!
 

„Wieso setzt du dich nicht hin?“ Fragend stand Alfred auf und lehnte sich zum Fenster hinüber, um es zu öffnen. Von Feliciano kam sofort ein spitzer Schrei.

„Nein! Es ist doch eh schon so kalt! Da kannst du nicht auch noch das Fenster aufmachen!“
 

„Kalt?“ Alfred wedelte sich demonstrativ Luft zu. „Hier drin ist’s wie in der Sauna!“
 

„Du musst doch eh gleich zum Sport“, winselte Feliciano weiter, während er sich vorbeugte, um das Fenster wieder zuzudrücken.
 

Alfred seufzte, dieses mal leicht genervt: erst hatten ihm sein Gewicht, das Frühstück und diese Ernährungstherapeutin den Tag verdorben und jetzt stellte sich auch noch sein Mitbewohner so an, als wolle man ihn mit Frischluft vergiften!

Gestern war die Sache ja noch irgendwie hinnehmbar gewesen, weil Alfred von all den neuen Eindrücken überfordert gewesen war. Doch schon die Nacht über hatte er seine Decke ständig weggestrampelt und war irgendwann heimlich aufgestanden, um die verfluchte Heizung runterzudrehen. Merkwürdigerweise war sie jetzt wieder hoch gedreht... So ging das doch nicht weiter!

Alfred hätte gerne eine Grundsatzdiskussion angefangen, aber Feliciano wimmerte nach wie vor kläglich und gab ein wirklich mehr als erbärmliches Bild ab.
 

Brummend gab Alfred schließlich klein bei und legte auf dem Weg zu seinem Schrank das Arbeitsblatt und den Stundenplan auf seinen Schreibtisch.

„Musstest du eigentlich auch so 'n scheiß Arbeitsblatt ausfüllen?“
 

„Ve? ...ja“, kam es von einem wieder zu lächeln beginnenden Feliciano, der sich an die Heizung schmiegte wie ein Kitten an seine Mutter.
 

„Ich brauch das eigentlich gar nicht.“ Alfred sprach mit voller Überzeugung in den Kleiderschrank hinein. „Nur weil ich ’n bisschen angesetzt habe...!“

Es ärgerte ihn so maßlos, wie schlecht er in dieser Klinik behandelt wurde. Bettruhe um 22 Uhr, aufstehen um 6 Uhr früh, fieses Essen, in den kleinen Klinikpark durfte er nur, wenn er eine Schwester oder einen Pfleger um Erlaubnis fragte und überhaupt brauchte er hier für alles eine Genehmigung. Essen, Schlafen, Atmen; demnächst wohl auch noch fürs Leben!
 

„Ich hätt’ das auch Zuhause wieder in den Griff bekommen!“, wütete er.
 

„Ve...“
 

„Meine Mom ist nur so ’ne Dramaqueen. Meinem Dad wär’s gar nich’ aufgefallen. Der ist eh immer auf Geschäftsreise in Kanada! Haben deine Eltern eigentlich auch so einen Aufstand gemacht, weil...“ Alfred wusste nicht, wie er es in Worte packen sollte. Deswegen wandte er sich zu Feliciano herum und deutete mit seiner Sporthose in der Hand auf ihn. „..naja, du bist echt sehr dünn. Ich glaub, du bist sogar der dünnste Mensch, den ich jemals gesehen habe!“
 

„Ach was...“ Auf Felicianos Gesicht tat sich rein gar nichts. Alfred hatte es gewiss nicht böse gemeint, er tendierte nur dazu, schneller zu reden als zu denken. Entsprechend war ihm die Wahrheit rausgerutscht und sie lag nun offen zwischen ihnen, schien seinen Mitbewohner aber nicht großartig zu stören. Im Gegenteil, er wirkte nach einem kurzen Augenblick noch glücklicher als zuvor:

„Ich bin ja auch bald wieder bei ihnen!“
 

Wenn sogar der klapperdürre Feliciano demnächst nach Hause durfte, dann wäre es doch gelacht, wenn sie Alfred noch wesentlich länger hier festhalten konnten! Ermutigt und motiviert von Felicianos Strahlen, klatschte Alfred seinen Kleiderschrank zu und war entschlossener denn je.

„Die können schon mal meine Entlassungspapiere fertig machen!“

{ 05. | bittersweet }

Mathias war einer der Menschen, mit denen Alfred vor rund einem halben Jahr noch gemeinsam auf dem Baseballfeld hätte stehen können. Vermutlich wäre damals auch alles gut gegangen. Sie hätten sich verausgabt, ihren Spaß gehabt und viel zusammen gelacht. Vor dem Training, beim Training und nach dem Training.
 

Dummerweise war heute nicht damals und Alfred kam sich im Angesicht des hoch gewachsenen und gut durchtrainierten Mannes sofort unförmig und schlecht vor. Schon beim Händedruck hatte Alfred das Gefühl beschlichen, man habe ihm sämtliche Fingerknochen gebrochen und weil das offenbar noch nicht reichte, wurde er obendrein von Mathias’ bahnbrechender Ausstrahlung ausgeknockt.
 

Bekleidet mit einer rot-weißen Sportjacke und dazu passender Trainingshose, hatte Mathias Alfred und ein paar wenige andere Jungen am späten Vormittag zum Sport abgeholt. Jungen und Mädchen hatten separate Sportgruppen. Wie Alfred zu Ohren gekommen war, durften die Mädchen sich mehr mit Gymnastik beschäftigen, während die Jungen unter Mathias „litten“ – Zitat Tino, ein schmächtiger Jugendlicher, der bereits vor Beginn der Sportstunde wie Espenlaub zitternd am Treffpunkt vorm Schwesternzimmer gestanden und sie allesamt bedauert hatte. Er war es auch gewesen, der Alfred im Schnellverfahren erklärt hatte, dass das Sportprogramm zwischen Hallen- bzw. Draußensport und Schwimmen wechselte.
 

Alfred hatte zwar schon länger kein Training mehr absolviert, aber er ging nicht davon aus, dass es ihm all zu viel abverlangen würde. Er hatte früher regelmäßig trainiert, doch Tino hatte trotzdem permanent hinter hervorgehaltener Hand rumgewinselt und geklagt, während sie artig hinter Mathias herdackelten und die Station verließen.

Alfred hatte nur mit halbem Ohr zugehört und ab und zu einen aufbauenden Kommentar abgegeben. Seine primäre Aufmerksamkeit galt seiner Umgebung. Sie passierten nämlich jene Teile der Klinik, zu denen sie für gewöhnlich keinen Zutritt hatten. Gingen durch lange Flure, vorbei an Behandlungszimmern und Büros, ließen einen Aufenthaltsraum für Besucher hinter sich – Achtung: hier gab es Getränke- und Snackautomaten! – und kamen schließlich in dem weitläufigen Fitnessraum an.
 

Die große Fensterfront erlaubte einen freien Blick auf den Park, in dem viele Bäume standen, deren Blätter allesamt klitschnass zu Boden starrten. So als warteten sie darauf, dass der späte Sommer verging und der Herbst sie in naher Zukunft zu Fall brachte, damit nur mehr kahle Äste zurück blieben. Regen pladderte in hauchdünnen Bindfäden konstant auf die Erde hinab; das war der Grund, warum die Sportgruppe heute drinnen blieb.
 

„Drinnen, draußen, beides furchtbar...!“, hatte Tino leichenblass dazu gesagt und sich irgendwie hinter Alfred zu verstecken versucht. Da sie jedoch verheerend wenig Leute waren, klappte das mit dem Verstecken nicht ganz so gut, wie von Tino erhofft. Mathias stand gleich darauf vor ihnen, schnappte sich die halbe Portion am Kragen und schleppte ihn zu einem der Laufbänder. Tinos Gesicht als unglücklich zu beschreiben, wäre höchst untertrieben gewesen. Dabei musste er nicht mal richtig laufen; es war mehr ein strammes Gehen.
 

„So, und nun zu dir!“ Sich die Hände vorfreudig reibend, kam Mathias wieder auf Alfred zu und schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter. Dass Alfred um ein Haar das Gleichgewicht verlor, schien Mathias nicht weiter aufzufallen. Sein Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen.

„Baseball, hab ich gehört?! Wunderbar! Ehrlich! Endlich mal jemand, der sportliche Betätigung zu schätzen weiß. Während meiner Schulzeit hab ich auch Baseball gespielt, neben ein paar anderen Dingen, vor allem Eishockey. Mann, ich liebe Eishockey!“
 

Alfred nickte nur pseudobegeistert und warf dem verzweifelten, schon beinahe aus dem letzten Loch pfeifenden Tino einen mitfühlenden Blick zu. Mathias hatte viel zu hohe Erwartungen an sie, da war sich Alfred vollkommen sicher und schlappte, ein mulmiges Gefühl im plötzlich hungrigen Magen, hinter Mathias her. In den Schuhen sogar Schnürsenkel, die man ihm am Schwesternzimmer extra für den Sport ausgehändigt hatte.
 

„Ich stelle jedem von euch sein Sportprogramm ganz individuell zusammen. Etwas Ausdauertraining, etwas Muskelaufbautraining und, wenn nötig, natürlich auch Training zum Fettabbau.“
 

Wie auf Kommando begannen Alfreds Wangen feuerrot zu leuchten. Nur gut, dass sein weites Schlabber-T-Shirt mit dem Print der amerikanischen Flagge wenig von seinem Körper preis gab. Mit Blick auf Mathias' Trainingsanzug musste sich Alfred postwendend die Frage stellen, wie lange es her war, seit er sich zuletzt in Sportklamotten halbwegs wohl gefühlt hatte? Gegen Ende seiner Baseballzeit war das definitiv nicht mehr der Fall gewesen und danach war es kontinuierlich immer weiter bergab gegangen...
 

„Auf eines kannst du dich bei mir verlassen, Alfred: wenn ich mit dir fertig bin, bist du wieder Stammspieler und musst nie mehr auf der Bank sitzen!“
 

Alfred hätte ja gerne protestiert, dass er unter keinen Umständen in seine alte Mannschaft zurück wollte, allerdings deutete ihm Mathias, sich auf eines der Laufbänder zu begeben. Das Band setzte sich langsam in Bewegung, derweil Mathias an dem elektronisches Display herumdrückte und die gewünschten Einstellungen vornahm.

„Wenn du Bock hast und das Wetter mitspielt, lassen wir die müde Bande einfach mal ’nen 3000-Meter-Lauf machen und wir zwei schlagen ein paar Bälle. Na, was meinst du?“
 

3000-Meter-Lauf? Da würde der arme Tino ja vor Erschöpfung zusammenbrechen! Nur zu gern hätte Alfred Einspruch erhoben, aber Mathias deutete sein Schweigen bereits als Zustimmung und lachte zufrieden.

„Sehr schön! Und jetzt läufst du mal, na sagen wir, so 15 Minuten zum Aufwärmen.“
 

Laufen war der richtige Ausdruck. Alfred musste sich arg anstrengen, um mit dem Tempo des Laufbands mithalten zu können. Warum nur hatte er seine verdammte Klappe nicht aufgemacht und Mathias gestanden, schon seit Monaten nicht mehr beim Baseballtraining gewesen zu sein? Dann hätte der Mann ihm sicher ein anderes Niveau zum Einstieg verpasst! Doch so ging er natürlich davon aus, dass Alfred kein Problem mit straffen 15 Minuten zum Aufwärmen haben würde...
 

Allerdings bemerkte Alfred schon nach kürzester Zeit, wie ihm Kraft und Luft ausgingen. Früher hätte er bei der Geschwindigkeit auch nach 15 Minuten noch ein lockeres Schwätzchen halten können. Aber jetzt erschien ihm jeder Schritt unglaublich anstrengend. Seine Beine waren tonnenschwer. Das Gewicht seines Körpers bremste ihn nicht nur aus, es hinderte ihn auch daran, genügend Sauerstoff aufzunehmen. Kondition war wohl ein Fremdwort für ihn geworden. Wie hatte er es nur so weit kommen lassen können? Eventuell hatten seine Eltern zu Recht Bedenken wegen seiner Gesundheit...
 

Mathias, der ihn kurzweilig alleine gelassen hatte, um bei den anderen Jungen vorbei zu schauen, kam mit kritischer Miene zu ihm zurück. Alfreds lautes Keuchen schien ihn zu schockieren.

„Ach du grüne Neune! Warst du Baseballspieler oder Balljunge?!“ Großzügig drückte er wieder aufs Display, woraufhin das Band deutlich langsamer wurde. Unter tiefen Atemzügen musste Alfred nur noch sehr schnell gehen, doch auch das empfand er nicht als angenehm. Die Zeiten, als ihm Sport noch Spaß machte, waren anscheinend lange vorbei. Er musste es einsehen. Am besten, er würde seine alten Baseballklamotten eintüten und endgültig in den Müll werfen, sobald er wieder Zuhause war. Wieso hatte er sie überhaupt aufgehoben? Hatte er etwa ernsthaft geglaubt, jemals wieder auf dem Feld zu stehen? Das war lächerlich. Einfach nur lächerlich!
 

Eine gescheite Antwort auf Mathias’ Kommentar fiel Alfred in dieser misslichen Lage nicht ein. Irgendwie tat ihm alles zu weh: Lunge, Füße, Beine, vor allem aber sein wie wild hämmerndes Herz. Sich Schweiß von der Stirn wischend, bezweifelte Alfred insgeheim, je wieder in seine alte Form zurück zu finden. Es gab keinen Weg zurück in sein altes Leben...
 

Tino sollte froh sein: auch wenn er nicht fit war, so hatte er doch zumindest kein Übergewicht und sah auch nicht so aus, als würde er Unmengen an Essen in sich reinschaufeln können. Alfred beneidete ihn, ohne es so recht zu realisieren.
 


 

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„Ich bin tot...“ Völlig erschöpft fiel Alfred auf seinen Stuhl am Fenstertisch und vergaß kurzweilig, dass er noch sauer auf sein Gegenüber war. Nach der Tortur namens Sport hatte er es gerade noch so fertig gebracht, sich kurz abzuduschen und dann zum Speisesaal zu kriechen. Muskeln, deren Existenz er lange vergessen hatte, sandten Schmerzimpulse aus und würden ihm spätestens morgen das Leben zur Hölle machen.
 

Arthur, der soeben seinen Teebeutel aus seiner Tasse fischte, kommentierte Alfreds theatralisches Gehabe bloß mit einem Augenrollen. Es war Zeit fürs Mittagessen. Eigentlich hätte Alfred das schon vor dem Sportprogramm locker zu sich nehmen können. Sein Appetit spielte eben nach seinen ganz eigenen Regeln. Morgen, Mittag und Abend waren ihm egal. Sein Magen knurrte, wann er wollte, und selbst wenn er es nicht tat, tendierte Alfred dazu, sich was zwischen die Zähne zu schieben, sobald er etwas Leckeres sah. Blöderweise gab es hier drin nichts Leckeres für ihn. Zwar durfte er so viel Mineralwasser und ungesüßten Tee trinken wie er wollte, doch weder Cola noch Orange Soda wurde an Patienten ausgeteilt. Sobald er hier raus kam, würde er sich erst mal einen XXL-Milchshake genehmigen, jawohl!
 

Vorerst hing Alfred aber auf seinem Stuhl wie ein nasser Sack. Den Kopf im Nacken, hatte er alle vieren von sich gestreckt und stierte zur Decke.

„Du hast ja keinen Schimmer, wie anstrengend das ist! Du musstest ja keinen Sport machen!“
 

„Das bisschen Sport, ich bitte dich! Das wirst du doch wohl gerade noch so hinkriegen“, packte Arthur eine meterhohe Arroganz aus. „Schwimmen ist doch außerdem viel schlimmer. Allein dieses widerwärtige Chlorwasser...!“

Arthur schüttelte sich sichtbar.
 

„Schwimmen ist ’n Witz im Gegensatz zu dem, was ich da gerade durchmachen musste!“ Entrüstet ließ sich Alfred nach vorne kippen, sodass er den schweren Kopf auf die Hände stützen konnte.

Sie beide waren ausnahmsweise mal nicht alleine im Aufenthaltsraum. Auf einem der Sofas saß das dürre Mädchen, was sich mit Feliciano den Tisch am Eingang zu teilen pflegte und nähte an irgendwas herum. Alfred hatte sie gestern Abend auch hier nähen sitzen sehen, aber da er keine Ahnung von Handarbeiten hatte und sie dabei tief konzentriert wirkte, hatte er sie nicht angesprochen. Stattdessen hatte er noch eine Runde auf der Station gedreht, aber alle Patienten schienen in ihren Zimmern versackt zu sein und als er letztlich zurück in sein eigenes Zimmer kam, schlief Feliciano schon tief und fest.
 

Kurz spielte Alfred nun mit dem Gedanken, zu dem Mädchen rüberzugehen, doch der Plan scheiterte allein daran, dass er dafür wieder hätte aufstehen müssen. Jetzt war er schlicht und ergreifend zu müde dazu, obwohl er sich relativ sicher war, dass sie ihm freundlicher gesinnt sein würde als Arthur.

Wieso war der Kerl eigentlich so überpünktlich? Da Essen definitiv nicht zu Arthurs Lieblingsbeschäftigungen zählte, hatte er wohl einfach nichts Besseres zu tun. Anders konnte sich Alfred das nicht erklären.
 

Zum Glück sah er nun Schwester Nancy samt Essenswagen den Raum betreten.
 

„Was gibt’s? Ich verhungere!“ Als Zeichen seiner Schwäche rutschte Alfred tiefer auf seinem Stuhl und warf Nancy seinen besten Hundeblick zu.
 

„Hör auf zu jammern! Davon kriegt man ja Kopfschmerzen!“
 

„Na, na, Jungs. Vertragt euch.“ Samt Speisewagen näherte sich Schwester Nancy ihrem Tisch und erstickte die kleine, verbale Keilerei im Keim.
 

„Ich vertrag mich mit allen, aber Arthur ist ja so was von giftig! Kein Wunder, dass er immer alleine sitzt! Der hat mich sogar getreten!“ Die Stelle war mittlerweile solide blau verfärbt und tat immer noch weh. Alfred kannte solche selbstgerechten Kotzbrocken, die sich zu fein für alles und jeden waren und immerzu dachten, sie seien etwas Besseres und müssten anderen Menschen zeigen, wie der Hase lief. Während Leute wie Alfred Baseball, Football und Basketball spielten, saßen Jungen wie Arthur im Buchklub oder kandidierten um das Amt als Schulsprecher.
 

„Wie bitte?! Gerade du musst reden! Als ob du wüsstest, wie man sich hier zu benehmen hat! Ich hab dir heute Morgen sogar den fetten Arsch retten müssen!“ Empört sprang Arthur von seinem Stuhl auf, stieß dabei jedoch dummerweise gegen die Tischkante, sodass Tee über den Rand seiner Tasse schwappte.

„Ach, verdammt!“ Fluchend rupfte er ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, um das Malheur zu beseitigen. „Das ist alles deine Schuld, du Idiot!“
 

„Es reicht jetzt!“ Geschirr klirrte laut, als die Krankenschwester die beiden Essenstabletts zwischen ihnen auf die Tischplatte donnerte. Alfred wich reflexartig zurück und spürte, dass er sich besser jeglichen Einwand sparte.
 

„Hier wird gegessen und nicht gestritten!“ Strikt füllte sie Arthurs Becher mit Saft auf. „Außerdem, was ist das denn für eine schlechte Laune bei dir? Hab gehört, da kommt gleich was mit der Post für dich. Dein Freund war vorhin hier und hat beim Empfang was für dich abgegeben.“ Ihr Zwinkern ließ sie glatt fünf Jahre jünger wirken.
 

Arthur indessen schoss glühendheiße Röte ins Gesicht. Um ein Haar wäre ihm die Teetasse umgefallen, die er noch immer akribisch mit dem Taschentuch abtupfte.

„Der-der ist doch nicht mein Freund! Der kommt doch nur her, um mit den Schwestern am Empfang zu flirten! Elendiger Dreckskerl!“
 

Anstatt Arthur zurechtzuweisen, kicherte Schwester Nancy wie ein Schulmädchen, servierte Alfred – der ebenfalls grinsen musste – sein Mineralwasser und machte sich dann daran, die anderen Tische einzudecken.
 

„He, he!“, stichelte Alfred grinsend, kaum dass Nancy ihnen den Rücken zugekehrt hatte. „Dein Freund?!“
 

Irgendwie fiel es Alfred überhaupt nicht schwer, sich sein Gegenüber mit einem anderen Mann vorzustellen, wobei er in seinen Vorstellungen auch nicht all zu weit ins Detail gehen wollte. Arthur wirkte so vornehmlich distanziert, war immer darauf bedacht, seine Servierte anständig zu falten und kontrollierte ständig, ob seine Kleidung noch richtig saß. Kurzum: Alfred hielt ihn eigentlich für relativ langweilig mit einer starken Spießertendenz. Deswegen fiel es ihm wohl leichter, sich Arthur einfach mit seinesgleichen vorzustellen, anstatt mit einem Mädchen. Allein das andere Geschlecht schien einen zu großen Stilbruch darzustellen, der Arthurs gerade Welt aus den Fugen heben könnte.
 

„Er ist nicht mein Freund!“ Nach wie vor rot wie eine Tomate, griff Arthur zu seiner Gabel und machte sich eilig über sein Kartoffelgratin her. Alfred konnte sich nicht helfen, sondern kostete die Situation einfach aus. Grinsend wie ein Schneekönig strahlte er Arthur an, der voller Absicht nur auf sein überbackenes Mittagessen starrte. Alfred vergaß glatt selber zu essen, bis ihn ein lautes Magenknurren wieder daran erinnerte.
 

„Wir kennen uns aus der Schule! Also denk bloß nichts Falsches!“, kroch es ihm von der anderen Tischseite aus aggressiv entgegen. Die markanten Augenbrauen tief gezogen, schickte ihm Arthur einen mehr als tödlichen Blick. Alfred erschreckte fast, so finster schaute der andere Junge drein. Dass Arthur einfach mal froh sein sollte, trotz seiner schroffen Art von jemandem gemocht zu werden, verschwieg Alfred unter diesen Umständen lieber. Auf ihn wartete außerdem das, was übrig blieb, wenn man alles Schmackhafte von einem Gratin abzog. Sprich: Kartoffeln und jede Menge anderes Gemüse.
 

{  -  }
 

Alfred war nicht neidisch. Er war vielleicht hungrig und hatte nach diesem merkwürdigen Gemüse-Fiasko einen tierischen Heißhunger auf etwas Frittiertes, aber er war ganz sicher nicht neidisch, nur weil einige seiner Mitpatienten Post bekamen und er nicht. Es wäre ohnehin absurd zu glauben, dass seine Eltern ihm je einen Brief oder eine Karte schreiben würden und Freunde, die wussten, dass er hier war, hatte er sowieso nicht. Die Zeiten, als er noch regelmäßig an Wochenenden auf Partys eingeladen war, waren mit seinem Austritt aus dem Baseballteam gestorben. Abgesehen von Tony, ein Typ, den er im Internet kennen gelernt hatte und der sich total mysteriös gab (nicht mal in seinen youtube Videos zeigte er sich, sondern kommentierte immer nur, was er filmte), hatte Alfred keine sozialen Kontakte mehr.
 

Nichtsdestotrotz beobachtete er neugierig, wie ein Pfleger die heutige Post unter den Anwesenden verteilte. Offenbar waren deswegen alle sitzen geblieben und nicht, wie gestern nach dem Abendbrot oder heute nach dem Frühstück, vereinzelt schon aufgestanden. Selbst Feliciano hatte für seine Verhältnisse tapfer das Essen hinter sich gebracht und starrte wie gebannt auf den Poststapel, die Hände krampfhaft gefaltet wie beim Gebet und jede Regung des Pflegers aufsaugend. Garantiert wartete er auf einen Brief seiner Familie.
 

Der Stapel wurde jedoch kleiner, ohne dass Felicianos Namen fiel. Dann war auch der letzte Brief ausgeteilt. Die blanke Enttäuschung auf Felicianos Gesicht sprach Bände. Sein Blick fiel matt zu Boden, indessen er sich erhob und ohne ein Wort aus dem Raum schlich. Da die meisten sowieso damit beschäftigt waren, ihre Post zu lesen, störte es auch keinen. Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte Alfred, ob er dem dünnen Italiener folgen sollte, doch in just dem Moment kam der Pfleger an seinen Tisch hinüber. In der Hand hielt er eine kleine Geschenkschachtel in warmen Pastelltönen, liebevoll verpackt und mit einem Namensschildchen versehen.

„Und dann noch deine Post, Arthur.“
 

Mit einem leisen Brummen nahm der Angesprochene die schöne Schachtel entgegen und zupfte leicht an der Schleife. Das Band gab butterweich nach und Alfred roch etwas gar Köstliches, bevor er auch nur irgendetwas sah.

Als Arthur den Deckel schließlich aufklappte, entdeckten Alfreds Adleraugen die bunten, zart duftenden Macarons, die vornehm aufbereitet in der Schachtel lagen. Alfred stemmte sich automatisch in die Höhe, um tiefer in die Schachtel spähen zu können.

„Oh Mann, sieht das lecker aus!“ Gebäck – direkt vor seiner Nase! Er musste seine Eltern unbedingt instruieren, ihm etwas Süßes zukommen zu lassen! Das war hier ja anscheinend nicht verboten.

„Lässt du mich auch eins probieren?“
 

Arthur rutschte, die Schachtel wie seinen Augapfel hütend, mit seinem Stuhl zurück.

„Dich? Ob ich dich probieren lasse?!“ Ein mehr als zynisches Grunzen entkam ihm. „Träum weiter!“
 

„Was?! Aber warum denn nicht? Du isst die doch eh nicht alle auf! Falls du überhaupt was davon isst!“ Wie egoistisch konnte dieser Kerl denn bitte noch sein? Alfred konnte es einfach nicht fassen und hätte am liebsten über den Tisch gelangt und sich selbst bedient. So wie Arthur aussah, würde er nicht einen Krümel der Macarons genießen, sondern sie unangetastet in der Schachtel verschimmeln lassen!
 

Den Deckel mit den Daumen zudrückend, stand Arthur nun ruckartig auf. Das Gesicht nicht mehr bloß düster, sondern durch und durch kalt.

„Werd’ du erst mal selber gesund! Und bis dahin erwarte nicht von mir oder sonst wem, dir beim Gegenteil zu helfen!“
 

Arthurs Schultern wirkten wie mit einer Wasserwaage ausgemessen, als er erhobenen Hauptes aus dem Raum schritt.
 

In Alfreds Hals war das trotzige „Ich bin gesund!“ zu einem schleimigen Klumpen angeschwollen, den er nicht nach draußen manövrieren konnte. Irgendwas schien die Lüge dieses Mal zu vereiteln. Irgendwas, das ganz tief in seinem Herzen brannte...

{ 06. | Diaries of Broken Dreams }

Heute Abend würde er definitiv um 22 Uhr müde sein. Trotz oder gerade wegen des schlechten Essens und des Sports, vermutlich aber wohl wegen beidem.

Dass sich auch die Gruppentherapie als anstrengend erweisen würde, ahnte Alfred noch nicht, als er hinter Feliciano den großen Raum betrat, in dem ein weitläufiger Stuhlkreis aufgebaut war. Einige Patienten hatten sich bereits eingefunden und saßen im schwachen Licht des Nachmittags auf ihren Plätzen. An dem bindfadenartigen Regen draußen hatte sich nachhaltig nichts geändert. Der Tag war grau und malte fahle Schatten.
 

An einer Wand war ein großes Whiteboard befestigt, an den anderen Wänden befanden sich Tische. Wäre dies ein Klassenzimmer, würde man Tische und Stühle einfach wieder zusammenschieben, um eine gescheite Sitzformation zu erzeugen. Doch das schien hier gerade nicht erwünscht.
 

„Das sieht ja aus wie im Fernsehen!“, flüsterte Alfred, vom wahr gewordenen Klischee überwältigt, zu Feliciano hinüber, als sie sich nun hinsetzten.
 

Die Zeit zwischen Mittagessen und Gruppentherapie hatte der Braunhaarige noch flugs für einen Mittagsschlaf genutzt. Alfred hatte nicht vorgehabt, es seinem Mitbewohner gleich zu tun, war jedoch eingenickt, kaum dass er sich auf sein Bett gelegt hatte. Der Sport hatte ihm letztlich doch mehr abverlangt, als er sich selbst eingestehen wollte.

Irgendwann hatte Feliciano ihn dann grinsend wachgerüttelt. Sein Gesicht hatte zu frisch gewirkt, als dass Alfred davon ausgehen konnte, Feliciano hätte ebenfalls die ganze Zeit geschlafen. Wahrscheinlich war der Italiener irgendwann wieder aufgestanden und hatte sich anderweitig die Zeit vertrieben.
 

Sich die rechte Hand in den Nacken legend, reckte sich Alfred herzhaft und beobachtete, wie weitere Patienten ins Zimmer kamen. Arthur war selbstverständlich auch schon da und machte einen ungeheuer beschäftigten Eindruck, als er sich pingelig einige imaginäre Falten aus seinem linken Hosenbein strich.
 

„Hallo!“ Mit einer kleinen, blauen Plastikkiste in den Händen betrat nun auch eine Frau, deren Alter Alfred schwer schätzen konnte, den Raum. Ihre dunkle Jeans steckte in braunen, hochhackigen Stiefeln. Dazu hatte sie einen unifarbenen Pullover kombiniert, der ihr leger eine Nummer zu groß war und an der Schulter Aussicht auf ihre farblich zu den Stiefeln passende Bluse bot. Auf ihrer Stupsnase saß eine dieser modischen Nerdbrillen, während ihr mittellanges, helles Haar in etwa bis zu ihren Schultern reichte.
 

Voller Elan stellte sie nun die Kiste auf dem Schreibtisch ab, der unter dem Whiteboard stand, und drehte sich dann zu den Patienten herum. Alfred spürte, wie ihr Blick ihn sogleich ansprang.

„Du“ sagend, winkte sie ihn zu sich hinüber. Dieses Mal parierte Alfred sogar gerne, weil er weder die griesgrämige Cleopatra noch den übermotivierten Mathias in ihr erkannte. Da funktionierte auch sein Lächeln gleich viel besser.
 

„Ich bin Dr. Brussels und leite eure Gruppentherapie.“ Alfreds Hand machte Bekanntschaft mit ihren warmen, zierlichen Fingern.
 

„Ich bin Alfred, der Neue. Sie wissen schon“, gestikulierte er leicht. Denn wenn er bisher eines gelernt hatte, so war es, dass das Personal wohl über jeden Neuzugang genauestens informiert wurde.
 

„Ja, ich hab schon gehört, dass du gestern zu uns gestoßen bist. Also, welche Farbe darf’s denn für dich sein?“ Freundlich deutete Dr. Brussels in die Kiste, in der unter anderem ein paar kleine Bücher gestapelt waren. Alle waren gleich groß und maßen etwa DinA6, doch ihre Umschläge hatten verschiedene Farben.
 

„Öhm...“ Unentschlossen griff Alfred in die Kiste, um sich durch die Farbauswahl zu wühlen. Pink kam nicht in Frage, das Rot schien flammend aggressiv und das Grau definitiv zu fad. Braun war ihm zu lethargisch und weiß zu unspektakulär. Seine Entscheidung fiel auf ein himmelblaues Buch.

„Das hier!“
 

„Gut, dann ist das ab jetzt dein Tagebuch.“
 

„Tagebuch?“, wiederholte Alfred dezent schockiert, weil er in seinem gesamten 16-jährigen Leben noch nie ein Tagebuch geführt hatte. Dass er online einen Blog hatte, zählte ja nicht richtig. Immerhin rebloggte er dort nur lustige Sprüche und seltendämliche gifs von anderen Usern.
 

Dr. Brussels nickte, wobei ihre Brille ein Stückchen hinab rutschte. „Ja, Tagebuch. Hat dir noch keiner das Tagebuch erklärt?“
 

Vorsichtig „Nein“ sagend, kam sich Alfred abermals ins kalte Wasser gestoßen vor. Wie viele Überraschungen hielt dieser Tag denn bitte noch parat? Außerdem wollte er kein Tagebuch führen! Was sollte er denn da rein schreiben? Dass er seltsames Gemüse essen musste, sein Kartoffelgratin nicht mal eine Käsekruste besaß und frühes Aufstehen ihn mehr als nur schlecht launte?!
 

„Kein Problem, es sind eh schon alle da. Dann fangen wir jetzt einfach an und dann weißt du gleich Bescheid.“ Flink tippelte Dr. Brussels zur Türe hinüber, um diese galant zu schließen. Gleich darauf stand sie wieder neben Alfred und schaute erwartungsvoll in die Runde, in der das leise Gemurmel sogleich erlosch.
 

„Hallo, wie ihr ja schon alle mitbekommen habt, haben wir wieder jemand Neues bei uns. Das ist Alfred und bevor Alfred uns etwas über sich erzählt, möchte ich, dass ihm jemand das Tagebuch erklärt.“
 

Alfred fand es eher nicht so klasse, hier vorne zu stehen, derweil alle anderen Jugendlichen auf ihren Stühlen saßen und sich vermutlich an sein Benehmen beim Frühstück erinnerten...

Obwohl einige Stühle leer geblieben waren, wirkte der Kreis nicht zerpflückt. Eher machte es den Anschein, als habe jeder genügend Freiraum, ohne den Kontakt zu den anderen zu verlieren.
 

Dr. Brussels schob mit der rechten Hand ihre Brille dezent das Nasenbein hinauf.

„Na, wer möchte?“ Ihre positive Energie zupfte an den müden Geistern der Anwesenden. Einige von ihnen hatten ebenfalls ihr buntes Tagebuch dabei, wie Alfred jetzt auch auffiel. Sein Augenmerk glitt von einem Anwesenden zum nächsten und blieb an dem dicken, blonden Mädchen hängen, welches jetzt zaghaft eine Hand hob.
 

„Ja, Anya“, übergab Dr. Brussels ihr das Wort.
 

Anya räusperte sich und legte die Hände im Schoß zusammen, in dem ihr eigenes Tagebuch barbierosa leuchtete.

„Also, wir haben alle ein Tagebuch bekommen, damit wir unsere Gedanken aufschreiben können. Wir dürfen schreiben, was immer wir möchten und wie viel wir möchten. Niemand muss etwas in sein Tagebuch schreiben.“ Sie machte eine kurze Pause. Ihr rundes Gesicht schien leicht errötet, da alle anderen sie anguckten und darauf warteten, dass sie fortfuhr.

„Wenn wir wollen, können wir unser Tagebuch auch mit zur Therapiestunde nehmen und unsere Gedanken mit den anderen teilen. Aber das müssen wir nicht...“
 

„Sehr schön“, lobte die Therapeutin, woraufhin Anyas Wangen exakt die gleiche Farbe annahmen wie ihr Tagebuch.
 

Alfred biss sich von innen in die Backentasche. Nicht nur, dass er kein Tagebuch führen wollte, er wollte auch erst recht keinem daraus vorlesen. Das ging doch niemanden etwas an und überhaupt, er wollte hier raus! Wie sollte er bitte schnell entlassen werden, wenn er Probleme besprach? Es war doch viel sinniger, allen verständlich zu machen, gar keine schwerwiegenden Probleme zu haben!
 

„So, und nun wieder zu dir, Alfred. Möchtest du uns etwas über dich erzählen und warum du hier bist? Wenn es dir lieber ist, darfst du dich dazu auch gerne wieder hinsetzen.“ Zumindest ahnte die Frau also, dass es vielen Menschen unangenehm war, angestarrt zu werden. Nichtsdestotrotz entschied sich Alfred genau aus diesem Grund dafür, stehen zu bleiben und gelassen in die Runde zu grinsen.

„Hey Leute!“, Mit der Hand, die das Tagebuch hielt, deutete er ein Winken an. „Ich bin Alfred. Ich bin 16 und komm aus New York! Hammer Stadt, ich sag’s euch! Wer noch nich’ da war, unbedingt hinfahren! Wenn ihr Tipps oder ’ne Stadtführung braucht, alles kein Problem! Ich kenn mich aus! Wenn ich nich’ gerade zur Schule muss, geh ich total gern ins Kino oder ins Planetarium oder spiele Baseball! Ich liebe Baseball! Das ist echt mein absoluter Lieblingssport. Mein Dad und ich sind riesige Fans der Yankees. Früher ist mein Dad auch oft mit mir zusammen zu den Spielen gegangen!“
 

Die Worte schienen Alfred eigenmächtig aus dem Mund zu schwirren, eine Runde durch den Raum zu drehen und dann wieder in seine Ohren zu flattern. Ihre Bedeutung vernebelte sein Bewusstsein und ließ ihn kurzweilig in der Erinnerung an aufregende Nachmittage auf der Tribüne versinken:

Links und rechts von Fans umgeben, Cola in der einen Hand, ein Hot Dog in der anderen Hand, hatten er und sein Vater nur all zu oft ihr Lieblingsteam angefeuert. Eine von Alfreds frühestens Kindheitserinnerungen war die, als sein Vater ihn zum ersten Mal mit ins Stadion genommen hatte und er, der mit einem Strohhalm aus einem Plastikbecher süße Limonade geschlürft hatte, während er bei seinem Dad auf dem Schoß saß, den Profis beim Siegen zuschauen durfte. Alles hatte nach buttrigem Popcorn, mit Leidenschaft getragenen Fantrikots und kitzelnder Frühlingssonne gerochen. Alles war so gut gewesen...
 

Sein Dad hatte sich die Zeit für die Spiele immer genommen. Damals schien das kein Problem gewesen zu sein. In diesem Jahr hatte er Alfred nicht mal, wie es sonst eigentlich Tradition bei ihnen war, Eintrittskarten zum Geburtstag geschenkt...
 

Alfred musste blinzeln, als ihm der Gedanke hinterrücks aufs Gemüt schlug und es ihn mit einem Male wesentlich mehr Kraft kostete, sein Lachen am Leben zu erhalten.
 

„Und warum bist du jetzt hier?“ Die Finger noch immer um ihr Tagebuch geschlungen, sah ihn Anya ganz unverblümt an. Auf ihren Wangen glimmte noch etwas Röte nach, doch auf ihrem Gesicht hatte sich wieder ein feines Lächeln eingefunden. Es war nicht übermäßig fordernd, sondern engelsgleich. Durch und durch lieb, so als sei nichts weiter dabei. Als würde man halt jeden Tag gefragt werden, warum man in einer Klinik für Essstörungen gelandet war.
 

Eine leichte Übelkeit keimte in Alfred auf. Er hätte besser damit umgehen können, wenn Arthur ihn mit dieser Frage in die Ecke gedrängt hätte oder wenn sich Feliciano in seiner munteren Art danach erkundigt hätte. Irgendwas an Anyas Lächeln nahm ihn in den emotionalen Schwitzkasten und zerdrückte sein Herz...
 

„Warum ich hier bin?“, wiederholte er stockend die Frage und versuchte sich mit Hilfe eines unbewussten Schluckens zu sammeln. „Ach, nix Dramatisches! Hab ein bisschen viel zugenommen in letzter Zeit. Das muss halt wieder runter, ne?!“
 

Als Alfred realisierte, als einziger Anwesender zu lachen, verstummte er. Arthur betrachtete ihn unter hochgezogenen, buschigen Brauen. Felicianos Augen waren rund und nahmen einfach auf, was Alfred an Selbstdarstellungen bot. Die anderen im Kreis schauten teils skeptisch, teils verdutzt.
 

An Anyas Miene hatte sich rein gar nichts geändert; Alfred vermied deswegen den direkten Blickkontakt mit ihr. Zum Glück mischte sich nun Dr. Brussels wieder ein.

„Das war doch schon mal ganz gut bisher, Alfred. Nimm doch ruhig wieder Platz.“
 

Während der Blonde die Gelegenheit sofort ergriff, schnappte sich Dr. Brussels ihr Clipboard aus der blauen Kiste und setzte sich auf die Kante des Schreibtisches.

„Was denken denn die anderen über das, was Alfred uns gerade erzählt hat?“
 

Stille lagerte im Raum wie abgestandene Luft. War Reden hier also genauso unbeliebt wie während der Mahlzeiten? Alfred konzentrierte sich auf seine Füße, die in einem Paar Latschen steckten, das seine Mutter kurz vor der Abreise irgendwo aufgetrieben hatte und besser zu einem Wellness- und Spa-Wochenende gepasst hätte.
 

„Naja, ich glaube...“
 

Alfreds Blick schnellte nach links, wo das feine Stimmchen seinen Ursprung hatte.
 

„Nur zu, Lili, trau dich“, ermutigte Dr. Brussels die filigrane Blondine mit der schillernden Schleife im Haar. Diese wiederum nickte, wagte es aber dennoch nicht recht, das Kinn zu heben. Ihre Stimme glich mehr einem Flüstern, das nur mit höchster Anstrengung wahrgenommen werden konnte.

„Ich glaube, Alfred traut sich nicht, mit uns zu reden. Ich bin ja auch erst seit einer Woche hier und..und ich traue mich auch nie so wirklich, etwas zu sagen.“ Ihr gesamter Körper schien dem Versuch zu unterliegen, in den weiten Kleiderschichten verloren zu gehen. In den Ärmeln ihrer langen Strickjacke waren ihre nervös miteinander spielenden Finger zu erahnen.

„Deswegen hab ich in mein Tagebuch geschrieben...“
 

„Hast du das Gefühl, es hat dir geholfen, deine Gedanken und Gefühle aufzuschreiben?“
 

Lili nickte verschüchtert. Dr. Brussels wandte sich daraufhin an Alfred.

„Meinst du, dir könnte das auch helfen, Alfred? Du könntest ja versuchen aufzuschreiben, wie es für dich war, als deine Eltern und du beschlossen haben, dass du herkommen sollst?“
 

Unbewusst umklammerte der Gefragte sein neu erhaltenes Tagebuch fester.

„Ja klar, kann ich machen!“, sagte sein Mund, bevor sein Verstand ein Mitspracherecht einlegen konnte.
 

Dr. Brussels schien höchst zufrieden.

„Sehr schön! Lili, möchtest du uns denn vielleicht ein paar Zeilen aus deinem Tagebuch vorlesen? Du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Das weißt du ja.“
 

Trotz des letzten Satzes schien ein Schrecken durch das Mädchen zu fahren. Ihre Gesichtsfarbe wechselte von rot zu weiß und dann wieder zu rot zurück. Mit sich ringend, ließ sie schließlich eine Hand aus ihrem Ärmel gleiten und griff in die Tasche ihrer Strickjacke, um ihr Tagebuch hervorzuholen.
 

„Ich hab versucht aufzuschreiben, wann das bei mir mit dem Essen so schwierig wurde. Also zumindest, so weit ich mich erinner... Ich hoffe, es ist nicht zu lang geworden oder so, aber schreiben fällt mir irgendwie leichter als reden...“ Das Papier knisterte, als sie einige Seiten umblätterte und dann mit zitternder Stimme zu lesen begann:
 

„Meine Mama hat einen kleinen Laden, in dem sie selbst genähte Trachtenmode verkauft. Wir bekommen immer viele Aufträge rein. Besonders wenn die ganzen Oktoberfest-Feiern und Halloween anstehen. Meine Mama arbeitet dann häufig bis spät abends. Ich helfe ihr immer im Laden. Ich liebe die schönen Trachten und das Nähen und Sticken. Das hat mir schon als Kind riesigen Spaß gemacht.
 

Wir hatten früher noch eine Angestellte, aber sie hat letztes Jahr im Januar gekündigt, weil sie weggezogen ist. Meine Mama wollte jemand Neues einstellen, aber ich hab sie überredet, es nicht zu tun. Ich wollte ihr helfen, auch während der langen Sommerferien. Meine Mama hat auf mich gehört, aber dann kam der Sommer und ich bin gefallen und hab mir die rechte Hand gebrochen. Es war total schrecklich. Meine Mama stand plötzlich mit all den Aufträgen alleine da! Es tat mir so leid, dass ich ihr nicht helfen konnte... Jeden Tag hab ich gesehen, wie viele Stunden sie gearbeitet hat und ich konnte rein gar nichts ausrichten! Mein Bruder kann zwar auch nähen, aber wirklich nur das Gröbste und längst nicht so gut wie meine Mama oder ich. Außerdem hat er ja seine Stelle bei der Bank und da bleibt natürlich auch nicht viel Zeit nebenbei...
 

Ein paar Kunden waren sehr wütend, als meine Mama ihnen sagen musste, sie würde die Trachten nicht zeitig fertig stellen können... Das waren gute Kunden, die wir verloren haben, und das ist alles meine Schuld...

Ich hab jeden Tag Zuhause gesessen und zumindest versucht, irgendwie im Haushalt nützlich zu sein. Aber auch das war schwierig mit der gebrochenen Hand... Mir war in der Zeit gar nicht mehr nach Essen zumute, ich war immer nur traurig und böse auf mich. Ich hatte das Gefühl, meine Mama enttäuscht und im Stich gelassen zu haben. Wenn sie spät nachts endlich nach Hause kam, sah sie so müde und geschafft aus... Wenn ich ihr dann das Essen aufgewärmt hab, hab ich mich zwar zu ihr gesetzt, aber selber nie was gegessen. Ich hab mich geschämt und einfach nichts runter gekriegt! Mein Hals war wie zugeschnürt. Irgendwie dachte ich immer, es auch nicht mehr verdient zu haben...“
 

Lili musste pausieren, um gegen Tränen anzuschlucken.
 

„Und das Gefühl hab ich immer noch... Obwohl meine Hand mittlerweile verheilt ist, glaub ich, dass meine Mama total enttäuscht von mir ist, es aber nicht zugeben möchte. Immer, wenn ich jetzt was nähe, hab ich Angst, dass es nicht gut ist und dass ich da irgendwo einen Fehler gemacht haben könnte... Ich kontrolliere alles wieder und wieder, damit sich später kein Kunde beschwert.

Ich liebe das Nähen, aber..aber manchmal sitze ich vor dem Stoff und fange einfach an zu weinen, weil ich solche Angst habe, einen Fehler zu machen, der uns wieder Kundschaft kosten könnte...“
 

Mit einem heiseren Schniefen klappte Lili ihr Tagebuch zu und presste es an ihre Brust. So als sei es alles, was sie daran hinderte, in ihrem Schmerz unterzugehen.

„Wenn ich ans Essen denke, höre ich immer so eine Stimme in mir. Die sagt, dass ich doch nichts geleistet habe und dass ich nur Fehler mache und überhaupt, dass ich alles falsch mache und keinen Bissen wert bin...“
 

Alfred verspürte einen Kloß im Hals, indessen Lili sich eine Träne wegwischte. Der Stuhl, auf dem sie saß, wirkte unverhältnismäßig groß unter ihr. Dabei schätzte Alfred sie gar nicht so jung ein; sie war einfach nur unglaublich mager und in sich selbst eingestürzt.
 

Dr. Brussels griff schnell in die Plastikkiste und hielt Lili dann ein Taschentuch hin, welches von dieser dankend entgegen genommen wurde.

„Es war sehr mutig von dir, das mit uns zu teilen, Lili. Wirklich, wir sind alle stolz auf dich, nicht wahr?“
 

Aus der Runde drang einvernehmliche Zustimmung. Alfred wusste gar nicht, was er denken oder gar sagen sollte. Lili wirkte so zerbrechlich, so gläsern und trotzdem war sie gerade froh darüber, ein Stück ihres Kummers publik gemacht zu haben. Er selbst hingegen war schon allein rein äußerlich so viel breiter und robuster als sie, hatte es aber nicht mal gewagt, eine ernsthafte Vorstellung abzuliefern. War das nicht irgendwie eine schwache Leistung von ihm?
 

„Perfektionismus kann sehr schädlich sein. Man kann sich schnell darin verfangen“, setzte Dr. Brussels nun wieder an. „Dabei ist es menschlich. Jeder macht Fehler. Wenn wir aber zu große Angst davor haben, einen Fehler zu machen, dann kommen wir nicht vorwärts. Dann lähmt uns das.“
 

„Stimmt. Wenn alles immer perfekt sein muss, dann kann man sich auf nichts Anderes mehr konzentrieren und man ist niemals mit irgendwas zufrieden. Egal, was man macht...“
 

Alfred hob erstaunt den Blick, als er Arthurs nachdenkliche Aussage zur Kenntnis nahm. Der Blonde schlug gerade ein Bein über das andere und begradigte unbewusst seine Schultern, ehe er konzentriert weitersprach.

„Und man steckt seine ganze Energie darein, alles so perfekt wie nur möglich zu machen. Wenn das dann aber nicht klappt, bestraft man sich... Bevor ich hergekommen bin, war es bei mir zum Beispiel so, dass ich, wenn ich beim Lesen ins Stocken geraten bin, ich die ganze Seite noch mal lesen musste. Das war so ein richtiger Zwang bei mir. Dabei hat das ja niemand mitbekommen. Aber ich hatte immer die Befürchtung, dass es doch wer weiß und dann konnte ich eben nicht anders... Ich wollte nicht, dass jemand denkt, ich mache Fehler...“
 

Um ein Haar hätte Alfred sich gekniffen, nur um zu testen, ob er nicht noch schlief. War das wirklich Arthur gewesen, der hier von Fehlern und Perfektionismus sprach? Von seinen Fehlern und seinem Perfektionismus?

Alfred fiel es schwer zu glauben, dass der Junge, mit dem er sich ständig in die Wolle kriegte, hier so selbstreflektierende Äußerungen von sich gab. Wenn Alfred ehrlich war, hätte er gedacht, jemand wie Arthur biss sich lieber die Zunge ab, bevor er seinen Mitpatienten zu helfen versuchte, indem er eigene Erfahrungen offenbarte.
 

Davon ganz abgesehen, hatte Alfred Schwierigkeiten damit, nachzuvollziehen, warum jemand tatsächlich eine komplette Buchseite noch mal freiwillig las, nur weil er an einer Stelle gestockt hatte. Das machte doch keinen Sinn! Wie kam man bitte auf so was?
 

Und was Alfred ebenfalls brennend interessierte: wie schnell wurde man solche merkwürdigen Marotten wieder los? Wie lange war Arthur schon hier drin? Wie lange würde Lili bleiben müssen? Wann durfte er selbst mit seiner Entlassung rechnen?
 

„Ja, man will einfach keine Angriffsfläche bieten. Man will nicht, dass andere Leute einem anmerken, dass man fehlerhaft ist“, nahm ein Mädchen mit einem breiten Haarreifen die Unterhaltung auf. „Ich hab immer das Gefühl, alle sehen mich an und sehen nur, wie falsch mein Körper ist. Mein ganzer Körper ist ein einziger Fehler. Schon seit..seit, ich weiß nicht. Ich glaub, seit der 4. Klasse.“
 

„Möchtest du uns mehr darüber erzählen, Sofia?“, fragte Dr. Brussels, nachdem kurzes Schweigen eingetreten war. Das Mädchen verzog eher widerwillig den Mund und zuckte unbehaglich mit den Achseln. Alfred war es bisher gar nicht recht aufgefallen, aber sie hatte einen weiten Schal wie ein Tuch um ihre Schultern geschlungen, sodass ihr Oberkörper beinahe gänzlich unter dem Stoff verschwand. Von ihrer karierten Bluse lugten nur noch wenige Zipfel hervor.
 

„Ich war damals die erste in meiner Klasse, die..also bei der sich oben rum was getan hat. Alle anderen Mädchen waren noch so dünn und flach und bei mir war plötzlich so viel da. Ich weiß gar nicht, warum. Aber ich fand es total furchtbar! Alle Jungs haben mich ständig ausgelacht und mich gehänselt... Selbst meine Freundinnen haben angefangen, hinter meinem Rücken über mich zu lästern und sie haben mich gefragt, wie viele BHs ich denn schon habe. Solche Sachen halt...“
 

„Wie gemein!“ Das blonde Mädchen, welches zwischen Sofia und Anya saß, schlug mit der flachen Hand auf die Lehne ihres Holzstuhls. Das Geräusch ließ sämtliche Anwesenden aufschrecken.

„Du kannst doch nichts dafür, wie sich dein Körper entwickelt!“
 

„Nein, aber trotzdem... Ich fühl mich so unwohl in meinem Körper... Ich weiß noch genau, an einem Tag sind mir ein paar Jungs aus der Klasse auf dem Heimweg gefolgt. Es war Sommer und sie haben sich einen Spaß draus gemacht, hinter mir her zu laufen und durch mein T-Shirt an den Trägern meines BHs zu reißen. Ich hatte solche Angst... Ich war nur froh, als ich endlich Zuhause war. An dem Tag hab ich nichts mehr gegessen und nur noch Wasser getrunken. Und ich hab meiner Mutter gesagt, ich würde ab heute Diät machen... Ich wollte einfach nicht mehr so sein, wie ich bin. Ich wollte wieder so werden wie meine Freundinnen...“
 

Erneut breitete sich bedrücktes Schweigen im Raum aus. Sofia nagte an ihrer Unterlippe und hatte ihre Füße in den süßen Ballerinas fest nebeneinander auf den Fußboden gepresst. Eine Strähne ihrer kurzen Haare hatte sich auf merkwürdige Weise in ihrem Haarreif verdreht und stand nach oben hin ab. Wie auch immer sie das geschafft hatte...
 

Alfreds Augen tasteten ihre Proportionen ab, so weit er etwas von ihnen erkennen konnte. Sie war nicht so dürr wie Lili oder das Mädchen mit dem sachlich-strengen Gesicht neben ihr. Sie wirkte völlig normalgewichtig, mit wesentlich attraktiveren Rundungen. Selbst wenn Alfred sie nur erahnen konnte. Ein bisschen schämte er sich sogar dafür, jetzt darüber nachzudenken, wo er doch gerade gehört hatte, was für ein schwieriges Verhältnis Sofia zu ihrem Körper hatte...
 

„Sofia, hast du denn das Gefühl, dass du deinen Körper mittlerweile besser akzeptieren kannst als damals?“ Dr. Brussels sah von ihrem Clipboard auf, den Stift zwischen Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand balancierend.
 

„Ich mag ihn immer noch nicht... Ich hab so viel versucht, ich kämpf einfach schon so lange gegen ihn an. Ich hab eine Diät nach der anderen gemacht, aber ich hab nie lange durchgehalten. Irgendwann bin ich immer schwach geworden und hab einfach alles in mich reingestopft. Und dann kam vor drei Jahren das Erbrechen dazu...“ Deprimierter als vorher noch, sog Sofia ihre Unterlippe tiefer zwischen die Vorderzähne und unterdrückte ein Wimmern. Ihr wäre es wohl am liebsten gewesen, sich einfach in Luft aufzulösen. Selbst die bleiche Haut an ihrem Hals wirkte an den Stellen, die der Schal nicht verdeckte, wie von roten Stressflecken übersät.
 

Von Dr. Brussels kam ein Nicken, ehe sie sich etwas notierte und dann wieder in die Gruppe guckte.

„Aber du hast nicht mehr erbrochen, seit du bei uns bist, oder Sofia?“
 

„Nein...“
 

Tino, der zwei Plätze von Alfred entfernt saß, scharrte kurz mit den Füßen. Alfred konnte beobachten, wie er gleichzeitig mit dem rechten Zeigefinger in langsamen Kreisen über die Lehne seines Stuhls strich und den Mund felsenfest verschlossen hielt. Beinahe als hätte er Angst, ihm würde sonst etwas Unangebrachtes hinaus purzeln.
 

„Das ist gut, sehr gut sogar. Ich denke, viele – wenn nicht sogar alle von euch – fühlen sich in ihrem Körper unwohl.  Essstörungen haben viel mit dem eigenen Selbstwertgefühl zu tun und wie wir uns in unseren Körpern fühlen. Bestimmte Ereignisse und Gedanken können dafür sorgen, dass sich unsere Beziehung zum Leben und zu unserem Körper ändert und dass wir den Eindruck haben, an uns, an unserem Verhalten und an unserem Körper sei alles fehlerhaft. Dann möchten wir natürlich gerne etwas ändern. Vielleicht auch, weil ihr in einer Situation steckt, in der das einzige, was ihr ändern könnt, euer Erscheinungsbild ist.

Ihr seid alle hier, weil ihr auf die ein oder andere Art und Weise über eure Ernährung versucht habt, etwas für euch zu ändern. Aber wichtig ist, dass ihr versteht, euch nicht selbst bestrafen zu müssen. Euch nicht für alles die Schuld geben zu müssen. Ihr müsst lernen, dass auch ihr Fehler macht – das tut jeder, wirklich. Und wenn ihr einen Fehler macht, müsst ihr das akzeptieren und euch auch verzeihen können.“
 

Dr. Brussels ließ ihre Worte kurz auf die Runde wirken.
 

Alfred starrte, den rechten Fuß auf der Ferse hin und her drehend, aus dem Fenster, an dessen Scheibe sich die unerlässlichen Wasserfäden des Regens entlang schlängelten.

Er fühlte sich, tief in seinem Inneren, auch nicht mehr wohl mit sich selber. Warum das so war? Darüber wollte er gar nicht nachdenken. Er war schlicht und ergreifend überflüssig...

Das war ja nicht bloß ein Gefühl, was sich in ihn hinein gefressen hatte. Er wusste es ja mehr oder weniger, seit er seine Eltern vor knapp einem Jahr belauscht hatte. Er wusste, was sie sagten und dachten, wenn sie glaubten, er sei außer Hörweite.

Alles war gelogen.

Und offenbar hielten sie ihn für so dämlich, von all dem nichts mitzubekommen...
 

„Aber was ist, wenn es etwas gibt, das wir uns niemals verzeihen können?“ Wiederum war es Sofia, die sprach. Ihre Finger verstrickten sich dabei intensiver mit ihrem Schal. Doch ihr Blick wirkte leer. Alfred konnte wirklich nicht sagen, wo das Mädchen momentan in Gedanken war, doch anwesend schien sie nur noch in einem beschränkten Maße.
 

Auch der Rest der Runde schien in die eigene Gedankenwelt abzudriften. Arthurs Pupillen wirkten so spitz und konzentriert, als würden sie ein Loch in den Fußboden brennen. Tinos Finger hatte aufgehört, den ewigen Kreis auf der Lehne zu zeichnen. Die streng dreinschauende Blondine neben Sofia schluckte sichtbar betroffen und Anyas Lächeln wirkte müde und abgetragen. Selbst Feliciano, der zwar in einer Variante des Schneidersitzes saß, diese aber ständig abänderte, wirkte kurzzeitig wie eingefroren und rührte sich nicht mehr.
 

„Lasst uns doch ein paar positive Gedanken sammeln“, intervenierte Dr. Brussels, um das Klima zu verbessern. „Da fällt sicher jedem von euch etwas ein. Was sollten wir uns selber sagen, wenn wir Zweifel haben? Oder wenn wir Angst haben, einen Fehler zu machen? Wenn wir befürchten, nicht gut genug zu sein und uns bestimmte Dinge nicht vergeben zu können?“
 

Obwohl nun reihum jeder einen positiven Gedanken zu finden und zu formulieren versuchte, beschlich Alfred das Gefühl, all die negativen Emotionen hätten sich wie eine Schlinge um seinen Hals gelegt und würden ihn ersticken. Er wusste nicht mal, wofür er sich die Mühe machte, sich etwas auszudenken. Kein Wort und kein Satz machte ihn zufriedener oder gar glücklicher, unabhängig davon, wie satt sein Lächeln ausfiel, als er an der Reihe war.
 

Alles war gelogen.
 

Alles.

{ 07. | Nobody’s Home }

Das Telefon war besetzt, wie Alfred mit einem trüben Blick den Flur entlang feststellte. Es gab auf der Station genau einen Münzapparat, der am Ende des Gangs lag. Die Tür davor war aus dickem Milchglas gefertigt, sodass man, wenn jemand in der kleinen Wandzelle stand und telefonierte, immer eine verschwommene Silhouette erkannte. Der Silhouette nach zu urteilen, handelte es sich um die kühle Blondine, die vorhin keinen Hehl daraus gemacht hatte, laut auf ihre Stuhllehne zu hauen. Sie hatte offenbar eine ganze Menge zu bereden...
 

Dabei hatte Alfred höchst intensiv mit dem Gedanken gespielt, Zuhause durchzuklingeln. Weil er aber schon zum zweiten Mal Pech hatte, verwarf er notgedrungen das Vorhaben, obwohl er sich bereits Sätze im Kopf zurecht gelegt hatte. Er musste hier raus – und das nicht erst morgen, sondern am besten heute noch!

Die Gruppentherapie hatte ihn nicht nur völlig runtergerissen, sondern total deprimiert. Sich jemals selbst im Kreise dieser Menschen zu offenbaren, war für ihn undenkbar. Er wusste beim besten Willen nicht, was er in sein Tagebuch schreiben und wie er das, was er nicht zu schreiben fähig war, morgen mit dem Rest der Patienten teilen sollte. Fakt war, er fühlte sich jetzt wesentlich schlechter als vor seiner Einweisung. Das konnte doch nicht Sinn und Zweck des Ganzen sein?!
 

Feliciano war einem auch keine besonders große Hilfe heute. Den Nachmittagssnack hatte er unliebsam mit der Gabel in so viele Einzelteile zerlegt, dass von seinem Schweineohr nur noch Brösel übrig waren. Selbst die hätte Alfred ihm noch ohne mit der Wimper zu zucken vom Teller geleckt, denn anstelle eines Schweineohrs hatte er nur ein Schälchen mit Götterspeise bekommen, die nach nichts weiter als Süßstoff schmeckte.
 

Mit dem Löffel hatte Alfred etwas von der grünen Masse vor sein Gesicht gehoben und durch leichte Bewegungen hin und her wackeln lassen. Das Ganze hatte er ungefähr fünf Mal wiederholt, nur um zu testen, ob Arthur ihn nicht irgendwann zurechtweisen würde, weil er mit dem Essen spielte. Aber Arthur war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Er sah nicht mal nach draußen, sondern versuchte das Schweineohr zu bezwingen, ohne Brechreiz zu bekommen. Alfred hatte ihn ja schon das ein oder andere mal appetitlos erlebt, doch das war rein gar nichts gewesen im Vergleich zu vorhin. Die Therapiestunde schien ihm, ebenso wie vielen anderen, schwer im Magen zu liegen...
 

Sich auf dem Flur herumwendend, fuhr sich Alfred durchs Haar. Er sollte wirklich so bald wie möglich seine Eltern anrufen und ihnen begreiflich machen, dass es ihm hier drin nicht besser, sondern markant schlechter ging! Das würde sie hoffentlich genug aufregen (immerhin kostete die Klinik einen Batzen Geld!), um ihn schnellstmöglich hier weg zu holen.

Vorerst sollte er sich aber die Finger waschen. Unter mindestens zwei Nägeln konnte er die grün schimmernden Reste von getrockneter Götterspeise erkennen, von der er nicht wusste, wie sie dorthin gekommen war.
 

Mit einem Seufzen ging er die paar Schritte zum Raum mit den Duschen und Waschbecken hinüber, stieß die Tür auf und blieb abrupt stehen. Einer der Wasserhähne war bis zum Anschlag aufgedreht. Laut strömte das Nass ins Becken und lief dabei über Arthurs Hände und Arme. Sein Hemd war bis zu den Ellbogen hochgekrempelt und seine Haut mit lauter Seifenbläschen übersäht. In exzessiven Bewegungen schrubbte er als ginge es um sein Leben und schien für geschätzte fünf Sekunden auch gar nicht zu bemerken, dass jemand den Raum betreten hatte. Es war wie heute in der Gruppentherapie: seine Augen waren starr und so voller Konzentration, als würden sie erbarmungslos alles niederbrennen, was ihnen in die Quere kam.
 

Alfred wusste nicht, was Arthur da tat, aber er wusste eines: es war kein normales Händewaschen.
 

Ganz so als höre Arthur den Gedanken, blickte er plötzlich auf. Seine rechte Hand schnellte zum Hahn und drehte diesen zu. Anstatt etwas zu sagen, schüttelte er jedoch nur Wasserperlen von seinen Fingern und griff dann zum Handtuch.
 

Im Raum lag ein Film leicht feuchter Hitze. Das Wasser war heiß gewesen. Nicht kochendheiß, aber heiß genug, um Arthurs von Natur aus bleiche Haut gerötet zu hinterlassen.
 

Fahrig rollte dieser nun seine Hemdärmel wieder hinunter. Alfred fiel immer noch nichts ein, zumal sich unmittelbar hinter ihm die Türe erneut öffnete und Tino in den Raum platzte.

„Äh...?!“ Sein Blick rutschte von Alfred zu Arthur hinüber. Seine Hände hielt er seltsam verschränkt über dem Bauch, wo sich der Stoff seines Kapuzenpullovers auf eigenartige Weise wölbte.
 

„Was..was macht ihr denn hier?“ Mit nervösen Schritten trat Tino weiter in den Raum hinein, schien aber nicht zu wissen, wo er sich lassen sollte. Dass er in die missliche Lage geraten war, Alfred im Rücken und Arthur vor sich zu haben, schien er erst jetzt zu realisieren.
 

Arthur, der soeben den letzten Knopf an seinem linken Hemdärmel geschlossen hatte, sah ihn abschätzend an.

„Hände waschen. Ist doch wohl nicht verboten!“
 

Alfred war drauf und dran zu widersprechen, aber er musste die Nase rümpfen. Der Geruch, den er plötzlich witterte, war sauer und vergoren.

„Öh, riecht ihr das auch? Wo kommt das denn jetzt her?“
 

Arthur zog eine angewiderte Grimasse.

„Ich kann dir genau sagen, wo das herkommt!“ Sein Blick schien Tino zu durchbohren.
 

Alfred verstand nicht. Tino indes schluckte hörbar und intensivierte seine seltsame Körperhaltung.

„Ich konnte einfach nicht anders!“
 

„Doch nicht etwa wieder in Socken?!“ Arthurs Gesicht hatte den gröbsten Ekel abgelegt, wofür Alfred wiederum kein Verständnis hatte. Der Geruch schien seiner Ansicht nach immer schlimmer zu werden und erinnerte ihn ganz klar an eines: Kotze!
 

„Nein...“ Den Kopf schüttelnd, fummelte Tino nervös an seinem Pullover und förderte darunter ein weiteres Stück Stoff hervor. Der Geruch verstärkte sich gleich noch um ein Vielfaches und drängte Alfred so weit zurück, dass er sogar die solide Tür im Rücken spürte.
 

„Es ist mein Kissenbezug“, murmelte Tino und ließ das zig mal um sich selbst gewickelte und gedrehte Stoffstück in eines der Waschbecken plumpsen. Der ursprünglich weiße Bezug war ein bräunliches Fiasko, das zum Himmel stank.
 

„Du hast in deinen Kissenbezug gekotzt?!“, Alfred merkte gar nicht, wie laut seine Stimme ausschlug. Es war die bodenlose Fassungslosigkeit, die aus ihm sprach.
 

„Pssst!“, herrschte Tino ihn an. „Ihr behaltet das für euch! Klar?!“

Ohne auf eine Zustimmung zu warten, drehte Tino das Wasser auf und begann, den Bezug auseinander zu falten. Alfred musste sich die Hand über Mund und Nase halten; wegschauen konnte er aus einem ihm unerfindlichen Grund nicht.
 

In dem Bezug waren nicht viele feste Nahrungsreste auszumachen. Eher schien es sich um einen schleimigen Brei zu handeln. Das passierte also, wenn man nach dem Essen zu lange wartete... Alfred hatte bis zu diesem Zeitpunkt nie darüber nachgedacht. Wenn er zu viel gefressen hatte, hatte er sein Essen sehr schnell wieder gesehen und gut gekaut gewesen war es in der Regel nicht. Seine eigene Kotze hatte er auch nie als so widerwärtig empfunden wie die anderer Leute. Sie beruhigte ihn immer auf eine für ihn schwer zu beschreibende Art. Wenn er sein Erbrochenes sah, fühlte er sich gewissermaßen befreit. Einerseits, weil sein Magen nicht mehr so spannte und andererseits, weil seine Gedanken durchs Übergeben leichter wurden. Sein Kopf fühlte sich angenehm leer an, beinahe sorglos, wenn auch nur für kurze Zeit. Ob Tino etwas Ähnliches empfand? Im Moment wohl eher nicht, doch das dürfte an Arthur liegen.
 

Einen dezenten Abstand zu Tino einnehmend, änderte dieser nämlich rein gar nichts an seiner strikten Haltung.

„Wir sollen das für uns behalten?! Wie stellst du dir das vor?“
 

Tino blitzte ihn wütend an, während er Seife aus dem Spender pumpte, um damit sein Kissen zu reinigen.

„Indem du einfach den Mund hältst?! Es ist doch eh kaum was gewesen!“
 

„Alfred und ich müssen das melden.“
 

„Ihr müsst gar nichts!“
 

„Doch, müssen wir.“ Arthur schien sich nicht mal besonders aufzuregen, während Alfred sein Herz bis zum Hals schlagen spürte. Was zum Teufel passierte hier gerade?
 

„Als ob! Ich finde, gerade du solltest dich nicht so weit aus dem Fenster lehnen, Arthur! Wer hat sich denn still und heimlich mit Feliciano zusammen fast umgebracht? Hm?! Das warst doch du! Meinst du, mir hat keiner erzählt, was passiert ist, als ihr zwei euch ein Zimmer geteilt habt?!“
 

Wassertropfen flogen wild durch die Gegend, als Tino gestikulierte. Einige klatschten sogar auf Arthurs Gesicht und liefen dann seine kreidebleich gewordenen Wangen herab.
 

Alfred brachte noch immer keinen Ton heraus, so verstört war er von dieser hasserfüllten Atmosphäre. Selbst Arthur schien betroffen von Tinos unermesslichem Ärger und schwieg. Dabei hatte Tino auf Alfred gar nicht den Eindruck erweckt, so schrecklich zornig werden zu können. Bei der Gruppentherapie war er recht still und in sich gekehrt gewesen. Selbst beim Sport jammerte er nur, wenn Mathias es garantiert nicht hörte.
 

„Das-!“, setzte Arthur nach sichtbarem Schlucken zu einer Antwort an, als Alfred eine ruckartige Bewegung verspürte. Die Türe hinter ihm wurde erneut geöffnet und Josh schob sich in den Raum.

„Jungs, was ist denn hier los?“ Sein Blick sprang von einem Anwesenden zum nächsten und landete dann bei dem bedauernswerten und völlig durchnässten Stoff im Waschbecken. Die Nase kraus ziehend, schritt Josh zum Becken hinüber und drehte den Hahn zu.

„Ist es das, wovon ich denke, dass es das ist?“
 

Mit einem mal knallrot werdend, schüttelte Tino lediglich den Kopf. Arthur wischte sich derweil mit dem Handrücken ausgiebig über die Wange. Nebenbei sortierte er seine Gesichtszüge neu, zog sie stramm und passte sie seinem verkniffenen Mund an.
 

„Tino, ist das dein..Kissenbezug?“ Selbst dem Betreuer schien es für einen Augenblick die Sprache zu verschlagen.
 

„Nein!“
 

Arthur stöhnte entnervt ob der offensichtlichen Lüge.
 

„Ich denke aber schon, dass das deiner ist. Oder muss ich mit dir in dein Zimmer gehen und nachgucken, ob dein Kopfkissen bezogen ist?“
 

„Ihr versteht das alle nicht...“ Der Zorn schien sich wieder tief in Tino verkrochen zu haben. Jetzt klang er nur mehr jämmerlich. Seine pitschnassen Hände hingen schlaff neben seinem Körper herab. Auf dem Boden rechts und links neben ihm bildeten sich dunkle Flecken auf den Fliesen.
 

„Tino, wir werden jetzt deinen Kissenbezug einpacken und dann werde ich dich zu Dr. Brussels bringen.“
 

Noch während Josh sprach, schüttelte der kleine Blonde vehement den Kopf. Alfred glaubte sogar, Tino leicht zittern zu sehen. Aber was war nur los mit dem Jungen, dass er in einen Kissenbezug – und, wenn man Arthur richtig verstanden hatte, auch schon in Socken! – gekotzt hatte?
 

„Arthur, Alfred? Geht ihr bitte vorne bei Nancy eine Plastiktüte holen?“, beauftragte Josh die beiden Jungen.
 

„Sicher.“ Nickend schritt Arthur aus dem Raum, dicht gefolgt von einem höchst konfusen Alfred.
 

„Macht er das öfter?“, fragte Alfred frei heraus. Doch allem Anschein nach hatte Arthur keine Lust auf eine Unterhaltung und lief einfach schweigend zum Schwesternzimmer hinüber.
 

„Josh braucht eine Plastiktüte, Nancy.“
 

„Oh...“, machte die Schwester, schien aber sogleich zu verstehen und rollte auf ihrem Drehstuhl zu einem der Schränke hinüber. Einen Griff später händigte sie Arthur die Tüte aus.
 

„Du brauchst nicht wieder mitkommen.“
 

„Wieso nicht?“ Alfred kam sich wie ein dummer Hund vor, der immer nur hinterher hechelte, ohne zu wissen, was genau vor sich ging oder wohin man ihn führte. Dass Arthur weiterhin strikt geradeaus schaute, gab ihm keinerlei Anhaltspunkte. Es machte ihn nur ungeduldig.

„Ich war doch gerade auch dabei!“, zankte Alfred kurzentschlossen weiter.
 

Arthur stoppte daraufhin unerwartet vor der Tür des Duschraums und stach Alfred mit der blanken Wahrheit mitten ins Herz.

„Ja, aber es hat doch wohl seine Gründe, dass du nach dem Essen deine 30 Minuten absitzen musst! Vielleicht ist es also nicht so gut, wenn du dir auch noch die Tricks und die Kotze anderer Leute ansiehst!“
 

Die Tür fiel mit einem leisen Klacken hinter Arthur zu. In Alfreds Ohren surrte das Licht der Halogenleuchte über seinem Kopf bestialisch laut, so als residiere ein ganzer Schwarm Wespen dort oben.
 

Hatte Arthur ihm gerade allen Ernstes unterstellt, von Tinos Verhalten zum Erbrechen animiert zu werden?
 

Unkontrolliert schnellte Alfreds Blick wieder zum Telefon hinüber. Er musste hier raus. Er musste wirklich ganz, ganz dringend hier raus!
 

Der Satz hallte wie das entfernte Grollen eines Gewitters durchs Alfreds Bewusstsein, als er die Milchglastür mit einem heftigen Ruck aufriss und hastig das benötigte Kleingeld aus seiner Hosentasche fummelte. Den Hörer umständlich umklammernd, wählte er die ihm bekannte Nummer und vernahm gleich darauf ein hohles Tuten.
 

Tut
 

Wie spät war es jetzt eigentlich genau? War überhaupt jemand da?
 

Tut
 

Jemand musste da sein! Seine Mutter, sein Vater – egal wer! Einer von beiden musste herkommen und ihn sofort mit nach Hause nehmen, bevor Arthur ihn noch mehr bevormundete und bevor die Gruppentherapie anfing, alle hässlichen Details aus Alfreds Privatleben ans Tageslicht zu zerren.
 

Tut
 

Aber es ging keiner ran...
 

Wie auch? Sein Vater war garantiert wieder nach Kanada geflogen und seine Mutter machte Überstunden. Jeder von ihnen lebte sein eigenes Leben, in dem schlicht kein Platz für das Kind übrig war, für das sie sich vor etwas mehr als 16 Jahren entschieden hatten...
 

Tut
 

Es gab niemanden, der Alfred abholen und retten wollte. In dem Moment, als der Anrufbeantworter ansprang, realisierte Alfred, sein eigener Held sein zu müssen. Und wenn er das, wie viel zu oft, nicht sein konnte, dann war er halt verloren...
 

„Hallo, hier ist der Anschluss der Familie Jones. Wir sind gerade nicht Zuhause, aber wenn Sie eine Nachricht hinterlassen, rufen wir gerne zurück!“
 

Das Piepsen schnitt Alfred ins Trommelfell. Sein Mund klappte auf, doch es kam kein Laut heraus. Keine Silbe und erst recht kein Wort. Seine Eltern hatten ihn hier abgeladen und damit das letzte Bindeglied zwischen sich aus dem Weg geräumt. Sie waren keine Familie mehr.
 

Die Erkenntnis, dass es nichts mehr gab, wohin Alfred jemals zurückkehren konnte, ließ ihn so lange in den Hörer lauschen, bis das schrille Piepsen ein weiteres Mal ertönte.

Seine Zeit war um.

Es war niemand da.

Das Zuhause, von dem er sich Rettung ersehnte, existierte nicht. Es hatte eigentlich nie existiert. Er hatte es nur nicht wahrhaben wollen.

{ 08. | Die Kunst zu überleben }

Alfred hatte einige Zeit gebraucht, um sich aus der kleinen Telefonzelle zu schleppen. Die Knochen schwer, das Herz wie aus zertrümmertem Glas, hatte er den Münzapparat noch eine gefühlte Ewigkeit angestarrt, ohne einen weiteren Anrufversuch zu tätigen. Etwas in ihm sagte, es sei vergebens...
 

Warum konnte er jetzt nicht daheim sein? Dann könnte er den Abend zumindest annähernd genießbar gestalten, beim Pizzaservice an der Ecke anrufen, sich etwas bringen lassen und sich dann mit zwei Pizzas und jede Menge Cola vor den Computer verziehen. Oder er könnte den Wagen nehmen und von Drive-in zu Drive-in fahren. So wie er es schon an so einigen Abenden gemacht hatte. Nur dass diese Abende dann oftmals damit endeten, dass er weitaus mehr erbrach als er da vorhin in dem Kissenbezug entdeckt hatte.

Tino hatte wirklich ein massives Problem, wie es schien. Dass Alfred gerade genau den gleichen Drang verspürte, versuchte er vor sich selbst runter zu spielen. Er war nur hungrig, er war nur enttäuscht, er war nur traurig – und eigentlich war doch alles halb so schlimm, nicht wahr? Dann war er halt alleine, na und? Dann musste er eben zusehen, die Dinge selbst in den Griff zu bekommen. Wo war das Problem? Er lebte – unabhängig davon, ob seinen Eltern das in den Kram passte und unabhängig davon, dass sie ihn nach Strich und Faden belogen.
 

Sich gegen die Milchglastür stemmend, drückte Alfred sie schwerfällig auf. Wenn er doch nur keinen Hunger hätte. Wenn er doch nur woanders wäre. Wenn er sich doch nur nicht beim Erbrechen hätte erwischen lassen. Doch ihm Idioten war es gleich zwei Mal passiert und jedes Mal hatte er die Konsequenzen zu spüren bekommen. Wieso war er nur so dämlich gewesen? Wieso hatte er nicht besser aufgepasst?
 

„Alfred? Sag mal, was machst du denn noch hier?“
 

Verwundert blinzelte der Angesprochene, als er seinen Namen hörte. Nancy lugte vom Schwesternzimmer aus in seine Richtung.

„Die Kunsttherapie hat schon vor fünf Minuten angefangen!“ Mahnend deutete sie auf die weiße, runde Plastikuhr im Flur, deren schwarze Zeiger 16:20 Uhr anzeigten.
 

Dass er zur Kunsttherapie musste, hatte Alfred in seinem Telefonzellenkontinuum völlig vergessen.

„Oh, da hab ich irgendwie nicht dran gedacht! Sorry!“ Sich nervös durchs Haar fahrend, blickte er sich auf dem sonst leeren Flur um.
 

Nancy seufzte hörbar und kam dann auf ihn zu. Die Miene tadelnd wie die einer Großmutter, die ihren Enkel dabei erwischt hatte, voreilig alle 24 Türchen des Adventskalenders aufgemacht zu haben.

„Nicht dran gedacht? Das kannst du Herrn Fernández Carriedo gleich selber erzählen. Na komm, ich bring dich hin. Dass der Mann aber auch nie in seine Unterlagen schaut! Sonst wäre ihm doch sofort aufgefallen, dass du fehlst!“
 

Alfred fand es jetzt eher weniger dramatisch, dass er sage und schreibe fünf Minuten der Kunsttherapie verpasst hatte. Abgesehen von seinen Modellflugzeugen, beschäftigte er sich eher weniger mit Kunst. Er mochte zwar den Kunstunterricht relativ gerne, aber das lag in erster Linie daran, dass es an seiner Schule der einzige Unterricht war, in dem gegessen, getrunken und Musik gehört werden durfte (natürlich nur, wenn sein vom Impressionismus begeisterter Lehrer gerade keine schlauen Reden hielt).
 

Schwester Nancy voran, verließen sie die Station und liefen über einen der Flure, der Alfred noch von seinem Weg zum Sport bekannt war. Bloß dass sie dieses Mal wesentlich früher rechts abbogen und Schwester Nancy entschlossen an einer Türe klopfte, ehe sie diese öffnete. Auf eine Erlaubnis wartete sie gar nicht erst. Stattdessen schob sie Alfred an der Schulter in den langen Raum, in dem schon sämtliche Patienten versammelt waren.
 

„Du hast unseren Neuzugang vergessen, Antonio!“ Die starke Hand ließ von Alfreds Schulter ab und gewährte ihm die Freiheit, weitere Schritte in den Raum hinein zu machen. Große Holztische standen dort zu Gruppen zusammen geschoben und boten mehr als genug Platz für die diversen künstlerischen Aktivitäten. Der Geruch von schwerem Zeichenpapier, Kleber und Ölfarbe lag in der Luft. Alle schienen bereits an irgendetwas zu arbeiten und sahen deswegen nur kurz auf.
 

„Ve~? Da ist Alfred ja!“ Hinter einer Leinwand tauchte Felicianos Gesicht auf. Die braunen, sonst ins Gesicht fallenden Haare hatte er bestmöglich hinter die Ohren geschoben. In der rechten Hand hielt er einen Pinsel, in der linken eine Farbpalette. Neben ihm stand ein leger gekleideter Mann, der wohl bis gerade Felicianos Arbeit begutachtet hatte und jetzt schnell auf Alfred zukam.

„Ach Mist, ich wusste doch, da war noch was! Neuzugang! Ich hätt’s mir doch denken können. Danke, Nancy!“
 

„Kein Problem.“ Mit einer abwinkenden Geste entfernte sich die Schwester wieder und zog die Türe hinter sich zu. Alfreds Interesse galt den verschiedenen, an den Wänden aufgehängten Kunstwerken. Dort waren Bilder, Zeichnungen, Collagen, Fotoserien und Basteleien in sämtlichen Größen angebracht. Es erdrückte ihn fast. Um jeder Arbeit gerecht zu werden, müsste er sich wohl einen ganzen Nachmittag Zeit nehmen und die langen Wände abgrasen. Doch spontan war ihm zu schwindelig dazu.
 

„Wie war noch gleich dein Name? Alfred? Hab ich das richtig verstanden?“
 

„Jo!“ Insgeheim hielt der Blonde Ausschau nach Tino, konnte diesen aber nirgends entdecken. Dafür landete sein Blick nun wieder auf Antonio, dessen dunkelbraunes Haar nach zu viel wildem Spätsommerwind und zu wenig Gel aussah.

„Gut, Alfred, dann herzlich willkommen in meinem kleinen Reich! Du magst doch Kunst, oder?“
 

„Total! Ich liebe Kunst!“
 

„Super!“ Antonio war der erste Mensch in dieser Klinik, an dem Alfreds Enthusiasmus nicht wie ein schmieriger Ölfilm hinab glitt. Vielmehr schien er ihn dankend entgegen zu nehmen und deutete Alfred, ihm zu folgen. Entlang der Tischgruppen durchquerten sie den Raum, in dem sich hier und dort leise unterhalten wurde.
 

„Malst du denn gerne? Oder machst du lieber Handarbeiten oder..?“
 

„Äh, also ich bau Modelle. So Flugzeugmodelle aus Baukästen. Ja, das find ich ziemlich cool.“ Nicht, dass es so cool wäre, dass Alfred damit in der Schule hausierte. Aber hier befürchtete er nicht, deswegen dem anhaltenden Spott seiner Mitpatienten ausgesetzt zu sein.
 

Antonio nickte zufrieden. Die leichte, helle Reißverschlussjacke, die er über seinem Printshirt trug, war geöffnet. Seine Füße steckten in Sandalen. Entweder war er wetterresistent oder hatte sich spontan aus dem Urlaub hier her gebeamt. Falls letzteres der Fall war, wünschte sich Alfred, nachher bitte mit nach draußen gebeamt zu werden. Den Gefallen konnte man ihm doch tun, oder?
 

„So...“ Antonio öffnete die Tür zu einem Nebenraum, den Alfred glatt übersehen hätte, da die Tür – genau wie die Wand – mit lauter Bildern zugekleistert war.

„Das ist der Materialraum. Alles, was nicht im Hauptraum steht, findest du hier. Also weitere Leinwände, Zeichenblöcke, jede Menge zusätzliche Pinsel und Farben und so weiter. Falls du etwas nicht finden solltest, frag mich einfach. Ich weiß, dass es auf den ersten Blick etwas unübersichtlich ist.“
 

Antonio lachte kurz, während Alfred den Blick über das Chaos schweifen ließ. Den Raum als unübersichtlich zu bezeichnen, war purer Euphemismus. Es glich mehr einem Material-Mikado: Alfred befürchtete, wenn er irgendwo etwas raus zog oder wegnahm, würde alles andere unaufhaltsam hinterher stürzen. Selbst sein Zimmer war im Gegensatz hierzu aufgeräumt! Und das sollte ja schon was heißen...
 

„Es ist so, dass alle Neuzugänge bei uns erst mal eine Collage anfertigen. Dazu kriegst du eine Pappe von mir...“ Sich in die Tiefen des Materialdschungels wagend, ächzte Antonio und zauberte dann zu Alfreds Überraschung eine unversehrte Pappe im Din3A Format hervor, die er ihm auch sogleich in die Hände drückte.

„Das Thema deiner Collage bist du selbst. Also bitte recht freundlich.“
 

Alfred wusste nicht, woher Antonio plötzlich die Polaroidkamera hatte. Er musste sie beim Fang der Pappbeute aus dem Dschungel mitgebracht haben und hielt sie nun bereitwillig fest, um Alfred abzulichten.
 

„Die haben doch hier schon Fotos von mir gemacht“, merkte Alfred verwirrt an, weil sie ihn tatsächlich erst am Vortag bei seiner Einlieferung fotografiert hatten. Da allerdings nur in Unterwäsche, was deutlich unangenehmer war, zumal er den Zweck dahinter nicht verstand.
 

„Du meinst die Fotos für deine Akte? Ja, aber ich glaub nicht, dass man da deine Schokoladenseite eingefangen hat. Also, sag cheese!“
 

Schokoladenseite? Ein seltendämliches Grinsen stahl sich auf Alfreds Gesicht, dann hörte er auch schon den Auslöser der Kamera, ehe diese das Foto ausspuckte. Es an sich nehmend, wedelte Antonio einmal kurz damit durch die Luft und betrachtete es dann prüfend.

„Perfekt! Wie ein Honigkuchenpferd! Ich denke, das können wir nehmen. Oder was meinst du?“

Das Bild herumdrehend, ermöglichte er es Alfred, es anzusehen. Dessen Grinsen verlor schlagartig an Spannkraft. Das war nicht wirklich er, oder? Irgendwie kam ihm sein Gesicht zu rund, zu teigig vor. Das Grinsen schien die Backen richtig aufzuplustern. War er denn ein Hamster? Oder sah er wirklich immer so aus? Seine Augen wirkten so klein wie Knöpfe und das Licht machte ihn unnatürlich blass. Er hatte selten in den Spiegel gesehen und schlechter ausgeschaut. Mit dem Jungen, der letzten Herbst mit dem Rest des Baseballteams triumphierend posiert hatte, hatte der Junge auf dem Polaroid wenig gemeinsam...
 

„Nur nicht so schüchtern! Nun nimm schon!“
 

Notgedrungen kam Alfred der Aufforderung nach. Jetzt, wo er eine riesige Pappe und ein dummes Foto von sich hatte, konnte die Arbeit wohl beginnen. Antonio deutete auf den Tisch vorne bei der Staffelei, auf der die Leinwand stand, an der Feliciano arbeitete.

„Ich würd’ sagen, da kannst du dich breit machen! Äh, also breit machen im Sinne von hinsetzen und dich mit dem Material ausbreiten. Nicht breit machen weil du...na du weißt schon.“
 

Weil er zu breit – pardon: zu fett! – war!? Wollte Antonio das damit sagen? Hatte der Mann einen Sack schlechte Witze gefrühstückt oder was sollte das hier?
 

Alfred lächelte tapfer weiter, die Zähne schmerzhaft aufeinander gepresst, als er sich umdrehte und den Tisch anpeilte. Eine Collage, auf der dieses hässliche Foto von ihm klebte, wollte er im Leben nicht machen. Am besten er übermalte sich einfach oder klebte was auf sich drauf. Problem gelöst!
 

Woran arbeitete Feliciano eigentlich? Sein Zeug auf den Tisch legend, umrundete Alfred die Leinwand, um das Motiv in Augenschein nehmen zu können. Doch kaum tat er dies, blieb ihm glatt die Luft weg.

„Woah...! Das-das hast du gemalt?!“ Auge in Auge mit Felicianos Talent fehlten Alfred die Worte. Auf der Leinwand erstreckte sich ein unvollständiger Küstenstreifen. Die Sonne stand wie eine alles mit goldenem Licht übergießende Quelle am Himmel und verlor sich am Horizont. Die kleinen Häuser, die angedeuteten Hügel, Berge und Bäume – es sah aus wie eine Postkarte oder ein Foto aus einem mediterranen Reisekatalog. Es war einfach unglaublich!
 

„Ja, ve~“, kam es kleinlaut von Feliciano, der auf einem Holzstuhl saß und sich mit der Hand, die den Pinsel hielt, nach vorn gerutschte Haare aus der Stirn strich.
 

„Wahnsinn! Ich mein, wie krass ist das denn? Hattest du dafür ’ne Vorlage?!“ Näher an die Leinwand tretend, beugte sich Alfred vorsichtig vor und hob die rechte Hand. Auf Felicianos Farbpalette waren dunkle Farben angemischt, deswegen berührte Alfred mit seinem Zeigefinger die hellgelbe Ölfarbe auf der Leinwand. Nur um zu überprüfen, ob sie tatsächlich da war und er nicht bereits unter Halluzinationen litt, weil man sein Essen so stark rationierte.
 

Von Feliciano kam ein hohes Quieken. Gleichzeitig spürte Alfred etwas Feuchtes an der Fingerkuppe, was sich schnell als frische Farbe entpuppte.

„Oh, sorry! Ich dachte, die wär schon trocken!“ Entschuldigend trat er von dem Bild zurück und starrte auf seinen sichtbaren Fingerabdruck in der Farbe.
 

„Nein, Ölfarbe braucht relativ lang zum Trocknen, aber ich krieg das schon wieder hin“, beruhigte ihn Feliciano, griff nach zwei kleinen Farbtuben auf dem Tisch und stand gleich darauf vor der betroffenen Stelle.
 

Beschämt putzte Alfred seinen schmutzigen Finger im Inneren seiner Hosentasche ab und hoffte, dass sonst niemand etwas von dem Zwischenfall mitbekommen hatte. Nicht, dass plötzlich Arthur aufkreuzte und ihn schon wieder zusammenstauchte...

Doch Arthur saß so ziemlich am anderen Ende des Raumes neben Lili und schien irgendwas Handarbeitliches zu tun. Stickten die beiden etwa? Den Hals reckend, versuchte Alfred mehr zu erkennen, allerdings näherte sich in dem Augenblick Antonio wieder dem Tisch. In den Händen hielt er einen hohen Stapel Zeitschriften.
 

„Falls du für deine Collage was ausschneiden möchtest...“ Informierend stellte er den Stapel auf dem Tisch ab und zeigte dann auf das hölzerne Regal neben der Eingangstüre. „Da vorne findest du auch Scheren, Farben, Kleber und all so was. Und, wie gesagt, falls du was vermisst, frag mich einfach oder schau im Materialraum nach.“
 

„Jo, danke!“ Es würde wohl nicht so schwierig werden, eine lächerliche Collage zusammen zu basteln. Alfred schnappte sich die ersten paar Zeitschriften, als ihm auffiel, dass Antonio sich auf den Stuhl ihm gegenüber setzte und munter dreinschaute.

„Was die Scheren angeht und die Nähnadeln und auch alles andere, womit man sich weh tun kann...“, begann er etwas unbeholfen zu sprechen, „das muss ich jedes Mal durchzählen, bevor ich euch gehen lasse. Also... falls du dran denkst... denk gar nicht erst dran!“ Antonios Grinsen wurde schief.
 

Alfred war hochgradig verwirrt, bis es bei ihm endlich klick machte und er verstand, worauf der Mann hinaus wollte.

„Äh..nene! So was mach ich nich’. Echt nicht! Wer verletzt sich denn schon selber?!“
 

Antonios umherschweifender Blick sagte mehr als tausend Worte und jagte dem Blonden eine Gänsehaut über den Körper. Die Raumtemperatur schien binnen von Sekunden um gefühlte zehn Grad zu fallen, zumal sich Antonios Augen plötzlich höchst intensiv auf Alfred konzentrierten.

„Ihr sagt alle, ihr tut es nicht. Nicht, dass ich dir nicht glaube, aber...“ Er räusperte sich, ehe er etwas leiser fortfuhr. „Ganz unter uns, Alfred. Ich sag euch das allen: ich bin eigentlich Kunstpädagoge. Ich hab keine Ahnung, wie ich an diesen Job hier gekommen bin, aber hey! Ich bin hier und ihr seid hier und wir sollten einfach das Beste draus machen! Das ist so meine Devise! Also will ich kein Blut in meinem Unterricht fließen sehen, okay?! Und auch nicht danach oder davor und erst recht nicht mit irgendwas, das hier gestohlen wurde! Ihr seid so verdammt kreativ, wenn es darum geht. Hach...!“
 

Ihr?

Wieso sprach dieser Mann eigentlich immer von ihr?

Alfred war empört – er war nicht wie die anderen! Eventuell konnte Antonio das nur nicht nachvollziehen, weil er, wie er ja gerade selber zugegeben hatte, „nur“ Kunstpädagoge war und ansonsten nichts mit irgendwelchem Psychoquatsch am Hut hatte. Womöglich rührte daher auch seine dezent unangebrachte Ausdrucksweise.
 

„Und noch was!“, schnappte Antonio erneut. „Hier werden keine Themenbilder übers Essen gemalt. Davon krieg ich Hunger – und du vermutlich auch?!“
 

Beinahe wäre Alfred vom Stuhl gefallen. Stattdessen lächelte er brav „okidoki“ sagend und begann schnell, in der ersten Zeitschrift zu blättern. Dieser Pädagoge förderte sein Unbehagen auf eine grundlegend andere Art und Weise als es der Rest des Personals bisher getan hatte. Während sämtliche Schwestern, Ärzte und Pfleger stets darum bemüht waren, die Dinge sachlich und korrekt zu formulieren, schien Antonio ganz unbedarft drauf los zu plappern. Er war zwar nicht brutal in seinen Aussagen, aber das war bisher eh nur eine Person, die Alfred kennen gelernt hatte und mit Arthur wollte er für den Rest seines Aufenthaltes nicht zwingend mehr zu tun haben als nötig. So langsam reichte es ihm einfach, dass dieser Kerl ihn ständig anherrschte und meinte, alles besser zu wissen. Wenn er so clever war, dann hätte er ja auch merken müssen, dass was mit seiner Ernährungsweise nicht stimmte! Hatte er aber offenbar nicht! Ganz so intelligent und abgeklärt konnte Arthur also doch nicht sein.
 

Alfred könnte es ja eigentlich egal sein, doch Tinos kleiner Ausraster im Waschraum hatte ihn neugierig gemacht: Was war geschehen, als sich Feliciano und Arthur ein Zimmer geteilt hatten? Wenn Alfred sich recht erinnerte, lauteten Tinos Worte „still und heimlich mit Feliciano zusammen fast umgebracht“. Da Arthur definitiv die Aussage verweigerte, blieb da nur noch eine Informationsquelle übrig.
 

Alibimäßig weiterblätternd, huschte Alfreds Aufmerksam zu Feliciano hinüber, der das Problem mit dem unwillkommenen Fingerabdruck in der Farbe schon gelöst hatte und erneut in eine Unterhaltung mit Antonio verstrickt war. Allerdings auf Italienisch! Zumindest vermutete Alfred stark, dass es Italienisch war, da er so gut wie gar nichts verstand, alles aber melodisch südländisch klang. Da schienen sich zwei gesucht und gefunden zu haben. Feliciano wirkte erquickt und regelrecht so, als würde er sich gleich bei Antonio unterhaken und Seite an Seite mit ihm in den Feierabend spazieren. Dass Feliciano kein Problem mit Offenherzigkeit und Körperkontakt zu haben schien, war Alfred bereits aufgefallen. Alfred war auch nicht neidisch oder missgünstig. Aber je länger er die beiden anstarrte, desto bewusster wurde ihm, nicht mal mehr einen einzigen Freund zu haben, mit dem er selber so unbeschwert umgehen konnte. Die Sache mit den Freunden hatte sich für ihn erledigt:

Sie hatten gelacht, er war gegangen. Kein Baseball mehr.
 


 

{ + + + + + }
 

Pünktlich zum Abendessen war Tino wieder im Aufenthaltsraum und hatte seinen üblichen Platz am Mitteltisch eingenommen. In der Türe stoppend, betrachtete Alfred ihn von oben bis unten. Seine Augen wirkten leicht angeschwollen, so als habe er vor einiger Zeit geweint. Die Lippen hielt er fest aufeinander gepresst, sodass seine Wangen eingefallen wirkten und sein Mund einem dünnen Strich glich. Seine Aura bestand aus einem Schild griesgrämigen Trotzes.
 

Wenn Alfred nur wüsste, worauf Tino angespielt hatte. Was passiert war? An Feliciano war Alfred während der ganzen Kunsttherapiestunde nicht ran gekommen und von Arthur hatte er sich gewissenhaft fern gehalten. Besagter Teetrinker saß ebenfalls schon an seinem Tisch und schien sich mental intensiv auf das Projekt namens Abendessen vorzubereiten. Wo Feliciano nach der Kunsttherapie hin verschwunden war, hätte Alfred nur zu gerne gewusst. Der Italiener schien wie vom Erdboden verschluckt. Es würde wohl wieder eine der Mahlzeiten werden, zu der eine Schwester oder ein Pfleger Feliciano suchen und her bringen musste...
 

Das bedeutet aber auch, dass es für Alfred gerade nur eine Möglichkeit gab, um an Informationen zu gelangen. Auf den Mitteltisch zusteuernd, zog er sich den Stuhl heran, der neben Tino im Moment noch frei war.

„Hey, wieder alles klar?“
 

Alfred hatte sich kaum gesetzt, da bereute er es auch schon. Tinos Augen schienen ihn anzufallen und zu Boden zu reißen. Doch das wirklich Beängstigende war, dass sich sonst nichts weiter in seinem Gesicht tat. Tino stierte ihn nur unverhohlen feindselig an. Dabei war es doch gar nicht Alfreds Schuld, dass man ihn erwischt hatte!
 

„Ich wollte nur mal nachfragen...“, rechtfertigte er sich und rückte nervös auf dem Stuhl.
 

„Du kannst mich mal in Ruhe lassen!“, kam es zischend aus Tinos Mundwinkel.
 

„Ich hab dir doch gar nichts getan!“
 

„Ach, du bist doch genau so ein Verräter wie der da!“ Jetzt machte Tino keinen Hehl mehr daraus, offen zu bezichtigen. In Richtung des Fenstertisches deutend, war eindeutig, wen er meinte.

„Dabei sitzt du auch immer deine beschissene halbe Stunde ab! Echt mal, ihr seid beide die totalen Heuchler. Selbst nichts auf die Reihe kriegen, aber andere verurteilen und in die Pfanne hauen! Hau bloß ab!“
 

Alfred fühlte sich wie festgefroren. Tino sprach nicht mal laut. Er sprach nur so extrem hart und unbeirrbar, dass Alfred spontan den Glauben an seine eigene Unschuld verlor. Womöglich war es Glück im Unglück, dass in diesem Augenblick Sofia und die gertenschlanke Blondine an den Tisch kamen und ihn überrascht ansahen.
 

„Du sitzt auf meinem Platz!“, machte die Dünne allerdings gleich darauf wenig charmant klar und verschränkte die Arme vor der Brust. Sofia schien sie beschwichtigen zu wollen, verlor jedoch nur ein leises „Aber Natalia...“.
 

Alfred hatte das Gefühl, dass ihn plötzlich sämtliche Patienten hassten! Was war denn nur los? Er war doch neu und dafür, was mit Tino passiert war, konnte er nun wirklich nichts! Er hatte Tino nicht verraten und er wollte Natalia auch ganz bestimmt nicht ihren Stammplatz wegnehmen!
 

Rasch aufstehend, verlor er ein lasches „Sorry“, obwohl er nicht mal wusste, an wen es gerichtet war. Tino würdigte es nicht und Natalia riss so ruckartig am Stuhl, dass er Alfred beinahe gegens Knie donnerte.

Hatte Tino den beiden irgendwas erzählt? Aber wenn ja, was? Zwischen Ende der Kunsttherapie und dem Abendessen war ja kaum eine halbe Stunde Zeit gewesen. Ausreichen würde das natürlich trotzdem...
 

Warum war Tino nur so vorschnell und scherte Alfred und Arthur über einen Kamm? Arthur war es gewesen, der im Waschraum gesagt hatte, sie würden es melden müssen. Alfred hatte nichts dergleichen getan. Er war viel zu perplex gewesen. Doch das konnte er Tino anscheinend nicht begreiflich machen...
 

Sich einmal mehr unfair behandelt fühlend, probierte Alfred, den Ärger, der sich in seinem Bauch wie ein Strudel auftat, zu ignorieren. Vielleicht wäre es unter den gegebenen Umständen das Beste, mit einem neuen Platz ein Zeichen zu setzen.

Sich vom Mitteltisch abwendend, setzte sich Alfred kurz entschlossen an den kleinen Tisch am Eingang, wo bisher weder Lili noch Feliciano anzutreffen waren. Beide würden aber noch kommen, das stand fest; sie früher, er später.
 

Arthur lugte nur einmal in Alfreds Richtung. Seine auffällig grünen Augen wirkten dabei hohl und blank. Mehr registrierend als bewertend, aber Alfred ließ sich davon nicht beirren. Er war es satt, sich von sämtlichen Leuten treten und für dumm verkaufen zu lassen. Tino zufolge, hatte Arthur wesentlich mehr auf dem Kerbholz, als er einem weismachen wollte. Von so einem Menschen würde man sich gewiss nicht mit in den Abgrund reißen lassen! Ihm hatte man es ja mehr oder weniger zu verdanken, jetzt schon von etlichen Mitpatienten geschnitten zu werden! Darauf konnte Alfred wirklich dankend verzichten. Sollte Arthur mal schön alleine in seinem Abendessen rumpieken und den Saubermann mimen. Alfred für seinen Teil hatte Hunger.

{ 09. | Alles und Nichts }

War es nicht eigentlich ironisch vor einem Jungen Angst zu haben, der rund zwei Köpfe kleiner war als man selber? Alfred haderte trotzdem mit sich, als er am Samstagvormittag das Schwesternzimmer ansteuerte, vor dessen geschlossener Türe bereits ein mehr als übel gelaunter Tino wartete. Sein Gesicht schien sich über Nacht regelrecht zusammengezogen zu haben und vermittelte den Eindruck, als kaue er exzessiv auf einer Zitrone herum. Die Arme vor dem Oberkörper verschränkt, lehnte er an der Wand und starrte feindselig in Alfreds Richtung.
 

Sich von der geballten Wut nicht abschrecken lassend, kam Alfred Schritt für Schritt näher. Es war ihm nach wie vor ein Rätsel, warum Tino so sauer war und offenbar auch noch andere Leute gegen ihn aufhetzte! Alfred hatte sich, als er in der Nacht kurz aufgewacht war, weil er dachte, ein Geräusch gehört zu haben, unwohl herumgedreht. Sein Kopf war voll gewesen, aber sein Bauch unbehaglich leer. Nicht beschäftigt. Nicht mal Bauchschmerzen hatte er gehabt, obwohl er sie vom Überessen und Erbrechen nur all zu gut kannte.
 

Letztlich hatte er im Dunkeln an die Decke gestarrt und sich gefragt, wieso hier drin jeder so verdammt schwer zu fassen war. Warum konnte man mit keinem Patienten reden? Feliciano war ständig mit irgendwas beschäftigt – malen, lesen, Essen verweigern, weinen, quatschen, von Essen schwärmen, Einzeltherapie – und wenn Alfred ihn tatsächlich in ein Gespräch verwickeln konnte, dann schaffte es sein Mitbewohner stets, das Thema in die von ihm gewünschten Richtungen zu lenken. Alfred wurde das immer erst später bewusst. Dann, wenn ihm auffiel, schon wieder nicht herausbekommen zu haben, warum Feliciano so appetitlos war und was es mit Tinos Anspielung auf sich hatte.
 

Auch bei Arthur waren keine Informationen einholbar. Er spielte die unantastbare Instanz auf hohem Rosse. Alfred konnte spontan nicht mal sagen, ob er es bereute, den Tisch gewechselt zu haben. Zwar wurde er weder von Lili noch Feliciano getreten, doch das verschüchterte Essverhalten der beiden machte ihn dafür empfänglich, wie schnell er selber aß. Oder aß er einfach im Gegensatz zu den beiden in einem normalen Tempo?
 

Die traurige Wahrheit war, dass sich Alfred diese Frage nicht beantworten konnte. Er hatte sowohl beim gestrigen Abendessen als auch beim heutigen Frühstück immerfort auf die Teller seiner Tischnachbarn geschielt und sich beinahe dafür geschämt, Hunger zu haben. Einmal, als die Schwester nicht aufpasste, hatte Feliciano ihm sogar etwas von seinem Essen auf den Teller gehievt. Alfred hatte es mit einem Haps in den Mund gesteckt, obwohl er im Nachhinein Bedenken bekommen hatte: nur weil er hungrig war und nicht so leckere Sache bekam wie Feli und Lili, war es eigentlich nicht okay, Felicianos Portion mit aufzuessen. Feliciano brauchte wirklich dringend ein paar Kilo mehr...
 

Was also die Plätze an den Esstischen betraf, so kam sich Alfred beinahe vor wie in der Schule. Er konnte nicht an seinen alten Tisch zurück, aber an anderen Tischen fühlte er sich auch nicht unbedingt wohl. Am Mitteltisch wollten sie ihn nicht – was er wohl oder übel Tino zu verdanken hatte?! – und am kleinen Eingangstisch kam er sich noch deplazierter vor als bei Arthur. Jener war zwar dünn und aß langsam, aber anscheinend hatte Schwester Nancy damals Recht gehabt, als sie bemerkte, Arthur ginge mit gutem Beispiel voran. Im Vergleich zu Feliciano und Lili war Arthur ein vorbildlicher Esser.
 

Lili hatte die verstörende Angewohnheit, sich mehr und mehr Salz aufs Essen zu streuen.
 

„Schmeckt das überhaupt noch?“, hatte Alfred sie irgendwann interessehalber beim Abendessen gefragt, woraufhin sie ertappt auf ihren Teller starrte.

„Es darf mir nicht schmecken...“
 

Nicht nur, dass Alfred nicht nachvollziehen konnte, warum ihr das Essen nicht schmecken sollte. Er hatte ihr auch vorgeschlagen, den Teller zu tauschen, wenn sie ihr Gericht nicht mochte. Bedauerlicherweise war das der Zeitpunkt, wo jemand vom Pflegepersonal intervenierte und obendrein den Salzstreuer konfiszierte. Lili war daraufhin kreidebleich geworden und wirkte, als habe man ihr das Atmen verboten.
 

„Aber ich brauche noch etwas mehr Salz.“ Lautete ihr leiser, aber definitiv panischer Einwand.
 

„Ich denke, du hast genug Salz.“ Der Pfleger kannte da kein Pardon und ließ Lili mit ihrer bitteren Enttäuschung alleine.
 

Feliciano hatte indessen den Inhalt seines Tellers mit der Gabel auseinander gepflückt, ohne auch nur einen einzigen Bissen zu probieren. Daran konnten weder Alfreds Smalltalk noch seine Aufmunterungsversuche etwas ändern. Letztlich war er, trotz seiner halben Stunde, der erste, der vom Tisch aufstehen durfte. Eine schockierte Lili und einen deprimierten, wieder mit den Tränen ringenden Feliciano hinterlassend.
 

Es war anstrengend und, so ungern Alfred es zugab, in gewissem Maße unappetitlich und bedrückend, mit den beiden eine Mahlzeit einzunehmen. Doch da ihm Alternativen fehlten und er an und für sich weder etwas gegen Feli noch Lili hatte, setzte er sich auch beim Frühstück wieder zu ihnen. Das Ganze endete damit, dass Josh, der an diesem Samstag in der Frühschicht arbeitete, die Aufsicht übernahm und Alfred nach dem Frühstück nahe legte, sich doch zur nächsten Mahlzeit wieder zu Arthur zu gesellen.

Alfred lehnte ab. Lieber sah er sich an, wie eine Krankenschwester die Reste von Lilis Honigbrötchen aus deren Ärmel pulte (wie auch immer das dahin gekommen sein mochte), als dass er sich freiwillig wieder zu Arthur setzte. Der sollte einsam und alleine mit seinen Macarons und seinem maßgeschneiderten Hemd glücklich werden.
 

Und Tino sollte aufhören so zu tun, als sei Alfred das personifizierte Böse! Das war einfach vollkommen übertrieben! Zumal Tino ja eh nur die Zähne auseinander bekam, wenn gerade keine Schwester und kein Pfleger zuguckten. So wie jetzt zum Beispiel. Alfred hatte kaum mit einem neutralen „Hey“ gegrüßt, als ihm auch schon ein „Zieh Leine!“ vor die Füße gespuckt wurde.
 

„Wir haben jetzt Sport zusammen...“ Wo sollte er also bitte hingehen? Aus dem Aufenthaltsraum tönte der Fernseher, da sich einige der Mädels Eiskunstlauf anguckten. Ein Sport, für den Alfred nicht unbedingt viel übrig hatte, aber er würde tausend mal lieber fernsehen als sich wieder von Mathias quälen zu lassen.
 

Tino kniff missmutig die Lippen zusammen.
 

Alfred seufzte daraufhin, weil ihm kalt wurde. Kalt und heiß zugleich, so wie in den letzten Tagen im Baseballteam, als sich Brad und einige andere ständig über ihn lustig gemacht hatten. So lange, bis es für Alfred nicht mehr tragbar gewesen war...
 

Wie konnte es sein, dass Alfred selbst hier, unter Leuten, die doch ebenfalls Probleme mit dem Essen hatten, ausgegrenzt und gehasst wurde?

Das Gefühl fraß an seinem Herz wie ein unersättliches Bakterium. War krankhaft und schmerzhaft und flüsterte ihm zu, dass dies ein Moment war, in dem es am besten für ihn wäre, etwas Leckeres zu essen. Vielleicht Tortillas mit Käsesoße oder Popcorn mit extra viel Butter oder Strawberry Cheesecake Eiscreme mit Sahne. Alfred würde jetzt alles nehmen. Wirklich so ziemlich alles. Wenn er nur irgendwie von der Gruppe wegkäme, um sich zumindest an dem Snackautomaten was zu ziehen..!
 

Frustriert ließ er die Ferse gegen die Wand hinter sich tippen und startete einen erneuten Kommunikationsversuch:

„Was war eigentlich damals mit Arthur und Feli?“
 

Wenn weder Feliciano noch Arthur zu sprechen gewillt waren, dann ja vielleicht Tino. Doch der Plan schien nicht aufzugehen. Tino schnaubte lediglich wie ein Stier.

„Was fragst du mich?! Frag die Hungerkünstler doch selber! Ihr schaut doch eh alle auf mich und die anderen herab, weil ihr denkt, wir hätten uns nicht im Griff! Dabei kannst gerade du dir das nicht erlauben! Ich mein, guck dich doch mal an! Dünn ist definitiv was anderes!“
 

„Ja glaub ich’s denn?! Was ist denn hier los?“
 

Tino zuckte zusammen, als plötzlich Mathias’ Stimme über den Gang grollte.
 

„Nichts!“
 

„Nichts?“, wiederholte Mathias Tinos Aussage und guckte zu Alfred hinüber, der zur Salzsäule erstarrt war.
 

Glaubte Tino ernsthaft, man würde auf ihn herabschauen? Und warum bitteschön? Weil er kein „Hungerkünstler“ war, sonder sich übergab? Hatte es damit zu tun? Aber das galt für Alfred doch auch, selbst wenn er es nicht offen zugegeben hatte in der Gruppentherapiestunde.

Vielleicht war genau das der springende Punkt? War Tino deswegen so wütend? Weil Alfred die „ich habe kein Problem“-Schiene fuhr?
 

So recht konnte sich Alfred keinen Reim darauf machen. Seine Muskeln, die ihm heute ohnehin schmerzten, waren seit Tinos uncharmantem Hinweis auf sein Gewicht wie versteinert. Sein Mund war trocken und sein Blick glitt automatisch an sich hinab. Wanderte über das T-Shirt und die Sporthose, über jede Erhebung und jede Stelle seines Körpers, die er von hier aus sehen konnte und in diesem Moment einfach nur verabscheute, weil sie dafür sorgten, dass andere ihn hassten.
 

Er war einfach viel zu fett.
 

Abgenommen hatte er bisher auch noch nicht. Cleopatra hatte keine Veränderung beim heutigen Wiegen festgestellt und Alfred wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Wie sollte er damit umgehen, zu dick zu sein? Wie damit umgehen, hier zu sein? Wie damit umgehen, überhaupt zu sein, obwohl ihn doch ganz offensichtlich niemand haben wollte?
 

„Das klang für mich gerade ein bisschen anders, Tino.“ Mathias, der sich nun groß und breit vor ihnen aufbaute, schaute mahnend drein. Von seinem sonst so kessen Grinsen war nichts mehr übrig. Auch nicht, als er kurz Alfred ins Visier nahm, der es wiederum vorzog, seine Schuhe zu studieren. Er war zu fett...

Die Waage hatte es gesagt.

Seine Teamkollegen hatten es gesagt.

Seine Mitschüler hatten es gesagt.

Seine Eltern hatten es gesagt.

Die Ärzte hatten es gesagt.

Tino hatte es gesagt.
 

Er war zu fett – und das war ein Kapitalverbrechen.
 

„Du weißt, dass wir es hier drin nicht mögen, wenn ihr unhöflich zu anderen seid“, begann Mathias eindringlich.
 

Tino schob das Kinn störrisch zurück, an Blickkontakt war gar nicht zu denken.

„Ich war nicht unhöflich“, behauptete er, der Ton so rein, als könne er kein Wässerchen trüben.
 

„Du warst nicht unhöflich?“
 

„Nein.“
 

„Bist du dir da sicher?“
 

„Ähm, ja.“
 

Gelogen. Alles gelogen. Oder nicht? Alfred wusste es nicht. Er wusste nur, dass er zu fett war. Womöglich hatte deswegen alle Welt das Recht, so mit ihm umzuspringen. Weil er zu fett war, durfte man hinter seinem Rücken über ihn lachen, ihn für dumm verkaufen, ihn ausgrenzen, sich über ihn lustig machen, den Kontakt zu ihm abbrechen und ihn eintauschen. All das war völlig legitim, denn er war ja zu fett. Und er war selber schuld...
 

„Komm mal her. Na komm“, ihn zu sich winkend, holte Mathias Tino auf seine Seite, sodass er Alfred genau gegenüberstand. Den Blick nicht hebend, verfolgte Alfred es lediglich anhand der Füße.
 

Mathias schien hier keinen Spaß zu verstehen und Alfred tat es auch nicht mehr. Eigentlich schon seit Monaten...
 

„Meinst du, Alfred sieht so aus, weil du nett zu ihm warst?“
 

Wie sah man denn bitte aus?
 

„Ach, is’ schon okay, ich-!“, einwendend hob Alfred den Blick und gab sich die allergrößte Mühe, halbwegs zu lächeln. Allerdings schnellte Mathias’ Hand Einhalt gebietend hinauf.

„Die Frage war an Tino gerichtet. Also, Tino?“
 

Der Kleinere biss sich hart auf die Lippe und schien es nach wie vor nicht fertig zu bringen, Alfred ins Gesicht zu sehen. Von einer ertappten Röte heimgesucht, legte er knetend die Hände ineinander.

„..nein?“
 

„Ist das eine Frage oder eine Feststellung?“
 

Tino schwieg betroffen. Mathias ließ seine Aufmerksamkeit nach einem unbestimmten Moment wieder zu Alfred hinüber wandern. Jener wusste nicht recht, wie er die Situation einordnen sollte. Es war doch okay, wenn man ihn schlecht behandelt – zumindest war er zu dem Ergebnis gekommen, weil alle es taten. Dass Mathias sich jetzt für ihn einsetzte, verwirrte ihn...
 

„Ich hab gehört, was gestern vorgefallen ist“, ergriff Mathias schließlich wieder das Wort. „Tino, so geht das nicht. Du kannst nicht andere Leute für deine Fehler verantwortlichen machen und ich will nie wieder hören, dass du Alfred oder einen anderen Mitpatienten so anherrschst wie gerade eben. Haben wir uns da verstanden?“
 

Tino schien mit den Zähnen zu knirschen, ehe er sich ein Nicken abrang. Das Gesicht noch immer vom Scham deutlich eingefärbt, hielt er das Haupt konsequent gesenkt.
 

Mathias klopfte ihm einmal kurz und leicht auf die Schulter.

„Gut. Du hast deine Probleme, Alfred hat seine Probleme und ihr seid alle hier, damit diese Probleme gelöst werden. Ein konstruktiver Umgang miteinander ist dabei enorm wichtig. Siehst du das ein?“
 

„Ja...“
 

„Na schön, dann werden wir zwei gleich mal daran arbeiten, deine Wut besser in den Griff zu kriegen.“
 

„Wir zwei?“ In Tinos Stimme schwang plötzlich helle Aufruhr mit. Wahrscheinlich sah er schon wieder einer sportlichen Überforderung auf sich zukommen.
 

„Ja, wir zwei!“, lachte Mathias laut, Tino bewusst seine Angst nicht nehmend, sondern sie absichtlich weiter schürend. „Ich hab mir da was Tolles für dich einfallen lassen!“
 

Sämtliche Röte verließ Tinos Gesicht. Alfred hätte triumphierend reagiert, aber ihn beherrschte das abstrakte Gefühl, neben sich zu stehen. Das Gefühl wurde nur bedingt besser, als sie kurz darauf mit der kleinen Sportgruppe das Training aufnahmen und auf ihn wieder das Laufband wartete. Mathias hatte sich tatsächlich Tino zur Brust genommen und ihn in einer Ecke des Raumes mit Boxhandschuhen ausgestattet. Der Sandsack, der dort hing, bewegte sich kaum, als Tino zögerlich erste Schläge austeilte.
 

Von seinem Platz aus konnte Alfred nicht hören, was Mathias sagte. Er konnte nur sehen, dass Tinos leichte Schläge mit der Zeit an Kraft gewannen und irgendwann zu explodieren schienen. Aus schnellen Hieben wurde ein manisches Einprügeln. Tino hatte, trotz des schmalen Körperbaus, eine erstaunliche Menge an Energie und eine noch größere Menge an Aggressionen, die sich ihren Weg an die Oberfläche bahnten...
 


 

{ + + + + + }
 


 

Das Gute am Samstag war, dass Alfred heute keine Stunde mit Frau Brooke auf seinem Plan stehen hatte. Die Frau hatte wohl gerne Wochenende. Es gab zwar mehrere (Ernährungs)Therapeuten, wie Alfred mittlerweile in Erfahrung gebracht hatte, aber man hielt es wohl nicht für nötig, seine Stunden vor der kommenden Woche fortzusetzen.
 

Was ihm heute bedauerlicherweise nicht erspart blieb, war die Gruppentherapie. Nach dem Mittagessen hatte Alfred schuldbewusst seinen Schreibtisch aufgesucht und auf sein leeres Tagebuch gestarrt. Eigentlich hatte er doch Dr. Brussels zugesichert, etwas aufzuschreiben, aber irgendwie kam er sich im Angesicht der weißen Seiten wie blockiert vor. Da Feliciano noch mit dem Mittagessen haderte, war Alfred sogar alleine im Zimmer. Doch auch das änderte nichts an seinem Empfinden.
 

Müde vom Sport und durch das Essen auch nicht unbedingt besser gelaunt, beschloss Alfred, sich erst mal eine neue Flasche Wasser zu holen. Er wusste zwar nicht, warum seine Flasche jeden Morgen verschwunden war, obwohl er sie abends immer nebens Bett stellte, aber solange er problemlos neues Wasser bekam, sollte es ihm egal sein.
 

Auch neues Wasser änderte jedoch nichts daran, dass er weder das Arbeitsblatt ausgefüllt bekam noch wusste, was er ins Tagebuch schreiben sollte. Post war für ihn selbstverständlich auch keine gekommen und seine Eltern hatten nicht mal probiert, ihn anzurufen. Oder sagte ihm das keiner?

Nein, Alfred war sich ziemlich sicher, dass sie es nicht versucht hatten...
 

Träge ließ er sich aufs Bett fallen (nicht ohne vorher die Heizung heruntergedreht und den Raum durchgelüftet zu haben) und rollte sich auf den Bauch. Da war so viel in ihm. So viele Gefühle.

So viel Hunger...

Hunger nach Zuhause. Hunger nach Freiheit. Hunger nach früher. Hunger nach Essen, nach gutem, schmackhaften Essen. Aber das konnte er doch nicht aufschreiben. Seine Aufgabe war es aufzuschreiben, wieso er hier gelandet war. Aber so etwas Aufrichtiges wie Lili gestern vorgelesen hatte, kam ihm nicht von den Fingern. Alfred wollte sich partout nicht daran erinnern, wie er schlussendlich in diese Klinik geratet war! Ihm wurde übel, wenn er sich nur daran erinnerte. Seine Mutter hatte so durch und durch entsetzt reagiert und für seinen Vater war es wohl der perfekte Anlass gewesen, noch mehr zu „arbeiten“.
 

Wenn er doch nur etwas Leckeres zu Essen hier hätte...
 

Sich von den Aufgaben überfordert fühlend, schrie alles in Alfred nach Essen. Mehr Essen. Sehr viel mehr Essen. Pizza mit doppelt Käse, Vanillecremeröllchen, Marmeladentörtchen, Fruchtgummischnüre, Sour Cream Cracker, Sahnepudding, Cheeseburger, Pommes, Softeis, Cola, sehr viel Cola – und dann, weil er wirklich schon viel zu fett war, erbrechen bis ihm Augen, Mund und Nase brannten.
 

Das war doch pervers!
 

Die Erkenntnis ließ Alfred bedrückt das Gesicht im Kopfkissen vergraben und Brad im Stillen zustimmen: er war völlig abgefuckt. Anders waren diese krankhaft aufs Essen fixierten Gedanken einfach nicht mehr zu erklären...
 


 

{ – – – }
 


 

Ein Räuspern stahl sich aus Alfreds Kehle, als er den Raum für die Gruppentherapie betrat und sich neben Dr. Brussels stellte, die bereits auf der Schreibtischkante hockte und gerade in der blauen Wunderkiste etwas zu suchen schien.
 

„Ja?“ Aufsehend unterbrach sie das Hin- und Herschieben von Arbeitsmaterialien und sah Alfred erwartungsvoll an. Dieser verfiel in seinen alteingesessenen Lächelmodus.

„Ich wollte ja zu heute was aufschreiben und eigentlich ist es auch kein Problem oder so-“

„Aber du hast es nicht gemacht“, schlussfolgerte Dr. Brussels messerscharf.
 

Alfred kratzte sich im Nacken und verlor dabei ein drucksendes „Nich’ wirklich“.
 

Ob die Therapeutin böse war oder nicht, war ihrem Gesicht nicht zu entnehmen. Sie schien es eher als Tatsache hinzunehmen und nickte dann.

„Danke, dass du mir Bescheid gegeben hast.“
 

War das alles? Ungläubig blinzelnd, wusste Alfred nicht, ob er somit erlöst war oder nicht. War die Frau nicht darauf erpicht, ihn irgendwas vorlesen zu lassen? War sie nicht vielleicht sogar sauer, weil Alfred ihre Stundenplanung auf den Kopf stellte?
 

Es nicht herausfinden wollend, suchte sich Alfred schnell einen freien Stuhl neben Feliciano, der in einen farbenfrohen Poncho gehüllt war und darin wie eine Raupe im Kokon ausschaute. So kalt war es doch nun wirklich nicht... Alfred ließ es jedoch unkommentiert, zumal Dr. Brussels ihre Suche nun erfolgreich beendet hatte und zur Türe hinüber ging, um diese zu schließen.
 

„So, dann fangen wir mal an. Gibt es jemanden, der uns gerne etwas vorlesen oder sagen möchte?“
 

Den Kopf unbewusst zwischen die Schultern ziehend, wackelte Alfred nervös mit den Zehen und ignorierte angestrengt sämtliche Blicke. Dr. Brussels schien die einzige zu sein, die die ganze Runde betrachtete und nicht nur ihn, ehe sie fortfuhr:

„Nun gut, dann ziehen wir ein Themenzettelchen.“ Eine kleine Papptrommel aus der Kiste nehmend, ließ sie sich elegant vom Pult gleiten und ging dann willkürlich auf Natalia zu.
 

Natalia schien davon nicht angetan. Ihr Gesichtsausdruck, der sowieso immer sehr ernst ausfiel, wirkte heute noch verbissener. Alles an ihr war kerzengerade, so als habe sie ihre Gesichtszüge, ihre Haltung und ihre Ausstrahlung in jahrelanger Präzisionsarbeit in Stein gemeißelt. Das lange, dünne Haar war zu einem vornehmen Haarknoten hochgebunden. Sie könnte eine Ballerina sein, schoss es Alfred durch den Kopf.
 

Mit den spindeldürren Fingern griff sie zur Papptrommel, klappte die eine Seite vorsichtig auf und entnahm einen der bunten Papierzettel. Wie bei Kirmeslosen war das Papier gerollt und wurde mit einem winzigen Gummi in der Mitte in Form gehalten.
 

„Bedauern“, las Natalia kühl vor, als sie das Los geöffnet hatte. Die Stimme als sei es ihr lästig.
 

„Danke, Natalia.“ Dr. Brussels ging zurück auf ihren Platz und sah in die Runde. Worauf wartete sie denn? Darauf, dass jemand etwas sagte? Lief das jetzt jedes verdammte Mal so?
 

Alfred stöhnte lautlos, als ihm auffiel, dass sich Natalias Gesicht anspannte und sie das Zettelchen wieder zusammenklappte.

„Bedauern... Also, ich bedauere, dass ich hier bin“, sagte sie tonlos und schien jedes Wort wohl gewählt zu haben. Musste sie reden, weil sie den Zettel hatte? War das das Geheimnis dahinter?
 

Etwas in ihren Augen flackerte auf, schien aber mit dem nächsten Blinzeln von ihr niedergestreckt zu werden.

„Nicht, weil ich glaube, es nicht zu brauchen. Ich seh ja irgendwie ein, dass ich krank bin. Aber trotzdem... Ich bedauere, dass ich nicht mit Nikolai auf dem Eis stehen kann. Ihr wisst ja, dass er seit Jahren mein Partner im Eiskunstlauf ist und dass wir sehr gute Freunde sind. Wir wollten dieses Jahr die Goldmedaille nach Hause holen. Stattdessen“, Natalia schluckte, was ihren Worten erstmalig etwas Natürliches verlieh, „stattdessen sitz ich hier und die Meisterschaft läuft ohne uns...“
 

Der Zettel in Natalias Fingern bekam Falten, während ihr Gesicht nach wie vor starr, aber ihre Augen plötzlich so bewegt wirkten. Ihr linker Mundwinkel zuckte unterschwellig, dann schien sie die Kontrolle über sich zurück zu erlangen. Die Schultern steif wie bei einer Puppe, öffnete sie die Hand mit dem Zettel, um ihn gedankenverloren glatt zu streichen.

„Wir telefonieren ständig miteinander und er fragt immer, wie es mir geht. Er macht sich so große Sorgen um mich, obwohl ich genau weiß, dass ihm die Medaille auch sehr viel bedeutet. Manchmal frage ich mich, warum er mich nicht hasst? Aber er sagt immer nur, dass wir uns die Medaille dann eben nächstes Jahr holen...“ Natalias hörbares Luftholen war das einzige Geräusche im Raum.

„Ich weiß nur nicht, ob ich es kann? Ich mein, ich bedauere einfach, dass ich nicht weiß, ob ich es auch ohne meine Essstörung packe. Wie soll ich denn dann mein Gewicht halten? Was mache ich, wenn ich zunehme? Das wäre ein Albtraum...“
 

„Aber Natalia, möchtest du nicht herausfinden, ob du es ohne die Essstörung schaffst?“ Dr. Brussels Stimme wirkte warm und ermutigend.
 

„Doch, irgendwo schon. Hauptsache, ich kann zurück aufs Eis. Alles Andere ist mir egal...“ Ihr Blick floh aus dem Fenster, war aber zugleich nach innen gekehrt. Natalia sah den Regen an und sah doch völlig durch ihn hindurch.

Alfred fragte sich, wie ihr Gesichtsausdruck sein mochte, wenn sie Schlittschuhe an den Füßen hatte. Ob er auch dann so eisern ausfiel oder eventuell komplett anders?
 

„Ich bin mir ganz sicher, dass du es schaffen wirst. Du kannst gesund werden und du wirst nächstes Jahr an der Meisterschaft teilnehmen.“
 

„Sie sagen das so einfach. Ich hab zwar gemerkt, dass es mir körperlich ab einem gewissen Zeitpunkt unglaublich schlecht ging, aber es war irgendwie auch so, dass, na ja, ich mich an meinem Essverhalten und den Regeln, die ich mir so selbst aufgestellt habe, festgehalten hab. Wenn ich das Gefühl hatte, im Training nicht gut gewesen zu sein, dann wollte ich wenigstens für mich die Gewissheit haben, alles getan zu haben, was ich tun konnte.“
 

„Dadurch, dass du dein Essverhalten für dich strukturiert hast, hast du ein bisschen Selbstsicherheit gewonnen, nicht wahr?“
 

Natalia nickte. Wiederum zuckte ihr Mundwinkel. Ihr Blick hatte das Fenster verlassen und ruhte nun auf Dr. Brussels, die fahrig etwas auf ihrem Clipboard ergänzte.
 

„Es ist wichtig und sinnvoll, andere Mittel und Wege zu finden, die dir diese Sicherheit geben können. Wie wir gestern schon festgestellt haben, hat jeder mal einen schlechten Tag und jeder macht mal einen Fehler. Ich kann mir vorstellen, dass du sehr, sehr ehrgeizig bist, wenn du trainierst. Sonst wärst du gar nicht erst so weit gekommen. Das dürfte auf viele von euch zutreffen: ihr steckt sehr viel Zeit und Energie darein, Dinge so gut wie möglich zu machen. Aber versucht euch in Gedanken etwas von dem inneren Druck zu nehmen. Erinnert euch daran, dass ihr auch nur Menschen seid und ihr euch nicht bestrafen oder selbst maßregeln müsst. Vor allem nicht mit Essen oder Nichtessen oder Erbrechen.“
 

Die letzten Sätze schienen auf alle Anwesenden hinab zu regnen. Alfred hatte fast das Bedürfnis, sich mit der Hand nonexistente Tropfen aus dem Nacken zu wischen. Hinter seinen Augäpfel verspürte er ein leichtes Brennen. Wie sollte er andere Mittel und Wege finden, um den unbändigen Hunger und all die Sehnsüchte zu stillen? Wie sollte er nagende Gefühle mundtot machen, wenn nicht, indem er sie mit Essen zum Schweigen brachte?

Wie kam er hier weg, wo ihn alle mehr und mehr mit jenen Themen konfrontierten, mit denen er so wenig wie nur möglich zu tun haben wollte?
 

„Ich würde vorschlagen, jeder von euch überlegt sich übers Wochenende ein paar sinnvolle Dinge, die man im Notfall machen kann. Das können ganz simple Sachen sein wie eine gute Freundin anzurufen oder einen Spaziergang tätigen. In unserer nächsten Stunde tragen wir dann zusammen, was euch eingefallen ist. Also lasst euch Zeit und versucht etwas zu finden, das euch persönlich wirklich beruhigen kann, wenn es hart auf hart kommt. Wie immer dürft ihr natürlich auch gerne etwas in euer Tagebuch schreiben.“
 

Von einigen in der Runde kam ein Nicken, andere schienen es nur hinzunehmen. Alfred für seinen Teil hatte irgendwann die Hände in die Taschen seines Kapuzenpullovers wandern lassen und saß, unbewusst auf einer Backentasche kauend, auf seinem Stuhl. Dies änderte sich schlagartig, als Dr. Brussels Natalia bat, den Zettel weiterzugeben.
 

Ihre langen, schlanken Beine, die in einer Skinnyjeans steckten, tauchten plötzlich in Alfreds Blickfeld auf und ließen ihn erschrocken das Kinn heben. Unmittelbar vor ihm stehend, hielt sie ihm den grellen Zettel hin.

„Ich nehm mal an, du vermisst deinen Sport auch.“
 

War das eine Frage? Eine Unterstellung? Eine Schlussfolgerung? Weder der Stimmlage noch der Mimik konnte Alfred es entnehmen. Schlimmer war jedoch, dass er manisch den bedeutungsschwangeren Zettel anstarren musste und sonst zu nichts fähig war. Er wollte hier nicht reden! Auf gar keinen Fall! Er musste das irgendwie abwenden!
 

„Ich spiel überhaupt nicht mehr!“, brach es panisch aus ihm heraus und war als Rettung gedacht. Allerdings merkte Alfred postwendend, dass er sich durch die Aussage nur noch tiefer reingeritten hatte. Immerhin hatte er gestern erst heraus posaunt, dass er Mitglied im Baseballteam seiner Schule war und den Sport über alles liebte. Letzteres stimmte ja sogar, aber ersteres hatte er gerade als Lüge entlarvt...
 

Durch die Runde drang hier und dort ein erstauntes Raunen. Selbst Natalias gut gehütete Starre verrutschte, als sie nun verwundert blinzelte.

„Du hast aufgehört?! Wieso?“
 

„Es-es ging nicht mehr!“ Alfred wollte seinen letzten Rest Würde aufrecht erhalten, aber seine schrille Stimme fiel ihm in den Rücken.
 

Natalia ließ den Zettel besiegelnd auf seinen Schoß hinab segeln.

„Erzähl.“
 

Das war genau das, was Alfred definitiv nicht tun wollte. Das Papier schien ihn jedoch aggressiv auffordernd anzuleuchten. Ausnahmslos alle Augen waren auf ihn gerichtet.

Alle starrten.

Es war Alfred in etwa so unangenehm wie damals auf dem Schulflur, als Amelia ihn entsetzt angeschaut hatte. Dieser Moment, den er seinem ehemaligen Teamkollegen und einstigem Kumpel Brad zu verdanken hatte, war einer der absoluten Tiefpunkte in Alfreds Leben und definitiv nichts, was er Revue passieren lassen wollte...

{ 10. | none of them }

Von den Blicken aller Anwesenden unter Druck gesetzt, spürte Alfred seine Kehle austrocknen. Der Zettel lag nach wie vor in seinem Schoß, so als sei er sich keiner Schuld bewusst. Als habe er nichts damit zu tun, dass alle anderen von Alfred erwarteten, zu berichten, wieso er nicht mehr im Team war. Wenn er sich doch nur nicht in seiner Panik verplappert hätte, dann könnte noch alles gut sein! Dann würden ihn die Blicke jetzt nicht mit Haut und Haar verspeisen!
 

„Ich konnte nich’ mehr hingehen, weil Brad was mitbekommen und...“, es fiel Alfred sichtlich schwer, die Worte überhaupt herauszubringen. Sie schmerzten in seinem verdörrten Hals und ließen ihn angestrengt schlucken. Wie erklärte man so extrem blamable Geschehnisse und die daraus resultierten Konsequenzen? Ging das überhaupt?

Alfred wusste es nicht. Die schambehafteten Erinnerungen machten ihn mundtot...
 

Seine Aussage hing, für die Gruppe unverständlich, in der Luft. Ein verneinendes Kopfschütteln andeutend, ließ Alfred die schweißnassen Hände aus den Taschen seines Pullis rutschen und griff nach dem Zettel, um ihn zusammen zu klappen. Schwierig genug, da seine Finger unerlaubterweise zitterten.
 

„Brad? Ist das jemand aus deinem Baseballteam?“ Felicianos Stimme kroch einfühlsam unter dem bunten Poncho hervor und schien Alfred den Rücken zu streicheln. Er nickte, ohne aufzuschauen. Seine Lippen stellten die Art Lächeln zur Schau, die bloß noch ein müdes Abziehbild aus einst glücklichen Zeiten waren.

„Ja, er hat mich erwischt. Auf einer Party, beim voll Fressen und dann beim, na ja, Kotzen. Ich hab irgendwie nich’ aufgepasst...“
 

Alfred hätte gerne behauptet, keine Ahnung zu haben, wie das passieren konnte. Leider hatte er die sehr wohl. Er konnte sogar jetzt noch die schneidend kalte Winterluft auf seinem hitzigen Gesicht spüren, wie sie mit Eishänden über seine Wangen strich, wenn er an den Abend zurückdachte:
 

Amelias Geburtstagsfeier, Anfang des Jahres. Der Himmel pechschwarz und übersäht mit winzigen Sternen. Alfred war mit unglaublich guter Laune auf der Party eingetroffen und hatte das hübsche Mädchen wie eine Biene die süße Blüte umschwärmt. Einfach weil er es so unglaublich gerne hatte. Es war ihm nicht mal bewusst aufgefallen, dass er sich in Amelia verliebt hatte. Es war einfach irgendwann passiert. Sie war kess und aufgeschlossen, faszinierend und witzig, aber manchmal etwas kopflos und mit den Gedanken ganz wo anders. Alfred mochte sie dennoch oder gerade deswegen, das konnte er nicht so genau sagen. Aber sie fiel ihm immer auf, seit sie mit Beginn des Schuljahres in die Parallelklasse gekommen war.
 

Es war nur nicht so einfach gewesen, an Amelia ran zu kommen. Manchmal sichtete Alfred sie, wenn sie gemeinsam mit einer Traube anderer Schüler und Schülerinnen draußen am Baseballfeld vorbei kam. Einmal war sie stehen geblieben und hatte nicht mal bemerkt, dass ihre Mitschüler weitergingen. Sie schien fasziniert von dem Spielverlauf. Das sonnengeküsste Haar mit zwei Haarspangen im Zaum gehalten, hatte sie an der Seite bei der Tribüne gestanden und glücklich gelächelt. Alfred hatte es gesehen, kaum dass er den kleinen Ball erfolgreich gefangen und so den Home Run eines Mitspielers vereitelt hatte. In dem Moment schienen sich ihr und sein Blick ineinander zu schieben und Alfreds Herz hatte einen Sprung gemacht. Deutlich spürbar, genau gegen seine Rippen. Sie lachte ihn an, weit und zufrieden, während der leichte Wind mit den Fransen ihrer braunen Lederjacke spielte und sie das Siegeszeichen mit den Fingern der rechten Hand formte.
 

Seither hatte er immer gehofft, sie würde wiederkommen. Manchmal tat sie es sogar und saß auf der Tribüne, wo sie die Beine baumeln ließ. Mal alleine, mal mit anderen Leuten.

Er war nicht der einzige, dem ihre Anwesenheit aufgefallen war. Doch er war irgendwie davon ausgegangen, zwischen ihnen gäbe es eine besondere Verbindung. Vielleicht spürte sie es ja auch. Vielleicht machte ihr Herz ja auch diesen freudigen Satz, wenn sie ihn sah?
 

Alfred hatte sie damals schnell auf Facebook gefunden. Ihr Profil zählte 270 Freunde aufwärts aus den verschiedensten Bundesstaaten. Wohl weil sie mit ihrer Familie schon häufig umgezogen war, wie er etlichen Schulen und ehemaligen Wohnorten, die sie aufgeführt hatte, entnehmen konnte. Online war sie jedoch selten.

Alfred hatte nie zuvor das Profil von jemandem so oft aufgerufen wie in jenen Tagen im frühen Herbst. Seine Finger hatten geschätzte 15 Mal den Anfang einer Nachricht formuliert, aber was er letztlich abgeschickt hatte, war unspektakulär und kurz gewesen:

Hey, wie geht’s? :-) Ich seh dich manchmal bei unserem Training zugucken. Magst du Baseball?
 

Zwei Tage hatte es gedauert, bis eine Antwort kam. Zwei Tage, in denen Alfred völlig durchgedreht war und permanent bedauerte, Amelia überhaupt angeschrieben zu haben. Sie hatte sicher keine Lust mit ihm über Baseball zu reden. Wie bescheuert war er, so was zu vermuten?

Aber sie tat es. Sie schrieb ihm zurück. Sie schrieb mit ihm über Baseball, über die Aussicht von der Tribüne, darüber, wo sie herkam, wo sie gewohnt hatte und welche Filme sie gerne sah. Es waren sporadische Nachrichten und Chats, die unregelmäßig spät abends stattfanden. So sporadisch wie Amelias Besuche auf der Tribüne. Wohl dann, wenn sie es einrichten konnte. Aber alles Sporadische genügte, um ihn glücklich zu machen.
 

Alfred hatte sich nie getraut, sie zu fragen, ob sie einen Freund hatte. Es stand nicht in ihrem elendlangen Profil, also war er aus allen Wolken gefallen, als bei ihrer Geburtstagsfeier dieser merkwürdige Typ auf sie zugekommen und den Arm um sie gelegt hatte. Sie es nicht verwehrte und er sie flüchtig auf die Lippen küsste. In der anderen Hand einen riesigen Becher Bier oder Bowle oder was auch immer Amelia alles an alkoholischen Getränken organisiert hatte. Das große Haus war elternfreie Zone an diesem Wochenende und die Musik dröhnte konsequent durch alle Zimmer. Ließ Boden und Körper vibrieren und gab Alfred das Gefühl, sein Herz habe plötzlich Rhythmusstörungen.
 

Warum hatte sie ihn eingeladen? Als sie ihm per Facebook mitteilte, sie feiere Geburtstag und er könne gern vorbei kommen, war er wie ein aufgescheuchtes Huhn einmal durchs ganze Haus gerast und hatte mehr Energie in sich verspürt, als nach einem Liter Energy Drink auf ex.

Dass auch einige andere Jungs aus dem Baseballteam eingeladen waren, hatte Alfred nicht sonderlich verwundert. Amelia war beliebt geworden in den vergangenen Monaten. Manchmal ging sie mit einigen aus dem Team und ein paar ihrer Freunde nach dem Training noch ein Eis essen. Sie liebte synthetische Eissorten wie Bubble Gum, Cola oder Knusperbrause, von denen sich ihre Zunge und ihre Lippen stets knallbunt verfärbten. Alfred ertappte sich ständig dabei, ihren wohlgeformten Mund zu betrachten. Amelia war aber nicht nur hübsch. Er mochte so vieles an ihr. Wie sie gestikulierte, wie sie frech lächelte oder manchmal über ihre eigenen Füße stolperte. Wie sie bestimmte Worte benutzte und aussprach, die in dieser Gegend kein Mensch kannte.

Jedes Mal, wenn sie in der Nähe war oder wenn Alfred nur an sie dachte, verspürte er so viel mehr Kraft und Tatendrang. In der Gruppe redeten sie gar nicht all viel miteinander. Es waren eher Blicke aus dem Augenwinkel. Alfred wusste zwar viel zu sagen, aber wenn sich die Gelegenheit dann tatsächlich ergab, schien sein Kopf wie leer gefegt und jemand anders ergriff das Wort. Chancen verstrichen.
 

Aber Alfred hatte sich trotzdem nicht vorstellen können, dass sie mit noch jemandem so chattete wie mit ihm. An den schlechten Abenden hatte er immer auf ihre Nachrichten gehofft und gewartet. Wenn sie ihm schrieb, waren die Dinge gut – egal, was er Zuhause hörte und durchlitt. Er hatte so oft das maßlose Essen unterbrochen, wenn plötzlich eine Nachricht von ihr auf dem Bildschirm aufleuchtete. Dann waren angebrochene Chipstüten, Popcorneimer und Marshmallowsäcke nur noch zweitrangig.
 

Alfred hatte sich, zumindest für einen Menschen auf der Welt, besonders gefühlt.
 

Er hatte sich besonders schlecht gefühlt, als er Amelia Seite an Seite mit diesem anderen Jungen sah und ihre Augen an ihm festzukleben schienen. Alfred kannte den hoch gewachsenen Kerl nur vom Sehen. Er war in der Abschlussklasse. Reiche Familie, Schwimmass, ehrgeizig, unverschämt attraktiv. Schöne Freundinnen, immer. Amelia schien ihn anzuhimmeln und Alfred, der zwischen unzähligen Partygästen stand wie eine Eisskulptur, hatte es nicht begreifen können.
 

Was war mit den Lächeln? Und den Blicken? Und den Nachrichten? Warum schaute sie ihm beim Training zu? Warum hatte sie ihn eingeladen?

Warum tat es so weh?

Warum drohte sein Herz zu zerbersten?
 

Warum schrieb sie alles mögliche in ihr blödes Facebookprofil, aber nicht, dass sie vergeben war?!
 

Alfred hatte die Flucht aus dem überfüllten Wohnzimmer mit der cremefarbenen Sofagarnitur in die Küche angetreten, wo massenhaft Essen angerichtet stand. Berge von Salaten und Süßigkeiten, Häppchen und Getränke, Snacks und Fingerfood.

Alfred konnte sich nicht erinnern, was er dort alles vorgefunden hatte. Er hatte einfach angefangen wahllos alles in sich rein zu stopfen. Hier von, da von. Es war ihm egal, wer in die Küche schneite. Die meisten waren ohnehin zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um ihn großartig zu beachten und verschwanden nach wenigen Minuten wieder. Seine Zähne hatten zum Beat der Musik Essen zermalmt. So lange, bis Alfred schmerzlich bewusst wurde, längst keinen Platz mehr im Magen zu haben. Zusätzlich war ihm von all dem Zucker, all der Bowle und all dem Kummer leicht schwindelig. Trotzdem konnte er nicht aufhören, obwohl er bereits wusste, wo es hinführen würde...
 

„Na, alles klar?“, hatte Brad ihn irgendwann beiläufig gefragt, während er sein Bierglas neu auffüllte und bestens gelaunt zu einem lauten RnB-Hit mitsummte. Alfred hatte seine Anwesenheit nur bedingt zur Kenntnis genommen. Alle Menschen schienen wie stumme Fische, die ihre Münder öffneten und schlossen, aber nichts sagten, wenn sie ihm in der Küche einen Gruß zuwarfen.
 

Sich die letzten Gabeln einer riesigen Portion Nudelsalat zwischen die Zähne schiebend, hatte Alfred genickt und ignoriert, dass sein Kumpel ihn verdutzt angrinste.

„Wow, fahr mal ’nen Gang runter, Alter! Ist doch genug da!“
 

Es ging aber nicht darum, ob genug zu Essen da war. Alfred war wie im Wahn. Seine Hände schaufelten blindlings alles in einem Affenzahn in ihn hinein und schoben zwei kleine Hackfleischbällchen zu den Nudelresten.

Den Teller nebenbei in den Müll pfeffernd, hatte Alfred Brad einfach stehen gelassen und war überstürzt aus der Küche gestolpert. Nicht ohne sich noch drei Schokoküsse mitzunehmen. Das war gerade definitiv der falsche Zeitpunkt, um Smalltalk zu halten. Sein Magen schien unmittelbar vorm Platzen zu stehen. Schnellen Schrittes eilte Alfred über den Flur, im Mund die klebrige Süße von Schaummasse und Schokolade, und wollte ins Bad türmen, doch die Türe war zu.
 

„Hinten anstellen!“, beschwerte sich auch sogleich ein Mädchen, was neben zwei anderen Partygästen an der Wand lehnte und Alfred zurechtweisend anglimmte.
 

Diesem lief es eiskalt den Rücken herunter. Er konnte nicht warten! Er hatte zwar schon das ein oder andere Mal zu viel gegessen und dann erbrochen, aber das war sonst immer daheim passiert. Dort hatte er sein eigenes Badezimmer und das Haus für sich alleine. Er hatte also die Situation unter Kontrolle, wenn man so wollte.

Doch hier und jetzt? Er würde sich nicht einreihen und artig abwarten können. Dafür war ihm schon viel zu schlecht. Irgendwie hatte er den Zeitpunkt, an dem er noch unbedarft hätte abwarten können, lange verpasst. Das Essen stieß seine Speiseröhre hinauf und drückte sich seinen Weg nach oben. Er musste etwas tun, wenn er nicht im nächsten Moment auf den frisch gewienerten Boden kotzen wollte!
 

Sich in seiner Not panisch davon machend, hatte Alfred das Haus durch eine Seitentür verlassen, nur um sich dann in der halbdüsteren Garage wiederzufinden. Die klamme Abendluft hatte ihn frösteln lassen und nur noch für eines empfänglich gemacht: dort hinten stand eine Mülltonne, direkt zwischen einer Werkbank und einem Geländewagen.

Die Musik verebbte, als er den Deckel von der metallenen Tonne hob und schon den ersten Schwall erbrach. Alles, was er binnen der letzten Stunde in sich reingefressen hatte, schien gleichzeitig wieder aus ihm heraus zu wollen. Zerrte Ärger und Enttäuschung und Frust und Trauer mit sich und ergab einen stinkenden, groben Brei, in dem die Überreste von künstlicher Lebensmittelfarbe aufleuchteten. Geburtstagskuchen, Sahneschnitten und Chips waren genauso klar ausfindig zu machen wie die sämtlichen Salatsorten, Schaumwaffeln, Smarties, Schokoküsse und das Kräuterbaguette.
 

Während Alfreds Finger sich krampfhaft an den Rand der Tonne krallten, spürte er den Schweiß auf seiner Stirn. Hitze und Kälte jagte ihm mit jedem erneuten Schwall durch die zitternden Muskeln. In einer Heftigkeit, die er zuvor nie so erlebt hatte. Wie viel hatte er bloß verschlungen? Wie viel passte in einen menschlichen Magen hinein?
 

Seine rechte Hand fand automatisch den Weg nach oben, als er spürte, noch immer viel zu viel Essen in sich zu haben, das dringend raus sollte. Mit Mittel- und Zeigefinger stieß er sich grob in den Rachen und übte so lange Provokation aus, bis sein Würgereiz erneut reagierte und noch mehr aus seinem proppevollen Magen nach oben manövriert wurde. In seinen Ohren hallte ein stetes Klingeln wider, war halb surrend und halb piepsend.
 

Auf der Innenseite seiner Brillengläser sowie auf seinen Wangen klebten Tränen, die ihm vom vielen Würgen aus den Augen getreten waren. Der Geschmack im Mund war süß, derb und abstoßend sauer zugleich.
 

Sein Herz hämmerte unentwegt gegen seine Rippen und schien ihn weiter anzutreiben. Vor seinem inneren Auge prangte das Bild von Amelia. Adrenalin schärfte seine Sinne und ließ ihn erschrocken aufschauen, als jemand an dem kleinen Werkschreibtisch die Lampe anknipste. Zwischen Sägespänen und Werkzeugen suchten sich die Lichtstrahlen ihren Weg zu Alfred und blendeten ihn. Trotzdem konnte er Brads Silhouette deutlich erkennen.
 

Alfred fühlte sich wie ein Reh im Scheinwerferlicht; völlig unfähig etwas zu sagen oder zu tun. Brads Gesicht, das allmählich an Konturen gewann, zeigte einen Ausdruck, den Alfred schwer definieren konnte. Obwohl sein Kumpel bereits ein paar Becher Bier intus hatte, waren seine dunklen Augen wachsam und schienen haargenau zu wissen, was sie gesehen hatten.

Alfred hingegen hatte nicht die leiseste Ahnung, wie lange der andere Jugendliche schon in der Garage war. Wann war Brad rein gekommen? Was hatte er gesehen?
 

„Ähm, ich hab wohl irgendwie die Bowle nich’ vertragen“, hörte sich Alfred heiser und schief lachen. An seinem Kinn und seinen Fingern haftete lauwarmes Erbrochenes. Sein Magen schien dermaßen traktiert, als sei er mit 1400 Umdrehungen in der Waschmaschine geschleudert worden.
 

„Alter, ich wusste ja gar nicht, dass du so ’ne abgefuckte Scheiße machst!“ Brad schien nicht beeindruckt, nur durch und durch angewidert.
 

„Ich hab gar nichts gemacht!“, versuchte Alfred es hochrot abzustreiten, doch sein Gesprächspartner schüttelte sogleich den Kopf. Die Essensmenge in der Tonne und die Tatsache, dass er Alfred in der Küche hatte schlingen sehen, schienen ihn überführt zu haben. Brad musste außerdem schon lange genug in der Garage sein, um mitzubekommen, dass Alfred mit den Fingern nachgeholfen hatte.
 

Einen Schritt zurücktretend, ließ Brad seinen Becher in der rechten Hand leicht kreisen und deutete auf Alfred.

„Und ob! Ich weiß doch, was ich gesehen hab, Mann! Das is’ echt krank!“
 

Das letzte Wort besaß eine derartige Durchschlagskraft, dass sich Alfred wie in den Magen geboxt fühlte. Übelkeit flammte erneut in ihm auf, ließ seine Lippe beben und weitere Tränen fließen.

„Ich mach das sonst nicht!“ Seine Stimme war hoch und fremd. Ein Zeugnis purer Verzweiflung. Am liebsten hätte Alfred alles richtig gestellt und Brad erklärt, wie und warum er in den vergangenen Wochen immer mal wieder erbrochen hatte. Was er sich hatte anhören müssen, was er herausgefunden hatte. Was ihm weh tat und was ihn kaputt machte. Aber der Moment erlaubte es nicht. Brad verdrehte höhnend die Augen, ein „aber sicher doch!“ verlierend, ehe er sich einfach abwandte und Alfred stehen ließ.
 

Wenn Alfred gekonnt hätte, wäre er ihm gefolgt, aber das war gerade absolut indiskutabel. Er konnte seinen Teamkameraden nicht aufhalten und die Vorstellung, dass Brad womöglich auf direktem Wege zu Amelia lief und dieser berichtete, was sich in der Garage abspielte, ließ ihm schwarz vor Augen werden.
 

Als würde er sich von außen beobachten, konnte Alfred pinkbräunliche Reste der üppigen Geburtstagstorte an seinem Kinn und seinen Wangen entdecken. Vereinzelte Spritzer sprenkelten den Rand seines T-Shirts und den Kragen seiner Jacke. Weiß wie eine Wand, blieb er zurück, als Brad die Tür zum Haus öffnete und durch diese verschwand.
 

Er würde einen doch nicht verraten, oder? Sie waren doch seit Jahren Teamkameraden! Sie waren schon zusammen in die Grundschule gegangen! Sie waren Freunde!
 

Aber Brad hatte eben nicht wie ein Freund ausgesehen...
 

In Alfred brach erneut blanke Panik aus, ließ ihn schnell den Deckel zurück auf die Tonne donnern und dann das Tor der Garage von innen öffnen. Kaum dass er die Einfahrt hinter sich gelassen hatte, begann er zu rennen, ohne sich auch nur noch einmal umzudrehen. Groß angelegte Wohnhäuser, penibel bepflanzte Vorgärten und sauber geschnittene Rasenflächen flogen an ihm vorbei und verschwammen vor seinen Augen zu einem wüsten Gemisch aus nächtlicher Dunkelheit, gedämpften Straßenlaternen und piekfeinen Behausungen. Obwohl er sich mit dem Jackenärmel ständig übers Gesicht wischte, war es tränenüberströmt, als Alfred endlich bei sich Zuhause durch die Haustür stürmte. Der Gedanke, dass Amelia ihn vermutlich längst hasste, weil Brad ihn verpetzt hatte, ließ ihn bitterlich weinen.
 

Alfreds Nacht war vorüber gegangen, ohne dass er ein Auge zubekommen hatte. Sein gesamter Körper war trotz verzehrender Müdigkeit in permanenter Alarmbereitschaft gewesen. Immer darauf wartend, dass sein Handy klingelte, weil ihn entweder jemand anrief oder ihm jemand eine Nachricht schrieb. Doch nichts dergleichen geschah. Auch nicht an den restlichen Tagen des Wochenendes.
 

Alfred war dennoch so angespannt, dass er sich dabei erwischte, ständig zwischen Küche und seinem Zimmer zu pendeln. Dass er vermehrt aß, war längst keine Seltenheit mehr. Aber jetzt wurde es noch schlimmer. Der Geschmack betäubte ihn, das Essen lenkte ab und übertünchte seine diversen Ängsten zumindest ansatzweise.
 

Als er nach dem Wochenende zaghaft das Schulgebäude betrat, wusste Alfred nicht, was ihn erwarten würde. Mit etwas Glück hatte Brad an dem Abend noch so viel gesoffen, dass er sich nicht mehr an den Vorfall in der Garage erinnerte.

Die Hoffnung war winzig klein, aber Alfred klammerte sich mit all seiner Zuversicht an sie. Doch schon als er seinen Teamkollegen sah und sich ihre Blicke trafen, erblasste Alfred.

Brad hatte rein gar nichts vergessen. So viel sagte sein Gesicht...
 

„Was ist genau passiert?“
 

Alfred blinzelte, als ihn Dr. Brussels Stimme vorsichtig in die Gegenwart zurück geleitete. Er hatte beinahe vergessen, noch immer im Stuhlkreis zu sitzen. Es war so leise, man hätte eine Stecknadel fallen hören und Alfred konnte nur unruhig mit den Fingern den Zettel misshandeln. Was sollte schon passiert sein? Er zuckte mit den Schultern, als habe alles seinen natürlichen Verlauf genommen...
 

„Ich musste in der Garage in ’ne Mülltonne kotzen, weil das Bad besetzt war und ich so viel gegessen hatte, dass ich nich’ mehr warten konnte... Brad ist mir irgendwie hinter gekommen und hat’s dann halt mitgekriegt und gesagt, dass das total krank ist und so. Ich dachte, er erzählt’s sofort allen, hat er aber nicht. Er hat’s erst in der nächsten Woche beim Training rumerzählt und dann haben er und die anderen während des Trainings immer so Andeutungen gemacht...“
 

Außerhalb des Trainings war es schon hart gewesen: Alfred hatte fortwährend das Gefühl gehabt, Brad grinse ihn schief an, sobald die Rede von Essen war oder sie in der Schulkantine an dem langen Tisch saßen. So wie all die Jahre zuvor, nur dass Alfred haargenau spürte, beobachtet zu werden. Sein Teamkollege schaute ganz ungeniert hin, was Alfred wann aß und ob er sich vom Tisch entfernte. Auch bissige Bemerkungen konnte sich Brad nicht verkneifen. Er fragte Alfred frei heraus, ob er nicht noch ein zweites Mittagessen wollte oder dergleichen. Die anderen lachten, weil sie noch nicht involviert waren. Dies änderte sich ab dem Nachmittag, als Brad dem ein oder anderen in der Umkleide etwas zuflüsterte...
 

Die Worte verbreiteten sich mit der zerstörerischen Wirkung eines Lauffeuers. Brad und eine Handvoll anderer Jungen schienen plötzlich jede Gelegenheit zu nutzen, um Andeutungen zu machen, sobald der Trainer außer Hör- und Sichtweite war. Würgegeräusche, Anspielungen aufs Erbrechen. Brad machte liebend gern die Geste, bei der er sich scheinbar einen Finger in den Hals steckte und anschließend prüfend seinen Bauch betrachtete. So als wolle er ganz sicher gehen, dass sich auch ja kein ungewünschtes Fett dort festsetzte. Nur ein kleiner Wink mit dem Zaunpfahl.
 

Es war schrecklich...
 

Wie konnten Jungen, mit denen Alfred seit Jahren ein Team formte und mit denen er sich immer gut verstanden hatten, plötzlich die Seiten wechseln und ihn nur noch als Spielball betrachten? Wie war das geschehen?
 

Alfred hatte zunächst versucht, tapfer über den Kommentaren und Andeutungen zu stehen, obwohl sie ein jedes Mal wie Messerstiche schmerzten. Es würde sicher bald vorbei gehen. Sie waren doch ein Team. Nur: warum wollte plötzlich niemand mehr sein Freund sein? Er konnte doch nichts dafür, dass er von Zeit zu Zeit die Kontrolle verlor. Oder?
 

Anscheinend schon...
 

Und Alfred war schlecht im Ignorieren. Das wusste er. Das wussten die anderen auch. Selbst jene im Team, die ihn nicht aktiv auf dem Kieker hatten, schienen nicht mehr zu wissen, wie sie ihm begegnen sollten. Alfred hatte versucht, sich an sie zu halten. Doch die Jungs schienen sich mit einem Male extrem unwohl in seiner Gegenwart zu fühlen und suchten stets den erstbesten Vorwand, um Gespräche mit ihm zu vermeiden.
 

Es dauerte keine fünf Tage, da war er vom Teammitglied zum Fußabtreter degradiert worden.
 

Baseball machte keinen Spaß mehr und war fortan etwas, das Alfred Bauchschmerzen bereitete. Nach einer Woche Training war er vom Gefühl her so ausgelaugt und verraten, so müde, enttäuscht und verletzt, als ginge das alles bereits monatelang so.
 

So gerne er auch wollte und so sehr er sich auch bemühte, er konnte nicht unbedarft so tun, als störe ihn das Verhalten der anderen nicht. Er hatte es versucht. Er hatte es wirklich versucht. Er hatte jedes verdammte Mal gelächelt, wenn sie ihn wieder einmal verhöhnt hatten. Aber es wurde nicht besser, es tat immer weh und keiner schien die Lust daran zu verlieren, ihn zu mobben.
 

Auf dem Spielfeld wollte Alfred nur noch im Erdboden versinken. Beim Umziehen beeilte er sich und hechtete nach dem Training schnellstmöglich nach Hause.

Amelia war nicht auf der Tribüne an jenen Tagen – und er war dankbar dafür. Seine Augen schienen die kalte Luft des Winters schlechter zu vertragen und tränten von Zeit zu Zeit. Zu weinen wagte er jedoch nicht. Selbst dann nicht, als er abends wieder Zuhause war und zu essen begann. Er würde nicht mehr absichtlich erbrechen, das hatte sich Alfred fest vorgenommen, wenn er ins stille Haus kam, den Fernseher einschaltete und seinen Streifzug durch die Küche begann. Essen war gut, Kotzen war schlecht...
 

Anlässlich seines Geburtstags hatte Chris in der darauffolgenden Woche einige Kartons Donuts mit in die Schule gebracht und sie im Kreise der Baseballclique ausgebreitet. Alfred, der an diesem Tag noch keinen Bissen zu sich genommen hatte, hatte die schier riesigen Kartons mit glänzenden Augen angehimmelt.

Donuts mit Schoko- und Vanilleglasur, mit Cremefüllung, Schokoladensplittern, Kokosraspeln, bunten Streuseln und wirren Farben. Der Geruch ließ ihn schwache Knie bekommen und unüberlegt zugreifen, als der Karton an ihm vorbei wanderte. Seine Finger wollten den Donut aus der Schachtel heben, da hallte Brads Stimme durch den Kreis.

„Willst du nich’ lieber direkt den ganzen Karton nehmen?“
 

Jemand verschluckte sich beim Kauen. Husten und Lachen wallten durch die Runde, während Alfreds Gesicht rot bis zu den Ohren wurde. Zwischen seinen Fingerspitzen schmolz dunkle Schokolade.
 

„He, das geht nicht! Ich hab nur drei Kartons mitgebracht!“ Chris wirkte plötzlich wütend und riss die Schachtel an sich. Auf dem Donut blieben Alfreds eingeschmolzene Fingerabdrücke zurück.
 

„Zu dumm aber auch! Du weißt doch, dass Alfred immer...!“, tadelnd machte Brad die uncharmante Geste mit dem Finger und stieß einen Würgelaut aus.
 

Wieder ertönte eine Woge Gelächter. Chris murmelte irgendwas von „Geldverschwendung“, „mangelnder Disziplin“ und „nicht mit meinen Donuts!“.
 

Es war der letzte Tag, an dem Alfred noch mit dem Team zusammen saß. Am Abend verfasste er Hals über Kopf seine Austrittserklärung und warf sie Tags drauf seinem Trainer ins Fach. Es kamen keine Fragen und niemand bat Alfred, zurückzukommen. Wenn Brad oder einer der anderen ihn jetzt sichteten, taten sie entweder so, als sei Alfred Luft oder sie kicherten wie kleine Mädchen. Die Blicke sezierend, ihm in Herz und Seele schneidend.
 

Er war nicht mehr ihr Freund und Alfred wollte nie wieder zu diesen Leuten zurück. Es genügte ihm, mit einigen in den gleichen Kursen zu sitzen, die ihn im Unterricht heimlich mit Papierkügelchen bewarfen, und von anderen auf dem Flur angerempelt zu werden.
 

„Alle fanden’s lustig oder wollten plötzlich nichts mehr mit mir zu tun haben, also..bin ich irgendwann ausgetreten“, fasste Alfred kurz für seine Mitpatienten zusammen, was vorgefallen war. Ohne Details, deren Erinnerung ihn so dermaßen bedrückte, dass er am liebsten aufgestanden und gegangen wäre. Aber es war wie an den ersten Nachmittagen im Training, als sie über ihn lachten: er lächelte und blieb. Was hätte er denn sonst tun sollen? Etwas sagen? Hätte er sich aufgeregt, wäre die Sache nur noch mehr hochgekocht. Der Trainer hätte es womöglich mitbekommen und seine Eltern informiert. Das war etwas, das Alfred auf alle Fälle hatte verhindern wollen...
 

Lustig?! Ist keiner von denen mal auf die Idee gekommen, dass du vielleicht Hilfe brauchst?!“
 

„Ich wäre unter den Umständen auch ausgetreten...“
 

„Ja, das hätte ich nicht ausgehalten.“
 

Es war egal, wie sehr sich Natalia aufregte und wie viel Sympathie von Sofia und einigen anderen kam. Alfred konnte mit den Worten gerade nichts anfangen. Er kam sich wie gefangen vor in den Gefühlen, die seit Monaten das Korsett seines Lebens formten. Er wollte raus aus dieser beklemmenden Realität, aber es ging nicht. Genauso wenig wie er sich an seinen eigenen Vorsatz hatte halten können, nicht mehr zu erbrechen. Er hatte es getan, wenn auch wohl zu selten. Resultat war, dass all die Essensmengen ihm viel zu viele zusätzliche Kilos auf den Rippen beschert hatten.
 

Er hätte wohl auf Brad hören sollen, damals, kurz vor Beginn der Sommerferien, als sie sich unerwartet auf dem leeren Schulflur begegnet waren. Brad, weil er zu spät dran war und Alfred, weil er etwas in seinem Schließfach vergessen hatte.

Die große Plastikuhr hatte hart getickt und den Gang mit bleiernen Sekunden gefüllt. Alfred konnte sich nur noch daran erinnern, wie er und sein ehemaliger Kumpel sich mit einem Male gegenüber gestanden hatten wie bei einem Duell und Brad ihn so abwertend studierte wie ein widerwärtiges Insekt. Es hatte in den letzten Wochen wenig Begegnungen zwischen ihnen gegeben, doch in dem Moment war alles, was Brad je gesagt hatte, wieder präsent und blutete wie eine frisch zugefügte Wunde.
 

„Scheiße, Mann!“, hatte Brad dann nach seiner ausgiebigen Inspektion amüsiert gegrunzt. „Bist du fett geworden! Du musst dringend mehr kotzen!“
 

Alfred war wütend gewesen. Wütend, erniedrigt, enttäuscht, traurig. Alles. Aber er konnte nichts sagen, da er aus dem Augenwinkel eine weitere Person wahrnahm und als er den Kopf zur Seite drehte, erkannte er Amelia, die in der Tür der Mädchentoilette stand und zu ihnen hinüberstarrte. Das Gesicht ohne Lächeln, schien sie vollkommen fassungslos. Sie musste alles gehört haben und Alfred merkte, wie ihm achtkantig schlecht wurde.
 

Amelia und er hatten jeglichen Kontakt zueinander verloren. Sie schien stets beschäftigt und von Leuten umringt, selbst wenn Alfred sie nicht mehr mit dem Kerl von ihrer Geburtstagsfeier sah. Das war egal. Sie hatte immerhin genug Auswahl und jemand wie er passte definitiv nicht mehr in ihre sportliche, attraktive Clique. Wusste der Himmel, was seine ehemaligen Freunde ihr erzählt hatten, es genügte jedenfalls, um sie auf Abstand zu halten...
 

Er war für alle ein Witz.
 

Nicht auf weitere Beleidigungen wartend, war Alfred den Gang runter geeilt, um die Ecke gebogen und auf dem Jungenklo verschwunden. Seine letzte Stunde war Kunst gewesen und alles, was er dort getan hatte, war Fanta trinken und sich eine Tüte Gummitierchen reinziehen.

Der Spiegel über den Waschbecken zeigte einen durch und durch unförmigen Klops, mit dem Alfred nichts zu tun haben wollte. Er sah weg, stieß die Tür zu einer Kabine auf und schlug sie hinter sich zu. Das Schloss krachte, als er es unbeherrscht verriegelte. Selbst wenn die Toilette nicht leer gewesen wäre, wäre es ihm in diesem Moment völlig egal gewesen. Er war binnen von Sekunden auf den Knien, hatte die Brille abgenommen und kratzte mit den Fingernägeln über seine Gaumenbögen. Aggressiv und voller Wut auf sich selbst, denn Brad hatte bestimmt Recht: wenn Alfred nur etwas mehr erbrochen hätte, wäre er garantiert nicht auseinander gegangen wie ein Hefekloß. All seine alten Klamotten lagen zwar noch in seinem Schrank, aber sie passten Alfred nicht mehr. Er füllte längst einige Kleidergrößen mehr aus...
 

Schleimig und aufgequollen kamen die Furchtgummis unter größter Anstrengung seinen Hals hinauf. Schienen sich auf dem Weg nach draußen in der Speiseröhre festzuhalten, als verfügten sie über Saugnäpfe. Hustend und hartnäckig würgend zwang Alfred seinen Körper, sie wieder herzugeben. Stück für Stück, bis er nur noch beißende Säure spuckte.

Die süße Note von Fanta Mandarine tropfte ihm aus der Nase und brannte gleichermaßen in Nase, Augen und Hirn. Er wusste nicht mal, ob die ganzen Tränen vom anstrengenden Erbrechen kamen oder einfach, weil er das Bild von Amelias Gesicht nicht los wurde. Wie sie da gestanden und ihn angeschaut hatte, eine Hand an der Toilettentür und die blauen Augen so groß, als würden sie die ganze Szene in HD festhalten.
 

Wenn sie bis dato noch nichts von Alfreds eigentlichem Problem mitbekommen hatte, dann war sie jetzt im Bilde. Sie würde ihn nicht nur für einen Idioten halten, mit dem sie dann und wann zum Zeitvertreib gechattet hatte, sondern auch für total gestört...
 

Vermutlich war es ganz gut, dass seit Amelias Party Funkstille zwischen ihnen herrschte. Aus lauter Angst vor fiesen Sprüchen hatte Alfred noch am Wochenende nach der Feier sein Facebookprofil so eingestellt, dass niemand mehr an seine Pinnwand posten, ihn verlinken oder seine Fotos kommentieren konnte. Amelia hatte ihn auch nie mehr per privater Nachricht angeschrieben. Sie musste sich bei seinen ehemaligen Mitspielern erkundigt haben, warum er nicht mehr im Team war, und man hatte ihr wohl eine Erklärung gegeben. Wie auch immer diese ausgefallen war, Amelia schien Alfred nicht mal mehr angucken zu wollen. Womöglich auch, weil sie damals einen beliebten und obendrein extrem gut aussehenden Freund hatte und somit für jemanden wie Alfred, der von Tag zu Tag mehr in die Breite wuchs, keine Zeit mehr blieb. All das war denkbar...
 

Nichts davon aber für Alfred leichter verkraftbar.

{ 11. |  Herzenssüchte }

Es gab Erdbeertörtchen. Handtellergroße, köstlich aussehende Erdbeertörtchen, auf denen die Früchte rot und reif leuchteten.
 

Alfred musste das Törtchen auf Arthurs Teller manisch anstarren, als es nach der Gruppentherapie Zeit für den Nachmittagsimbiss war. Mit der Zacke seiner Gabel kratzte Arthur misstrauisch über die mit Guss überzogenen Früchte auf dem gebackenem Mürbeteigboden. Welchen Gedanken er dabei nachhing, war für Alfred wie so oft nicht auszumachen. Alfred wusste ja nicht mal, wo seine eigenen Gedanken sich gerade rumtrieben. Die Therapiestunde war an ihm vorbeigezogen wie ein surrealer Traum, ohne dass er auch nur ein Wort von Amelia gesagt hatte. Überhaupt hatte er nicht viel mehr gesagt als zwingend notwenig gewesen war. Es ging einfach nicht. Sprechen war nicht wie Kotzen. Egal wie viele belastende und schmerzende Gefühle Alfred glauben ließen zu platzen, er konnte sie nicht einfach rauswürgen. So funktionierte das nicht...
 

Wie schon am Vortrag hatte Dr. Brussels abschließend wieder ein paar klug klingende Sätze zum Besten gegeben, aber Alfred erinnerte sich nicht mehr an den konkreten Wortlaut. Die Tipps schienen wie weggeschwemmt und alles, worauf Alfred sich jetzt in seinem niedergeschlagenen Zustand noch konzentrieren konnte, war das schillernde Törtchen. Der gesunde Erdbeerquark, der für ihn vorgesehen war, interessierte ihn hingegen herzlich wenig. Er wollte ein Törtchen. Nur ein einziges gottverdammtes Törtchen!
 

Als sei es Schwerstarbeit, schob Arthur eine der Erdbeeren von seinem Törtchen und ließ sie auf den Teller platschen, um sie dort zu zerteilen. Alfred konnte den Blick nicht abwenden. Auch nicht, als sein Gegenüber eines der winzigen Stückchen aufspießte und es mühsam zum Mund hob. Die Frucht stoppte jedoch unmittelbar vor Arthurs Lippen, ohne dass es dafür einen plausiblen Grund zu geben schien. Langsam bewegte sich die Gabel samt Frucht nach rechts, zog eine kleine Schlaufe in der Luft und schwebte dann nach links, um dort ihr Manöver zu wiederholen. Dann landete sie mit einem unerwarteten Sturzflug auf dem Teller.
 

„Hör sofort auf damit!“
 

„Was?!“ Alfred musste blinzeln. Arthurs Ärger schien ihn am Schlafittchen zu packen und brutal durchzuschütteln.
 

„Bist du taub oder was?! Ich hab gesagt, du sollst verdammt noch mal damit aufhören, mich so anzugaffen! Ich kann so nicht essen!“
 

„Essen..?“, echote Alfred, der spätestens jetzt bereute, auf Josh gehört und sich wieder an den Fenstertisch gesetzt zu haben. Bis gerade war es ihm ja egal gewesen. Doch jetzt, wo ihn das grüne Augenpaar seines Gegenübers vor Wut tosend anglimmte, schien die durch die Gruppentherapie und die negativen Emotionen aufgekommene Taubheit in Alfred zu schmelzen. Eine Woge Hitze durchflutete seinen Körper und ließ ihn empört schnappen:

Das nennst du essen?! Das hier ist essen!“ Blitzartig schnappte sich Alfred das Törtchen von Arthurs Teller und biss im nächsten Moment herzhaft hinein. All seine Geschmacksnerven schlugen aus wie ein Geigerzähler in einem atomar verseuchten Gebiet. Süße prasselte wie Nadelstiche auf Alfreds Sinne ein und ließ ihn gleich noch einmal in das Törtchen beißen, obwohl er noch nicht mal geschluckt hatte.
 

Es tat gut. So verdammt gut!
 

Essen war wie ein Allheilmittel und machte Alfred blind. Blind für Arthur, der ihn wahrscheinlich völlig entgeistert anstarrte. Blind für die triezenden Erinnerungen, die vom Geschmack wieder dorthin verbannt wurden, wo sie nicht wehtaten und blind für die anderen Patienten, denen das Spektakel nicht entging. Leider aber auch blind für Josh, der vom Mitteltisch aufsprang und zu ihnen hinüber stürzte.
 

Alfred wollte gerade den Rest des Törtchens in seinen Mund stopfen, als sich plötzlich starke Finger um seine rechte Hand schlangen und ihm die süße Glückseligkeit zu entreißen versuchten.

„Stopp! Hör sofort auf, Alfred!“
 

Aufhören? Wieso aufhören? Es war doch nur ein Törtchen! Ein einziges gottverdammtes Törtchen!
 

Reflexartig krallte sich Alfred noch stärker an die wertvolle Wonne, die er sich unter keinen Umständen wieder wegnehmen lassen würde. Seine Kraft wirkte dabei der des Betreuers entgegen, sodass das bedauernswerte Törtchen zwischen seinen Fingern brutal zermalmt wurde. Der Boden löste sich in ein Krümelfiasko auf. Feucht und klebrig drangen Guss und Erdbeeren in Alfreds Fingerzwischenräume. Er dachte ja gar nicht daran, sich das Törtchen wegnehmen zu lassen! Es gehörte ihm! Ihm allein!
 

„Alfred!“, mahnte Josh zum wiederholten Male, ohne Erfolg. Wer hatte denn eben in dieser schrecklichen Therapiestunde sitzen müssen? Wer hatte reden müssen? Wer fühlte sich bis auf die Knochen blamiert? Wessen Leben war bis auf die Grundmauern ruiniert? Und wem verwehrte man obendrein auch noch die einfachen Freuden des Alltags, wie zum Beispiel gutes Essen? Nicht Josh, sondern Alfred! Also hatte er jawohl jedes Recht auf ein Törtchen!
 

„Mann, ich will doch nur ein Törtchen! Ein einziges beschissenes Törtchen! Warum ist das zu viel verlangt?! Kann mir das vielleicht mal einer sagen!?“ Wutentbrannt riss sich Alfred von Josh los und schlug krachend mit der Faust auf die Tischplatte. Die Erschütterung ließ den Tee in Arthurs Tasse überschwappen und Alfreds Quarkschälchen umkippen. Zerquetsche Überreste des Törtchens verteilten sich auf der Tischplatte, direkt um Alfreds Faust herum. Der Rest klebte süß und ein deutliches Erdbeeraroma verströmend zwischen seinen Fingern.
 

Alfreds Augen brannten wie Höllenfeuer. Josh war für ihn ein Idiot. Genauso wie alle anderen Leute, die ihm vorschrieben, wie er zu leben und was er zu essen hatte. Er war verdammte 16 Jahre alt. Wenn er essen wollte, dann aß er. Und wenn er viel essen wollte, dann aß er eben viel. Und wenn er sogar meinte, so viel essen zu müssen, dass er danach erbrach, dann sollten sie ihn das in Dreiteufelsnamen doch tun lassen! Wen kümmerte es denn? Josh persönlich bestimmt nicht! Arthur war einem vermutlich dankbar dafür, ihn von seinem Erzfeind namens Essen befreit zu haben und Alfreds Eltern konnte es auch sonst wo vorbei gehen, was ihr Sohn tat. Sie waren so dermaßen verlogen, sie hatten überhaupt kein Recht, sich noch in sein Leben einzumischen! Sie hatten alles kaputt gemacht! Sie hatten ihm so weh getan und alles, was ihnen einfiel, war Alfred abzuschieben, damit andere Leute sich mit ihm auseinander setzen mussten. Das war doch wohl erbärmlich!
 

Die Hände in einer beruhigenden Geste hebend, trat Josh einen Schritt zurück: „Okay, ganz ruhig, ja? Du weißt, dass wir dir hier nur helfen woll-!“
 

„Mir hilft hier aber keiner!“ Reden und Diäten würden Alfreds Welt nicht wieder in Ordnung bringen. Daran bestand für ihn kein Zweifel. Kein Pfleger, keine Schwester und kein Arzt würde die Dinge jemals wieder gut machen können. Es war vergebens. Höchstwahrscheinlich würde er nie wieder so was wie ein Normalgewicht erreichen. Also sollten sie ihm doch wenigstens das Essen lassen!
 

Unerwartet klatschte Alfred ein Stoß kaltes Wasser ins Gesicht, lief seine Brillengläser hinunter und ließ seinen Hass abrupt in sich zusammenstürzen. Die Nässe rann schnell über seine Haut und seine Haare und tropfte bereits im nächsten Moment auf seinen Pulli und seine Hose.
 

Alfred blinzelte erneut; dieses Mal nicht überrascht, sondern völlig fassungslos.
 

Hinter Josh, aber ob ihrer Größe unübersehbar, stand Anya. Ihr Glas in den Händen haltend, betrachtete sie Alfred mit einer unerschütterlichen Zufriedenheit von oben herab. Ihre Lippen, denen das gewohnt leichte Lächeln anhaftete, kräuselten sich glatt noch etwas mehr, je länger Alfred die Sprache zu fehlen schien. Ihm ging es einfach nicht in den Kopf: hatte das Mädchen ihm gerade allen Ernstes ein Glas Wasser ins Gesicht geschüttet? Hatte sie das wirklich getan?
 

Anscheinend.
 

„So, jetzt können wir in Ruhe weiteressen.“ Das Problem als gelöst betrachtend, wandte sich die Blondine herum und ging bester Laune zu ihrem Platz zurück. Nicht ohne Alfred vorher einen scharfen Blick aus dem Augenwinkel zu schenken. Das Gesicht dabei oberflächlich nett, aber die Augen tief und unergründlich. So als wolle sie ihm raten, nicht auszuprobieren, was sie tun würde, wenn er den Tischfrieden ein weiteres Mal störte.
 

Josh schien kurzweilig zu überlegen, was er zu den Vorkommnissen sagen sollte, ehe er Alfreds Serviette vom Tisch nahm und ihm auffordernd hin: „Du gehst dir jetzt die Hände waschen und trocknest dich ab. Danach sitzt du hier deine halbe Stunde ab! Ich werde Dr. Brooke von dem Vorfall berichten!“
 

Patzig schnappte Alfred nach der Serviette und stand kühl von seinem Stuhl auf. Sein Blut rauschte, sein Herz hetzte. Irgendwo tuschelte jemand, garantiert über ihn. Die Blicke aus allen Ecken und Winkeln des Raumes gingen ihm durch Mark und Bein. Dass diese Menschen wussten, was er in der Therapiestunde über sich offenbart hatte, machte ihn krank vor Demut.
 

Mit der sauberen Hand nahm sich Alfred die Brille von der Nase und machte sich zugleich auf den Weg zum Waschraum. Wie konnte alle Welt nur so ein Theater wegen eines Törtchens machen?
 

Alfred war speiübel vor Zorn, als er in den Waschraum preschte und sogleich einen der Wasserhähne anstellte. Hart schoss der Strahl ins Becken, in dem vor nicht all zu langer Zeit ein voll gekotztes Kissen gelegen hatte.

Mit den Zähnen knirschend, kam Alfred nicht drum herum, darüber nachzudenken, wie es wohl sein mochte, so wenig zu erbrechen wie Tino. Er kannte das, abgesehen von den Gummitierchen, die ihm nach der Begegnung im Schulflur hochgekommen waren, nur im großen Stil. Aber vielleicht half es ja auch, wenn man nur ein bisschen erbrach? Würde das den gleichen Effekt heraufbeschwören?
 

Alfred zog seine rechte Hand unter dem Wasserstrahl hervor und studierte eingehend seine Finger. Vielleicht klappte es tatsächlich? Aber wie witzlos war es, sich das Törtchen erst so hart zu erkämpfen und es dann wieder zu erbrechen? Was waren das nur für merkwürdige Bahnen, die sein Verstand einschlug? Lag es an der Klinik? An der Therapie? An den anderen Patienten? Oder doch an Alfred selbst? War er einfach so..krank?
 

Frustriert klatschte er sich eine Ladung Wasser ins Gesicht, bevor er den Hahn wieder zudrehte und sich seufzend aufs Waschbecken stützte. Den Kopf ließ er entmutigt nach vorn hängen. Unter seinen vom Wasser gekühlten Wangen pulsierte die Haut.

Was war da nur eben im Speisesaal geschehen? Wie hatte das passieren können? Alfred würde wirklich nie wieder an Gewicht verlieren. Er hatte sich null im Griff und sobald er hier raus war, wollte er nur noch eines tun: essen. Jede Menge essen. Und zwar alles, was sie ihm hier verwehrten. Einen anderen Wunsch empfand er gar nicht mehr...
 

Resignierend starrte Alfred auf seinen Bauch, der sich unelegant unter seinem Pullover abzeichnete. Er war unbeherrscht. Kein Wunder also, dass er zu fett war. Kein Wunder, dass Brad ihn erwischt hatte. Kein Wunder, dass Amelia den Kontakt zu ihm abgebrochen hatte. Kein Wunder, dass ihn all seine Freunde nur noch ausgelacht hatten und seine Eltern kein Interesse mehr daran hatten, mit ihm eine Familie zu sein. All das war wirklich überhaupt kein Wunder...
 

Und was tat Alfred? Er sorgte nicht dafür, dass sich die Dinge besserten, sondern er sorgte konsequent dafür, dass sie immer schlimmer wurden...
 

Da steckte man ihn schon extra zum Abnehmen in eine Klinik und er bekam nicht mal das hin. Nicht mal das! Seinem Vater konnte nun wirklich kein Vorwurf gemacht werden. Wenn Alfred ehrlich war, hätte er sich anstelle seines Vaters auch nicht für Alfred entschieden. Niemand würde sich für einen Sohn wie Alfred entscheiden...
 

Wie viel mehr würde die Waage morgen früh anzeigen wegen des Törtchens? Die Frage nahm plötzlich erschreckend viel Platz in Alfreds Gedanken ein. Ihm schauderte regelrecht, als er sich Cleopatras scharfe Katzenaugen vorstellte, die gnadenlos die fiesen Zahlen vom Display der Waage ablasen und sie dann in Alfreds Akte verewigten. So weit durfte es unter keinen Umständen kommen! Alfred musste etwas tun! Schemenhaft konnte er seine rechte Hand erkennen, als sie sich seinem Gesicht immer weiter näherte und auf direktem Wege seinen Mund anpeilte.
 

„Alfred?!“
 

Joshs eiskalte Stimme ließ den Angesprochenen hochschrecken und hastig das Handtuch vom Haken rupfen, um sich Gesicht und Hände abzutrocknen. Der Betreuer ließ ihn nicht eine Sekunde aus dem Visier; das spürte Alfred haargenau.

Ob Josh das vage Vorhaben witterte? Alfred kam sich jedenfalls ertappt vor, obwohl er nicht mal etwas Schlechtes getan hatte. Außer das Törtchen an sich zu reißen, doch sein Trotz war nach wie vor der felsenfesten Überzeugung, im Recht zu sein. Es war doch nur ein Törtchen! Ein einziges gottverdammtes Törtchen!
 


 

{  +  +  +  + +  }
 

Es war offiziell: Arthur musste Alfred hassen.

Der Grund war für Alfred persönlich lächerlich, aber er war ja auch nicht magersüchtig. Ihn würde es nie im Leben aufregen, wenn man ihm ein neues Törtchen hinstellte. Er würde auch nie darüber diskutieren, von dem Törtchen nicht alles essen zu müssen, weil er von dem anderen schon gekostet hatte.
 

„Du hast nich’ mal eine Erdbeere gegessen!“, hatte sich Alfred grantig in die Diskussion eingemischt und damit gerechnet, dass Arthur ihn wieder treten würde. Doch nichts dergleichen war geschehen. Arthur hatte lediglich beleidigt die Backen aufgeblasen und die Gabel in das neue Törtchen gestoßen, um sich dem Kampf zu stellen. Keine Widerworte mehr. Eher schien er sich durch Alfreds Aussage provoziert zu fühlen und die Herausforderung in Form eines ganzen Törtchens anzunehmen.
 

Alfred war es egal gewesen. Er hatte, die Unterlippe schmollend vorgeschoben, auf seinem Stuhl gesessen und gewartet. 30 Minuten waren eine lange Zeit, wenn man nichts Anderes tun durfte als rumzusitzen. Sie durften in der Zeit nicht aufstehen, nicht lesen, nicht fernsehen – einfach gar nichts. Es war eine Strafe. Die Strafe dafür, dass man sich sonst ab und zu übergab. Alfred fand das restlos übertrieben. Was war bitte so schlimm daran, wenn er das ein oder andere Mal sein Essen wieder rauswürgte? Er war nicht dünn, er würde nicht verhungern, und was sollte bitte sonst großartig passieren? Er würde schon nicht tot umfallen deswegen! Seine Eltern und die Ärzte waren doch vollkommen verrückt.
 

Nach 20 Minuten hatte Arthur seinen Erzfeind zu rund ¾ ausgelöscht, doch wann immer Alfred versehendlich zu seinem Tischnachbarn hinüber sah, entdeckte er etwas Stures in dessen Augen. Alfred deutete es als Hass. Vielleicht ja auch Abscheu, weil Arthur nie und nimmer so widerlich fett werden wollte wie Alfred es war. Alfred wollte wirklich nicht länger darüber nachdenken und bevorzugte es, mit den Fußspitzen das dezent graue Muster des weiß-grauen Bodens nachzuzeichnen. Er war eben ein von Grund auf böser und verkommener Mensch! Er hatte es ja kapiert. Er sorgte dafür, dass Arthur eine Erdbeere mehr zu sich nehmen musste, als in seinem Speiseplan vorgeschrieben war. Es tat ihm bedauerlicherweise kein bisschen leid!
 

Alfred ignorierte sämtliche Blicke, die ihn streiften und sah irgendwann nur noch wacker in den kleinen Klinikpark hinaus. Kieswege, weite Bete, hohe Bäume, buschige Hecken – alles war vom wetterlichen Tief der vergangenen Tage gezeichnet. Hier und dort stand eine Bank, zudem gab es einen kleinen Pavillon aus Holz. Nichts Spektakuläres also und nichts, was einen zu dieser Jahreszeit animierte, sich im Freien aufzuhalten.
 

Als Alfred endlich das erlösende „Deine halbe Stunde ist um“ vernahm, marschierte er schnurstracks auf sein Zimmer. Die Türe knallte er demonstrativ laut hinter sich zu. Die Wut war noch immer in ihm. Aber zumindest war auch das Törtchen dort geblieben, wo es hingehörte. Alfred war für sich zu dem Ergebnis gekommen, dass er es wirklich witzlos fand, kleine Portionen auszukotzen. Es war die Mühe nicht wert. Lieber aß er bis ihm so dermaßen schlecht war, dass es ihm fast von selbst hoch kam.
 

Trotzdem... Was, wenn die böse Cleopatra ihm morgen mitteilte, dass er zugenommen hatte? Sie würde seinen unförmigen Körper mit höchstem Argwohn betrachten und ihm mit verachtendem Blick ins Bauchfett stechen. Wie viele Kalorien hatte denn so ein Törtchen? Wie würde es sich auf Alfreds Gewicht auswirken? Wie konnte etwas so Köstliches Alfred nur so unerhört viele Probleme bereiten? Was würde Dr. Brooke zu der Angelegenheit sagen? Und wie sollte Alfred den Vorfall jemals rechtfertigen? Er wusste doch nicht mal, warum er die Beherrschung verloren hatte. Er wusste nur, dass er es getan hatte.
 

Wie schafften Leute wie Arthur und Feli es, keinen Hunger zu haben? Warum konnten sie so leicht aufs Essen verzichten, während in Alfreds Kopf kaum mehr für andere Dinge Platz zu sein schien?
 

Mit dem letzten Gedanken öffnete sich die Zimmertüre und Feliciano schlüpfte herein. Sein Gesichtsausdruck strahlte eine abwägende Vorsicht aus, als er weiter in den Raum trat und zu Alfred hinüber schaute, der mit dem Rücken an die Wand gelehnt auf seinem Bett saß und verdrießlich vor sich hin starrte.
 

„Wieso hast du nie Hunger?“ Alfred konnte es nicht freundlich artikulieren. Sein Zorn zerbrach die Worte wie morsches Holz.
 

„Was, ve~?“ Feliciano, der soeben an der Heizung unterm Fenster ankam, stellte diese wieder auf die höchste Stufe. Sein Gesicht wirkte verwirrt, wenngleich sich Alfred vollkommen sicher war, dass sein Zimmernachbar die Frage durchaus verstanden hatte.
 

„Ich hab immer Hunger. Wieso hast du keinen?“ Gab es da einen Trick? Oder worin lag das Geheimnis? Alfred hätte es nur zu gerne gewusst: wie kam es, dass einige Leute offenbar keinen Appetit verspürten? Wie funktionierte das?
 

„Ah...!“, machte der Braunhaarige und angelte sich ein Kissen vom Bett, um es auf den Heizkörper zu legen und sich dann darauf zu setzen. „Ich ess einfach nicht gerne ohne meine Familie, ve~.“
 

Alfred verzog kritisch den Mund, während er Feliciano dabei beobachtete, die Beine vor und zurück zu schwingen.

„Musst du ja bald nich’ mehr...“ Murmelnd erinnerte sich Alfred daran, dass Feliciano erwähnt hatte, demnächst entlassen zu werden.

In der Tat legte Feliciano nun den Kopf in den Nacken und schaute zufrieden lächelnd zur Zimmerdecke hinauf. Das Schwingen der Beine partout nicht einstellend.

„Ja, ich kann’s kaum erwarten! Ich freu mich so, sie alle wiederzusehen! Und dann machen wir ganz viel Pasta und zum Nachtisch ein Tiramisu. Meine Mutter macht das beste Tiramisu auf der Welt, ve~. Genau richtig, nicht zu viel und nicht zu wenig Espresso!“
 

Felis Lider schlossen sich genüsslich. Er machte den Eindruck, als ließe er sich das Dessert auf der Zunge zergehen. Alfred war neidisch, so neidisch...! Erst recht, als Feliciano in seinen Erzählungen fortfuhr.
 

„Immer, wenn meine Mama Geburtstag hat, machen wir zwei Wochen Urlaub in Italien. In dem kleinen Dorf, wo sie geboren wurde und meinen Papa kennen gelernt hat, ve~. Die zwei haben dort sogar geheiratet! Es ist so schön da, vom Haus meiner Großeltern kann man direkt aufs Meer schauen. Abends sitzen wir immer alle zusammen auf der Terrasse und essen und trinken gemeinsam, und spielen Karten und erzählen und irgendwann schlafe ich neben meinem Fratello auf der Hollywoodschaukel ein... Weißt du, wir werden bald alle wieder in Italien wohnen. Sobald ich hier raus bin. Dann ist alles gut, ve~!“
 

Jemand schien einen hauchdünnen, reißfesten Bindfaden um Alfreds Hals geschlungen zu haben und ihm auf diesem Wege langsam die Luft abzuschnüren. Mit jedem Wort, was er Feliciano schwärmen hörte, wurde Alfred immer übler. In seinem Kopf stürzten Erinnerungskartons um und ihr Inhalt purzelte wüst durcheinander. Der letzte Urlaub der Familie Jones war eine zersplitterte Ewigkeit her:

Disney World. Alfred mit einem Luftballon am Rucksack, weil er so klein und aufgedreht war, dass er seinen Eltern in jenen Tagen immer davon lief und es ihm nie schnell genug gehen konnte. Alfred hatte das Gefühl gehabt, jede Sekunde ausnutzen zu müssen und seine Eltern trödelten. Sie trödelten an einem Tag wie diesem, den sie in der strahlend aufregenden Disney World verbrachten. Damals für ihn völlig unverständlich, aber jetzt, wenn er es erneut überdachte, konnte er jedes aufgesetzte Lächeln seiner Mutter und jeden taktlosen Satz seines Vaters genauestens identifizieren. Ein Mann und eine Frau, die nur miteinander Zeit verbrachten, weil ein Kind sie an je einer Hand mit sich riss. Sie wollten aber nicht mitgerissen werden. Sie wollten in verschiedenen Richtungen gehen. Sie hatten Alfred irgendwann losgelassen...
 

„Meine Eltern hassen sich...“
 

Alfred war nicht bewusst, den Gedanken laut ausgesprochen zu haben. Erst Felicianos bestürztes Augenöffnen ließ es Alfred verstehen. Von der Heizung aus starrte ihn der Italiener an, traurig und schockiert zugleich.
 

Das Gefühl des Erstickens wurde schlimmer für Alfred. Was redete er hier?

„Ähm, ich meinte nur, sie-sie kommen nich’ mehr so gut miteinander aus und na ja, da bin ich jetzt auch keine Hilfe irgendwie. Vor allem nich’, wenn ich hier eingesperrt bin, statt Zuhause zu sein...“ Es gab nichts, was Alfred daheim tun könnte, um die Dinge noch zu kitten. Trotzdem hatte er noch immer dieses unermessliche Bedürfnis, schnellstmöglich aus der Klinik entlassen zu werden und wieder in sein altes Leben zu schlüpfen.
 

Felicianos braune Augen schienen unverändert, als er sich einmal über die Lippen leckte und dann wieder zu lächeln begann. Anders als eben, durchweg warm, tröstlich und entgegen kommend.

„Wir können ja zusammen daran arbeiten, hier raus zu kommen; ja? Dann sind wir schneller wieder bei unseren Familien!“
 

Alfred, der die Füße an den Knöcheln übereinander gelegt hatte, wackelte abschätzend mit den Zehen und wusste gar nicht, wie ihm geschah, als Feliciano sich schwungvoll von der Heizung abstieß und ihm im nächsten Moment eine Hand hin hielt. Felis Miene war dominiert von seinen feinen Wangenknochen und langen Wimpern über den glänzend großen Kulleraugen.
 

Alfred kam sich ungelenk vor, als er die Hand ergriff und sich dann vom Bett aufstehen helfen ließ. Felicianos Finger lagen dürr, rau und kühl zwischen seinen, aber dafür war Alfred kaum empfänglich. Viel mehr steckte ihn der unbeschreibliche Tatendrang seines Mitbewohners an. Feliciano wirkte, als würde er sich vor Freude überschlagen.

„Mir geht’s immer viel besser, wenn ich mich bewege. Lass uns ein paar Übungen machen! Dann bist du auch das Törtchen wieder los, was du nicht hättest essen sollen. Und wenn wir hier raus sind, dann kannst du uns ja mal in Italien besuchen! Das ist so schön da, das glaubst du nicht, ve~... Ich kann dir alles zeigen und dir Italienisch beibringen!“
 

Allein die Erwähnung des Törtchens trieb Alfred die Schamesröte ins Gesicht. Er wollte gar nicht mehr an vorhin denken, auch wenn ihm immer noch der köstliche Geschmack der frischen Früchte auf der Zunge lag.
 

Allerdings stimmte es, was Feliciano sagte: Bewegung war an und für sich nichts Schlechtes, sondern konnte das Wohlbefinden ungemein steigern. Hier gab es auch keine fiesen Teamkollegen oder einen antreibenden Mathias, der Unmögliches von Alfred verlangte. Hier gab es nur Feliciano und ihn und die Aussicht, morgen keinen Tadel von Cleopatra zu kassieren, sondern in ferner Zukunft wieder ein freier Mensch unter der Sonne zu sein.

{ 12. | Wertschätzung }

Sonntags war alles anders – oder zumindest vieles. Alfred musste sich zwar, wie an jedem anderen Morgen auch, auf die Waage quälen, aber weder Sport noch Gruppentherapie würden ihm diesen Tag vermiesen. Bestens gelaunt, da auch die kleine Fitnessstunde mit Feliciano ihre Wirkung gezeigt und Alfred trotz Törtchen nicht zu- sondern sogar 600 Gramm abgenommen hatte, hatte Alfred den Tag dazu genutzt, gleich nach dem Frühstück wieder ins Bett zu kriechen. Die Mahlzeit hatte er mehr oder weniger im Halbschlaf zu sich genommen. An Essen um kurz nach sieben in der Früh würde er sich nie und nimmer gewöhnen können. Nur gut, dass das ein Ende haben würde, sobald er wieder in die Freiheit entlassen wurde. Bis dahin hieß es schlicht: durchhalten!
 

Felicianos Hilfe und die 600 Gramm Gewichtsverlust waren da ein guter Anfang. Selbst Cleopatra hatte so was wie Zufriedenheit ausgestrahlt, als sie die Zahl in der Akte notierte und Alfred danach entließ.
 

Das anschließende Frühstück war eine eklige Mischung aus übersättigtem Schweigen und strenger Beaufsichtigung gewesen. Alfred hatte von sich aus kein Gespräch mit Arthur angefangen und jener hegte auch kein Bedürfnis dahingehend. Wie so oft, schien ihm irgendwas extrem Wichtiges durch den Kopf zu gehen. Für gewöhnlich wirkten Menschen beim Nachdenken abwesend, Arthur hingegen wirkte dabei besonders präsent. So als wären seine Augen überall, während er stumpf sein Brötchen kaute.
 

Zu Alfreds Leidwesen hatte der Vorfall mit dem Törtchen dafür gesorgt, dass es für nötig befunden wurde, wieder jemanden vom Personal in seiner Nähe sitzen zu lassen. An diesem Morgen traf es den Pfleger, mit dem Alfred erst am Vortag aneinander geraten war. Unter seiner ungenierten Beobachtung hatte Alfred sein Mehrkornbrot sowie seine spärliche Portion Müsli hinab gestürzt und bittersüß gelächelt, als alles endlich in seinem Bauch verschwunden war. Irgendwas hatte sein Körper gegen Nahrung zu dieser Uhrzeit; Alfred fühlte sich müde und schwer, als er wieder ins Zimmer kam und sich wie ein Stein auf sein Bett fallen ließ.
 

Der gestrige Tag war so verdammt anstrengend gewesen, dass selbst eine 8-Stunden-Nacht als Erholung nicht gereicht hatte. Alfred glitt zurück in einen leichten Schlaf, der den Vormittag zusammenschrumpfen und Alfred seine Hausaufgabe für die morgige Therapiestunde glatt vergessen ließ.
 

Erst kurz vorm Mittagessen wurde Alfred wieder wach. Wie so oft fehlte von Feliciano jede Spur. Er war nicht im Zimmer und auch auf der Station konnte Alfred ihn nirgends entdecken, als er aus seinem Zimmer schlenderte und einfach nur froh darüber war, dass man gerade keine anderen Erwartungen an ihn stellte als zu Mittag zu essen. Für so manchen Patienten beinahe ein Ding der Unmöglichkeit, für ihn immerhin machbar.
 

„..das ist einfach nur eklig, Feliciano!“ Die tadelnde Stimme einer Krankenschwester eilte besagtem Jugendlichen voraus, der mit hängenden Schultern als letzter den Raum betrat, in dem schon alle zum Essen versammelt waren. Hinter ihm die deutlich verärgerte Schwester, deren Gesicht sogar einen empörten Rotstich aufwies.

„Iss jetzt! Und wehe, ich muss dich noch mal aus dem Wäschewagen fischen!“
 

„Wäschewagen?!“ Alfred vergaß glatt, seinen Löffel zum Mund zu führen. Selbst Arthur zeigte eine deutliche Reaktion, obwohl er bis dato genauso emotional verschnürt gewesen war wie schon beim Frühstück. Alfred kam es so vor, als würde unter Arthurs straffen Gesichtszügen etwas wüten, das sich ganz schnell versteckte, sobald Arthur sich wieder auf seinen Teller und das (Nicht)Essen konzentrierte.
 

Feliciano hingegen kauerte sich mehr denn je auf seinem Stuhl zusammen. Über einem bordeauxfarbenen Pullover trug er einen langen, hellen Cardigan, doch es schien nicht zu reichen. Alfred sah ihn deutlich zittern.
 

Im Wäschewagen... Feliciano hatte sich allen ernstes im Wäschewagen versteckt. Wie um alles in der Welt war er überhaupt auf diese Idee gekommen? Täglich wurde die Wäsche der Patienten am Vormittag abgeholt. Gelegentlich kam es dabei zu Verzögerungen, sodass die großen Wagen unbeaufsichtigt auf dem Flur standen. Dass der Braunhaarige nicht davor zurückgeschreckt war, sich zwischen benutzten Handtüchern, schmutziger Bettwäsche und getragener Kleidung zu verkriechen, machte Alfred fassungslos. Er war auch nicht gerne in dieser Klinik und, genau wie sein Mitbewohner, sehnte er sich nach seinem Zuhause und seiner Familie. Aber Alfred würde deswegen niemals so weit gehen...
 

„Bekommst du heute auch Besuch? Ist ja dein erster Besuchstag bei uns.“ Zu Alfreds Unmut schien sich der Pfleger gerade zu langweilen und seine Vorliebe für Smalltalk entdeckt zu haben. Seine Frage ließ Alfred jedoch seine Antipathie vergessen und erstaunt die Brauen heben.

„Besuchstag?“
 

„Ja, jeden Sonntag ist doch hier Besuchstag.“
 

„Was, echt?!“ Das war Alfred neu. Womöglich wurde es bei seiner Einweisung erwähnt, er hatte es aber nicht in Erinnerung behalten. Doch nun, da er verdutzt in den Raum schaute und dabei die übrigen Jugendlichen etwas genauer unter die Lupe nahm, fiel ihm auf, dass die meisten anders angezogen waren. Viele Mädchen hatten die Haare frisiert, anstatt sie nur schlicht zusammen zu binden, und auch was das Outfit betraf, wirkte die Garderobe heute um einiges bewusster gewählt als sonst. Lediglich Arthur zeigte mit seinem anthrazitfarbenen Hemd unter einer kurzen, schwarzen Weste keinen großartigen Unterschied zu seiner sonstigen chicen Garderobe. Ob er auch Besuch erwartete?
 

Alfred jedenfalls konnte sich nicht entsinnen, dass ihm seine Eltern angekündigt hätten, am Sonntag her zu kommen. Vielleicht hatten sie es ja vergessen? Oder gingen davon aus, das Personal sage ihm Bescheid? War das möglich? Riefen sie deswegen nicht an? Bestimmt!
 

„Meine Eltern kommen ganz sicher!“, freute er sich plötzlich, ohne es sich selbst so recht erklären zu können. Irgendwo in ihm war die Hoffnung, zurück nach Hause zu kommen, wieder aufgekeimt.

„Kommen deine Eltern auch?“
 

Arthurs mit andächtiger Leere aufgestockter Blick traf Alfred wie ein gut platzierter Kinnhaken. Sogleich bereute Alfred seinen Übermut, der ihn das tischliche Schweigen hatte brechen lassen.
 

„Nein, das brauchen sie nicht!“, machte Arthur unmissverständlich klar. Alfred hatte das Gefühl, in ein Wespennest gestochen zu haben. Was hatte er denn jetzt schon wieder falsch gemacht? Es war doch nur eine einfache Frage gewesen! Wahrscheinlich hatten Arthurs Eltern mittlerweile gar keine Lust mehr, herzukommen und sich den Tag von ihrem unhöflichen Sohn verderben zu lassen.
 


 

{ + + + + + }
 

Als um 13:30 Uhr die offizielle Besuchszeit anfing, waren die Plätze an den Esstischen längst geräumt. Alle hatten vorbildlich gegessen, selbst Lili war für ihre Verhältnisse zügig fertig geworden. Nur einer kehrte nicht ins Zimmer zurück: Feliciano.

Ob er direkt im Aufenthaltsraum geblieben war? Oder starrte er immer noch sein Essen an und wartete darauf, dass es sich unter seinem flehendlichen Blick in Luft auflöste?
 

Alfred wusste es nicht, sondern hatte, kaum dass er den Tisch verlassen durfte, in Windeseile seine wichtigsten Sachen zusammengepackt. Falls er seine Eltern überzeugen konnte, ihn wieder mitzunehmen, musste es schnell gehen!
 

Durch die halb offene Zimmertür hörte er, wie mehr und mehr Leute die Station betraten und über den Flur liefen. Fremde Stimmen, ausufernde Begrüßungen und viele Worte flogen dort draußen vorbei. Offenbar waren schon eine Menge Besucher eingetroffen, doch bis dato hatte Alfred noch nicht die ihm bekannten Stimmen vernommen.
 

Als er gegen 13:40 Uhr aus dem Zimmer zurück zum Aufenthaltsraum spazierte, war dieser mit reichlich Menschen gefüllt. Die Sofaecke war von Anya, Natalia und Sofia eingenommen. Zusätzlich waren noch einige unbekannte Besucher dabei. Eine üppig geschminkte und mit übertrieben viel Schmuck behangene Frau, die auf die 50 zusteuerte, hatte irgendwas auf dem Tisch ausgebreitet, worüber sich alle Anwesenden begeistert beugten. Entzücken und Staunen drangen aus der kleinen Menschentraube, während Anya etwas Verlegenes anmerkte. Ihr hübsches Gesicht war errötet, doch niemand schien ihr Unbehagen sonderlich zur Kenntnis zu nehmen.
 

Alfred konnte die Quelle der Begeisterung von der Tür aus nicht sehen. Doch es schien so, als würden Fotos oder etwas in der Art die Runde machen. Zusätzlich drückte die fremde Frau Anya stolz an sich und lächelte, wobei sich ihre gebleachten Zähne filmreif präsentierten. Ob das Anyas Mutter war? Zwar trug die Besucherin schwarze High Heels, die zu ihrer engen Jeans und dem modischen Oberteil sowie der Lederhandtasche passten, doch die Körpergröße kam in etwa hin. Nur dass Anya wesentlich mehr Speck mit sich herumtrug und ihr Gesicht nicht so zugekleistert war. Alfred bemühte sich um einen Vergleich der Gesichtszüge und glaubte, auch dort eine gewisse Ähnlichkeit ausfindig machen zu können.

Anyas Mutter war an und für sich aber keine attraktive Person. Alfred kam weniger wegen des Altersunterschiedes zu der Schlussfolgerung, als vielmehr wegen ihres Wesens. Wann immer Anya den Mund öffnete, unterbrach ihre Mutter sie und schien alles besser zu wissen. Den anderen Beteiligten fiel es gar nicht auf, aber Alfred bemerkte, dass Anya es irgendwann aufzugeben schien. Sie lächelte, doch sie war nicht mehr Teil der Unterhaltung. Sie war da, weil es erwartet wurde, aber nicht, weil es jemanden tatsächlich interessierte...
 

An einem anderen Tisch saß Lili, gemeinsam mit einem gut gekleideten, jungen Mann und einer zierlichen, blonden Frau. Hier war die familiäre Ähnlichkeit sofort sichtbar. Der junge Mann wirkte angespannt und tätschelte Lili einmal unbeholfen die Hand. Er wollte mehr für sie tun, wusste aber eindeutig nicht, wie. Lili schien es zu spüren.

Alles in allem wirkte die Stimmung am Tisch wesentlich häuslicher als beim Sofa. Lili redete leise, aber sie redete und wirkte dabei traurig und glücklich zugleich, weil ihre Familie ihr Gehör schenkte.
 

Wie zu erwarten war, stand Felicianos Mittagessen noch so gut wie unangerührt vor ihm. Gemeinsam mit der Krankenschwester, die ihn aus dem Wäschewagen gezogen hatte, saß er an dem kleinen Tisch neben dem Eingang und kämpfte gegen Tränen. Alfred verstand das nicht. Freute sich Feli denn nicht mal am Sonntag? Seine Familie würde ihn doch bestimmt besuchen kommen. Das musste ihn doch aufheitern! Wenn nicht das, was dann?
 

„Oh, mon dieu...“, hörte es Alfred plötzlich trüb hinter sich, ehe ein fideleres „Bonjour, Feli!“ erklang. Der blonde Besucher, der sich soeben elegant an Alfred vorbei in den Raum schummelte, löste bei Feliciano ein Zucken aus. Kein verschrecktes, sondern ein durchaus positiv überraschtes.
 

„Francis!?“
 

„Genau der!“ Der Fremde begrüßte Feliciano, indem er sich leicht hinab beugte und ihn kurz aber liebevoll drückte. Immer darauf Acht gebend, Felicianos ausgemergelten Körper nicht zusätzlich zu belasten.

„Bonjour, Mademoiselle!“, galt sein nächster Blick der Schwester, die, wie Alfred glaubte, vornehmlich errötete und eine Erwiderung zirpte. Dabei konnte sich Alfred gar nicht erinnern, die Frau je so bewegt erlebt zu haben.
 

Alfred war verdutzt, als er spürte, dass der Besucher auch ihm einen kurzen, tiefen Blick zuwarf. Er schien erfreut. Alfred spürte sich automatisch lächeln, ohne es bewusst zu realisieren. Zusätzlich wurde ihm unerklärlich warm ums Herz. Es musste daran liegen, dass sich schon lange kein Mensch mehr so froh über seine Anwesenheit gezeigt hatte.
 

„Ça va?“, erkundigte sich der Besucher bei Feliciano. Jener schaute verlegen auf sein Tablett und spielte nicht mal mit dem Besteck; so als befürchte er, durch die bloße Berührung würden Kalorien durch seine Fingerspitzen in seinen Körper kriechen.

„Ich will nach Hause...“
 

„Oui, je sais...“, hielt der Fremde seine Stimme positiver als sein Gesicht aussah, indessen er Felicianos Teller etwas näher an ihn heran schob. „Hmmm, gebratene Schweinefleischmedaillons an Wildreis, mit Champignon-Rahm-Soße und gemischtem Salat.“

Noch etwas Französisches ergänzend, was Alfred nicht verstand, schien der Mann Feli das Essen gut zu reden zu versuchen. Jedoch ohne sonderlichen Erfolg. Feli zog lediglich die Unterlippe tief zwischen die Zähne; seine Füße wippten manisch auf den Zehenspitzen.
 

Alfred konnte nicht sagen, warum er all das so interessiert verfolgte. Eigentlich müsste dem Fremden doch klar, dass Feli nicht essen würde? Alfred hatte auch schon sämtliche Überredungskünste und Euphemismen bei Feliciano versucht. Alles schien vergebens. Dass Feliciano mit der Gabel durch den Reis kratzte und die Körner zu zählen schien, bedeutete gar nichts. Außer dass er seinem Teller mehr Beachtung schenkte als seinem Gast.
 

Zumindest ging Alfred davon aus, dass der Fremde ein Besucher von Feliciano war – bis zu dem Zeitpunkt, als Arthur plötzlich in der Tür neben Alfred stand. Francis schien seine Anwesenheit instinktiv zu spüren und sah sogleich auf. Der teils besorgte, teils aufbauende Ausdruck auf seinem charmanten, wohl definierten Gesicht wich einem sanft-neutralen, als er Arthur entdeckte.

„Mon cher“, lächelte er selbstbewusst und verließ seinen Posten an Felicianos Seite. Alfred wollte nicht dreist starren, doch wegsehen konnte er aus unerfindlichem Grund nicht, als Arthur mit minderer Begeisterung, aber ohne Gegenwehr, französische Begrüßungsküsschen auf die Gesichtshälften gehaucht bekam. Ein Privileg, das nicht mal Feli zuteil gekommen war.
 

„Ist gut jetzt“, war alles, was Arthur sagte, um den Abstand zwischen ihnen wieder herzustellen. Verärgert schien er allerdings nicht. Als ihm der Fremde eine Hand auf den Rücken – direkt über eines der Schulterblätter – legte, vollführte sein Körper lediglich eine dezente Drehbewegung. Eine Geste des gekonnten Abstreifens, die Arthur im Schlaf zu beherrschen schien.
 

Alfred konnte nach wie vor nicht wegschauen. In seinem Bauch loderte etwas, das sich nicht in klare Gedanken fassen ließ. Wieso bekam jemand wie Arthur Besuch, wenn es ihn weder glücklich noch unglücklich zu machen schien? Und wo blieben nur Alfreds Eltern?
 

Francis, der beinahe so hoch gewachsen war wie Alfred, aber etwas älter wirkte – woran der verwegene 3-Tage-Bart gewiss nicht unschuldig war – grinste gönnerhaft.

„Wie sollte es auch nicht gut sein, jetzt wo ich da bin?! Aber...“ In dem Moment, als er zu Feli hinüber linste, erschlaffte sein Grinsen.
 

Arthur folgte dem deutlichen Blick und kniff betreten die Lippen zusammen. Als Francis ihn gestisch aufforderte, sich zu Feliciano zu gesellen, schüttelte Arthur sogleich den Kopf. Ein zischendes „Du weißt verdammt noch mal, dass ich nicht mit ihm an einem Tisch sitzen darf!“ verlierend.
 

Feliciano, der mit dem Rücken zu ihnen saß, schien immer noch primär damit beschäftigt, die Reiskörner zu durchkämmen. Alfred konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob der Italiener mitbekam, was hier vor sich ging oder ob er in einem Tagtraum versunken war.
 

„Aber er ist noch beim Mittagessen. Hast du mal auf die Uhr gesehen!? Démarre, bon Dieu démarre(1)! Hilf ihm!“ Francis’ Worte züngelten wie Flammen und schienen Arthur einen schmerzhaften Krampf durch den Körper zu jagen. Seine Augen spitzten sich, doch sein Mund blieb beherrscht geschlossen.
 

„Mademoiselle“, drehte sich Francis daraufhin wieder halb herum. „Ich bin mir sicher, solange Sie dabei sind, ist es okay, wenn sich mein Freund zu Feli gesellt?“
 

„Francis...!“, Arthurs zurechtweisendes Knurren kroch über den Boden, deutliches Unwohlsein äußernd.
 

Die Schwester, welche unterbewusst den Bauch einzog und die Brust herausstreckte, schien im ersten Augenblick etwas perplex ob der Frage. Doch je länger Francis sie mit dem Blick festhielt, desto mehr bröckelte ihre Strenge.

„Nun ja, eigentlich...Ach, so lange ich dabei bleibe, ist es in Ordnung, schätze ich.“
 

„Sie haben wirklich ein gutes Herz, Mademoiselle. Das sieht man Ihnen gleich an!“
 

Alfred konnte nicht fassen, was er da hörte. Noch weniger konnte er allerdings fassen, dass das Süßholzgeraspel tatsächlich Wirkung zeigte. Die Schwester lächelte von einem Ohr zum anderen und sah geschmeichelt auf die Tischplatte. Arthur verdrehte die Augen, Alfred dabei kurz taxierend.
 

Dieser Typ, dieser Francis, der sollte also Arthurs Freund sein? Der, der ihm die köstlichen Macarons zugeschickt hatte? Wie hatten die beiden sich bitte gefunden? Die zwei passten Alfreds Meinung nach ja noch viel weniger zusammen als Arthur und irgendein Mädchen.
 

„Na, ist das nicht schön, Feli? Arthur wird sich zu dir setzen. Dann bist du nicht so alleine.“ Einen Stuhl herausziehend, machte Francis Platz für Arthur. Jener stand mit zwei Schritten beim Tisch und riss den Stuhl an sich.

„Ich kann mich alleine setzen! Warum bist du überhaupt hergekommen? Nur um uns beim Essen zu begaffen?!“
 

Francis quittierte die Wut mit einem deutlich falschen Lächeln.

„Ja, das auch! Du machst doch so gute Fortschritte. Das hast du mir neulich noch berichtet.“
 

War das Spott? Alfred könnte schwören, hinter Arthurs grünen Augen wurde soeben ein perfider Mordplan geschmiedet.
 

„Mach ich auch und jetzt sieh zu, dass du Land gewinnst!“
 

Feliciano war der einzige, dem die Aggressionen gerade nichts auszumachen schienen. Vielmehr überraschte es ihn positiv, Arthur neben sich zu haben. Wenn Alfred es so recht überdachte, konnte er sich nicht entsinnen, die beiden je miteinander reden gesehen zu haben. Merkwürdig, wenn sie doch vor geraumer Zeit sogar Zimmergenossen waren und irgendwas vorgefallen sein musste..! Ob sie sich zerstritten hatten? Bei jemandem wie Arthur mehr als nur gut denkbar! Der schien ja ein wahres Talent dafür zu besitzen, Menschen zu vergraulen.
 

„Oui, oui, ich werde ein Ründchen durch den Park spazieren und auf euch warten.“ Francis’ Zwinkern sorgte dafür, dass Arthur ein bitterböses „Wichser!“ mit den Lippen formte, es aber wegen der observierenden Krankenschwester nicht auszusprechen wagte. Seinen Besucher kümmerte es auch gar nicht. Er wandte sich herum, der Schwester noch eine Verabschiedung zuflötend, und war im Inbegriff den Raum zu verlassen, als sein Augenmerk erneut auf Alfred fiel.

„Du bist neu hier, n’est-ce pas? Wenn du dir die Beine vertreten willst, komm ruhig mit!“
 

„Alfred hat was zu tun!“ Arthurs pikierter Aufschrei war der erstbeste Grund für Alfred, Francis zu folgen.

„Nope, hab gerade nix zu tun!“ Die Hände in die Hosentaschen steckend, schloss sich Alfred feixend Francis an. Arthurs Fassungslosigkeit war eine regelrechte Genugtuung.
 

„Komm sofort zurück, Alfred! Francis ist mein Besuch! Hey, hörst du schlecht oder was!? Alfred, du gottverdammter-!“
 

Francis lachte, den Kopf leicht zurückgelegt, und lief schnurstracks durch die geöffnete Türe von der Station. Alfred folgte breit grinsend und genoss die Tatsache, dass Arthur pflichtbewusst am Tisch zurückblieb und seine Stimme ganz umsonst vergeudete. Der Junge wusste doch seine Mitmenschen nicht mal zu schätzen, wenn sie ihm Geschenke machten oder ihre Freizeit für ihn opferten. Alfred wäre nie im Leben so undankbar.
 

An der Treppe holte er Francis schließlich ein. Unter dem hellen Jackett trug dieser ein frisch gebügeltes Hemd sowie eine farblich perfekt abgestimmte Hose. Um seinen Hals hing ein lockerer, aber teuer aussehender Schal. Das blonde Haar war mit einem unscheinbaren Gummi dezent zurückgebunden und ließ einigen Strähnen genügend Freiraum, um nach vorne zu fallen.
 

Alfred kam sich vor wie im siebten Himmel, als er ganz selbstverständlich durch das Klinikgebäude spazieren durfte. Seite an Seite mit Francis, öffnete der Sonntag wirklich Tür und Tor für ihn. Zwar warf das Personal ständig kontrollierende Blicke hinter ihnen her, aber die Tatsache, von jemandem begleitet zu werden, schien wahre Wunder zu wirken.
 

Anmerkungen:
 

1: Démarre, bon Dieu démarre! – Heißt laut dem klugen Übersetzungsprogramm so viel wie „Verdammt, komm schon!“

{ 13. | Schmierentheater }

Durch einen Seiteneingang betraten sie das gepflegte Parkgelände, welches vom Klinikkomplex umschlossen wurde wie ein gut gehütetes Geheimnis. Alfred trabte noch immer grinsend hinter Francis her. Unter ihren Füßen knirschte Kies, als sie einen sträuchergesäumten Weg entlang bummelten und schließlich eine dunkle Holzbank erreichten. Francis ließ sich sichtlich zufrieden darauf fallen. Ein Bein über das andere schlagend, zauberte er ein Päckchen Zigaretten aus seiner Jacketttasche und hielt es Alfred einladend hin.
 

„Nee, danke“, machte dieser, als er sich ebenfalls auf die Bank plumpsen ließ.
 

„Nichtraucher? Ernsthaft?“ Im Nu hatte sich Francis eine der Zigaretten zwischen die Lippen geschoben und diese angezündet.
 

„Nichtraucher.“
 

„Sie machen hier aus allen Nichtraucher.“
 

„Aus allen?“ Alfred beobachtete, wie Francis gen Himmel sah, obwohl dort oben nichts weiter als in diversen Graufacetten gehaltene Wolkenkonstellationen zu erkennen waren. Trotzdem verweilte seine Aufmerksamkeit dort, indessen er abwesend einen tiefen Zug nahm.

„Es gab Zeiten, da hat Arthur mich quasi auf Knien angefleht, ihm Zigaretten mitzubringen.“ Die Erinnerung schien mit zwiespältigen Gefühlen besetzt. Zwar kräuselten sich Francis’ Mundwinkel, doch ein richtiges Lachen wollte nicht zum Vorschein kommen.
 

„Arthur ist Raucher?“
 

„Der Zweck heiligt die Mittel.“
 

Alfred verstand zunehmend weniger. Francis hielt es wohl auch nicht für nötig, eine Erklärung abzuliefern. Stattdessen folgten seine Pupillen ein paar dicken Krähen, die ihren Sitz auf hohen Ästen verließen und gleich darauf am Himmel verschwanden.
 

„Kann ich mir irgendwie nich’ vorstellen.“
 

„Nicht?“ Überrascht drehte Francis Alfred das Gesicht wieder zu.
 

„Mit dem will man ja schon nich’ zusammen am Tisch sitzen! Wer will dann mit dem zusammen eine rauchen gehen?“
 

„Moi.“
 

Nichts an Francis’ Mimik änderte sich. Sie war stark und stellungsbeziehend. Sie ließ Alfred sich wünschen, seine letzten Worte umgehend zurück nehmen zu können. Ihn beschlich nämlich der Verdacht, sich soeben tief in die Nesseln gesetzt zu haben...
 

„Er hat mich getreten“, probierte er, seinen Groll zu rechtfertigen.
 

„Je comprends. Ihr sitzt also am gleichen Tisch. Sag, warum bist du hier Patient, Alfred?“ Der Anflug des sturen Untertons hatte Francis’ Stimme verlassen. Auch sein Gesicht machte wieder einen weicheren Eindruck. Wenn Alfred es sich so recht ansah, glaubte er, Francis habe eine zu kurze Nacht und eine zu anstrengende Woche hinter sich. Da war eine latente Müdigkeit, die nicht entdeckt werden wollte. Ein Kaffee wäre Francis im Moment sicher die liebere Gesellschaft.
 

„Das sieht man doch...“
 

„Peut-être, ich frag dich aber trotzdem. Also?“ Ohne Alfred auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu lassen, zog Francis erneut an seiner Zigarette.
 

„Ich hab nich’ wirklich was gegen Arthur.“
 

„Es geht hier gerade nicht um Arthur.“
 

Ging es nicht? Alfred war davon ausgegangen, dass Francis ihn deswegen so in die Mangel nahm, weil er ihm das vorangegangene Urteil verübelte. Dass dem offenbar nicht so war, verwirrte ihn zugegebenermaßen.

„Ich-ich bin zu...“ Nein, er würde es nicht sagen. Schon allein das Wort fett in Zusammenhang mit ihm selbst war Alfred nach wie vor höchst unangenehm. Insbesondere wenn er neben einem schmalen Mann saß, der an genau den richtigen Stellen über Muskeln verfügte und somit ein durch und durch wohl definiertes Bild abgab.

Wenn Attraktivität allein ausreichte, um Menschen miteinander zu verbinden, war das wohl das große Geheimnis hinter Francis und Arthurs sagenumwobener Beziehung. Zumindest konnte sich Alfred vorstellen, dass Arthur mit ein paar Kilo mehr auf den Rippen, etwas mehr Lebensfreude im Gesicht und einem sonnigeren Gemüt eine gewisse Attraktivität besaß.
 

„Ja? Sprich die Dinge aus.“ Francis aschte auf die noch klammen Kieselsteine. Seine Augenbrauen, die sein Gesicht mit maskulinem Anmut bereicherten, lagen tief, setzten Alfred aber nicht unter Druck, ebenso wenig wie der gewählte Tonfall. Es war ein Vorschlag, ein Angebot. Kein Befehl.
 

Alfred kam sich ob all dessen entsetzlich jung und dumm vor. Nicht weil Francis ein paar Jahre länger auf der Welt war als er, sondern weil er leger erwachsen wirkte, ohne dafür überhaupt den Bart oder die Mode zu brauchen. Francis könnte in komplett anderer Garderobe hier sitzen und würde doch genau dieselbe Ausstrahlung besitzen und genau dieselben Gefühle in Alfred wachrufen.
 

Tief Luft holend, schaute Alfred hinab auf den Kies, den er mit den Spitzen seiner Turnschuhe geräuschvoll durchfurchte.

„Ich bin zu fett. Ich fresse zu viel und ich kann nich’ aufhören. Ich denk irgendwie ständig nur noch ans Essen. Mein ganzer scheiß Bettkasten und mein Wandschrank sind voller Essen! Manchmal fress ich sogar so viel, dass ich hinterher kotzen muss und es macht mir nix aus, danach einfach wieder weiterzufressen...“ Die Silben stoben wie Eiskristalle durch die Luft und machten Alfred für die Röte auf seinen Wangen empfänglich. Warum hatte er das gerade gesagt? Das war doch total lächerlich! Peinlich! Unangebracht! Was interessierte es Francis, ob er-?!
 

„Geht doch. Gut gemacht!“
 

Ruckartig schnellte Alfreds Kopf herum. Ein widersprechendes „Nein!“ lag ihm auf der Zunge, blieb aber ungesagt, da Francis unerwartet gähnte und dann eine leise Entschuldigung nuschelte.

„Kurze Nacht“, merkte er noch an, bevor er seine Zigarette ein letztes Mal zum Mund hob. „Und, wie gefällt’s dir hier so?“
 

„Soll das ’n Witz sein? Das is’ wie in ’nem Drillcamp hier! Die haben so ziemlich alles eingesackt, was ich von Zuhause mitgebracht hab! Ich muss jeden Morgen um 6 aufstehen, das Essen schmeckt wie Pappe und der Sport macht null Bock. Und wenn ich dann total alle bin, weil ich da ewig aufm Laufband hecheln musste, sagt mir einer wie Arthur, ich soll mich nich’ so anstellen! Wenn der wüsste! Aber der muss ja keinen Sport machen!“
 

Alfred hatte keinen Schimmer, was so lustig war, aber Francis prustete los. Das Lachen bollerte bis zum Himmel hinauf und ebbte nur langsam zu einem herben Kichern ab.

„Er würde dir davon laufen. Das glaub mir mal.“
 

„Wer?“ Alfred konnte nicht folgen.
 

„Arthur. Wenn ich dir ’nen Tipp geben darf: lauf nie mit ihm um die Wette. Oh, und spiel keine Strategiespiele mit ihm.“
 

Das meinte Francis doch nicht ernst, oder?
 

„Och, nun guck nicht so. Es ist die Wahrheit und nichts als die Wahrheit!“ Das Gesicht wieder ernster, fuhr Francis gemäßigt fort. „Es war ihm immer egal, ob es draußen geregnet, geschneit oder gestürmt hat. Fünf Uhr morgens und er ist joggen gegangen.“
 

„Fünf Uhr morgens?!“ Alfred fiel vor Entsetzen fast von der Bank.
 

Mit einer vorher nicht da gewesenen Schwere schloss Francis die Augen und nickte.

„Da hat ihn ja niemand gesehen... Ich hab das nur zufällig irgendwann mal mitbekommen.“
 

„Seid ihr Nachbarn?“ Oder wie kam es dazu, dass Arthur entdeckt wurde?
 

„Non, wir sind aufs gleiche Internat gegangen. Arthur ist mein Patenschüler gewesen.“
 

„Ah!“
 

„Im Sommer hab ich den Abschluss gemacht, kurz nachdem Arthur endlich eingeliefert wurde.“
 

„Oh Gott, das ist ja schon ewig her!“ Das pure Entsetzen ließ Alfred erblassen. Warum dauerte eine Behandlung in dieser Klinik bitte so elendig lange? Was, wenn Alfred  Halloween, seinen absoluten Lieblingsfeiertag, hier verbringen musste? Er hatte fest damit gerechnet, Ende Oktober längst wieder Zuhause zu sein und Halloween mit allem drum und dran feiern zu können. Wenn auch ohne Party, denn wer sollte ihn einladen? Das letzte Halloween hatte Alfred auch allein Zuhause verbracht, Gruselfilme geguckt und sich ungeniert an den Tonnen von Süßigkeiten bedient, die eigentlich für die klingelnden Kinder vorgesehen waren. Die Aussicht, an Halloween in dieser Klinik eingesperrt zu sein, stülpte sich wie ein wahr gewordener Albtraum über Alfreds Gemüt und ließ ihn vollkommen entsetzt Francis anstarren.
 

Dieser wirkte emotional abwesend.

„Ja. Das war keine schöne Zeit damals...“ Sein Blick suchte Alfreds Augen auf. „Naja, dich interessiert das wahrscheinlich eher ni-“

„Doch! Ich mein, ich sitz mit Arthur an einem Tisch und ich teil mir mit Feli ein Zimmer, aber keiner erzählt mir, was da abgegangen ist!“
 

„Was da abgegangen ist?“
 

„Jup, Tino hat gesagt, die beiden hätten versucht sich umzubringen!“ Übermütig sprangen die Worte von Alfreds Zunge. In ihm brannte wieder die Entschlossenheit, endlich hinter das Geheimnis der beiden zu kommen. Was war dran an Tinos Behauptung? Warum schwieg Arthur und warum wechselte Feli stets das Thema, wenn Alfred versuchte, etwas über den Vorfall herauszubekommen?
 

„Oui...“
 

Es stimmte also! Alfred hielt die Luft an, indessen Francis die Arme vor dem Oberkörper verschränkte und sich innerlich zu sammeln schien.

„Arthur und Feliciano sind in etwa zur gleichen Zeit hier eingewiesen worden. Man hat angenommen, es würde den beiden gut tun, nicht allein auf einem Zimmer zu sein...“
 

„Was haben sie gemacht?“
 

„Das, was sie vorher auch gemacht haben.“ Etwas in Francis’ Augen schimmerte trist, als er gedanklich in der Zeit zurück reiste und den Mundwinkel beinahe angewidert verzog. „Nur dass sie plötzlich jemanden gefunden hatten, der mit ihnen daran arbeitet, ihr Ziel auch zu erreichen...“
 

„Ziel?“
 

„Alfred“, Francis machte eine harte Pause, „was weißt du eigentlich über Feli? Oder über Arthur? Oder warum die beiden hier Patienten sind?“
 

„Äh, sie sind hier, weil sie magersüchtig sind?!“ Was sollte die merkwürdige Frage? War das ein Test oder ein Spiel?
 

Nein, es war weder das eine noch das andere, wenn man Francis’ Miene Glauben schenkte.

„Ich kenn Feli erst, seit ich Arthur hier besuche. Aber ich weiß, was Arthur vorher für scheußliche Sachen gemacht hat... Anfangs hab ich’s allerdings nicht wirklich mitbekommen. Er hatte ein relativ normales Gewicht, als er auf unsere Schule gewechselt ist. Er war dünn, aber nicht auffällig dünn. Bis ich überhaupt mal gemerkt habe, was Arthur sich antut, sind Monate vergangen...!“ Sich mit der rechten Hand übers Gesicht wischend, schien Francis nicht weiter zu wissen.
 

„Aber ihr wart doch im gleichen Internat?! Da hast du ihn doch jeden Tag gesehen!“ Enorme Gewichtszunahmen und Gewichtsabnahmen sah man doch! Alfred hatte es auch bei sich gesehen, obwohl er sein Spiegelbild lange zu ignorieren versucht hatte. Irgendwann hatte er allerdings einfach nicht mehr wegsehen können und auch seine Eltern hatten ab einem bestimmten Zeitpunkt realisiert, dass er zugenommen hatte – und unaufhaltsam weiter zunahm.
 

„Oui, mais..Arthur war sehr geschickt und..Sag, würde es dir auffallen, wenn du mit über hundert Leuten in einem Speisesaal sitzt, ob jemand wirklich da ist? Gehst du nicht eher davon aus, dass er irgendwo sitzt, wo du ihn nicht siehst? Ich habe immer gedacht, Arthur ist da. So wie er es behauptet hat. Aber er war nie da. Nie. Er hat sich morgens und abends manchmal Essen mit aufs Zimmer genommen, aber“, Francis’ machte einen absurden Laut, „das meiste davon ist nicht in seinem Magen gelandet. Das war nur Tarnung.

Ich hab das nach den Winterferien bemerkt, aber eigentlich auch nur, weil er quasi vor meinen Augen in Ohnmacht gefallen ist. Wir waren alleine auf dem Flur, auf dem Weg zur Bibliothek. Wir haben diskutiert – denn wenn du mit jemandem wirklich diskutieren kannst, dann mit dem Dickschädel –, plötzlich war er still. Ich dachte erst, er hält einfach mal die Klappe, weil er einsieht, dass ich natürlich wieder Recht habe. Dann hab ich mich umgedreht und er lag da. Ich hab ihn zum Krankenzimmer getragen. Da hab ich gemerkt, wie leicht er ist und wie schlecht er eigentlich aussieht...“
 

Die Erinnerungen wogen so schwer, dass Francis sich nicht imstande sah, sie ohne eine weitere Zigarette zu stemmen. Sein Feuerzeug stieß die Flamme aus. Der Rauch gesellte sich zur Wolkendecke. Alfred saß mucksmäuschenstill, auf mehr lauschend.
 

„Irgendwie hab ich’s ab dem Moment genau gewusst. Es hat nur leider nichts gebracht...“
 

„Wieso nich’?“
 

„Weil Arthur behauptet hat, ihm ginge es gut und er habe halt durchs Lernen viel Stress und brauche nur etwas frische Luft. Außerdem ist unser Internat ein reines Jungeninternat. Das allein ist wahrlich traurig genug! Aber auch die Denkmuster sind völlig antiquiert. Jungen bekommen keine Essstörungen, lautet da die Devise.“ Gereizt verengte Francis die Augen, von der Einfältigkeit noch immer zutiefst beleidigt.
 

Alfred indes versuchte sich in das Leben einzudenken, was Arthur und Francis gelebt hatten. Ein Jungeninternat, vermutlich nicht gerade billig, mit Einzelzimmern und strengen Vorschriften, die Arthur genau in die Hände gespielt hatten. Er hatte schlicht und ergreifend abgestritten, magersüchtig zu sein. Das Lehrpersonal vertrat die Ansicht, Jungen bekamen keine Essstörungen und Probleme gehörten im Elternhaus, nicht in der Schule diskutiert. Perfekt für Arthur.
 

„Ja und dann?“
 

„Mir hat ja keiner geglaubt. Er wollte nicht drüber reden. Was hatte ich also für eine Wahl? Ich konnte nur abwarten, bis es so schlimm wurde, dass es einfach nicht mehr zu verleugnen war...“ Francis drückte die aufgerauchte Kippe am metallenen Mülleimer neben der Bank aus. Seine Bewegungen wirkten dabei angestrengt. Sein Inneres kochte vor Wut.

„Keiner wollte auf mich hören! Also hab ich ihn eben selber observiert. Der Junge hat so gut wie nie geschlafen. Stattdessen ist er joggen gegangen und hat gelernt wie ein Irrer und überhaupt! Nachts hat er Stufen gezählt. Treppe rauf, Treppe runter und immer so weiter. Er hat sowieso liebend gern alles gezählt und aufgeräumt. Das wurde tagtäglich schlimmer! Vor allem das Händewaschen! Aber irgendwann war wirklich Schicht im Schacht.“
 

„Schicht im Schacht?“ Es klang so endgültig, dass Alfred schlucken musste. Zumal Francis vernichtend nickte.
 

„Er hatte kaum mehr Kraft zum Aufstehen. Er hat im Bett gelegen, ich hab uns ein Kartenspiel organisiert und ihm gesagt, jedes Mal, wenn er verliert, muss er was essen. Der blöde Sack hat selten verloren und wenn doch, hat er sogar um Wasser gefeilscht! Das war im späten Frühjahr. Da hat dann sogar unser Rektor zähneknirschend gemeint, Arthur hätte wohl ein Problem mit dem Essen und er müsse seine Eltern darüber informieren, aber die hab ich kein einziges Mal zu Besuch kommen sehen. Weder als Arthur so krank war, noch davor. Arthur wollte das auch gar nicht. Ihm war es ganz recht, dass es so lief. Er hat nicht damit gerechnet, dass seine Eltern ihn in eine Klinik stecken. Blöderweise hat er sich hier schnell zu helfen gewusst und sich mit Feli zusammengetan. Die beiden waren Gift füreinander. Alles, was Feli will, ist bei seiner Familie sein.“
 

„Ja, ich weiß. Aber er wird ja eh bald entlassen und dann-“
 

„Entlassen?! Feliciano Vargas soll entlassen werden?!“ Francis’ obszöne Lautstärke presste Alfreds Rücken gegen die klamme Parkbank. „Hat er dir das etwa erzählt?!“
 

„Ja, klar...“ Alfred musste nervös lachen, warum auch immer.
 

Francis war nicht zum Lachen zumute: „Cher Feli wird nirgendwo hingehen, das glaub mir mal! Hast du dir den Jungen mal mit Verstand angesehen?!“
 

„Ähm...“
 

„Feli hat sein Ziel nie aufgegeben, Alfred! Er will bei seiner Familie sein. Er will sterben.“
 

„Aber dann kann er doch nicht wieder-“
 

„Oh mon dieu, du weißt gar nicht, dass seine Familie tot ist?!“
 

Alfred fehlten die Worte. Sein Mund stand offen. Nein, er war zu. Dann ging er wieder auf, während seine Hände Gesten formten, die keinerlei Bedeutung hatten.
 

„Du hast es tatsächlich nicht gewusst...“
 

„Er hat mich eingeladen! Er hat gesagt, wenn wir hier raus sind, dann darf ich ihn in Italien besuchen! Er-er redet immer nur von seiner Familie! Ich weiß, dass seine Mom das beste Tiramisu weit und breit macht! Mit genau der richtigen Menge Espresso! Und sein Bruder, Lovino, der steht total auf Frappuccinos und Pizza! Und-“

„Er kann sie nicht los lassen. Wer kann ihm das verübeln...“ War der erste Satz noch mit Schärfe ausgesprochen, war der zweite ein Zeugnis der Trauer.
 

Alfred wusste nach wie vor nicht, wie ihm geschah. Feliciano hatte nie auch nur mit einem Wörtchen erwähnt, dass seine Eltern und sein Bruder nicht mehr am Leben waren! Im Gegenteil, alles deutete doch darauf hin, dass seine Familie völlig intakt war und ihm regelmäßig Briefe schrieb. Woher kamen die denn bitte sonst alle? Und warum sollte Feli Alfred nach Italien einladen, wenn es dieses Familienleben dort nie mehr geben würde? Wieso das alles?
 

„Écoute bien, Alfred: Feli und Arthur haben sehr unterschiedliche Talente. Feli ist eigentlich jemand, der das Essen offen verweigert, aber Arthur ist jemand, der dich glauben lassen kann, er esse brav seinen Teller leer und alles sei in bester Ordnung. Die Show hat er schon im Internat perfekt beherrscht. Arthur hat Feli beigebracht, wie man Essen versteckt, selbst wenn da jemand vor dir sitzt, der dir auf die Finger guckt. Feli hat dafür gesorgt, dass sie trotzdem ihr Gewicht hatten. Er ist so leutselig, es versteht sich eigentlich jeder mit ihm. Er ist von Zimmer zu Zimmer geschlichen und hat all die Dinge mitgenommen, die sich gut in Kleidung einnähen lassen. Klein, aber schwer. Damit es beim morgendlichen Wiegen keine Probleme gibt. Die beiden haben ihre Talente mehr oder weniger vereint, um sich endlich zu Tode zu hungern.“
 

Nein, niemals! Feli war nicht so! Alfred schüttelte den Kopf. Feli war immer so aufgeschlossen und freundlich gewesen, so hilfsbereit und so lebensfroh in Hinblick auf seine Entlassung. Auf ein Leben mit seiner Familie. Das musste doch ein Missverständnis sein!

Nur zu gerne hätte Alfred protestiert, doch dann fielen ihm die Sportübungen von gestern Abend ein. Alfred hatte zwar etwas Unerlaubtes gegessen, aber es war Felis Idee gewesen. Er hatte Alfred die kleinen Übungen gezeigt, um die überflüssigen Kalorien abzutrainieren. Er hatte von ihrem gemeinsamen Wohl gesprochen. Von ihrem gemeinsam Ziel. Er hatte Alfred dazu angehalten, Schmiere zu stehen, während er selbst die für ihn eigentlich überflüssigen Übungen machte...
 

„Es ist nur rausgekommen, weil Arthur während einer ihrer nächtlichen Sportstunden plötzlich zusammengebrochen ist. Ich kann dir nicht sagen, ob Feli gezögert hat, aber fest steht, er hat eine Schwester gerufen, weil Arthur nicht mehr zu sich gekommen ist. Arthur ist ins Krankenhaus eingeliefert worden. Herzrhythmusstörungen, katastrophale Blutwerte, verringerte Knochenmasse, lebensbedrohliches Untergewicht... Ich hab ihn da besucht, während er weggetreten war und man ihn mit einem Schlauch in der Nase zwangsernährt hat. Ich dachte, er schafft es nicht.“ Unausgesprochen schwang etwas mit, das daraufhin hindeutete, dass Francis nicht beschreiben konnte, was er dort im Krankenhaus gesehen hatte.
 

Nie zuvor hatte Alfred konkret darüber nachgedacht, woran man starb, wenn man magersüchtig war. Man verhungerte doch, oder? Aber was beinhaltete der Tod durch Verhungern? Wo führte diese Krankheit namens Anorexia Nervosa eigentlich wirklich hin und was konnte sie auf ihrem Weg ins Lebensende alles für Schäden anrichten?
 

Magersucht war doch außerdem viel gefährlicher als Alfreds Fresssucht mit den gelegentlichen Brechattacken. Oder glaubte er das nur? Bürgte das Erbrechen eventuell doch große Risiken, um die sich Alfred nie geschert hatte, weil er es gar nicht so genau hatte wissen wollte?
 

„Naja, Arthur geht’s ja inzwischen besser...“, hörte sich Alfred geschockt sagen. Nur um sich selbst an den Jungen zu erinnern, der ihn ein paar mal zu oft grob angefahren hatte und um nicht an den Jungen zu denken, der so gut wie tot gewesen war.
 

„Er hat zugenommen, ja“, bestätigte Francis, alles Weitere für sich behaltend. Seine Stimme kannte keine Nachsicht. Er hatte etwas gesehen, was sich Alfred in seinen kühnsten Träumen nicht ausmalen konnte und er war nicht bereit, es ist in Worte zu packen, die nie an das Gesehene heranreichen würden.
 

So wie Alfred die Lage einschätzte, hatte dieser absolute Tiefpunkt aber wohl gereicht, um Arthur zu bekehren. Er aß, wenn auch minderbegeistert, aber er tat es. Nur warum Arthur überhaupt so besessen davon war, zu hungern, konnte sich Alfred nach wie vor nicht erklären. Bei Feliciano schien es auf eine verquerte Art Sinn zu machen. Aber was trieb Arthur an?
 

Und wenn man vom Teufel sprach... Alfred hatte kurz zum Klinikgebäude hinüber gelinst, als ihm Arthurs Gestalt durchs Fenster im Treppenhaus auffiel. Schnell und zielbewusst nahm er die Stufen hinab. Gleich würde er durch den unteren Eingangsbereich marschieren und in den Park hinaustreten.
 

Alfred wusste nicht, warum, aber er war sauer und entsetzt. Feli saß dort oben und kämpfte mit jedem Bissen. Arthur hatte seinen Teil dazu beigetragen. Genauso konnte man aber von Feli sagen, dass dieser nicht vor dem Todesplan zurückgeschreckt war. Francis hatte es sogar so klingen lassen, als hätte Feliciano damals wahrhaftig gezögert eine Schwester zu rufen. War es so gewesen? Hätte Feli Arthur ernsthaft dort liegen und sterben lassen?
 

Alfred drückte sich von der Parkbank ab, innerlich wie zerrissen. Er wollte gerade weder Arthur noch Feliciano sehen. Die beiden planten – oder hatten zumindest geplant –, an ihrer Essstörung zu sterben. Das war ihm selber nie in den Sinn gekommen. Bei ihm war die Essstörung irgendwie passiert, als Problemlösung. Als Ausweg. Mochte ja sein, dass einige Menschen den Tod ebenfalls als einen Ausweg für Probleme betrachteten, aber Alfred gehörte definitiv nicht zu ihnen. Das, was Feli und Arthur getan hatten, war seines Erachtens krank auf hoher Ebene. Nur weil Felis Eltern verstorben waren, durfte Feli nicht sein Leben wegschmeißen. Und Arthurs Eltern würden garantiert auch traurig sein, wenn Arthur verstarb. Alle Eltern wären dann doch traurig. Oder?
 

Alfred zwang sich, nicht darüber nachzudenken, ob es seine Eltern nicht sogar praktischer finden würden, wenn er nicht mehr da wäre. Die Antwort hatte er längst für sich gefunden, aber er wollte bei sich keinen so eindeutigen Zusammenhang zwischen seiner familiären Situation und seiner Essstörung erkennen.
 

„Alfred?“
 

„Sorry, ich muss gehen. Ich, äh, meine Eltern kommen sicher jeden Moment.“
 

Recht überrumpelt von Alfreds plötzlichem Aufbruch, brachte Francis nur eine kurze Verabschiedung zustande. Alfred warf ein überstürztes Winken über die Schulter und verschwand schneller als es sich gehörte in die andere Richtung, um Arthur nicht geradewegs in die Arme zu laufen. Der Junge war des Wahnsinns! Alfred war schrecklich wütend. Viel wütender als ihn die Aktion mit dem Törtchen gemacht hatte. Am liebsten würde er Arthur gegen die nächstbeste Wand rammen und ihm sagen, dass es seine Schuld war, wenn Feli starb. Wenn Feli sein Ziel erreichte...
 

Es wäre aber wohl nicht richtig, Feliciano so dermaßen in Schutz zu nehmen. Alfred begriff, dass Feli sehr genau wusste, was er getan hatte und immer noch tat. Es war nicht Arthur, der ihn weiter vorwärts drängte. Es war Feli selber...
 

Ganz gleich also, wie sauer Alfred auf Arthur war, es würde rein gar nichts an Felis Einstellung ändern...
 

Alfred duckte sich hinter den Holzpavillon, als Arthur aus der Türe trat, das Gesicht säuerlich verzogen und die Hände zu Fäusten geballt. Immerhin hatte er sich die Zeit genommen, einen leichten Regenmantel und einen Schal überzuwerfen, ehe er sich Francis und dem Wetter hier draußen stellte. Alfred kniete unbequem hinter dem Holz, das nasse Gras hinterließ dunkle Flecken an seinen Schuhen und auf der blauen Jeans. Von hier aus konnte Alfred sogar noch die Bank erkennen, auf der Francis mit dem Rücken zu ihm saß.
 

„Mon ami! Welch entzückender Anblick!“
 

Alfred sollte verschwinden. Wenn er den Pavillon umkreiste, würden die beiden ihn bestimmt nicht bemerken. Doch etwas hielt ihn zurück. Womöglich die pure Neugier.
 

„Was sollte das? Was hast du Alfred erzählt?“ Arthur stellte es so dar, als würde eine ganze Verschwörung hinter seinem Rücken stattfinden. Absolut lächerlich!
 

„Tss, wir haben uns nur unterhalten. Über ihn und ein paar andere Dinge...“, ließ Francis anklingen.
 

„Ich glaub dir kein Wort!“ Nichtsdestotrotz setzte sich Arthur auf die Bank, zwischen ihnen eine kalkulierte Armlänge an Abstand einhaltend.
 

„Ist das so?“ Francis drehte den Kopf, um Arthur ungerührt betrachten zu können. Kein Grinsen, nicht mal ein Schmunzeln. Nur ein Blick, der Arthurs Schultern etwas an Steife einbüßen ließ. Er war dann auch derjenige, der den Blickkontakt abbrach. Alfred hätte nicht gedacht, dass jemand Arthur in dieser Disziplin so leicht in die Knie zwingen konnte.
 

„Wenn hier jemand dem anderen kein Wort glauben darf, dann ja wohl ich.“ Francis sprach die messerscharfen Worte aus als handele es sich um altbekanntes Geplänkel.
 

Arthur zuckte zusammen.

„Was soll das schon wieder heißen?!“
 

Gute Fortschritte“, deutete Francis an, mit den Fingern Anführungszeichen formend.
 

Beide Jugendlichen starrten sich nun unverfroren an. Francis abwartend, Arthur mit erbost zusammen gezogenen Augenbrauen.

„Hör zu: Ich fress jeden Scheiß, den die mir hier vorsetzen; klar?! Ich tue alles, damit ich hier so bald wie möglich raus kann!“ Arthurs Zähne schienen sich kaum auseinander zu bewegen. Er war viel aufgebrachter, als Alfred ihn je erlebt hatte. Sein gesamter Körper war dem Zorn verfallen, während Francis einfach nur da saß und ihn betrachtete: reserviert, kühl, dann ein Urteil fällend.

„Ich lass dich nicht bei mir einziehen, solange du mich belügst.“
 

„Zur Hölle noch mal, ich lüge nicht!“ Arthur sah plötzlich so verzweifelt aus, als habe man ihm seine Existenzgrundlage entzogen.
 

„Doch!“, brauste jetzt auch Francis auf. „Je sais! Ich weiß es sogar ganz genau! Mag ja sein, dass die Ärzte dich nicht durchschauen. Aber ich weiß, dass du lügst. Du lügst ständig! Du lügst sogar mich an! Oder willst du mir etwa weismachen, du hättest die Macarons gegessen? Oder das Eclair vorige Woche? Oder die Buttermilchplätzchen? Oder-?“
 

„Ich hab dir gesagt, ich hab’s probiert. Und ja, es hat sogar geschmeckt. Zufrieden, du Meisterbäcker?! Oder brauchst du noch ’ne 5-Sterne-Bewertung, um dein scheiß Ego weiter aufzupolieren?!“
 

„Laisse tomber, Arthur! Ich weiß, dass du lügst und sobald du hier raus bist, fängst du wieder genau so an wie vorher. Meinst du, das will ich mir in meiner eigenen Wohnung angucken?! Das tu ich mir nie wieder freiwillig an!“ Francis kam so abrupt auf die Füße, dass Alfred zusammenzuckte und das Gleichgewicht verlor. Sein Hintern machte unsanft mit dem feuchten Boden Bekanntschaft. Allerdings realisierte er es kaum, so dermaßen gefesselt war er von dem unerwarteten Streit.
 

Keine Sekunde später war auch Arthur aufgesprungen, offenbar von all den Vorwürfen und den geänderten Wohnungsbezugsplänen völlig am Ende. Woher wollte Francis denn so genau wissen, dass Arthur log? Arthur aß bei Tisch, Alfred konnte es bezeugen. Außerdem wirkten die Dinge, die Arthur während der Therapiestunden von sich gab, so einsichtig und reflektiert.
 

„Aber-aber es war abgemacht, dass wir zusammen ziehen, sobald ich hier raus kann!“, dieses Mal schwankte Arthurs Stimme, woran Francis’ aufbrechende Körperhaltung garantiert nicht unschuldig war. Jener trat dicht an Arthur heran, gerade genug Raum für aggressives Wispern lassend. Alfred beugte sich automatisch vor, so als ermögliche es ihm, die nächsten Sätze besser zu verstehen.
 

„Non, sobald du gesund bist!“, korrigierte Francis kleinlich. „Und ich weiß, du bist es nicht. Du...“ Seine Augen flackerten. „Ich glaube, es gibt etwas, über das du endlich mal mit jemandem reden musst.“
 

„Was soll der Scheiß?!“
 

„Ich kann eins und eins zusammen zählen, weißt du? Wie du dich immer abmühst, alles bis ins kleinste Detail zu kontrollieren! Wie du bist und wie du dich gibst, wenn man dich näher versucht kennen zu lernen. Wenn man versucht, dir näher zu kommen. Und du tust alles, um nicht zurück nach Hause zu deinen Eltern zu müssen, zu deinem Vater. Du bist nicht mal in den Ferien heim gefahren. Ihr telefoniert nie. Sie weigern sich sogar, mit dir eine Familientherapie zu machen und zahlen nur für die Klinik, damit man dich hier wieder aufpäppelt.“
 

„Halt den Mund!“
 

„Arthur, als du damals auf der Intensiv gelegen hast... Mon cher, ich hab deinen Oberschenkel gesehen. Ich weiß, was du da rein geritzt hast! Du kannst das alles nicht einfach weghungern und totschweigen. So funktioniert das ni-!“

„Du sollst deinen verdammten Mund halten! Meine Familie geht dich einen feuchten Dreck an! Also fuck off!“ So barsch die Worte auch waren, Arthurs gesamter Körper wirkte, als breche er auseinander. So als würden ihn die Emotionen zerteilen. Seine Hände, die wieder zu Fäusten geballt an seinen Seiten hinunter hingen, zitterten wie verrückt. Worauf auch immer Francis anspielte, es stahl Arthur seine Kraft und Würde. Es kommandierte sein Augenmerk zu Boden und malte sein Gesicht an wie das eines Toten.
 

„Ich verlange ja nicht, dass du mit mir darüber redest. Aber red mit den Therapeuten. Die sind genau dafür da! Wenn du’s nicht tust, dann können wir auch nicht...“ Den Satz offen für beendet erklären, schluckte Francis hörbar.
 

Arthur bekam keinen Ton heraus. Sein Blick sprang einmal zu Francis’ Gesicht hinauf, nur um danach völlig hoffnungslos wieder zu Boden zu stürzen. Zu stolz, um sich an irgendetwas oder irgendwem festzuhalten.
 

Alfred indes wusste gar nicht, wie ihm geschah und sein Verstand weigerte sich, den Worten eine Bedeutung zuzuschreiben. Fest stand, dass Arthurs Beklemmung auch auf ihn überschwappte und ihm Atemnot bereitete.
 

„Du weißt gar nichts, gar nichts!“, herrschte Arthur im Zuge eines verzweifelten Akts. Einzig und allein für ihn selbst inszeniert, um sich an ein Weltbild zu klammern, in dem er halbwegs existenzfähig war und in dem Francis so ahnungslos war, wie Arthur es sich wünschte.
 

Alfred war übel.
 

Francis Geduldfaden riss, als Arthur brutal die Hand wegschlug, die Francis im Zuge einer tröstenden Geste hob.

„Wie du meinst... Wir können jedenfalls nicht zusammen ziehen, solange du mich belügst und solange du nicht ernsthaft gesund werden willst. Nur weil du mir einmal aus der Scheiße geholfen hast, helf ich dir nicht dabei, dich umzubringen! Du musst dich entscheiden: schweigend sterben oder leben, mit mir.“
 

„Sei nicht so verflucht anmaßend! Als ob du mir so viel bedeuten würdest!“
 

Eine Gänsehaut überkam Alfred und ließ ihn weiter hinter den Pavillon kriechen, als Francis sich eine Erwiderung sparte und mit eiligen Schritten über den Kies stapfte. Jetzt noch viel emotionsgeladener als eben. Seine gesamte Gesichtsmuskulatur war verzerrt und bildete eine Maske unschönen Grolls und ausgereizter Frustration. Seine Nasenflügel vibrierten und seine Zähne knirschten, so hart hatte Arthur ihn getroffen.
 

In dem Moment, als Francis in der Klinik verschwand und das Knacken des Kies erstarb, verschlang eine gespenstische Stille alles Zurückgebliebene. Zwar konnte Alfred die Blätter und Zweige leichte Bewegungen vollführen sehen, doch es wirkte, als habe jemand den Ton der Welt abgeschaltet. Der Wind schwieg und die Erde hielt die Luft an.
 

Sich einen inneren Ruck gebend, sah Alfred schließlich wieder zu der Stelle hinüber, wo Arthur und Francis eben gestanden hatten. Arthur saß auf der Bank, den Kopf gesenkt, die verkrampften Hände auf den Knien und mit dem Stoff seiner Hose wie verschmolzen. Durch seinen Mantel fuhren gelegentlich absurde Zuckungen, die von seinen Schultern herrührten und den Stoff über seinen Schulterblättern zum Leben erweckten. All das in absoluter Stille.

Wer oder was auch immer Arthur gelehrt hatte, leise zu leiden, hatte ganze Arbeit geleistet.
 

Für Alfred stand fest, dass Arthur Francis wesentlich mehr schätzte, als Alfred jemals glaubte, dass Arthur überhaupt irgendjemanden zu schätzen fähig war...

{ 14. | Tea Time im Zauberwald }

Es ging einfach nicht! Vollkommen frustriert wälzte sich Alfred zum unzähligsten Male in seinem Bett herum und schlug letztlich mit der Faust in sein Kopfkissen. Das Geräusch erstarb in der stillen Nacht, die sich über die Klinik gesenkt hatte. Von Felicianos Bett aus ebbten feine, gleichmäßige Atemgeräusche durchs Zimmer.

Alfred hingegen fand partout keinen Schlaf, sondern fühlte sich, als habe er vorm Schlafengehen noch eine ganze Riege Koffeintabletten geschluckt. Die Gedanken rasten mit Lichtgeschwindigkeit durch seinen Kopf und fielen, sobald sie in seiner Hirnhemisphäre verglüht waren, wie Steine in seinen Magen herab. Hunger war seit dem frühen Nachmittag kein Thema mehr für ihn. Nicht mehr, seit er die Unterhaltung mit Francis geführt hatte und erst recht nicht mehr, seit er den anschließenden Streit zwischen Francis und Arthur belauscht hatte.
 

Der Rest des Sonntags war nicht weniger schrecklich gewesen und hatte Alfred in einem Zustand zutiefst deprimierender Verzweiflung eingesperrt. Sein eigenes Leben war ein einziger Scherbenhaufen. Obendrein kannte er jetzt die Wahrheit über seinen Zimmernachbarn, aber die Frage war: wie verhielt man sich bitte angemessen jemandem gegenüber, der seine Eltern und seinen Bruder verloren hatte? Vor allem, wenn einem dieser jemand von sich aus kein Wörtchen davon verraten hatte?
 

Alfred hatte Feli nicht mehr in die Augen gucken können. Gleiches galt für Arthur. Wobei Alfred sich tunlichst zwang, all das zwischen Arthur und Francis Gesagte zu verdrängen. Das waren hässliche Dinge gewesen. Sehr, sehr hässliche Dinge, mit denen Arthur verständlicherweise nicht klar kam. Die sein Leben waren und die er doch mit allen erdenklichen Mitteln zu ignorieren versuchte. Alfred schämte sich glatt, wenn er sich zum wiederholten Male bei dem Gedanken ertappte, gar nicht wissen zu wollen, was genau bei Arthur daheim los war. Was dessen Vater tat und was offenbar von seiner Mutter mehr oder weniger geduldet wurde. Warum sonst nahm keiner von beiden an der Familientherapiemöglichkeit teil?
 

Die zur Faust geballte Hand lösend, legte Alfred sie auf seine Augenpartie und kniff die Lider zusammen. Es brachte nichts. Er war zu aufgewühlt, um zu schlafen. Sein Herz zuckte. Sein Blut drohte seine Adern zu sprengen. Er konnte nicht mit Feli umgehen und er wusste ebenso wenig, wie er sich Arthur gegenüber verhalten sollte.
 

Arthur war wie eine leere Hülle zum Nachmittagssnack erschienen, um fein säuberlich jeden einzelnen Streusel von dem bedauernswerten Stück Apfelkuchen hinunter zu picken. Die Streusel wurden auf eine Seite des Tellers sortiert, danach die Äpfelstückchen mit akribischer Sorgfalt auf eine andere, sodass das übrig bleibende Bodenstück eine große, plumpe Ecke des Essensdreiecks bildete. Aber Arthur war damit nicht zufrieden gewesen. Die Streusel lagen nicht richtig, die Äpfel lagen nicht richtig. Nichts lag seiner Ansicht nach richtig. Ständig korrigierte er mit der Gabel an den Essensbestandteilen herum; darauf Acht gebend, nichts mit den Fingern zu berühren. So als bestünde Vergiftungsgefahr.
 

Alfred hatte sich nicht getraut, etwas zu sagen. Nur einmal hatte er ein schiefes Grinsen zustande gebracht, als Arthur aufschaute. Es war das einzige Mal, dass sich ihre Blicke trafen und Alfred ganz genau eines verstand: Arthur war verzweifelt.

Kein Bissen des Streuselkuchens war letztendlich in seinem Bauch gelandet. Er hatte da gesessen, auf den Teller gestarrt und war sichtbar daran gescheitert, die Dinge so zu arrangieren, wie er es wünschte.
 

Die Schwester hatte ihn einmal vorsichtig angesprochen, ob er nicht essen wolle. Er hatte sie freundlich ignoriert. Alfred seinerseits hatte keinen Appetit gehabt, aber irgendwie war sein kalorienreduzierter Snack in seinen Magen gewandert. Nach seiner obligatorischen halben Stunde hatte Alfred aufstehen dürfen, obwohl er es heute ausnahmsweise nicht wollte. Er sah keinen Sinn darin, denn seine Tasche stand nach wie vor unausgepackt in seinem Zimmer. Seine Eltern hatten ihn nicht wieder mit nach Hause genommen. Sie waren gar nicht erst gekommen...
 

Er war so dumm gewesen, sich einzureden, sie würden vielleicht erst nachmittags eintreffen. Doch als es aufs Abendessen zuging, konnte auch Alfred sich nichts mehr vormachen. Er hatte an dem kleinen Fenstertisch gesessen und nur deswegen nicht geweint, weil all die anderen Patienten da waren und ihn sonst sicher selten dämlich angestarrt hätten.

Nur ein Patient hatte gefehlt: Arthur. Sein Platz blieb leer, sodass Alfred den Tisch für sich alleine hatte.
 

Auf die Frage hin, wieso Arthur nicht da sei, erwiderte die Schwester lediglich, er fühle sich nicht wohl und würde unter Beaufsichtigung auf seinem Zimmer etwas zu sich nehmen. Sie sagte nicht, dass es sich dabei um Flüssignahrung handelte. Aber Alfred hatte nachmittags noch mitbekommen, wie Arthur vor dem Kuchen die weiße Fahne gehisst hatte und schließlich ein unverhältnismäßig großes Glas der Flüssignahrung hatte trinken müssen. So wie auch Feli es viel zu oft tat.
 

Das war kein Essen. Das war kein Ersatz. Das bewirkte vielleicht, dass die beiden die notwendigen Kalorien zu sich nahmen, aber es signalisierte gleichzeitig, dass sie keinerlei Bereitschaft zeigten, sich mit normalem Essen zu arrangieren. Kein Essen, kein Leben.
 

Während ein paar Patienten den Abend mit einem Brettspiel im Gemeinschaftsraum verbrachten, hatte Alfred sich abgekapselt. Das fiel insofern nicht auf, als dass eh nie alle beisammen saßen. Das war ja keine Stufenfahrt hier und Alfred hatte nachhaltig den Eindruck, bei einigen seiner Mitpatienten höchst unbeliebt zu sein.

Erschwerlich kam für ihn hinzu, dass heute alle Besuch bekommen hatten, nur er nicht. Gut, so ganz stimmte das nicht, aber es fühlte sich definitiv so an. Alfred kam sich wie ein Hund vor, den man als Welpen angeschafft hatte und jetzt, da er nicht mehr neu und süß war, sondern Umstände bereitete, hatte man ihn irgendwo ausgesetzt und er war so verflucht dämlich, da zu sitzen und ergeben darauf zu warten, dass Herrchen und Frauchen zu ihm zurückkehrten...

Die Wahrheit war aber wohl, dass er seinen Eltern egal war. Sie kamen nicht, obwohl sie garantiert vom Besuchstag wussten. Seine Mutter hatte sich so hartnäckig hinter die Sache mit der Klinik geklemmt, sich überall Informationen beschafft und massenhaft Telefonate geführt. Sie musste es wissen. Sie wollte nur nicht bei ihm sein...
 

Erschlagen von all dem, stierte Alfred an die Zimmerdecke. Vorhin war Feli kurz aufgestanden. Alfred hatte ihn im Zimmer auf und ab gehen hören, jedoch wegen der Dunkelheit nichts gesehen. Der Italiener hatte erst damit aufgehört, als Alfred sich geräuschvoll im Bett herumdrehte.
 

Unter der Tür drang das fade Licht des Klinikflurs hindurch, feine Schritte erklangen kurzweilig. Dann war es wieder still. Alfred probierte erneut, sich auf etwas Schönes oder zumindest Neutrales zu konzentrieren. Wenn er doch nur seinen Laptop hier hätte. Oder seinen Nintendo DS. Eine kleine Runde zocken würde ihn bestimmt beruhigen. Doch man hielt ihn hier drin ja an der kurzen Leine was das betraf. Er würde in dieser Nacht garantiert kein Auge zu bekommen...
 

Davon total entnervt, schob Alfred die Bettdecke von sich hinunter und schlüpfte in seine Latschen, nur um kurz darauf auf den Flur hinaus zu treten. Das gedämpfte Licht störte ihn nicht besonders. Mit tristen Bewegungen peilte er das Schwesternzimmer an und war überrascht, die Tür offen vorzufinden. Durch den verglasten Bereich neben der Türe entdeckte er die mollige Nachtschwester, die gerade ein kleines, weißes Tablett aus der angrenzenden Küche trug. Die Pfleger und Schwestern verbrachten in der Küche normalerweise ihre Pausen, wenn sie nicht draußen eine rauchten. Alfred erspähte eine Kaffeemaschine, einen Wasserkocher, eine Mikrowelle und einen Kühlschrank. Klar, das Personal konnte ja nicht auf Essen verzichten, nur weil hier mit essgestörten Menschen gearbeitet wurde.
 

„Huch? Was ist denn heute los? Sag bloß, du kannst auch nicht schlafen?!“ Von Alfreds Anwesenheit irritiert, stellte die Frau das Tablett auf den Schreibtisch. Aus der schlichten Kanne stieg Dampf auf. Zwei Schildchen von Beuteltee lugten unter dem Deckel hervor: Melisse-Baldrian. Zusätzlich waren eine Tasse, ein Löffel und ein abgepackter, einzelner Keks auf dem Tablett zu finden.
 

„Ne, irgendwie nich’“, gestand Alfred zerknirscht und musterte das Schwesternzimmer. Die vielen hohen Regale und Schränke, die leeren Plätze, die Arbeitsunterlagen auf dem Schreibtisch. Alles wirkte bei Nacht beinahe friedlich. Wie Objekte, die nicht gebraucht wurden, weil es niemanden gab, der krank war.
 

Es war zu leise, alle Probleme ruhten selig. Die Uhr zeigte bereits kurz nach eins.
 

Die Frau legte den Kopf schief.

„Dabei ist doch gar kein Vollmond.“
 

Alfred sah hypnotisch auf den Keks. Mehr der Angewohnheit halber.
 

„Nun ja, wenn du möchtest, kannst du auch einen Tee haben“, bot die Schwester nach einem Räuspern an, wenngleich Alfred wenig begeistert den Mund verzog. Tee war so gar nicht sein Fall, schon gar nicht ungesüßt.
 

„Ich muss dich so oder so zurück ins Bett schicken, solange kein Notfall vorliegt. Also, Tee oder nicht?“
 

„Meine Eltern sind mich nicht besuchen gekommen...“
 

„Das ist kein-“, setzte die Schwester zur Belehrung an, stoppte aber ob Alfreds unglücklichem Gesichtsausdruck.

„Na komm her.“ Mit einer winkenden Bewegung forderte sie ihn auf, ins Zimmer zu treten und sich auf einen der grauen Drehstühle vor dem langen Schreibtisch zu setzen.
 

Der von Kräutern geprägte Geruch des Tees stieg Alfred dabei in die Nase. Warum er seine Eltern erwähnt hatte, konnte er spontan nicht sagen. Er saß da, hellwach, aber so abgrundtief enttäuscht, dass er sich wünschte, auf der Stelle einzuschlafen. Am Leib einen der Schlafanzüge, die seine Mutter übereifrig vorm Klinikbeginn für ihn gekauft hatte, da er daheim meist in T-Shirts und Boxershorts schlief, aber die Klinikordnung Schlafanzüge vorschrieb. Als ob Schlafanzüge einen gesund machen würden...
 

Die Schwester huschte in die Küche hinüber und öffnete einen Schrank. Gleich darauf kam sie mit einer zweiten Tasse zurück und stellte sie ebenfalls auf das Tablett.

„Der Tee muss noch ein wenig ziehen. Also...“, pausierend nahm sie auf dem Stuhl neben Alfred Platz. Ihre rosigen Backen ließen sie mütterlich besorgt wirken.
 

„Haben deine Eltern es denn weit hierher?“
 

Halbherzig mit den Schultern zuckend, verlor Alfred ein „Geht so“ und drehte sich auf dem Stuhl langsam hin und her. Von der Schwester kam ein leises „Mhm“. Schon ihre zuvor gestellte Frage hatte ob ihres mitfühlenden Tons impliziert, dass sie Alfred einen Grund zum Trost geben wollte. Aber was gab es noch zu trösten? Seine Eltern hatten ihn fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel, ihn im Stich gelassen. Er Idiot hatte es nur wieder mal nicht wahrhaben wollen. So wie bei seinen ‚Freunden’ aus dem Baseballteam und so wie auch bei Amelia.
 

„Ich darf dir keinen Keks geben...“
 

„Hä...?“ Alfred erwachte aus seiner Trance der Enttäuschung. Sein Blick haftete an dem Keks als sei er dort festgelötet.
 

Ein Keks...
 

Ein Keks!
 

Ein Keks war ein Keks. Aber ein Keks allein würde nicht reichen. In Alfreds Kopf machte es plötzlich Klick. Wenn er könnte, würde er alles, was er empfand – ob nun Trauer oder Enttäuschung, Verrat oder Schmerz –, so lange mit Keksen ersticken, bis ihm schlecht war. Jede Übelkeit, jedes Erbrechen, jede Ablenkung durch maßloses Fressen war ihm lieber als sich von diesen Gefühlen aushöhlen zu lassen.
 

Es war kein Wunder, dass er wie ein Irrer Lebensmittel in sich reinstopfte bei all den negativen Emotionen, die ihn sonst in die Mangel nahmen. Er wollte eigentlich gar keinen Keks. Er wollte seine Eltern und seine Freunde. Er wollte nicht mehr einsam und alleine sein. Er wollte nicht mehr verlassen und ausgetauscht werden...
 

Alfreds Füße stoppten inmitten der Bewegungen, mit denen sie das Stuhldrehen bis jetzt aufrecht erhalten hatten.

„Ich will keinen Keks...“ Nur kurz streifte sein Blick die ihm zunickende Schwester. Die Nacht und die Erkenntnis sorgten dafür, dass Alfred nicht mal sich selbst in diesem Moment wiedererkannte. Es war mehr so, als stünde er neben sich. Neben diesem blonden, hochgewachsenen 16-jährigen Jungen, der in einem SpongeBob-Schlafanzug auf dem Stuhl hockte. Die Schultern deprimiert nach vorn gebeugt und die Haltung einer vertrockneten Pflanze gleich. Sein Haar war haltlos durcheinander von all dem endlosen Herumwälzen im Bett und sein Herz sang ein ohrenbetäubendes Klagelied.
 

„Du solltest eine Tasse Tee trinken und dich dann wieder schlafen legen.“ Die Empfehlung schien wie ein aufmunterndes Tätscheln. „Wenn du mir versprichst, dass ihr leise seid, lass ich euch noch ein paar Minuten zusammen wach bleiben, während ihr euren Tee trinkt.“
 

„Ihr?“ Erst jetzt fiel Alfred ein, dass er sich noch gar nicht erkundigt hatte, für wen der Tee ursprünglich zubereitet worden war. Wer schlug sich genauso hoffnungslos die Nacht um die Ohren wie er?
 

Das Tablett ein aufforderndes Stückchen in Alfreds Richtung schiebend, lächelte ihm die Frau sanft zu: „Ich hab Arthur zurück auf sein Zimmer geschickt.“
 

Offenbar hatte die Schwester noch nicht in Erfahrung gebracht, dass Arthur nicht gerade Alfreds bester Freund war. Alfred spürte sich trocken schlucken, als ihm die an ihn gestellte Erwartung so richtig bewusst wurde. Er sollte Tee trinken. Mit Arthur. Zusammen. Auf Arthurs Zimmer.
 

Arthur würde ihm vermutlich die Tasse an den Kopf knallen...
 

Nichtsdestotrotz stand Alfred auf und nahm das Tablett an sich. Womöglich bezweifelte er einfach, dass Arthur gerade noch etwas tun konnte, was ihn ernsthaft verletzen würde. Es waren nicht Leute wie Arthur, die Alfred wirklich weh getan hatten. Er und Arthur kannten sich doch im Grunde so gut wie gar nicht. Es waren die Leute gewesen, die Alfred lange kannte und liebte, die tatkräftig dazu beigetragen hatten, ihn so zuzurichten. Also was sollte eine Tasse Tee noch für Schaden anrichten?
 

„Nicht länger als 20 Minuten, in Ordnung?“, verabschiedete sich die Schwester und wünschte noch eine gute Nacht. Alfred trabte über den viel zu sauberen Flur. Das Tablett mit beiden Händen festhaltend, steuerte er auf die Tür ganz am Ende des Ganges zu. Zwar hatte Alfred noch nie zuvor Arthurs Zimmer betreten, aber die letzten Tage hatten genügt, um zu bemerken, dass Arthur das Zimmer allein bewohnte. Nach dem Fiasko mit Feliciano war das womöglich auch die beste Idee...
 

Vorsichtig, um nichts zu verschütten oder fallen zu lassen, klopfte Alfred an und drückte dann die Türklinke hinab. Im Raum lag das Licht einer Nachttischlampe und ebnete einen verblassenden Pfad bis zur Türe. Der Raum war genauso eingerichtet wie Alfreds Zimmer. Die gleichen Möbel an den gleichen Stellen, ein ebenso großes Fenster mit identischem Vorhang.
 

Doch die Ecke, in der die Lampe ihr nüchternes Licht an die Wände schleuderte, ließ Alfred kurz erschaudern. Dort hingen Bilder. Selbst gemalte Bilder, die Abstände zueinander wie mit einem Lineal ausgemessen. Alfred erkannte nicht sonderlich viel des Gemalten: dunkel, grün, Umrisse von Wäldern und Bäumen. Seine Lider zuckten bei dem Versuch, Genaueres zu erkennen, als seine Aufmerksamkeit an den Wänden hinab glitt und bei dem Jungen anlangte, welcher sich geringfügig unter der Decke regte.
 

Arthur lag auf dem Bauch, das Gesicht ins Kopfkissen gepresst, die Decke hoch gezogen, aber er war wach. Sein Körper richtete sich gequält auf, da er jemanden ins Zimmer kommen gehört hatte.

„Ich weiß, ich hab nicht freiwillig gegessen, aber kann ich nicht zumindest eine halbe Schlaftablette haben oder-?“ Seine Frage erstarb, kaum dass er das Gesicht weit genug gedreht hatte, um zu sehen, dass nicht die erwartete Nachtschwester, sondern Alfred im Raum stand. Blitzartig rollte Arthur herum und setzte sich auf. Alfred glaubte sogar, seinen Rücken gegen die Kopfseite des Betts krachen zu hören.

„Was zur Hölle-?!“
 

„Tee!“, unterbrach Alfred schnell und trat noch schneller ans Bett heran, das Tablett auf den Nachttisch stellend und dabei Bücher sowie einige andere Kleinigkeiten beiseite schiebend.
 

Arthur sog völlig entsetzt Luft ein.

„Verdammt! Was um alles in der Welt machst du denn da, du verfluchter Trottel?!“
 

Aufgrund der heftigen Reaktion wich Alfred ehrfürchtig zurück. Gerade noch hatte Arthur zu Tode erschrocken an der Wand geklebt, jetzt hing er wie ein Irrer über seinem Nachttisch, verfrachtete das Tablett auf den Boden und begann damit, die Dinge wieder so anzuordnen, wie sie gelegen hatten, bevor sie Bekanntschaft mit dem Tablett gemacht hatten.
 

„Du hast alles durcheinander gebracht..!“ Nur noch knapp zur Hälfte in die Decke gewickelt, schob und rückte Arthur munter weiter. Zwei Bücher, eine kleine Schatulle, ein Brillenetui, ein Stift, eine teuer anmutende Armbanduhr, ein Stapel Magic Karten,...
 

Liebendgern hätte Alfred gesagt, dass es doch halb so wild sei. Es waren nur Sachen! Nichts war hinunter gefallen oder zu Bruch gegangen. Aber irgendwie bekam er keinen Ton heraus. Er war zu stumpf und zu traurig vom Tag.

Arthur hatte zwar geflucht und ihn beleidigt, aber er hatte sich nur auf einer oberflächlichen Ebene wütend angehört. Darunter klang seine Stimme von völliger Schrille verzerrt, die seine Finger hastig an den Gegenständen rücken ließ. So als würde etwas furchtbar Schlimmes passieren, wenn sie nicht schnellstmöglich wieder millimetergenau angeordnet wurden.
 

Es war wie heute Nachmittag, als Arthur seinen Kuchen demontiert hatte.
 

Eine Gänsehaut lief Alfred über den gesamten Körper, während er sich morsch auf dem Ende des Bettes nieder ließ. Völlig unbemerkt von dem anderen Jungen, der all seine Aufmerksamkeit dem ‚Chaos’ und dessen Beseitigung widmete.
 

Je länger sich Alfred das verzweifelte Schauspiel ansah, desto mulmiger wurde ihm zumute. Es war ihm seit heute Nachmittag eh unbehaglich, mit Arthur oder Feliciano in eine Gesprächssituation zu kommen. Alfred hatte sich offen gestanden davor gedrückt; Arthur hatte ihm das leicht gemacht, wenn man so wollte. Aber Feli hatte sehr vor den Kopf gestoßen reagiert, als Alfred ihm mitgeteilt hatte, sich heute Abend nicht an den geplanten Sportübungen zu beteiligen und auch nicht für Feli Schmiere zu stehen. Der Italiener hatte flehendlich auf seiner Lippe herumgebissen, kurz gebettelt und dann aufgegeben. Alfred hatte sich wie ein Monster gefühlt, obwohl er doch gar nichts falsch gemacht hatte. Aber Feli schien so unglaublich enttäuscht von ihm zu sein...
 

Leicht frierend zupfte Alfred an der Decke und zog diese ein Stückchen über seine Beine. Arthur schien immer noch mit bestem Augenmaß darum bemüht, alles in den von ihm gewünschten Zustand zu verfrachten. Im Schein des Nachtlichts waren seine Augen zu groß und seine Wangen zu hohl, sein Gesicht zu blass und sein Körper zu ausgezehrt. So als wolle er nicht wachsen und könne aber auch nicht ruhen.
 

Alfred realisierte, dass Arthur, wenn man genau hinguckte, eigentlich immer so aussah...

Die enorme Präsenz, die er bis vor kurzem noch ausgestrahlt hatte, war ihm abhanden gekommen. Seine Energie war auf sein zwanghaftes Tun gerichtet. Dieses wiederum verschlang ihn mit Haut und Haar. Was auch immer er dort machte, es war nicht gut für ihn...
 

„Relax, Arthur. Da fällt schon nix runter...“, mischte sich Alfred kleinlaut ein und bückte sich, um das Tablett auf dem Boden zu erreichen und Tee in eine der Tassen zu füllen. Der Spuk musste ein Ende haben.

„Hier! Dein ekliger Tee!“ Aufdringlich schob Alfred die Tasse in Arthurs Blickfeld, was eine sofortige Wirkung zeigte.
 

Alfred ließ sich weit genug zurückfallen, um die Beine ganz unter die Decke ziehen zu können. Selbst aus nächster Nähe wirkten die Bilder an den Wänden wie wirsche, düstere Ausschnitte von etwas Unergründlichem. Es verschreckte ihn und ließ ihn zurück zu Arthur blicken, der, die Tasse mit beiden Händen umschließend, ins Kissen sank. Die Tasse schien einen Puffer zwischen ihn und seine Panik geschoben zu haben.
 

Er sah krank aus. Eine absurde Feststellung, wie Alfred für sich bemerkte. Hier drinnen waren sie alle krank. Wieso schien ihn das plötzlich so ungeheuer zu überraschen?
 

„Der ist nicht eklig! Was hast du hier eigentlich zu suchen?“
 

Das klang schon wieder vertrauter in Alfreds Ohren...
 

„Konnt’ nich’ schlafen.“
 

„Na willkommen im Club.“ Das gehässige Murmeln schien mit dem Teegeruch zu Alfred hinüber zu wehen. Warum hatte er nicht einfach nur das Tablett abgestellt und war gegangen? Stattdessen saß er jetzt hier am Fußende von Arthurs Bett, während dieser am Kopfteil lehnte und mit den Lippen den Tassenrand berührte, ohne einen Schluck zu trinken.
 

Alfred schaute weg, als ihm auffiel, dass es so aussah wie bei Feliciano, wenn dieser sich scheute, sein Besteck in die Hände zu nehmen.
 

„Du warst nich’ beim Abendessen...“
 

„Gut beobachtet.“
 

„Du hast Milchreis mit Zimt und Zucker verpasst. Und Apfelkompott. Also für dich. Ich hatte keins...“
 

Arthur stieß ein abwertendes Grunzen aus, dem es an Schärfe mangelte. Es schien, als habe er es aufgegeben, sich mit Alfred auseinander zu setzen. Na wenn das so war...
 

Heimlich wandte sich Alfred wieder den mit Acryl gemalten Bildern zu. Sie waren wahrlich gespenstisch. Mit Ästen, die aus dem Papier hinauszulangen drohten, um einen in dieses tiefe Dunkle zu zerren.
 

„Das ist der Zauberwald.“
 

Ertappt löste Alfred sein Augenmerk von den Bildern, nur um festzustellen, dass Arthur seinem Blick gefolgt war.
 

„Zauberwald?“
 

„Ja, wenn du da rein gehst, kann dich niemand mehr finden.“ Irgendwas daran schien Arthur zu beruhigen. Ja, sogar gewissermaßen zu amüsieren. Seine Lippen nahmen sich die Freiheit heraus, sich an ein kindliches Lächeln zu wagen. Alfred hatte diesen Gesichtsausdruck noch nie zuvor bei seinem Gesprächspartner gesehen. Seine Miene wirkte so ungeschützt und hoffnungsvoll, zugleich untypisch jung und naiv. Wer glaubte denn in ihrem Alter bitte noch an Orte, an denen man nicht gefunden werden konnte? An denen man quasi unsichtbar war? Das gab’s doch gar nicht!
 

„Wo soll’n der Zauberwald sein?“, wunderte sich Alfred.
 

Arthurs Lächeln erlosch ohne wenn und aber.

„Nirgendwo natürlich, du Idiot...“ Seine Finger änderten den Winkel, mit dem sie die Tasse hielten. Tee schwappte bis an Arthurs unnatürlich stark aufeinander gepressten Lippen, konnte aber nicht in seinen Mund vordringen. Es schien, als wehre er sich nicht nur gegen das Getränk, sondern auch dagegen, Alfred über das Geheimnis des Zauberwaldes aufzuklären.
 

„Hab ja nur gefragt... Kommst du morgen zum Frühstück?“, versuchte es Alfred mit einem Themenwechsel.
 

Arthurs Blick tangierte ihn nur flüchtig.

„Meinst du, ich hab Lust in Zukunft auch ’ne halbe Stunde abzusitzen, nur weil ich mein verfluchtes Frühstück auskotze?!“
 

Die Heftigkeit rüttelte Alfreds Gemüt durch. Dass Arthur diese Worte so ruhig hatte hervorbringen können, verstärkte den Effekt nur.

„Kotzt du etwa auch? Ich dachte, du-!“
 

„Nein, ich kotz nicht mehr! Ich hab das mal gemacht, aber das ist schon ’ne zeitlang her und ich fang damit auch definitiv nie wieder an, wenn’s nicht sein muss! Ich hab keine Ahnung, wie du oder Tino oder sonst wer das ständig machen kann. Das ist echt die Hölle!“
 

„Ich mach das nich’ ständig!“, versuchte Alfred, der die Ausmaße seiner Essstörungen noch immer ungern eingestand, umgehend richtig zu stellen.
 

Die Tasse herabsenkend, schien Arthur darüber nachzudenken. Seine tief hängenden Brauen ließen seine Augen unter einem schwarzen Schatten verschwinden.

Alfred indessen konnte es immer noch nicht fassen: Arthur, der wegen Magersucht hier war, war auch mal ess-brech-süchtig gewesen? Hatte man nicht entweder das eine oder das andere? Oder konnte sich das ändern? Würde es sich auch bei ihm irgendwann ändern?
 

„Na wenn du das sagst. Ich hab das jedenfalls nie so gemacht wie du...“, lautete das Ergebnis von Arthurs Überlegungen schließlich. Erleuchtet fühlte sich Alfred dadurch trotzdem nicht.

„Was kann man denn an sich voll fressen und sich danach übergeben großartig anders machen?!“
 

„Ich hab mich nicht voll gefressen. Es-“, Arthur stoppte abrupt. Ihm schien erstmalig aufzufallen, worüber er hier eigentlich redete und vor allem mit wem. Seine matte Stimme berichtete von einer unstillbaren Sehnsucht nach Schlaf und Erholung. So als dringe sie von weit her zu Alfred hindurch. So als wäre Arthur derjenige, der im Zauberwald verschollen war und niemand konnte ihn mehr zu fassen bekommen. Er war ein Echo. Ein Trugbild. Deswegen kam auch seine Wut nicht mehr bei Alfred an und deswegen kategorisierte er Alfred momentan nicht als akute Gefahr, der gegenüber er sich ausschweigen musste.
 

„Es war so: ich hab nur das Abendessen erbrochen. Aber immer erst spät abends oder nachts...“
 

„Wa-?! Igitt!“ Sich schüttelnd, schnitt Alfred eine Grimasse. Seine Erfahrungen mit anverdautem Erbrochenem beschränkten sich auf die widerliche Pampe, die er in Tinos Bettbezug gesehen hatte. Aber er wusste ja, wie frisches Erbrochenes aussah und wie penetrant es roch. Weiterzudenken bis zu einem Zeitpunkt, an dem die Verdauung schon deutlich fortgeschritten war, bereitete Alfred Übelkeit. Logisch schien es außerdem auch nicht: nach der langen Wartezeit hatte sich der Körper doch schon sämtliche Kalorien abgegriffen.
 

Arthur sagte gar nichts mehr, sondern starrte verwundet in seinen Tee. Es war ihm unangenehm.
 

Alfred verstand, dass er zu weit gegangen war...
 

„Sorry, ich..das macht doch null Sinn! Wieso hast du so lang gewartet? Hattest du Schiss, dass dich jemand erwischt?“
 

Es dauerte, bis sich Arthur zu einem Nicken hinreißen ließ. Aber es kam, still und heimlich. Begleitet von einem gewisperten „auch“ und einem noch feiner gefertigten „nachts ist mir halt immer schlecht geworden“.
 

Die Bäume hatten sich zu weit in den Vordergrund gedrängt, als dass Alfred noch etwas von Arthur hätte sehen können. Er saß dort, trüb und leise. Bis ihm plötzlich siedend heiß etwas einzufallen schien, er sich hinunter beugte und die Teetasse zurück aufs Tablett stellte. Sein nächster Griff galt dem kleinen Geschenkkarton, der hinter den Büchern auf dem Nachttisch platziert war. Alfred erkannte den Karton sofort wieder.
 

„Hier! Ihr zwei seid ja jetzt Best Friends for Life oder was auch immer!“ Herzlos bekam Alfred die Schachtel auf den Schoß geworfen. Es war die Geschenkschachtel, die Arthur kürzlich per Post erhalten hatte. Von Francis. Er gab sie weg. Einfach so. Als gäbe es keinerlei Anlass mehr für ihn, sie noch zu behalten. Und er sah wütend aus. Sehr, sehr wütend, wie Alfred zu seinem Leidwesen realisierte.
 

„Aber das sind deine Macarons!“
 

„Was soll ich noch damit?! Du warst doch sowieso von Anfang an scharf drauf! Hier hast du sie!“
 

„Ich wollte nur eins haben! Nicht die ganze Packung!“
 

Arthur stieß ein Lachen aus und nahm seine Tasse wieder auf. Man war ihm wohl zu fest auf die Füße getreten...
 

Die kleine, hübsch gefertigte Schachtel öffnend, blinzelte Alfred ins Innere.

„Du hast ja noch nicht mal probiert...“
 

„Dann tu du’s doch jetzt. Backen kann der Idiot wenigstens!“
 

Eigentlich fand Alfred, dass Arthur nicht in der Position war, Francis einen Idioten zu schimpfen. Er schien es auch nicht ernst zu meinen. Er schien nur sauer. Nein, das war es nicht. Er klang wie heute Nachmittag. Er war verletzt.
 

So wenig wie Alfred vorhin einen Keks gewollt hatte, so schnell hatten seine Finger ein herrlich schimmerndes Macaron aus der Schachtel genommen. Nur mal riechen!, diktierte die Vernunft streng. Aber der Geruch war so köstlich, dass Alfred gleich darauf hinein biss. Er würde die Macarons nicht annehmen; nur probieren und sie waren-
 

Alfred zog zum zweiten Mal binnen weniger Minuten eine Grimasse. Jetzt sogar noch schlimmer als die vorhergehende. Sein gesamter Körper vollführte eine flinke Bewegung, um die winzige Klinikservierte, die unter der Teekanne stand, an sich zu reißen und das Stück Gebäck hinein zu spucken.
 

„Was zum Teufel machst du da?“
 

„Das..das ist total versalzen! Und scharf und irgendwie...oah, widerlich!“ Alfred musste sich schütteln. Seine Geschmacksnerven wanden sich unter der Qual, obwohl sein Mund längst leer war. Arthur starrte ihn an, als sei er nicht mehr ganz bei Trost.
 

„Versalzen?!“
 

„Jo, ungenießbar!“ Alfred stellte entschlossen die Macaronsschachtel aufs Bett, während Arthur sie wie den Heiligen Gral anstierte. Er schien eine Erleuchtung zu haben.
 

„Das ist unmöglich!“ Seinen Tee vollkommen vergessend, fasste Arthur in die Schachtel und biss zu Alfreds Unglauben vom erstbesten Macaron ab, das er zu fassen bekam. Die Geschmackssensation blieb ihm dabei selbstverständlich nicht verborgen. Doch anstatt sich zu schütteln, schmiss Arthur das angebissene Macaron wutentbrannt zurück in die Schachtel.
 

Alfred konnte gar nicht so schnell gucken, wie Arthur vom Bett sprang und zu seinem Schrank hinüber hastete, den Türgriff packte und sich auf den Boden kniete. Neugierig folgte Alfred ihm und sah über Arthurs Kopf hinweg ein ganzes Sortiment kleiner Schachteln und Tüten, alle sorgsam auf dem Boden seines Kleiderschranks drapiert. Kekse. Gebäck. Geschenke. Alles von Francis.
 

Plastik knisterte, als Arthur blind nach einer Tüte langte und sie aufriss. Offenbar Zitronenplätzchen, wenn man der Aufmachung der Tüte Glauben schenken durfte, doch das schien Arthur nicht zu kümmern. Er biss in eines der Plätzchen, ließ es fallen und knöpfte sich sogleich die nächste Tüte vor. Das Gesicht rot, die Finger weiß und der Atem hetzend, als renne er einen Dauerlauf.
 

„Scheißkerl...!“, brauste er mit einem Male auf. „Francis, du Gott verdammter Scheißkerl!“
 

Das Fluchen ließ Alfred begreifen, dass ein jeder Keks absolut ungenießbar war. Dass Francis voller Absicht diese nicht essbaren Süßigkeiten hergestellt hatte, um sie Arthur zu schicken und so zu testen, ob er freiwillig etwas aß, das nicht auf seinem Klinikplan stand.

Das hatte Arthur aber nie getan, obwohl er es stets steif und fest behauptet hatte. Deswegen hatte Francis also so genau gewusst, dass Arthur log. Woche für Woche für Woche...
 

„Du blöder Wichser... Ich hasse dich! Ich hasse dich!“ Rage und Magerkeit ließen die Wirbelsäule in Arthurs Nacken prägnant unter der Haut hervorstechen. In blinder Wut flog eine Tüte durchs halbe Zimmer und prallte gegen die Heizung. Alfred zuckte zusammen, während Arthur wie ein wildes Tier keuchte, fluchte und die Zähne fletschte. Sein ganzer Körper war eine Verkrampfung, bei der er abwechselnd Francis die Pest an den Hals wünschte, mit den Gebäcktüten um sich schmiss und sich selbst für seine Dummheit rügte. Alles lief zusammen; Arthur war fassungslos. Fassungslos ob Francis’ dreister Idee und fassungslos über seine eigene Unfähigkeit, diese schlichte Idee zu durchschauen.
 

Als eine der kleinen Schachteln zufällig gegen Alfreds Schienbein schmetterte, geriet er wieder in Arthurs Fokus. Dessen Augen schimmerten grün, giftig und gebrochen.

„Raus! Raus mit dir! Hau ab! Verpiss dich!“
 

Alfred wich instinktiv zurück, die Hände verteidigend hebend. Die nächste Kekstüte traf ihn, dieses mal an der Schulter. Arthur zielte gut und hatte ihn am Hals treffen wollen. Alfred floh, weil ihm in seinem gesamten Leben noch nie jemand mit Tränen auf den Wangen so viel Angst eingejagt hatte.

{ 15. | Perspektivenaustritt }

„Wie geht es dir heute?“
 

Alfred hatte sich kaum auf dem durchaus bequemen, schwarzen Stuhl niedergelassen, als ihm Frau Brooke die Frage mitsamt ihrer speziellen, undeutbaren Miene zuspielte wie ein Bällchen. Bloß dass er besagten Ball dummerweise nicht fangen konnte, denn in seinen Händen befand sich das unausgefüllte Hausaufgabenblatt. Die bedruckte Seite bewusst ihm zugewandt, weil er noch keine Gelegenheit gefunden hatte, seiner Therapeutin zu beichten, dass er kein einziges Wort aufgeschrieben hatte. Nicht auf sein Hausaufgabenblatt und erst recht nicht in sein Tagebuch.
 

Wann auch?
 

Irgendwie war zu viel passiert. Sowohl was ihn selbst betraf, als auch in Hinblick auf seine Mitpatienten.
 

Dass da jetzt diese Frau direkt vor ihm saß, machte es nur schlimmer. Wo sollte er anfangen? Woher sollte er wissen, wie es ihm ging? Er verspürte lediglich eine deprimierende Müdigkeit, die daher rührte, dass er letzte Nacht nicht vor zwei Uhr einschlafen konnte und dann gegen sechs wieder aus dem Schlaf gerissen wurde. Es war so unfair! Arthur hatte nicht aufstehen müssen. Zumindest hatte Alfred ihn nicht in der Schlange zum Wiegen entdecken können. Auch nicht beim Frühstück. Aber irgendein nagendes Gefühl flüsterte ihm zu, Arthur nicht darum beneiden zu brauchen...
 

Nachdem Alfred vergangene Nacht nichts Anderes zu tun gewusst hatte, als Hals über Kopf aus Arthurs Zimmer zu türmen, hatte ihn die Schwester natürlich auf den Gang stolpern sehen und war sogleich zu ihm hinüber gekommen. Was denn los sei?

Alfred hatte mit den Schultern gezuckt und einen unbestimmten Moment lang nichts zu sagen gewusst, bevor ein „Sie müssen nach Arthur gucken!“ aus ihm heraussprudelte. Die gutmütige Frau hatte ihm daraufhin aufgetragen, ins Bett zu gehen. Sie würde nach dem Rechten sehen. Er solle sich keine Sorgen machen.
 

So viel zum Thema Arthur.
 

Für sich selbst fiel Alfred jetzt nur ein halbherziges Lächeln ein, während er Frau Brooke anguckte.

„Bisschen müde, aber sonst okay!“ Das war immerhin die halbe Wahrheit. Aber ihm schwante, wenn er wieder die komplette Lügenmasche auspackte, würde dieses Gespräch noch schlechter verlaufen als das vorherige.
 

„Mhm. Sollen wir uns denn mal deine Hausaufgabe anschauen?“
 

Nein!
 

Alfred starrte mit einem Gesicht so heiß wie eine Herdplatte auf das Blatt hinab.

„Ähm...“ Die blöden Linien waren allesamt leer. Die drolligen Bildchen schienen ihn auszulachen. Ja, er hatte tatsächlich das Gefühl, das skizzierte Törtchen da unten würde sich lauthals über ihn lustig machen. Weil er so groß war und es nicht auf die Reihe bekam, ein lächerlich kleines Arbeitsblatt auszufüllen. Wenn das Arbeitsblatt doch nur wüsste, dass er sich in Wahrheit wie der ausgesetzte Welpe fühlte...
 

„Ja?“ Nur weil Frau Brooke heute einen sanfteren Eindruck vermittelte, machte sie das nicht zu einem sympathischeren Menschen.

Den Kopf schief legend, fiel Alfred keine bessere Taktik ein als die altbewährte: lügen und lächeln! Fake it!
 

„Irgendwie hab ich’s total verplant! Sorry!“ Das Grinsen war so breit, dass es seine Lippen zu sprengen drohte. Es wollte seinem Mund partout nicht passen.
 

„Du hast es nicht gemacht, meinst du.“ Sie ließ es so klingen, als habe sie einen astrein durchschaut.
 

Alfred brach den Blickkontakt abrupt ab und versuchte, nicht mit dem Füßen zu scharren, seine schwitzenden Handflächen zu ignorieren und sich nicht wie ein Kleinkind vorzukommen.

„Ich hab’s halt vergessen!“, beharrte er, plötzlich pampig, weil es doch wohl Wichtigeres gab, als irgendeinen Quatsch auf ein Arbeitsblatt zu kritzeln.
 

Ihn wunderte allerdings, dass seine Therapeutin keinen frustrierten Eindruck machte. Sie schien das einfach so hinzunehmen. Wunderbar, warum sollte er sich dann überhaupt jemals die Mühe machen, auch nur einen Finger zu rühren, wenn es die Frau gar nicht interessierte? Es hatte ja offenbar keine negativen Konsequenzen und vermutlich würde sie, nachdem die kommenden Therapiestunden genauso abliefen, einen netten Bericht aufsetzen, der Alfred als untherapierbar einstufte und mit dem er zurück ins Leben entlassen wurde.
 

Das sollte ihn irgendwie zufrieden stellen, nicht wahr?
 

„Du weißt ja, dass ich auch Einsicht in die Protokolle der Gruppentherapie habe. Ich hab gelesen, dass du auch keinen Tagebucheintrag vorbereitet hast, obwohl du es so mit Frau Brussels besprochen hattest.“
 

„Ich hab trotzdem von mir erzählt!“ Und das war jawohl schlimm genug gewesen! Wieso musste sich Alfred jetzt auch noch für den versäumten Tagebucheintrag rechtfertigen? Das war doch auch wieder so eine Sache, die keinerlei Konsequenzen nach sich getragen hatte – außer dass er aus dem Stegreif hatte improvisieren müssen.
 

„Ja.“ Frau Brooke machte ein paar stille Notizen in ihren Unterlagen. Die dadurch aufkommende Pause schickte Alfreds Blick auf Wanderschaft durch den kleinen Raum, in dem nicht sonderlich viele Möbel standen. Das konnte unmöglich das Büro von Frau Brooke sein, oder? Vermutlich diente das Zimmer wirklich nur der Behandlung. Die Wände waren samtweiß gestrichen, es gab ein Fenster (ohne Gitterstäbe) und ein Bild in einem orangefarbenen Rahmen von einer drallen Sonne in filigranem Comicstil. Um sie herum bildeten massenhaft kleine Sternchen, die sich wie Kindergartenkinder an den Händen hielten, eine tanzende Kette. Jedes Sternchen wiederum war anders gestaltet; die verschiedensten Frisuren jagten die aberwitzigsten Gesichtsausdrücke.
 

Außer dem Schreibtisch und den beiden Sitzgelegenheiten, existierte sonst nur noch ein geräumiges Regal. Neben ein paar merkwürdig anmutenden Büchern, standen eine Sanduhr, eine richtige Uhr und ein paar Dekogegenstände, die an einen Großeinkauf bei Ikea erinnerten, auf den schlanken Brettern.
 

Mit einem melodischen Klicken legte Frau Brooke ihren Kugelschreiber auf die Schreibtischplatte und warf ihrem Patienten einen weiteren neutralen Blick zu.

„Lass mich dein Arbeitsblatt sehen.“
 

Alfred war so dermaßen froh, das Blatt endlich loszuwerden, dass er es regelrecht auf den Tisch schmiss. An den Ecken hatte es kleine Druckstellen bekommen. Genau dort, wo seine schwitzigen Finger in den letzten Minuten mit dem Papier Bekanntschaft gemacht hatten.
 

Frau Brooke schaute kurz auf das Blatt, registrierte, dass dort wirklich kein einziger Buchstabe niedergeschrieben wurde, und drehte es so herum, dass es für Alfred in Leserichtung lag.

„Vielleicht ist es einfacher für dich, wenn wir das zusammen machen.“
 

Wäre es das?
 

Alfred wollte nicht. Das war doch der Knackpunkt. Er wollte nichts aufschreiben. Einerseits, weil er sich bei seiner Einlieferung felsenfest vorgenommen hatte, keine Probleme zu offenbaren. Andererseits, weil er gar nicht wusste, womit er anfangen sollte. Bei ihm schien gar nichts im Lot zu sein, aber zugeben mochte er das definitiv nicht. Außerdem kam er sich wegen des Arbeitsblattes furchtbar blöd vor. Er ging doch nicht mehr in die Vorschule, wo er Bilder zu beschriften lernte!
 

„Wir könnten zum Beispiel darüber sprechen, warum du Arthurs Törtchen gegessen hast...“
 

Bei dem Namen zuckte Alfred unweigerlich zusammen. Die Erwähnung des Törtchens wiederum ließ sein Gesicht erneut hochrot werden. Seine Beine rückten in nervöser Manier leicht vor und zurück, indessen er auf das Arbeitsblatt guckte und bloß noch gequält grinste.

Hier wurde wirklich jede Information an seine Therapeutin weitergegeben. Da leistete er sich einen Patzer und sie bekam es anscheinend direkt als Eilmeldung per SMS zugeschickt. Großartig. Einfach großartig!
 

„Kannst du dich daran erinnern?“
 

„Klar kann ich mich daran erinnern!“ Er hatte doch keine Demenz! Wollte die Frau ihn eigentlich verarschen?!
 

„Es passiert häufig, dass in der Gruppentherapie Gefühle aufkommen, mit denen man nicht sofort zurecht kommt. Das erleben wir hier bei so ziemlich allen Patienten. Ich möchte mit dir darüber sprechen, was in dir vorgegangen ist nach der Therapiestunde. Was meinst du? Sollen wir uns angucken, warum du das Törtchen so unbedingt haben wolltest?“
 

Das wirkte ja glatt so, als würden sie ein Experiment auswerten. Nur mit dem Unterschied, dass Frau Brooke es irgendwie nett klingen ließ. Nicht beißend oder befehlend. Alfred könnte nein sagen, was ein großer Teil in ihm auch wollte. Ein anderer Teil hatte allerdings schon ein gewisses Verständnis dafür entwickelt, was und wie viel bei ihm eigentlich schief lief. Die letzten Tage hatten ihm das so schmerzlich begreiflich gemacht wie nie etwas zuvor...

Jedoch half ihm das nicht. Selbst wenn er wusste, dass er keinen Keks wollte, kontrollierte das Essen ihn. Nicht umgekehrt. Er hatte zum Beispiel in das Macaron gebissen, wohl wissend, dass er genau das nicht tun sollte. Sein Wissen brachte ihn also null weiter! Er konnte sich einfach nicht beherrschen. Es war total sinnlos. Wie sollte das bitte jemals besser werden?
 

In Alfreds Blickfeld, das immer noch auf dem Tisch ruhte, schob sich der Kugelschreiber. Verdammt, wenn Frau Brooke es so unbedingt wollte, dann würde er eben etwas aufschreiben! Schnell haschte er nach dem Kulli und kritzelte „Törtchen/Süßigkeiten“ als Überschrift neben die Törtchenzeichnung.

Links daneben war die Zeichnung einer kleinen Weltkugel. Was sollte das sein? Ihm fiel nichts Besseres ein, als es mit „Welt“ zu betiteln. Weiter kam er leider nicht...
 

„Wessen Welt, meinst du denn, ist das?“
 

Schnaubend schmierte Alfred ein „meine“ vor das Wort „Welt“. Frau Brooke sollte aufhören, ihn wie einen Idioten zu behandeln. Er könnte das hier auch alleine ausfüllen, wenn er denn wollte! Er brauchte niemanden, der ihm jedes Wort diktierte!
 

Dies implizierend, schaute er ihr grimmig ins Gesicht, wo nach wie vor die absolute Neutralität anzutreffen war. Selbst Frau Brookes Frisur war heute wieder genauso makellos hochgesteckt wie letzte Woche. Vermutlich hatte die Frau ein tolles Leben. Sie war nicht krank, sie war nicht in einer Klinik eingesperrt, sie wurde nicht wie ein Hund ausgesetzt oder wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen, nicht abserviert und nicht verarscht. Alfred konnte sich nicht vorstellen, dass die Worte, die er in die vorgesehenen Zeilen unter das Weltsymbol schrieb, auch nur ansatzweise auf jemanden wie Frau Brooke zutrafen. Sie war nicht einsam, sie war nicht ersetzbar, sie war nicht traurig, sie war nicht fett und sie war auch nicht bemüht. Sie lächelte nicht, wenn sie es nicht musste. Etwas, das Alfred ständig tat, weil er zu viel Angst hatte, dass sonst alles noch viel, viel schlimmer werden würde. Gebracht hatte es ihm auf lange Sicht jedoch nichts – außer einen Freifahrtsschein in eine Klinik.
 

Und eine Therapie, bei der er Sachen aufschrieb, die ihm wehtaten. Den Stift ablenkend zwischen den Fingern balancierend, wünschte sich Alfred, das Arbeitsblatt mit Spiritus übergießen und dann in Brand stecken zu können. Er wollte nicht in dieser Welt leben, die dort unten wörtliche Gestalt angenommen hatte. Er wollte nicht, dass das seine Welt war...
 

„Meine Welt ist total abgefuckt! Und ich auch...!“, sprach er in Richtung Tisch, weil er sich zu sehr schämte, um Frau Brooke ins Gesicht zu sehen. Seine Umwelt war eine Sache, aber er war ja derjenige, der sie mitgestaltete. Der auf die Reize reagierte, sie verarbeitete. Auf eine Weise, die ihn zum Törtchensymbol brachte...
 

„Du bist nicht abgefuckt“, versicherte ihm Frau Brooke, sein selbst gewähltes Attribut willentlich wiederholend. „Ich finde es zum Beispiel ganz normal und natürlich, dass du traurig darüber bist, dass deine Freunde aus dem Baseballteam dich ausgelacht haben, weil du ein Problem hast. Das würde sicher jedem Menschen so gehen. Denkst du nicht, dass du ein Recht hast, deswegen traurig zu sein?“
 

Alfred nickte zaghaft, irgendwo ein gepresstes „Doch“ verlierend. Seine angeblichen Freunde hatten ihm ein Messer in den Rücken gerammt und von ihm erwartet, munter so zu tun, als täte es nicht weh.
 

Frau Brooke tippte die Törtchenzeichnung an.

„Traurig wäre demnach etwas, das wir hier als Grund listen können, warum du zu viel isst und erbrichst. Oder was meinst du?“
 

Ja. Sicher. Alfred musste ihr da zerknirscht zustimmen, sah sie aber immer noch nicht an, während er das Wort schrieb. Nicht nur seine Umwelt war irgendwie traurig, sie machte ihn auch traurig. Und sie enttäuschte ihn. Sie machte ihn einsam. Sie machte ihn vor allem wütend. Jetzt, wo er hier saß und sich eifrig über das Blatt beugte, konnte er plötzlich nicht fassen, wie mies sich seine angeblichen Freunde verhalten hatten! Wie alle gelästert oder ignorant weg geguckt hatten! Was waren das für Menschen?

„Freunde sollten einen nicht so behandeln. Sie haben nich’ mal gefragt, warum ich das mit dem Essen und Kotzen mache! Das hat die ’nen Scheiß interessiert!“
 

Seine Finger verkrampften sich mitsamt dem Kulli zur Faust. Weder Brad noch sonst wer hatte sich je um Alfreds Wohl gesorgt. Sie alle hatten seine Essstörung als Running Gag ausgeschlachtet. Sie hatten Alfred in dem Sinne nicht mal als Menschen – und erst recht nicht als Freund! – wahrgenommen. Er war für sie nur ein komisches Element gewesen, an dem man sich zu Unterhaltungszwecken beliebig bediente.

Bedauerlicherweise hatte Alfred es bis jetzt nie so konkret verstanden. Er hatte es immer aus einer völlig anderen Perspektive betrachten. Er hatte die Schuld einzig und allein bei sich gesehen: würde er keinen Anlass bieten, würde man ihn kameradschaftlich behandeln. Aber verdiente er es nicht auch, trotz persönlicher Schwierigkeit, wie ein Mensch und Freund behandelt zu werden?
 

Ja, das tat er.
 

Als er seine Therapeutin jetzt anschaute, wusste er, mit seiner neu gewonnenen Erkenntnis richtig zu liegen. In ihrem Mundwinkel lag eine feine Zufriedenheit. Wenn Alfred ehrlich war, war die Frau gar nicht so schrecklich, wie er letzte Woche noch gedacht hatte. Im Gegensatz zu denjenigen, die sich seine Freunde geschimpft hatten, lachte sie nämlich nicht über ihn.
 

„Da geb ich dir vollkommen Recht. Freunde sollten einen nicht so behandeln. Wieso hast du eigentlich nicht mit dem Trainer darüber gesprochen? So weit ich Frau Brussels Aufzeichnungen richtig lese, hat man dich im Team doch schon, nun ja, richtig fies gemobbt. Das war doch bestimmt extrem schwierig für dich?“
 

Schwierig war eine viel zu milde Formulierung. Die Belastungsgrenze des Kugelschreibers austestend, wurde Alfred allmählich bewusst, dass wenn das gleiche noch mal passieren würde, er nicht mehr so lange bei diesen vermeintlichen Freunden bleiben würde. Nur hatte er damals einfach keinen anderen Ausweg gesehen...
 

„Ja, aber mein Trainer hätte doch hundert pro meine Eltern informiert...“
 

„Das wäre sogar seine Pflicht gewesen.“
 

Na bitte...
 

Alfred erbarmte sich des Kugelschreibers und ließ ihn los. Etwas zum Aufschreiben fiel ihm gerade sowieso nicht mehr ein. Seine Eltern waren doch, wenn man so wollte, das eigentliche Problem an der Sache. Damals wie heute. Er hatte so abartige Angst davor gehabt, was passieren würde, wenn sie die Wahrheit erfahren würden. Sie hatten schon mehr als genug Probleme und er wollte doch bloß verhindern, dass seine Familie endgültig auseinander brach...
 

„Hast du jemals daran gedacht, mit deinen Eltern darüber zu reden? Also über deine Essstörung.“
 

Den Kopf verneinend schütteln, widmete sich Alfreds Aufmerksamkeit seinen geringelten Socken, die zwischen seiner Baggyjeans und den Latschen hervor lauerten. Seine Hände waren zu feucht, also ließ er sie in den weiten Taschen seines Kapuzenpullis verschwinden.

Sein Gegenüber schwieg versöhnlich, aber im Raum stand die unausgesprochene Aufforderung an ihn, zu erklären, wieso er das nicht getan hatte. Und er wollte nicht erklären. Die plötzlich aufgekommene Wut, die ihn eben hinterrücks überfallen hatte, war wie weggeblasen. Der 16-Jährige fühlte sich nur mehr elendig. Der Gefühlswechsel war so schnell vonstatten gegangen, als habe jemand das heiße Wasser ab- und stattdessen das kalte aufgedreht.
 

„Hm?“, stupste Frau Brooke akustisch.
 

Alfred biss sich fester auf die Unterlippe.

„Weil..na weil...“ Ihm fielen geschätzte hundert Gründe ein, die in seiner Lunge feststeckten wie Glasscherben. Wie sollte er sie bitte da raus bekommen, ohne sich den Hals aufzuschlitzen? Es tat ja so schon weh. Gleichzeitig stach ihm die Stille wie eine Lanze in den Rücken.
 

Er würde ja reden, würde sein blöder Mund nur nicht so unbeholfen lächeln...
 

„Meinst du nicht, sie haben sich dafür entschieden, dich in eine Klinik einzuweisen, damit man dir hilft? Weil sie sich Sorgen um deine Gesundheit machen?“
 

Sorgen? Um seine Gesundheit? Das war schon wieder so eine verquerte Denkweise, die ihm bislang nicht begegnet war. Stimmen konnte sie obendrein auch nicht. Frau Brooke vermutete es lediglich, weil sie keine Ahnung hatte, was daheim bei Alfreds Familie eigentlich los war. Wie sie alle aneinander vorbei lebten, unter einem Dach hausten und jeder genauso gut alleine leben könnte. Dass er jetzt aus dem Haus war, war für seine Eltern sicher ein Fest. Eigentlich war seine Essstörung das Beste, was ihnen hatte passieren können. Jetzt, da er fort war, mussten sie sich endlich nicht mehr zusammen reißen.
 

„Ich bin ja gar nich’ so krank. Die wollten nur unbedingt, dass ich weg bin.“
 

Frau Brooke lüpfte dezent eine der akkurat geschminkten Augenbrauen.

„Wenn wir mal annehmen, es gäbe eine Skala von 1 bis 10, die angibt, wie schwerwiegend eine Krankheit ist. Für wie ungesund würdest du deine Essstörung einschätzen?“
 

„Äh, so 2? Vielleicht?“ Achselzuckend hob Alfred den Blick wieder und lehnte sich trotz all der verstörenden Nervosität im Stuhl zurück. Es schien keine angenehme Sitzposition zu geben. Entweder er saß zu aufrecht oder zu weit nach vorn gerutscht. Lag es an dem Stuhl oder an ihm?
 

Seine Therapeutin jedenfalls legte weitere Notizen an, dann suchte sie wieder den Blickkontakt. Etwas in ihren Augen hatte sich deutlich verändert, aber Alfred konnte nicht herausstellen, was es war. Sie schien, unmittelbar unter ihrer Professionalität, sehr betroffen.
 

„Wenn ich mir das hier, was du eben aufgeschrieben hast, so durchlese“, sie tippte ein Wort nach dem nächsten an, das sich auf dem Arbeitsblatt versammelt hatte. „Dann finde ich das sehr schlimm. Viel schlimmer als 2 von 10. Du hast für deine Welt kein einziges positives Wort übrig. Oder siehst du da eins?“
 

Nein. Es gab keins.
 

Kein einziges.
 

Alfred rieb mit den Spitzen seiner Schneidezähne über seine Zungenspitze und blinzelte schnell. Wenn er gekonnt hätte, hätte er sogleich einen Wolkenbruch an positiven Beschreibungen ergänzt, aber ihm fiel so aus dem Stegreif nichts Passendes ein. Das machte das Blinzeln nur schlimmer...
 

„Und dann würdest du dich trotzdem nur auf der 2 einordnen? Wir haben uns ja auch noch gar nicht im Detail damit beschäftigt, wie der Körper unter so einer Essstörung leidet. Das kommt ja auch noch hinzu. Ich glaube nämlich, nachdem du aus deinem Baseballteam ausgetreten bist, hast du noch viel mehr gegessen und sicher auch noch häufiger erbrochen. Bei zunehmendem Rückzug aus ihrem sozialem Umfeld, neigen viele Betroffene dazu, noch tiefer in ihre Essstörung zu rutschen. Ich kann mir gut vorstellen, dass dir das auch passiert ist?“
 

Was war an dieser Stunde nur so gravierend anders als an der letzten? Warum traf Frau Brooke plötzlich Nerven bei ihm, die Freitag noch völlig unberührt geblieben waren? Lag es an ihr? Oder lag es an ihm?

War es überhaupt von Bedeutung, an wem von ihnen es lag?
 

Verlegen nickend fing Alfred damit an, mit dem Daumen der rechten Hand an seinem Zeigefingernagel zu knibbeln. Das war so unangenehm hier. Ihm war auch nicht bewusst gewesen, dass diese ganzen negativen Gefühle in seiner Welt zum Teil durch seine Essstörung ausgelöst oder durch sie zu voller Größe herangereift waren. Plötzlich schien alles viel dichter zusammen zu hängen. Anders als es das bisher getan hatte. In seinem Kopf war zwar immer alles munter durcheinander gepurzelt, aber es war nie so unmittelbar verbunden gewesen.
 

„Wie gesagt, das geht sehr vielen unserer Patienten so. Das machst du nicht alleine durch, auch wenn dir das bestimmt so vorkommt.“
 

„Die anderen müssen aber nicht ständig essen! Die haben nich’ immer Hunger.“ Deswegen war auch nur er so dick! Wobei auch Anyas Gewicht nicht zu verachten war, aber Alfred konnte sich nicht vorstellen, dass Leute wie Feli oder Arthur oder Lili permanent gedanklich mit Essen beschäftigt waren. Sie hielten sich brav davon fern und damit hatte sich die Sache. Er hingegen bekam den Kopf kaum mehr frei von diesen terrorisierenden Gedanken und wenn sich mal ein anderer Gedanke einschlich, dann war er meist noch schlimmer. Es war letzten Endes immer noch besser an Essen zu denken, als an das schlechte Schauspiel bei ihm Zuhause. Oder das Mobbing in seinem Baseballteam. Oder den Jungen auf dem Facebookfoto, der ihm so erschreckend ähnlich sah.
 

„Hast du denn immer Hunger?“
 

„Ja!“
 

Frau Brooks rechter Zeigefinger landete zielgenau neben dem Törtchensymbol.

„Was hast du denn hier stehen, warum du isst? Lies vor.“
 

Alfreds Daumennagel knibbelte tiefer; er wollte das nicht vorlesen. Genauso wenig wie er es hatte aufschreiben wollen. Er wollte keine Glasscherben ausspucken müssen. Es war gemein vor ihr, ihn zu zwingen, sich mit diesem Schmerz so intensiv auseinander zu setzen. So gemein...
 

„Lies“, wurde er erneut sachte aufgefordert.
 

„Traurig, enttäuscht, einsam, wütend“, haspelte er überstürzt und hatte plötzlich zu viel Speichel im Mund.
 

„Und?“
 

„Was und?“
 

„Du hast gar nicht aufgeschrieben, dass du immer hungrig bist. Das ist dir eben überhaupt nicht eingefallen. Es stimmt nämlich auch gar nicht.“
 

Zum wiederholten Male weiteten sich Alfreds Augen perplex. Er kapierte es einfach nicht! Wieso war er ständig davon überzeugt, essen zu müssen und Essen zu brauchen? Wieso drehte sich sein ganzes Leben permanent ums Essen, wenn er angeblich nicht dauerhaft hungrig war? Ihm war zwar aufgefallen, dass er meistens aus Gewohnheit aß oder weil er Appetit verspürte oder weil es sich anbot oder weil er den Moment gerade einfach nicht anders ertrug, aber er hatte das auch immer mit Hunger haben assoziiert.
 

„Manchmal weiß ich ja, dass ich kein Hunger hab. Aber ich kann’s dann auch nich’ ändern und muss halt trotzdem essen.“
 

„Ja“, bestätigte Frau Brooke, als hätte sie das von Anfang an gewusst. „Ich würde mich freuen, wenn wir zusammen Wege finden, damit du nicht mehr meinst, so viel essen zu müssen. Und auch, damit du nicht mehr erbrichst hinterher. Was hältst du davon?“
 

„Was ich davon halte?“
 

„Ja, du. Ich kann dir natürlich viel vorbeten, aber so funktioniert das nicht, Alfred. Es funktioniert auch nicht, wenn du hier hin kommst und dich, so wie am Freitag, so benimmst, als wüsstest du gar nicht, warum du hier bist. Wie soll das gehen, hm? Therapie ist keine Gehirnwäsche. Wir sind hier nicht in irgendeinem Science Fiction Film. Nichts von dem, was ich sage, wird bei dir etwas auslösen, wenn du mich nur nett anlächelst und die Ohren auf Durchzug stellst. Eine Therapie funktioniert nur dann, wenn du therapiert werden möchtest. Wenn du eine Veränderung deines momentanen Zustand erreichen möchtest. Und ich würde mir für dich wünschen, dass du das möchtest.“
 

So langsam dämmerte Alfred, warum Frau Brooke so gelassen reagiert hatte, als er ihr das leere Arbeitsblatt vorgelegt hatte. Es hatte nichts damit zu tun gehabt, dass er die von ihr gewünschte Aufgabe nicht erledigt hatte. Es ging dabei gar nicht um sie. Es ging um ihn. Er musste es sich selbst wert sein. Er musste lernen, an sich selber zu arbeiten, damit sich etwas in seinem Leben veränderte. Damit sie Wege finden konnten, die dafür sorgten, dass Alfred die negativen Emotionen anders bewältigte als durch unüberlegtes Vollstopfen. Von dem anschließenden Übergeben ganz zu schweigen.
 

Ihn verwunderte es ehrlich gesagt, dass seine Therapeutin so frei mit der Problematik umging. Während ihm schon bei dem Wörtchen erbrechen die Ohrspitzen grell aufzuleuchten schienen, war es für sie ein weitgehend neutrales bis unbesetztes Wort. So als sei er hier, weil er über Kopf- oder Zahnschmerzen klagte. Sie rügte ihn nicht mit schriller Panik und sie besah ihn auch nicht ekelerregt von oben herab. Sie giftete ihn nicht an und Alfred kannte keine bedrückenden Geheimnisse von ihr, die den Umgang mit ihr erschwerten. Wenn er also mit jemandem arbeiten konnte, dann wohl mit ihr.
 

„Okay!“, glitt ihm zum ersten Mal überhaupt in ihrer Gegenwart ein ehrliches Lächeln aufs Gesicht. „Was muss ich machen?“
 

Seine Wandlung schien der zierlichen Frau zu gefallen.

„Wir sorgen erst mal dafür, dass du einen realistischen Überblick über deine aktuelle Situation bekommst. Wir haben ja schon angefangen, dein Arbeitsblatt auszufüllen und ich finde es klasse, wie du das gemacht hast. Im Prinzip hast du das ja ganz alleine ausgefüllt! Das war eine sehr schwierige Aufgabe und trotzdem, es ist fast fertig! Jetzt fehlt uns nur noch der untere Teil hier.

Ich möchte gern, dass du diese freien Linien dazu nutzt, um dir mal Gedanken über die körperlichen Risiken und Folgen deiner Essstörung zu machen. Ich hab nämlich den Eindruck, dass du das nie wirklich gemacht hast. Aber vielleicht fällt dir ja sogar ganz spontan schon was ein?“
 

So furchtbar schwierig war das Arbeitsblatt eigentlich gar nicht auszufüllen gewesen. Dennoch waren die lobenden Worte pure Wonne für Alfreds Gemüt und ließen sein Lächeln stolz weiterleben. Was jedoch die Sache mit den körperlichen Konsequenzen betraf, tappte er ziemlich im Dunkeln. Da hatte ihn seine Therapeutin absolut richtig eingeschätzt...
 

„Naja, soll ich da dann so was hinschreiben wie dass mir manchmal schwindelig ist nach dem Kotzen?“
 

„Ja, zum Beispiel. Ich würde vorschlagen, du denkst heute mal in aller Ruhe darüber nach. Wenn du magst, kannst du dich auch gerne mit anderen Patienten austauschen. Ich habe jedenfalls nichts dagegen. In unserer morgigen Stunde gucken wir dann mal, was du notiert hast und ich werde dir die Zusammenhänge etwas besser erklären.

Am Mittwoch kommen ja auch deine Eltern für die Familientherapiestunde. Ich würde es begrüßen, wenn du dich am Mittwoch trauen würdest, ihnen zu sagen, dass du nicht mehr im Baseballteam bist. Und auch, wieso du ausgetreten bist. Wir können uns morgen gerne überlegen, wie du ihnen das sagst.“
 

Bei der Erwähnung der Familientherapiestunde war etwas in Alfred stehen geblieben. Die innere Uhr womöglich, das Zeitempfinden. Oder schlichtweg sein Herz.
 

Seine Eltern würden nicht kommen...
 

Leicht den Kopf schüttelnd, versuchte er das verständlich zu machen.

„Sie-sie kommen nich’.“
 

„Wie bitte?“
 

„Meine Eltern, sie kommen nicht her.“
 

Von Alfreds Einwand enorm irritiert, blätterte Frau Brooke in der Akte, fand die gewünschte Seite und war kurz still, ehe sie noch verwirrter dreinschaute.

„Ich hab hier keine Absage für Mittwoch vorliegen. Auch keine alternative Terminvereinbarung. Haben sie dir gesagt, dass sie nicht kommen werden?“
 

„Nein, aber-aber..sie kommen nicht! Sie waren gestern auch nich’ hier, obwohl ich den ganzen Tag lang auf sie gewartet hab!“
 

„Verstehe... Aber solange ich keine Terminabsage bekomme, gehe ich davon aus, dass sie Mittwoch hier sein werden. Dann kannst du ihnen auch sagen, dass du gestern mit ihnen gerechnet hast und enttäuscht bist, dass sie nicht hier waren.“ Sie ließ es wie eine gute Option klingen.
 

Alfred indes wusste nicht, wie er den beiden auch nur irgendwas begreiflich machen sollte. Er konnte ihnen nicht so unverwandt auftischen, aus dem Team ausgetreten zu sein. Wenn er anfing, ihnen ein Bröckchen Wahrheit zu servieren, wer wusste, welcher Erdrutsch dadurch ausgelöst werden würde? Was ihm noch rausrutschen würde?
 

Die Sache mit dem vielen Essen und dem Erbrechen war immer gut gewesen, um sämtliche Gespräche daheim zu vermeiden und um die unausgesprochenen Tatsachen tot zu schweigen. Wenn Alfred damit aufhörte, wo würde es sie dann hinführen? Würden seine Eltern sich überhaupt noch die Mühe machen, eine halbwegs intakte Familie zu spielen? Würden sie noch da sein, wenn er aus der Klinik entlassen wurde? Oder war der Verfall ohnehin schon zu weit vorangeschritten, als dass man ihn noch aufhalten konnte?
 

Frau Brooke hatte gesagt, sie könnten gemeinsam Mittel und Wege finden, die Alfred dabei halfen, dieses Fressen und Kotzen zu stoppen. Aber sie hatte nichts von einem Wundermittel gesagt, welches in der Lage war, kaputte Familien wieder zusammen zu flicken. Sie vermutete sicher auch nicht, dass die Familie Jones ein solches Wundermittel dringend nötig hatte. Sie würde es ab Mittwoch wissen. Alfred bezweifelte nämlich, seine Eltern in zwei Tagen zu Gesicht zu bekommen. Sie hatten ihn hier hin abgeschoben und niemand war so dämlich, sich ins Auto zu setzen und freiwillig ein ausgesetztes Problem besuchen zu kommen.

{ 16. | Unverhofft kommt oft }

Der Stuhl blieb schon wieder leer. Zwar stand das Mittagessen noch nicht auf dem Tisch, aber da Arthur normalerweise immer überpünktlich war, war Alfred klar, auch die kommende Mahlzeit ohne seinen Tischnachbarn einnehmen zu müssen. Das konnte doch irgendwie kein gutes Zeichen sein, oder?
 

Nein, definitiv nicht...
 

Langsam trat Alfred weiter in den Aufenthaltsraum hinein und ließ den Blick vom Fenstertisch aus zu Lili hinüber wandern. Wie so oft in den vergangenen Tagen saß sie auf dem Sofa, das filigrane Gesicht auf ihre Näharbeit konzentriert. Die Tätigkeit puderte ihre ohnehin schon zierlichen Züge mit einer besänftigenden Milde ab. Doch ihr Körper schien sich nicht sonderlich gut mit der Couch arrangieren zu können. So als sei trotz der bequemen Polsterung irgendwo eine Erbse in den Kissen verborgen, die Lili aufgrund ihres niedrigen Körperfettanteils schmerzlich spürte.

Auch jetzt rutschte sie auf der Suche nach einer halbwegs bequemen Sitzhaltung wieder leicht und sah dabei kurz auf, genau in Alfreds Richtung. Ihre unscheinbare Stupsnase kräuselte sich, als sie ihm ein scheues Lächeln zuwarf, eher einem zaghaften Nicken gleich. Aber sie lächelte immerhin – und das war schon mehr Herzlichkeit, als er von vielen anderen Patienten kannte. Ganz von alleine faltete sich sein Lächeln auseinander wie eine zusammen geknüllte Papiertüte. Ein ungeahnter Anflug von Spontaneität wirbelte besagte Tüte zum Sofa hinüber. Alfred sank neben Lili auf die Couch, einen höflichen Abstand einhaltend und einen Blick auf das strahlendweiße Taschentuch werfend. Sie war dabei, das Motiv in einer der Ecken auszuarbeiten: Eine angedeutete Waldlandschaft, durch die ein treuer Terrier flitzte. Das Tier war in schlichter Schönheit genauestens zu erkennen und trug ein rot leuchtendes Halstuch.
 

„Hey, das sieht echt super aus!“ Nicht, dass Alfred großartig etwas für Taschentücher übrig hatte, aber ihn faszinierte Lilis Können. Sie hatte das Motiv zweifelsohne selbst entworfen und obwohl sie die Nähutensilien nur zu bestimmten Zeiten ausgehändigt bekam – und das Personal ein jedes Mal genauestens kontrollierte, was sie damit tat und ob sie auch jede Nadel und jede Schere zurückgab –, konnte sie noch nicht all zu lang an dem Taschentuch arbeiten.
 

Deutlich rot werdend, erwiderte Lili etwas. Ihr Mund bewegte sich, das Danke war jedoch so leise, dass Alfred es gedanklich ergänzen musste.

„Es-es ist aber noch gar nicht ganz fertig...“, genierte sie sich und betrachtete den Stoff, so als scanne sie ihn nach Mankos ab. Als würde ihr jeden Moment die Naht ins Auge springen, die ihr ein erbarmungsloses Du hast es schon wieder versaut! entgegen schrie. Plötzlich wirkte sie traurig und Alfred erschreckte es, wie deutlich der Emotionswechsel über ihr Gesicht hinweg flutete.
 

„Dann mach es doch fertig?! Sieht dann sicher noch besser aus!“
 

„Meinst du?“ Überrascht starrte Lili ihn an, das Taschentuch gänzlich vergessend. Ihre Lippen, die Alfred so papierrissig in Erinnerung hatte, sahen glatter aus. Weniger spröde, mehr rosig. Auch ihre eingefallenen Wangen lagen nicht mehr so tief.
 

„Na klar!“, bestätigte er ihr übermütig, nicht den geringsten Zweifel hegend. „Ist das eigentlich ’n besonderer Hund?“
 

Lilis Blick folgte zu dem pfiffigen Vierbeiner.

„Unsere Nachbarn haben so einen. Der heißt Oskar. Früher bin ich manchmal mit ihm Gassi gegangen, aber dann...durfte ich nicht mehr.“ Sorgfältig legte Lili das Taschentuch zusammen und begann, das Nähkästchen besten Gewissens einzuräumen. Mehr als würde sie die Erinnerung akkurat verstauen, um sich nicht die Seele blutig zu stechen.
 

„Oh, wieso denn nich’?“
 

Die Nadeln stießen ein verschworenes Klicken aus.
 

„Ich hab’s nicht mehr geschafft...“
 

„Hattet ihr zu viel zu tun in eurem Laden?“ Alfred war Lilis Tagebucheintrag im Gedächtnis geblieben, allerdings schüttelte die Blondine rasch den Kopf. Die Hände legte sie brav in den Schoß. Ihre Füße, eingepackt in zwei Paar Socken, steckten in Hausballerinas. Trotz all der Stoffschichten war das Wackeln ihrer Zehen deutlich erkennbar. Sie war wie Feliciano: sie saß nicht still. Aber bei ihr musste man ganz genau hinschauen, damit es einem auffiel. Alles an ihr war so heimlich, als fände es im Verborgenen statt. Im Schatten. Im Hintergrund. Lili könnte sich kinderleicht in diesem Übergang zwischen Hell und Dunkel verstecken und niemandem würde es zunächst auffallen.
 

„Nein, zu dem Zeitpunkt nicht. Ich hab’s nur einfach nicht mehr geschafft...“ Ihre Mundwinkel hatten etwas Herbsüßes an sich, als sie ihre schmalen Lippen anspannten. „Also Spazierengehen, das hab ich nicht mehr geschafft. Ich bin häufig einfach umgekippt, bevor sie mich hier her gebracht haben.“
 

Gegen einen drückenden Kloß anschluckend, wurde Alfred klar, dass das Mädchen neben ihm einfach zu schwach gewesen war, um einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ihr Körper hatte in Anbetracht des Energiemangels schlicht und ergreifend gestreikt.

„Bist du so richtig ohnmächtig geworden?“, wisperte er ehrfürchtig und ließ den Blick schweifen, obwohl sie nach wie vor alleine im Raum waren.
 

Neben ihm rutschte Lili erneut auf dem Polster. Ihre spitzen Schultern bildeten den Rahmen ihrer Erscheinung und trugen ihre Bluse wie ein Kleiderbügel. Die Beine anziehend, kauerte sie sich gegen die Rückenlehne und wandte sich Alfred zu. Jener drehte sich ebenfalls um etwa 45 Grad und stützte den linken Ellbogen auf die Rückenlehne. Das Kinn legte er auf den Unterarm. Sein Kopf war bleischwer. Prall gefüllt mit der rückblickend doch sehr anstrengenden Therapiestunde und dem aktuellen Gesprächsthema.
 

„Ja, aber zum Glück hat Oskar so laut gebellt, dass jemand gekommen ist. Wir waren schon auf dem Feldweg. Er ist wirklich ein prima Kerlchen und hat gut auf mich aufgepasst... Ich hab ihm versprochen, dass wenn ich wieder Zuhause bin, wir den Spaziergang nachholen.“
 

„Find ich gut! Das heißt ja, du willst wieder mehr essen, ne!?“
 

Lilis Miene stürzte entsetzt zusammen. So schweigsam und still sie an und für sich auch war, wenn man sich näher mit ihr beschäftigte, wenn man sie zum Reden brachte, dann war sie enorm aufrichtig und zugänglich. In ihrer Krankenakte mochte die gleiche Diagnose geschrieben stehen wie bei Arthur oder Feliciano, aber alle drei handhabten ihr Gefühlsleben vollkommen anders. Lili verschrieb sich für üblich der Stille, Feliciano tratschte über seine Sorgen munter hinweg und Arthur überspielte sie kalkuliert. Aber all diese Wege hatten letzten Endes ins Nichts geführt.
 

„Ich möchte schon mehr essen, ja...es-es ist nur einfach so schwer, Alfred. Ich esse aber trotzdem, weil..sonst wird es ja nicht besser. Du musst ja auch aufhören mit dem vielen Essen und Erbrechen, damit’s dir besser geht, nicht wahr?“ Ihr scheues Auflachen berührte ihn, irgendwo zwischen Herz und Seele.
 

„Ähm ja...ichmussirgendwieWegefinden“, nuschelte er und wiederholte im Grunde, was ihm seine Therapeutin vorhin zu verstehen gegeben hatte. Es war immer noch absurd: wie konnte er so groß sein und Lili so klein, und wie konnte er so viel mehr Probleme mit diesen ehrlichen Worten und Gefühlen haben als sie? Wieso war dieses ‚über Dinge sprechen’ so schwierig für Alfred? Lag es daran, dass weder seine Mutter noch sein Vater je viel über die eigentlichen Probleme sprach? Und dass ihm keiner von beiden beigebracht hatte, wie das ging? Dass sie ihm fortwährend versicherten, alles sei in bester Ordnung und er müsse sich keinen Kopf machen? Oder lag es gar nicht an seinem Elternhaus und seiner Erziehung, sondern schlicht an seinem Charakter?
 

„Das wird schon. Du hast doch auch deine Einzeltherapie bei Frau Brooke? Ich find sie sehr nett und sie hilft mir auch wirklich gut. Oder hast du, seit du hier bist, noch mal...?“
 

„Ne...!“ Dafür hielten sie ihn ja essenstechnisch an einer zu kurzen Leine. Alfred wusste nicht, wie er das sagen sollte und bevorzugte es deswegen, seine Nasenspitze in seinem Ärmel zu vergraben. Sein Gesicht schien sich schamhaft aufzuwärmen. Lili fiel es entweder nicht auf oder sie sah gütig darüber hinweg.

„Das freut mich!“ Ihr Augenmerk sprang von ihm herunter und huschte zum Fenstertisch hinüber. Es schien ihr jedoch nicht bewusst, denn als Alfred wieder zu sprechen begann, zuckte sie zusammen.

„Ich glaub, Arthur kommt wieder nich’ zum Essen.“
 

„N-Nein, ihm scheint’s nicht besonders gut zu gehen... Möchtest du dich denn dann vielleicht zu Feli und mir setzen?“ Die letzte Silbe wurde vom hereinrollenden Essenswagen überfahren.
 

Alfred sah zwischen Lili und Schwester Nancy hin und her. Ihm war deutlich leichter zumute, als ihm so recht bewusst wurde, soeben von seiner Mitpatienten an den Tisch eingeladen worden zu sein. Natürlich, der Tisch gehörte weder ihr noch Feliciano, aber trotzdem war sich Alfred bislang immer so furchtbar unwillkommen vorgekommen. Womöglich da jeder Patient auf seine Weise in seinem eigenen Loch hockte und eher allergisch auf Neulinge reagierte. Vor allem, wenn diese Neulinge so taten, als seien sie grundlos hier. Wenn Alfred in der Beziehung einen besseren Start hingelegt hätte, dann hätte er eventuell mehr Kontakte geknüpft...

Ändern konnte er das nun nicht mehr. Fürs erste freute Alfred sich aber über Lilis Vorschlag und schenkte ihr ein dankbares Lächeln, bei dem er von der Couch aufstand und ihr mit einem gespielt vornehmen „Darf ich bitten?“ eine Hand hinhielt, um sie zum Tisch zu geleiten.
 


 

{  +  +  +  +  +  }
 

Es war immer noch unangenehm, derjenige zu sein, der selbst bei gedrosseltem Esstempo als Erster fertig war. Alfred hatte sich mit seinen Vollkornnudeln, der Gemüse-Minigarnelen-Soße und dem Salat arrangiert. Die Meeresfrüchte waren ihm zunächst nicht geheuer gewesen, hatten den Geschmackstest allerdings bestanden und nun saß er wieder hier, vor dem leeren Teller, und ließ seine halbe Stunde verstreichen.
 

Lili arbeitete mit unverdrossenem Durchhaltevermögen an ihrer Nachspeise. Der Eifer stand ihr gut. Bei ihr hatte sich eindeutig etwas verändert, seit Alfred zuletzt neben ihr eine Mahlzeit eingenommen hatte. Obwohl jeder Bissen für sie eine Herausforderung darstellte, hielten ihre Finger den Dessertlöffel wacker fest und ließen ihn nicht eher los, bis das ganze Vanillemousse verputzt war.

Alfred wünschte, Feliciano würde auch nur ansatzweise diesen Kampfgeist an den Tag legen. Doch wie so häufig schien der Italiener stumpf durch sein Essen hindurch zu sehen. Um Zeit zu schinden, hatte er die Soße von den Nudeln gestrichen, welche jetzt nackt und langgezogen auf dem Soßenbett ruhten. Alfred konnte sich sogar vorstellen, wie dieser Teller aussehen würde, wenn Arthur jetzt hier wäre. Alles wäre bausteinartig auseinander klamüsert worden, da es nicht zusammen zu passen schien. Als sei es nicht essbar. Als sei es unverdaubar. Als sei es nicht für den menschlichen Körper geeignet.
 

Wie lange wollten Feli und Arthur noch so weitermachen?
 

Alfred tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Gabel, die blank auf seinem Tablett lag. Mittlerweile hatte sich die Lage im Speisesaal so weit zugespitzt, dass nur noch auf Felis Teller Essen übrig war. Alle anderen waren fertig und warteten, Natalia und Anya unterhielten sich im Flüsterton über etwas, das Alfred nicht hören konnte. Tino hatte sich weit in seinem Stuhl zurückgelehnt und schien in seinem naturfarbenen Pullover mit dem dunkelblauen Ankerprint untergegangen. Im Vergleich zu sonst war er nicht mal entfernt daran interessiert, sich in irgendeiner Form ins Tischgespräch einzuklinken. Zwangsläufig musste Alfred an den voll gekotzten Kissenbezug denken. Ob Tino auch jetzt wieder so enorme Probleme damit hatte, sein Essen unten zu behalten? Aus der Ferne betrachtet, wenn die Zeit verstrich, wirkte Tino eigentlich nur blass und gutmütig. Sogar während der heutigen Sportstunde hatte er meistens verschüchtert den Mund gehalten; womöglich weil er nicht noch mal von Mathias zusammen gestaucht werden wollte. Oder weil er es gar nicht so gemeint hatte, als er Alfred neulich angegangen war...
 

Alfred blinzelte verdutzt, als Schwester Nancy unerwartet einen flachen, weißen Gegenstand vor ihn auf den Tisch legte. Zu ihr aufguckend wurde ihm bewusst, dass soeben die Post ausgeteilt wurde. Die Schwester hatte ihr berüchtigtes, aufmunterndes Schmunzeln ausgepackt und hielt für ein paar gedehnte Sekunden Blickkontakt mit ihm, ehe sie sich dem nächsten Brief zwischen ihren Fingern widmete.
 

Trotzdem, irgendwie konnte das hier doch nicht mit rechten Dingen zugehen, oder? Alfreds Sichtfeld stürzte auf das Postgut hinab.
 

Es war ein Brief.
 

Ein Brief für ihn!
 

Wie konnte das sein? Alfred vergaß glatt zu atmen, seine Hand ruhte bewegungsunfähig auf der Gabel. An ihm nagte die scheußliche Befürchtung, der Brief würde wie eine Illusion zerstäuben, sobald er ihn berührte. Und dann wäre alles wie immer: er wäre wieder alleine. Denn wer sollte ihm schon schreiben?
 

Die Frage ließ ihn tief im Inneren zu frieren beginnen. Die Handschrift, die die Klinikadresse und seinen Namen so kryptisch auf dem stinknormalen Umschlag verewigt hatte, kam ihm in keiner Weise bekannt vor. Die Buchstaben hatten einen eigenartigen Charakter, schienen pixelig und sich auf schwer zu beschreibende Art selbst zu verschlingen. Ganz so als stürzten sie ineinander ein. Das war weder die Handschrift seiner Mutter noch die seines Vaters. Aber wer schrieb ihm bitte sonst? Es wusste doch eigentlich niemand, dass er hier war, außer-!

Hastig grabschte er sich den Brief und drehte ihn herum, doch ein Absender fehlte. Das Papier ratschte laut, als Alfred den Umschlag ungestüm aufriss und gleich darauf ein gefaltetes DinA4 Blatt entdeckte. Kariert. Mit blauer, dünner Tinte beschrieben. Die Buchstaben waren so schwer zu entziffern wie auch auf dem Umschlag.
 

Hey dude! :-)
 

It’s Tony, bitch! Jo, ich bin’s wirklich. Gib’s zu: damit hast du null gerechnet!

Sorry, ich würd hier ja irgendwas total Cooles schreiben, aber es ist 3h nachts und ich bin immer noch voll geplättet von dem, was du mir da gestern (naja, eher vorgestern) erzählt hast! Echt jetzt! Hab da heute den ganzen scheiß Tag lang drüber nachdenken müssen. Ich hab dir auch online noch voll den Roman getextet, nachdem du mir geschrieben hast, dass du in die Klinik musst und dann so schnell off gegangen bist. Aber dann ist mir heute so eingefallen: ich könnt dir ja auch ’nen Brief schreiben! Auf der HP der Klinik steht zumindest ’ne Adresse. Werd ja sehen, ob der Brief zurück kommt oder nicht.

Wie geht’s dir denn so? Schmorst da ja jetzt schon ein paar Tage. Inet hast du keins (sonst wärst du doch on gekommen, denk ich mal?!). Das suckt sicher gewaltig.

Ich versteh eigentlich immer noch nicht ganz genau, was bei dir los ist? Du hast mir ja eigentlich nur gesagt, dass du zugenommen hast und deine Mom dich beim Kotzen erwischt hat. Machst du das eigentlich schon sehr lange?

Ich hab erst mal recherchiert, weil ich mal so überhaupt keinen Plan von Essstörungen hab, geb ich ja zu. Ich leb ja eh nur von Nudelsnacks und Tiefkühlpizza und so ’nem Scheiß. Aber für mich ist Essen irgendwie keine große Sache. Ich ess einfach und denk da gar nicht drüber nach. Bei dir ist das wohl nicht so einfach?

Jedenfalls ist das was ich so gelesen/gefunden hab voll derb! Also ich versteh jetzt, dass Bulimie ’ne Suchterkrankung ist (was mir nie so bewusst war! Obwohl’s ja eigentlich logisch ist. Heißt ja nicht umsonst Ess-Brech-Sucht. Bin halt voll die Leuchte, ne?) und dass Leute Normalgewicht oder Untergewicht oder Übergewicht haben können, wenn sie Bulimie haben. Und dass sie auch Abführmittel oder Hormonpillen schlucken oder jede Menge Sport treiben. Machst du das alles auch?

Sorry, ich hoffe mein Gelaber kommt nicht irgendwie falsch bei dir rüber. Ich check’s nur einfach nicht wirklich :-( Was machst du genau und warum? Falls ich irgendwann mal was Doofes gesagt hab und du deswegen dachtest, du könntest mir nix erzählen, dann tut mir das total leid! Das war dann keine Absicht, ok? Wie gesagt, ich denk einfach nicht viel über Essen nach...

Tut mir übrigens auch leid, dass du meine Sauklaue ertragen musst. Ich schreib ja sonst nur am PC (außer in der Schule). Ich hab die Adresse von meinem Postfach auf die Rückseite von dem Blatt hier geschrieben (ganz super sorgfältig. Ich schwör’s!). Also wenn du Bock hast, schreib zurück. Schreib mir auf jeden Fall zurück!! Ok? Ich verlass mich auf dich und wünsch dir gute Besserung, damit du schnell wieder nach Hause kannst! :-)
 

Liebe Grüße

Tony
 

Alfreds blaue Augen entspannten sich, indessen sein Puls konstant heftig aufmuckte. Sauklaue war noch eine sehr nette Bezeichnung für Tonys Handschrift; sie glich schon fast einem Code, verfasst in Lettern, die nicht von dieser Welt waren und dem menschlichen Auge dementsprechende Scherereien bereiteten.

Davon abgesehen, war Alfred allerdings sprachlos. In seinem Gedächtnis wallte die Erinnerung an das unglückliche, kurze Chatgespräch auf, was er am Abend vor seiner Fahrt in die Klinik notgedrungen mit Tony geführt hatte. Sie beide kannten sich über youtube, weil Alfred einer der ersten Abonnenten von Tonys doch recht bizarrem Kanal gewesen war. Seither chatteten sie ab und zu abends miteinander, wobei sich die Themen in erster Linie auf Videospiele, andere youtube-Videos und Filmneuheiten beschränkten.
 

Alfred hatte nicht gewusst, wie er diesem Jungen, den er noch nie zu Gesicht bekommen hatte und der durch und durch paranoid wirkte, den anstehenden Aufenthalt in der Klinik und die Essstörung beichten sollte. Am liebsten hätte er es gar nicht getan. Weil er aber nicht hatte abschätzen können, wie lange er sein Dasein an diesem tristen Ort fristen musste, hatte er Tony zähneknirschend mitgeteilt, auf unbestimmte Zeit nicht online sein zu können. Dass man ihm in der Klinik Internet zur Verfügung stellte, hatte er schon vor seiner Anreise arg bezweifelt. Aber dass sie ihm auch so vieles Andere verbieten würden, hatte ihn dann bei seiner Ankunft wirklich geschockt.
 

Was die letzte Unterhaltung mit Tony betraf, hatte Alfred nur zögerlich ein Bröckchen Wahrheit nach dem anderen preisgegeben. Oft hatte er einfach nur auf den Bildschirm gestarrt, sich in Schweigen gehüllt und Tony unnötig lang auf Antworten warten lassen. Alle Worte waren letztlich karg und abstreitend ausgefallen, da Alfred sich unbeschreiblich geschämt hatte. Tony kannte ihn kaum und würde ihn doch, genau wie seine ehemaligen Teamkollegen, für vollkommen gestört halten, sobald er die Wahrheit erfuhr. Das waren die beißenden Hintergedanken von Alfred gewesen. Er hatte befürchtet, selbst einen Freak wie Tony zu vergraulen. Deswegen war er Hals über Kopf off gegangen, nachdem er die Wahrheit angeschnitten hatte. Aber hätte er Tony sein Off-Sein verschwiegen, hätte jener sich womöglich große Sorgen gemacht. Und das wär nicht fair gewesen...
 

Unter diesen Aspekten betrachtet, war Tonys Nichtverstehen wenig überraschend. Aber was Alfred überraschte, war, dass ihm dieser Junge einen Brief geschrieben hatte. Und dass sich dieser Junge wegen ihm das Hirn zermartert hatte. Dass er hingegangen war und sich über Essstörungen informiert hatte und dass er Alfred darum bat, ihm alles zu erklären. Das war so viel mehr, als Alfred sich je hätte träumen lassen...

Wieso schaffte es jemand, den Alfred kaum kannte, all diese Dinge zu tun, während die Menschen in seinem sozialen Umfeld in dieser Hinsicht auf ganzer Linie versagt hatten?
 

Gerührt nahm Alfred die Adresse des Postfachs in Augenschein. Tatsächlich schien sich Tony hier überaus viel Mühe beim Schreiben gegeben zu haben und da der Bundesstaat New Mexico nicht gerade um die Ecke lag, bestand auch nicht die Möglichkeit, dass Tony mal eben auf einen Plausch vorbei kam. Musste er auch nicht. Alfred war schon glücklich über die paar Zeilen. Er würde zurückschreiben, heute noch! Anscheinend wollte Tony ja nach wie vor mit ihm befreundet sein – obwohl er die hässliche Wahrheit kannte.
 

Die Tatsache ließ Alfred sorgsam den Brief zurück in den Umschlag schieben, doch noch während er dabei war, wallte plötzlich eine Stimme vom Flur aus auf. Dort haderte ein Pfleger mit einer faden Erscheinung von Frau, deren unförmige Jacke schief geknöpft war und eine Nummer zu groß für ihre ausgemergelte Gestalt ausfiel. Das platinblonde Haar war praktisch, aber unattraktiv kurz geschnitten und bürdete ihr etliche Jahre mehr auf als sie vertragen konnte.
 

„..natürlich dürfen Sie zu ihrem Sohn! Aber es ist gerade noch Mittagszeit und-!“

„Na das ist doch nicht weiter schlimm!“ Achtlos schlängelte sie sich an Josh vorbei und stand gleich darauf mitten im Speisesaal, zwischen den Tischen, an denen noch alle Patienten saßen und sie mit perplexer Neugier musterten.
 

„Tino!“ Sämtliche Blicke folgten ihr, als sie auf den Angesprochen zusteuerte. Jener schien in höchstem Maße entsetzt und sprang sogleich von seinem Stuhl auf, ihn deutlich zwischen sich und der aufgeregten Frau postierend.

„Mama! Was-was machst du denn jetzt hier?!“ Als erwarte er, dass sich eine Falltüre unter ihm auftat und ihn aus der Situation befreite, sah Tino einmal prüfend auf den Boden hinab, bevor er zurück zu seiner Mutter schaute.
 

Diese breitete die Arme aus.

„Was wohl?! Dich besuchen natürlich!“ Sie kicherte, als sei es witzig. Aber ihre alten, abgelatschten Lederschuhen schienen über keine feste Bodenhaftung zu verfügen. Alles an ihr machte einen unpassenden Eindruck, wie Alfred fand. Die Frisur, die triste Kleidung, das leicht runde Gesicht, in dem Augen lagen, die Tinos Augen verdächtig ähnelten, bloß dass sie von leidvollen Altersfältchen zusammen gestaucht wurden.
 

Tinos Brustkorb blähte sich unnatürlich weit auf, so dermaßen tief holte er Luft.

„Besuchen?!“ Er klang halb wütend, halb bestürzt. Letzteres dominierte eindeutig. „Der Besuchstag war gestern. Das weißt du doch...“
 

„Was?“ Sie schien nicht zu verstehen, sondern hielt nach wie vor die Arme für ihn offen, wenngleich die Geste allmählich der Irritation wich.
 

„Gestern war Sonntag.“
 

„Gestern? Nicht heute?“ Hinter ihrer Stirn schien es zu arbeiten. Tino für seinen Teil zog den Kopf zwischen die Schultern und war die personifizierte Enttäuschung. Also war seine Mutter gestern auch nicht hier gewesen, sondern hatte sich prompt im Wochentag vertan! Aber das war nicht alles, wie die scheinbar sorglose Art der Frau bewies.

„Ach, Sonntag, Montag, was soll’s! Ich bin ja jetzt hier!“ Lachend machte sie abermals einen Schritt auf ihren Sohn zu, der den Stuhl los ließ.
 

„Gott, du musst doch heute arbeiten, Mama...“
 

„Das kann ich doch morgen auch noch machen!“ Im Gegensatz zu ihr klang Tino durchweg vernünftig und pflichtbewusst. Etwas in ihm wollte sogleich zu ihr hinüber eilen, aber etwas Anderes schien es zu vereiteln. Ließ ihn den Rückzug statt den Angriff antreten. So als könne er sie gar nicht attackieren. Jede Silbe klang wie eine Entschuldigung. So als schäme er sich dafür, ihr die Realität unnötig nahe bringen zu müssen.
 

„Aber du verlierst doch deinen Job, wenn du da einfach nicht hingehst...“ Die Worte waren von solch bedrückendem Kummer, dass sie drauf und dran waren Löcher in den grau melierten Fußboden zu sprengen.
 

Tinos Mutter schien für einen kurzen Moment aus der Fassung gebracht, bevor sie lapidar abwinkte und beinahe das Gleichgewicht verlor. Im letzten Moment krallte sie sich an dem massiven Holzstuhl fest, der wiederum krachend aufjaulte, als ihr Knie ihn halb herumschleuderte.

„Ups!“, fiel ihr amüsierter Kommentar dazu aus.
 

Tino wurde immer weißer um die Nase.

„Mama, bitte...“, trat er nun doch dicht genug an sie heran, um ihr die Hand auf den Unterarm zu legen. Die Geste ließ sie zufrieden strahlen.
 

„Frau Väinämöinen, Sie sollten jetzt wirklich besser gehen. Der nächste Besuchstag ist kommenden Sonntag. Sie wissen doch, dass wir nur in absoluten Ausnahmefällen Besuche zwischendurch erlauben. Kommen Sie einfach am Sonntag wieder, ja?“ Besänftigend mischte sich nun auch Schwester Nancy in das Gespräch ein.
 

„Gehen? Jetzt? Aber-aber..ich bin doch gerade erst gekommen! Ich könnte Tino doch mitnehmen bis Sonntag. Und dann bring ich ihn wieder zurück!?“
 

„Mama...“, mahnte Tino unautoritär. Seine Mutter zeigte sich allerdings anhaltend bestürzt.

„Willst du etwa nich’ mehr zurück nach Hause kommen, Tino? Ich bin immer traurig, wenn ich abends nach Hause komme und niemand da ist...“
 

„Doch, ich will nach Hause, aber..wir hatten doch eine Abmachung...“ Tinos Verzweiflung ließ ihn die Sprache wechseln. Alfred verstand kein einziges Wort von dem, was Tino da in erstaunlicher Geschwindigkeit von sich gab. Aber es klang nach einer begrabenen Hoffnung. Zumal Frau Väinämöinen sich nervös durch die gerupften Haare strich und wie ein unbeholfenes Schulmädchen lächelte. Sie war wenig aufnahmefähig, dafür aber extrem verstört. Obendrein verlor sie ihren Willen, sich durchzusetzen.
 

Alfred hatte ein solches Verhalten schon unzählige Male miterlebt. Nicht bei Tinos Mutter, sondern bei seiner eigenen. Auch sie zerbrach binnen kürzester Zeit in emotionale Splitter, anstatt einem Streit oder einer Diskussion die Stirn bieten zu können. Nur dass Frau Väinämöinen nicht mit einer deutlich stärkeren Partei konfrontiert war. Tino redete weder besonders laut noch schwang etwas Aggressives in seiner Stimme mit. Stattdessen schien er insgeheim noch immer nach der Falltüre zu suchen, die ihn von der Bühne und aus dem schlechten Drama zu erretten vermochte.
 

Schwester Nancy bewerkstelligte es indes geschickt, sich bei Tinos Mutter unterzuhaken und diese dann, nachdem das Gespräch zwischen ihr und Tino in trostloser Stille ertrunken war, aus dem Raum zu dirigieren.
 

Zum Abschied warf Frau Väinämöinen ihrem Sohn noch einen verdatterten Blick über die Schulter zu, der Tino wie Pfeffer in den Augen brannte. Ihm war es nicht nur peinlich, dass seine Mutter überhaupt hier aufgetaucht war. Es war vor allem der Zustand, in dem sie sich befand, der ihm Unbehaglichkeit bereitete. Alfred tippte darauf, dass die Frau ziemlich angetrunken war.
 

Auf was für eine Abmachung Tino auch immer angespielt hatte, wusste Alfred zwar nicht, aber sie schien ihm unantastbar wichtig. Mit leicht zitternden Fingern griff er nach dem Stuhl und schob ihn ordnungsgemäß an den Tisch zurück, um sich wieder hinauf zu setzen. Im Speisesaal lagerte das betretene Schweigen in dicken, unsichtbaren Schwaden und unterstrich den Kontrast zwischen Tinos schwarzen, langen Wimpern und seinen bleichen Wangen zusätzlich. Als Tino das Kinn hob, schien es ihm ein unermessliches Bedürfnis, sich zu entschuldigen. Die Zähne bekam er dennoch nicht auseinander und auch die übrigen Patienten blieben still. Alfred wunderte sich zwangsläufig, ob Tinos Mutter etwa schon häufiger solche Auftritte hingelegt hatte?

{ 17. | Uneigentlich }

Die Frage „Wie geht es dir?“ war immer noch verhältnismäßig schwierig zu beantworten, wie Alfred fand, als er am Dienstagvormittag vor Frau Brookes Bürotür wartete und seine Therapeutin von der anderen Seite des Ganges auf ihn zusteuern sah. In den Händen hielt sie eine grüne Plastikkiste, ähnlich der blauen Kiste, die auch Frau Brussels in der Gruppentherapie stets dabei hatte. So viel zum Thema Sammelbestellungen.
 

„Na, wie geht’s dir heute, Alfred?“ Die Kiste auf die Klinke drückend, öffnete Frau Brooke die Türe und forderte ihren Patienten per Nicken dazu auf, einzutreten. So aus nächster Nähe war erkennbar, dass sich in der Kiste lauter bunte Bälle tummelten, in etwa so groß wie Softbälle. Allerdings fehlten für ein richtiges Softballspiel sowohl die Plastiktennisschläger als auch der obligatorische Strand.
 

Die Türe langsam hinter sich schließend, feilte Alfred an einer passenden Antwort. Nicht wieder lügen; er wollte ja vorwärts kommen und wenn er das wollte, musste er seinen Teil dazu beitragen. Problem an der Sache war aber, dass er seine Stimmung nicht recht einzuordnen wusste. Es gab Dinge, die den Montag und auch den Dienstag so weit ganz gut gemacht hatten und es gab Dinge, die ihm immer noch tiefdunkle Wolken übers Gemüt jagten.
 

„Eigentlich ganz okay“, sprach schließlich die Gewohnheit aus ihm, allerdings ohne das aufgesetzte Grinsen mit auf die Bühne zu ziehen und ein schlechtes Schauspiel zu veranstalten. Das bedeutete leider nicht, dass Alfred beim Gedanken an die anstehende Therapiestunde keine Nervosität empfand. Sein Bedürfnis nach Veränderung biss sich mit seinen alteingesessenen Verhaltensmustern. Seine unterschwellige Angst war sogar noch gewachsen, seit er gestern in Erfahrung gebracht hatte, wie eine Nuss geknackt werden zu können, sofern man die Worte richtig bei ihm ansetzte. Das war keine beruhigende Aussicht...
 

„Und uneigentlich? Ach, bleib doch mal da stehen. Ja, genau da bei der Tür.“
 

„Öhm...“ Verblüfft darüber, tatsächlich noch immer befangen an der Türe zu stehen, warf Alfred glatt einen Blick über die Schulter, ehe er zu seiner Therapeutin zurücksah, die einen Ball aus der Kiste nahm, welche sie wiederum auf ihren Schreibtisch gestellt hatte. Zwischen ihnen erstreckte sich das Zimmer mit dem Sonnenbild, dem hellen Boden und den mehr leer als vollen Regalbrettern. Irgendwas in diesem Raum verströmte den Geruch von chirurgischen Einmalhandschuhen und vergessener Kaffeepause.
 

„Also uneigentlich...“ Alfred druckste, um Zeit zu schinden. Denn uneigentlich ließ sich schwer in Worte fassen und hatte viele Gesichter, die ihm allesamt Grimassen schnitten.

Uneigentlich gab es da zum Beispiel so was wie die fiese Schwimmstunde, die ihm nach der Therapie blühte. Alfred hatte nach dem Aufstehen mit Schrecken festgestellt, dass sein Stundenplan heute Schwimmen statt Sport listete. Das Schwimmen an sich war dabei weniger das Problem; er konnte hervorragend schwimmen und tauchen und hatte einen Großteil des letzten Sommers im Freibad verbracht, sich mit anderen Jungs wilde Rutschpartien und Wasserschlachten geliefert und Eis schleckend in der Sonne gelegen. Aber das war eben der letzte Sommer gewesen und er war nicht mehr der Junge, der letzten Sommer noch zu seinem Baseballteam gehörte. Er hatte kaum mehr Ähnlichkeit mit diesem Jungen – weder innerlich, noch äußerlich.
 

„Ja?“ Frau Brookes Körpersprache brachte zum Ausdruck, dass sie ihm den kleinen, roten Ball gerne zuwerfen wollte. Alfred reagierte prompt, indem er sein Arbeitsblatt ins Regal legte und gleich darauf wieder seinen Posten an der Türe einnahm. Dann kam auch schon das Bällchen geflogen, wenn auch mit herzlich wenig Schwung. Alfred fing es ganz automatisch; gar kein Problem. Dazu musste er sich nicht mal sonderlich bewegen. Außerdem wusste er, wie man Bälle fing – mindestens genauso gut, wie er wusste, wie man sie ordentlich warf und schlug. Er trat hier wahrlich keiner herausragenden Wurftechnik entgegen.
 

„Na ja, uneigentlich isses so, dass..Warum muss ich zum Schwimmen? Ich kann doch auch einfach normalen Sport machen.“ Die Angelegenheit verpasste ihm einen Satz heiße Ohren und ließ ihn verlegen auf den Ball hinabschauen. Der weiche Schaumstoff gab butterweich nach, als sich seine Fingerspitzen hinein bohrten. Er wollte nicht als einziger übergewichtiger Patient zwischen seinen Mitpatienten im Wasser paddeln. Er wollte das einfach nicht. Wie peinlich war das bitte? Immerhin wusste er am besten, wieso er sich seit Monaten nicht mehr in ein Schwimmbad begeben hatte und wie sein nackter Körper aussah. Ihm war es mittlerweile schon zuwider, in normalen Sportsachen zum Schwitzen anzutreten. Aber wenn er sich vorstellte, gleich nur in Badehose bekleidet erscheinen zu müssen?
 

Damit ging es ihm, gelinde gesagt, schlecht.
 

Früher wäre es gar kein Thema gewesen, aber irgendwann im Laufe des letzten halben Jahres hatte er gewichtstechnisch einen Punkt erreicht, der ihn wie ein Blitzschlag getroffen hatte. Der ihn den Jungen im Spiegel hatte anders wahrnehmen lassen. Der sein Bewusstsein für sein Erscheinungsbild grundlegend verändert hatte.

Dieser Veränderung wohnte nichts von einem normalen Heranwachsen inne. Sie war kein schlichtes Zeichen einer über die Stränge schlagenden Pubertät, die ihre helle Freude daran hatte, ihn zu piesacken. Seine Veränderung glich mehr einem Verzerren. Sie verformte ihn. Sie entstellte ihn regelrecht, wie er fand.
 

Das, was er seither im Spiegel sah, war nicht länger etwas, das er leiden mochte. Entsprechend war es auch nicht länger etwas, das er noch unbedarft präsentieren wollte. Er war zu fett geworden und auch wenn er jetzt hier war, um daran etwas zu ändern, konnte ihm all das nicht über Nacht seinen alten Körper wiedergeben. Er vermisste den Körper, in dem er keine Hemmungen gehabt hatte, sich nach dem Sport im Beisein anderer zu duschen oder im Sommer nur in kurzen Hosen zu faulenzen. Das war der Körper, der Alfred immer so selbstverständlich erschienen war. Mit einem Wohlbefinden, das ihm nichts und niemand hatte nehmen können.
 

Aber es war weg.
 

Es war mit jedem Kilo, das er zugenommen hatte, in weitere Ferne gerückt und jetzt verfügte er bloß noch über ein sehr schlechtes Körpergefühl. Das Frühstück war deshalb eine regelrechte Zerreißprobe für Alfred gewesen vorhin; ein Kampf, essen müssen vs. nicht hungrig sein wollen, weil er kurz zuvor in den Spiegel geschaut und mit dem hässlichen Resultat von zu viel falschem Hunger konfrontiert worden war.

Frau Brooke hatte doch gesagt, sie würden Mittel und Wege für ihn finden. Das würden sie doch, oder? Es musste klappen. Es musste bitte, bitte klappen! Er konnte sich, rein optisch, einfach nicht mehr ausstehen und er würde sich lieber – genau wie einst Feli – in der Schmutzwäsche verstecken, als nachher zu dieser Schwimmstunde zu gehen!
 

Den Druck auf den roten Ball verringernd, beobachtete Alfred, wie sich das flexible Material entknautschte. Dann wechselte seine Aufmerksamkeit zu seiner Therapeutin zurück, die darauf gewartet zu haben schien.

„Gehst du nicht gerne schwimmen?“
 

„Doch, normalerweise schon. Nur im Moment nicht...“
 

„Du kannst den Ball übrigens in die andere Kiste tun.“
 

Andere Kiste? Suchend guckte Alfred erst nach links, dann nach rechts, wo er tatsächlich eine weitere grüne Plastikkiste erspähte. Ohne großes Trara ließ er den roten Ball hinein titschen.
 

„Warum denn im Moment nicht?“, fragend zauberte Frau Brooke den nächsten Ball hervor. Blau wie das Meer. Es war etwas merkwürdig; all das hier. Alfred fing auch den blauen Ball, derweil sich seine Wangenmuskulatur spürbar anspannte. Musste er jetzt allen Ernstes etwas so Offensichtliches erklären? Seine werte Therapeutin stand da vorne, nur wenige Meter entfernt, und hatte vermutlich nach dem Frühsport ein absolut gesundes Biofrühstück eingenommen. Vorbildlich, korrekt und in höchstem Maße diszipliniert. Ihm hingegen mangelte es vorne und hinten an Kontrolle. Andernfalls wäre er ja nicht aufgegangen wie ein Hefekloß!
 

Verdrossen warf Alfred den Ball in die Luft, schnappte ihn sich wieder und beförderte ihn dann lieblos in die Kiste zu seiner rechten.

„Warum wohl...“
 

„Ja? Ich höre?“
 

Jetzt kam das wieder! Alfred schnaubte, als er den dritten Ball fing und frustriert die Backen aufblies. Er hasste es noch immer abgrundtief, wenn diese Frau sich mit purer Absicht dumm stellte!

„Weil ich zu fett bin!“ Bitteschön. Es klang nicht nur grässlich, sondern schmeckte auch so. Wenn all das überflüssige Fett wenigstens als dickes Fell taugen würde, anstatt Alfred fortwährend dünnhäutiger zu machen...
 

„Wer sagt das?“
 

„Alle!“ Ein gelber und ein pinkfarbener Ball gesellten sich zum Rest in der Kiste dazu. Alfred fing mit Feuereifer; es war insofern praktisch, als dass er etwas zu tun hatte und Frau Brooke nicht direkt gegenüber sitzen und sich gänzlich auf das Gespräch konzentrieren musste. Das würde ihn nur noch hibbeliger machen. Alfred spürte nämlich haargenau, wie all die brennende Scham tollkühn an seinem Auftreten sägte. Kein Lächeln, viel Demut, obwohl er gestern dachte, diese Therapiesache würde – zumindest ansatzweise – besser werden.
 

„Alle?“
 

„Ja, verdammt noch mal alle! Und ich seh’s doch auch!“ Seine Hände zeigten weiterhin Fangbereitschaft, wenngleich sich seine Gesprächspartnerin nun zögernd an die Schreibtischkante lehnte. Den lilafarbenen Ball senkend, schaute sie ihren Patienten lang und unvermittelt an. Aus Augen, die Milde und Spitzfindigkeit vereinten.

Ließ sie ihn jetzt zappeln?

Mochte sie es, wenn Alfred sich mit jeder Sekunde kleiner und mieser fühlte?

War das ihre Therapiemethode?

Ja?!

Dann war es eine scheiß Therapiemethode, die ihn so dermaßen wütend machte, dass er am liebsten all die bunten Bälle quer durchs Zimmer getreten hätte!
 

„Du bist nicht fett, Alfred. Du hast leichtes Übergewicht und du hast sogar schon abgenommen. Fast zwei Kilo. Das ist recht viel für so eine kurze Zeit. Und eigentlich haben wir dich hier nur auf eine normale Ernährung umgestellt.“
 

Fast zwei Kilo? Alfred kam es gar nicht so vor, zumal ihm Cleopatra wohlbedacht immer nur noch die Menge an Gewicht nannte, die er vom einen auf den nächsten Tag verlor.

Unterm Strich machten diese zwei Kilo auch kaum einen Unterschied. Das war das wirklich Traurige. Er wollte Resultate sehen! Er wollte Veränderungen! Nicht irgendwann, sondern jetzt gleich! Er konnte nicht warten! Er musste nach Hause – allein schon um sich zu vergewissern, dass es überhaupt noch existierte.
 

„Kann ich eigentlich hier raus, wenn ich so viel abgenommen hab, dass ich ’nen BMI von 25 hab?“ Düster erinnerte er sich an diesen vereinbarten Wert, der sein erstes Ziel markierte. Allerdings konnte er in keiner Weise abschätzen, wie lange er brauchen würde, um bei einem BMI von 25 anzukommen. Er kannte seinen aktuellen BMI nicht mehr. War es eigentlich Absicht, dass man ihm diese Information vorenthielt? Aber wenn er in nicht mal einer Woche zwei Kilo verlor, dann würde es womöglich gar nicht mehr so entsetzlich lange dauern, bis er zumindest wieder Normalgewicht hatte.
 

An und für sich eine erfreuliche Erkenntnis. Die Miene seiner Therapeutin vermittelte ihm jedoch den Eindruck, soeben die eine Million Dollar Frage falsch beantwortet zu haben.

„Wir hatten uns doch gestern darauf geeinigt, dass wir gemeinsam Wege finden wollen, damit sich dein Essverhalten ändert.“
 

Ja, hatten sie...
 

Alfred zupfte betroffen am Reißverschluss seiner Jacke und ahnte plötzlich, wohin es führen würde, wenn er zwar bei einem BMI von 25 ankäme, aber immer noch nicht wüsste, wie er das Überessen und Erbrechen vermeiden konnte.

„Sonst werd’ ich sofort wieder fett, wenn ich hier raus bin...“
 

„Nicht sofort, aber wenn du alles genauso machst wie vorher, läuft es natürlich wieder relativ schnell darauf hinaus. Gewichtszu- und abnehmen brauchen immer eine gewisse Zeit. Du bist ja auch nicht eines Morgens aufgewacht und warst plötzlich übergewichtig.“
 

Nein, war er nicht. Alfred hatte es passieren sehen und erst mal hartnäckig ignoriert. Dann musste er eben den Bauch bei seiner Lieblingsjeans einziehen. Dann spannte sein tolles T-Shirt mit dem Stern in Armyoptik halt. Na und? Aber leider war die Hose irgendwann gar nicht mehr zugegangen und das T-Shirt viel zu eng geworden. Das war die Zeit gewesen, in der er widerwillig entschied, sich neue Anziehsachen kaufen zu müssen. Der Vorteil war, dass er in den letzten Jahren eh meist alleine seine Klamotten besorgte oder ganz bequem online bestellte. Weder seine Mom noch sein Dad machten ihm dahingehend Vorschriften. So war es für Alfred auch ein Leichtes gewesen, die nächst größere Kleidergröße eine Weile zu verheimlichen. Aber er hatte ja darüber Bescheid gewusst und das Wissen an sich war ein entscheidender Faktor, der kräftig am Abbau seines Selbstwertgefühls mitgewirkt hatte.
 

„Es ist wichtig, dass du verstehst, dass es Leute gibt, die einfach nur gerne und viel essen. Solchen Leuten hilft eine gezielte Ernährungsberatung und Ernährungsumstellung, wenn sie etwas ändern möchten. Manche können sich sogar ganz allein am Riemen reißen und den inneren Schweinehund überwinden. Aber bei einer Essstörung ist das nicht so einfach. Andernfalls könnten wir dir und allen anderen Betroffenen einfach ein paar Ernährungspläne ausdrucken und euch damit entlassen.“
 

„Das klappt aber nicht...“ Ein Feliciano würde nicht essen, nur weil man ihm einen Ernährungsplan in die Hand drückte. Ebenso wenig ein Arthur oder eine Lili. Auch Alfred würde diese Sache mit dem permanenten Überessen und Erbrechen nicht auf Kommando unterlassen können, nur weil auf einem Blatt Papier stand, er solle jetzt einen Apfel statt zwei Packungen Kekse und einen Liter Eiscreme essen. Selbst wenn er also im Laufe seines Klinikaufenthaltes den BMI von 25 erreichte, wäre dies nicht die Lösung all seiner Probleme.
 

„Nein, das klappt nicht. Wenn man sich einmal krankhafte und schädliche Ernährungsmuster zur Gewohnheit gemacht hat, dann hält man daran fest. Der ganze Körper stellt sich darauf ein. Schau doch mal in deine Kiste. Was siehst du da?“
 

„Bälle.“ Bunte Bälle, aber Alfred ersparte ihnen das überflüssige Detail, indessen er wie bestellt und nicht abgeholt neben der Kiste stand und die Türe im Rücken spürte. Letzteres auch nur, da er sich im Laufe der vergangenen zwei Minuten dazu hatte hinreißen lassen, zunächst heimlich auf den Füßen vor- und zurückzuwippen und sich dann gegen die Tür zu lehnen. Das ganze Gerede hätte ihn sonst zu Fall gebracht.
 

„Mhm. Und du hast jeden Ball gefangen, den ich dir zugeworfen hab, nicht wahr?“

„Ja.“

„Warum?“

„Sie haben doch gesagt, ich soll sie fangen?!“

„Nein, hab ich nicht.“

„Äh...?“ Hatte sie nicht? Skeptisch wühlte Alfred in seiner Erinnerung, doch ihm schien es, als wären die Seiten seines Gedächtnisses zu voll geschrieben, um die Abläufe der Ereignisse nachzulesen.

„Aber sie haben sie mir zugeworfen. Warum hätt’ ich sie dann nich’ fangen sollen?!“

„Für dich war’s also logisch, die Bälle zu fangen?“

„Klar, sonst wären sie ja alle aufm Boden gelandet oder hätten mich getroffen!“

„Also war das Fangen der Bälle quasi die beste Lösung für dich.“

„Ja!“

„Bei einer Essstörung ist das auch so, dass sie die beste Lösung zu sein scheint. Ob nun bewusst oder unterbewusst, man gewöhnt sich auf jeden Fall daran, mit Problemen und Gefühlen auf eine bestimmte Art und Weise umzugehen. Und ehe du dich versiehst, fängst du einen Ball nach dem nächsten, wann immer dir einer zugeworfen wird. Denn du möchtest ja nicht getroffen werden.“
 

Das machte so erschreckend viel Sinn, dass Alfreds Blick stumm in die Ballkiste hinab stürzte und er an sein gestriges Arbeitsblatt denken musste. An seine Welt und an das, was sie ihm einerseits entgegen schleuderte und wie er andererseits auf diese Bombardements reagierte. Wenn Probleme Bällchen waren, hatte er seit beinahe einem Jahr jeden einzelnen gefangen. Nur dass sein Fangen darin bestand, zu viel zu essen und gegebenenfalls zu erbrechen.
 

„Ja, aber wie sorg ich denn dafür, dass keine Bälle mehr geworfen werden? Wenn ich eben zu Ihnen gesagt hätte, werfen Sie keinen Ball mehr, dann hätten Sie das vielleicht gemacht. Aber sonst hört da ja keiner drauf, also..mit anderen Dingen klappt das nicht!“
 

„Ach, Alfred!“ Auflachend klopfte Frau Brooke neben sich auf den langen Schreibtisch. Ein deutliches Zeichen dafür, dass er zu ihr rüberkommen sollte.

Verflucht, wieso hatte er schon wieder irgendwas getan, was sie absurd fand? Oder zumindest dermaßen amüsant, dass sie zum ersten Mal überhaupt in seiner Gegenwart nicht nur fein lächelte, sondern wahrhaftig lachte.

„Sie brauchen sich nicht über mich lustig machen! Ich dachte, ihr Job isses, mir zu helfen!?“
 

„Ich mach mich gar nicht über dich lustig. Ich finde es nur süß, dass du glaubst, man könne die Welt darum bitten, einem keine Probleme mehr in den Weg zu legen. Aus irgendeiner Richtung wird immer ein Ball geflogen kommen.“
 

Okay...
 

Er war ein Idiot. Er sah es ein.
 

Ein Idiot, der obendrein errötete, weil er gerade – selbst für seine Verhältnisse – eine ziemlich naive Denkweise an den Tag gelegt hatte. Aber es war einfach so schwierig für Alfred, sich auf diese Gespräche hier einzulassen. Wann hatte er zum Beispiel je jemandem gesagt, er oder sie solle sich nicht über ihn lustig machen? Für üblich spielte Alfred in solchen Momenten einfach mit, bügelte Beleidigungen grinsend ab oder überbrückte sie mit lauter Blödeleien. Er kam sich merkwürdig vor, wenn er von jemandem verlangte, auf seine Gefühle Rücksicht zu nehmen. Dann erfuhr der andere doch zwangsläufig, dass seine Worte Alfred verletzten. Wer wollte sich bitte verletzbar zeigen? Wer wollte Angriffsfläche bieten? Alfred ganz bestimmt nicht! Er wollte immer so viel lieber unbesiegbar erscheinen...
 

Ein Trost war immerhin, dass außer Frau Brooke niemand sonst anwesend war, als ihm hier und jetzt diese für ihn persönlich enorm ungesunde Charaktereigenschaft wieder so richtig bewusst wurde. Es war wie gestern, als sie sich über das Benehmen seiner ehemaligen Teamkameraden unterhalten hatten und Frau Brooke probiert hatte, ihm beizubringen, dass es natürlich war, bestimmte Gefühle zu entwickeln, wenn man verletzt wurde. Trauer, Enttäuschung und auch Wut waren völlig legitime Emotionen.
 

Sich dezent von der Türe abstoßend, schlappte Alfred zum Schreibtisch hinüber, um sich ebenfalls gegen die Kante zu lehnen. Wann hatte ihn eigentlich zuletzt jemand süß genannt? Seine Mutter hatte das früher ständig getan, aber spätestens seit der 3. oder 4. Klasse war ihm das irgendwie peinlich gewesen. Insbesondere in der Öffentlichkeit, sodass er jedes Mal ein wehleidiges „Mom!“ verloren hatte. Aber sie hatte ihn stets so glücklich angeschaut, dass er den Protest schnell wieder aufgab und sie gewähren ließ.
 

Abgesehen von ihr, hatte es da sonst nur noch diese drei albern kichernder Mädchen gegeben, die eines Tages in der Schlange der Schulkantine direkt hinter ihm gestanden hatten. Alfred hatte Stielaugen in Richtung Nachtisch gemacht, als er ein verschworenes „Der da mit der Bomberjacke ist voll süß!“ ortete. Allerdings war das gegen Ende des vorletzten Schuljahres gewesen und er hatte sich lediglich erstaunt zu den Mädels herumgedreht und sie ungeplant, aber glücklich angelacht.

Daraufhin waren die drei so dermaßen zusammen geschreckt, als hätte man sie während der Sonntagsandacht dabei erwischt, Pornos auf dem Handy zu gucken. Ehe Alfred sich versah, waren die Mädchen davon gestürmt. Die Gesichter grellrot, hatte sich ihr Hunger wohl gegessen. Allesamt erweckten sie den Verdacht, lieber sterben zu wollen als auch nur eine Sekunde länger hinter ihm in der Schlange stehen zu bleiben. Er hatte es nicht begriffen, überhaupt nicht. Mochten sie ihn jetzt oder nicht? Frauen waren und blieben ein Buch mit sieben Siegeln für ihn. Am allerwenigsten hatte er die Frau verstanden, die er am allerliebsten verstanden hätte. Aber die Sache mit Amelia sollte er wirklich ein für allemal vergessen...
 

„Also, wir sind uns einig, die Welt wird nicht aufhören, dir und mir und allen anderen Menschen Probleme zu bereiten.“

„Nope.“

„Was können wir also tun?“

„Lernen, die Bälle nicht mehr zu fangen? Irgendwas anders machen?“

„Richtig. Wir möchten mit den Problemen und den Gewohnheiten anders umgehen.“

„Einer aus meinem Baseballteam hat gesagt, ich soll mehr kotzen, damit ich nich’ noch fetter werde...“ Wenn Alfred es so überdachte, hatte Brad da vermutlich Recht. Essen, das gar nicht erst verdaut wurde, bescherte einem auch nicht so viele überflüssige Pfunde. Leute wie Natalia, Tino oder Sofia hatten ganz andere Ess- und Brechgewohnheiten als er und keiner von ihnen war dick. Im Nachhinein, und in Hinblick auf die anstehende Schwimmstunde, wünschte Alfred, er hätte den Rat befolgt, lange bevor Brad ihn erteilt hatte.
 

Frau Brooke schwieg kurzweilig. Alfred nutzte die Zeit, um die winzigen Pokébälle auf seiner Reißverschlussjacke zu zählen – oder zumindest all jene, die er sehen konnte, wenn er das Kinn senkte.
 

„Was hast du dazu gesagt?“

„Gar nix.“

„Und was denkst du darüber?“

„Jetzt? Ich hätt’s machen sollen!“

„Mhm...“ Seine Aussage neutral quittierend, drehte sich Frau Brooke weit genug herum, um in die Kiste zu langen und einige rechteckige Holzstücke hervor zu holen. Sie erinnerten verdächtig an die Holzbarren aus dem Spiel Jenga.

„Hände auf“, wies sie ihn an und legte ihm dann das erste Holzstück auf die Handflächen, die er nebeneinander hielt, so als habe sie ihm eine Überraschung angekündigt. Stattdessen gab es aber nur Holzklötze.

Einen, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun,...

Frau Brooke stapelte munter weiter und Alfred ahnte, wohin das auf lange Sicht führte: irgendwann würde der Platz nicht mehr ausreichen und die Holzstücke würden runterfallen. Häufigeres Erbrechen war kein alternativer Lösungsweg.
 

Die Hände samt den Klötzen gegen seinen Oberkörper drehend, nahm er Frau Brooke die Möglichkeit, noch mehr Holzstücke aufzustapeln.

„Ich hab’s kapiert.“

„Natürlich kapierst du das.“ Ihre Stimme machte deutlich, daran keine Sekunde gezweifelt zu haben. Sie unterstellte außerdem, dass sich ihm das ganze Prinzip bereits vor seiner ‚Ich hätt’s machen sollen!’-Äußerung erschlossen hatte.

Die Kiste auf dem Tisch in seine Richtung schiebend, signalisierte sie ihm, die Holzbarren hinein fallen lassen zu dürfen. Klackend trafen sie auf das grüne Plastik und prallten gegen ein paar der wenigen Bälle, die keine Reise ans andere Ende des Raumes gewonnen hatten.
 

Der Moment an sich ließ Alfred emotional erstickt zurück. Seine Therapeutin hielt ihn wohl doch nicht für so dumm, wie er immer meinte. Es war nicht ihre Methodik, die ihnen so viel Zeit raubte. Er war es, der ein schnelleres Vorankommen verhinderte. Der patzte, statt redete.
 

Flugs durchquerte Frau Brooke den Raum, um das Arbeitsblatt zu holen, welches Alfred vorhin im Regal verstaut hatte. Na großartig! Seine spärlichen Resultate waren auch nichts, worauf er sonderlich stolz war. Er wusste nicht viel über seine Essstörung beziehungsweise deren Folgen und bedenkenlos hatte er auch niemanden danach fragen können. Feliciano war generell nicht auf dem Level zu erreichen; ein Wort von Essen und er betete Rezepte runter und huldigte Pasta. Lili schien ihm auch nicht die passende Ansprechpartnerin bei Bulimie und Arthur, der einzige, der wohl nicht um den heißen Brei drum rum geredet hätte, schien zurzeit mit sich selbst mehr als genug zu tun zu haben und hatte auch heute noch nicht sein Zimmer verlassen.
 

Nicht mal Tony hatte in seinem Brief das Thema ausgeweitet, dabei hatte er das ganze Internet auf den Kopf gestellt. Alfred war demnach mehr oder minder auf die Information beschränkt, dass es sich bei Bulimie um eine Suchterkrankung handelte. Gestern erschien ihm dieser Ausdruck noch vollkommen abstrakt. Jetzt wusste er, was es mit dem Gewohnheitscharakter, dem Suchtpotential, auf sich hatte. Bälle zu fangen und Bauklötzchen in die Hände gestapelt zu bekommen hatten seine Sicht erstaunlich geschärft.
 

„Ich hab niemanden gefragt“, gestand Alfred zermürbt, als Frau Brooke wieder neben ihn trat.

„Du hast hier das Wort Suchterkrankung notiert?“ Ihre forsche Tonlage war ein unmissverständliches Zeichen dafür, dass sie wusste, dass ihm das Wort nicht so mir nichts, dir nichts in den Schoß gefallen war.

„Äh ja, mein Freund Tony hat das geschrieben. Er hat mir ’nen Brief geschickt. Total cool von ihm!“

„Dein Freund Tony? Den hast du bis jetzt gar nicht erwähnt.“

„Ich wusste nich’, ob wir noch Freunde sind...“ Alfred gab das Zählen der kleinen Pokébälle auf. Ihm funkte ständig die Unterhaltung dazwischen. „Ich kenn ihn über youtube. Er hat ’nen eigenen Kanal und macht echt geile Videos!“

„Youtube, das mögt ihr hier alle, glaub ich. Drehst du denn auch Videos?“

„Ne, ich kommentier nur und so.“

„Aber er weiß, dass du bei uns in Behandlung bist?! Also hast du doch schon mal mit jemandem über deine Essstörung gesprochen?“

Sprechen konnte man das bei aller Liebe nicht nennen. Alfred umklammerte mit den Fingern die Schreibtischkante und schüttelte den Kopf.

„Ne, ich hab ihm erst kurz bevor ich hier her musste geschrieben, dass ich demnächst erstmal nich’ on sein werde. Und dann hat er natürlich gefragt, wieso...“ Je mehr er darüber nachdachte, desto mieser fühlte er sich, weil er einfach aus dem Chat geflohen war. Wirklich ein nobler Schachzug von ihm. Aber verdammt, er hatte Angst gehabt. Er hatte so viel Angst gehabt.
 

„..und du hast es ihm nicht erklärt?“

„Nich’ wirklich. Ich konnte einfach nicht! Ich weiß auch nich’, ich ähm...ich hab mich einfach mal total geschämt! Tony is’ echt der einzige, mit dem ich noch irgendwie gechattet hab in letzter Zeit. Der sollte nich’ auch noch wissen, wie abgefuckt ich bin!“
 

Dass es immer so aus ihm rausplatzen musste, wenn er emotional lang genug angepiekst wurde...

Ertappt stopfte Alfred seine Hände in die Taschen der Reißverschlussjacke und wünschte sich, einer der Pokébälle würde aus dem Muster hüpfen und ihn einsaugen.
 

„Und? Für wie abgefuckt hält er dich, wenn er dir sogar einen Brief geschrieben hat?“
 

Unter einigen Ponysträhnen hinweg riskierte Alfred einen reumütigen Seitenblick.

„Ich weiß jetzt auch, dass das scheiße von mir war! Ich hab ihm auch schon zurückgeschrieben und mich entschuldigt. Er hat mir sogar geschrieben, dass er im Internet rumrecherchiert hat, weil er sich mit solchen Krankheiten nicht auskennt.“
 

Solchen Krankheiten. Mhm...“ Teils tadelnd, teils belustigt wies sie ihn auf seine Ausdrucksweise hin und studierte nebenbei gefälscht ambitioniert sein Arbeitsblatt. „Tu mir einen Gefallen, Alfred. Sag ein Mal frei heraus: Ich hab eine Essstörung. Du kannst auch sagen: Ich hab Bulimie. Eines von beidem, ganz wie du magst. Aber ich will es zumindest ein Mal von dir hören.“
 

Musste das sein? Alfred ahnte, dass er nicht drum rum kommen würde, selbst wenn ihm das bisher erstaunlich gut gelungen war. Aber er konnte es nicht sagen. Seine Lippen schienen betäubt und seine Zunge lag unnütz in seinem Mund. Die innere Not spiegelte sich auch in seiner Mimik wider, zerrte an seinen Augenbrauen und drängte seine Nasenflügen zusammen.

Es ging nicht. Er bekam es nicht gesagt.

Er konnte nicht mal plausibel darlegen, wieso nicht. Warum die Worte nicht kommen wollten. Was war nur los mit ihm? Er konnte unbedarft über sämtliche Themen quatschen, aber für seine Sorgen schien er keine Silbe übrig zu haben. Das war lächerlich und schrecklich zugleich.
 

„So schwer?“
 

„Ich will nicht krank sein...“ Egal in welcher Form auch immer, Alfred wollte es einfach nicht. Es gab ihm das Gefühl, auf ganzer Linie versagt zu haben. Er wollte zurück zu sonnigen Nachmittagen auf dem Baseballfeld und lustigen Abenden mit seinen Freunden im Ice Cream Parlor. Er wollte zurück zu seinen Eltern, zurück nach Hause. Er wollte zu einem Spiel der Yankees mit seinem Dad gehen und in das Fantrikot passen, was in seinem Schrank ganz vorne hing. Er wollte nicht, dass irgendjemand ihn abnormal oder seltsam oder krank fand. Er brauchte niemanden, der über ihn lachte und niemanden, der ihn ausgrenzte. Er wollte wieder er selbst sein in der Welt, die er gemocht und geliebt hatte. Wie sollte das je funktionieren, wenn er sich zu seinem Problem bekannte?
 

„Das kann ich nachvollziehen. Ich kann auch nachvollziehen, dass das mit dem Reden für dich so schwierig ist, nachdem du so eine schlechte Erfahrung mit all deinen Freunden gemacht hast. Wenn man so was ein Mal erlebt hat, dann sagt man lieber gar nichts mehr, anstatt zu riskieren, dass es sich womöglich wiederholt. Wie haben eigentlich deine Eltern auf deine Essstörung reagiert?“
 

Oh Gott...! Alfred stellten sich die Nackenhaare auf. Er wollte gar nicht mehr an den Abend denken, als seine Mutter ihn überführt hatte. Geschweige denn an das peinliche Arztgespräch, was sie dann angeleiert hatte oder an die ‚Diskussion’ zwischen ihr und seinem Dad.

„Meine Mom hat’s ja zuerst gemerkt. Sie hat eigentlich nur gesagt, wir müssen da was machen.“

„Sonst hat sie nichts gesagt?“

Doch, sie hatte noch etwas erwähnt. Nämlich dass Alfred gesund werden musste. Andernfalls könne sie nicht einschätzen, wie es bei ihnen in der Familie weitergehen würde. Das ließ er jetzt aber lieber dezent unter den Tisch fallen.

„Halt dass wir mit unsrem Hausarzt darüber reden werden. Sie hat da ja dann auch einen Termin gemacht.“

„Geh ich richtig in der Annahme, dass du in erster Linie deine Mom bei dem Termin reden gelassen hast?“

Goldrichtig.

„Das meiste, ja.“

„Mhm... Und dein Dad? Was hat er gesagt?“

Ein Frösteln drängte Alfred dazu, die Finger im weichen Stoff der Jacke zu verkeilen. Sein Dad hatte genau das gesagt, was Alfred früher auch immer suggeriert wurde:

„Dass Jungs keine Essstörungen kriegen.“

„Das hat dein Dad zu dir gesagt?“

„Nein, zu meiner Mom. Aber ich hab’s gehört...“ Sein Vater hatte es zuerst nicht geglaubt. Das war der springende Punkt. Seine Mom hatte seinen Dad direkt an dem Abend, als er von der Geschäftsreise nach Hause gekommen war, abgefangen und ihn über Alfreds Problem unterrichtet – aber er hatte es entweder nicht fassen können oder nicht akzeptieren wollen. Eines von beidem.

Letzten Endes war ein Streit zwischen seinen Eltern entflammt, in dessen Verlauf sie sich gegenseitig mit wüsten Beschuldigungen verprügelten. Es klang in etwa wie Fehler-Schuld-deinFehler!-deineSchuld!-neindu!-ichnicht!-dudu!-ichich!-schauwasdugemachthast!-ich?dudu!-deinSohn!-unserSohn!-deineSchuld!-dududu!-FehlerFehlerFehler!!!
 

Es nicht ertragen könnend, hatte sich Alfred irgendwann im Bett versteckt, sich die Kopfhörer seines Handys in die Ohren gestopft, sich in der Decke eingerollt und eine Tüte xtra spicy Indian style Cracker gefressen. Streit und Schärfe hatten ihm gleichermaßen die Tränen in die Augen getrieben. Sein Dad würde nie wieder mit ihm zu den Yankees gehen. Da war sich Alfred ab jenem Abend todsicher... Sein Dad hatte eine bessere Option. Irgendwo in Kanada gab es einen perfekten Sohn, der Baseball garantiert über alles liebte und brillant gute Noten schrieb und viele Freunde hatte und an den Alfred nie und nimmer heranreichen würde. Seine Gedanken zu dem anderen Jungen waren ein unfundiertes Konstrukt, welches aber bei weitem genügend Kraft besaß, um Alfreds letzten Rest an Selbstbewusstsein das Genick zu brechen.
 

„Und was hat er zu dir gesagt?“
 

„Er-er hat mich nur gefragt, ob’s stimmt.“ Tags drauf, in einem der raren Momente, als sie sich begegnet waren und Alfred von der Frage so übel geworden war, dass er mehr oder weniger gezwungen genickt hatte. Ein Seufzen unterdrückend, hatte sich sein Vater kapitulierend den Nacken gerieben. So als müsse er diese Wahrheit irgendwo ablegen, könne aber nicht den richtigen Platz für sie finden.

Seine nächste Geste war ein verhaltenes Schulterklopfen, bei dem er hatte verlauten lassen, dass Alfreds Mutter ohnehin schon wegen einer geeigneten Therapiemaßnahme mit dem Arzt in Kontakt stand. Therapiemaßnahme. Das Wort hatte Alfred vor Angst ein „Ich brauch keine Therapie! Mir geht’s gut!“ japsen lassen, während er wie gebannt die Krawatte seines Vaters anstarrte. Das tiefe Blau mit den winzigen Nadelstreifen, passend zum Anzug, passend zu den Schuhen, passend zur Aktentasche, passend zum goldenen Ehering. Die Hand hatte das Klopfen noch zwei oder drei Mal wiederholt, dann war sie mit einem „Das wird schon wieder. Du schaffst das, Kumpel.“ verschwunden.
 

Ja, sie waren Kumpels. Irgendwann einmal gewesen. Alles war cool zwischen ihnen. So kühl, dass Alfred sein Leben für eine warme Umarmung gegeben hätte, sich aber nicht getraut hatte, dies zum Ausdruck zu bringen. Der Augenblick hatte ihn frontal angeschrieen. Ihn gefragt, was er denn eigentlich für ein Sohn war, der seinen Vater so abgrundtief enttäuschte? Was war er für ein Junge, der eine Essstörung bekam? Was war so falsch an ihm, dass er an etwas litt, womit – wie sein Vater klar geäußert hatte – doch sonst nur Mädchen kämpften? Höchstwahrscheinlich konnte sich Alfred mitunter auch deswegen seine Krankheit nicht eingestehen.
 

Seit der Klinik wusste er immerhin, nicht als einziger Junge betroffen zu sein. Früher hatte er sein Essverhalten jedoch nicht mal als gestört eingestuft. Es war irgendwie ungesund geworden, etwas aus der Reihe getanzt, hatte sich unglücklich entwickelt. Er aß zu viel und erbrach gelegentlich. Das war keine Essstörung für ihn gewesen. Sehr, sehr lange nicht. Klapperdürre Mädchen, Models und Celebrities, die mit Untergewicht für Magersuchtsgerüchte und Schlagzeilen sorgten, das waren für ihn essgestörte Menschen. Aber er doch nicht.

Eigentlich hatte sich Alfreds Einstellung erst mit der Entdeckung durch seine Mutter verändert. Was er machte, war ab diesem Zeitpunkt keine Lachnummer mehr und auch nichts, worüber man nur pikiert die Nase rümpfte. Was er machte, war etwas, das seine Mom dazu veranlasst hatte, mit ihm zum Arzt zu gehen.
 

Er war krank.
 

Aber wenn es bedeutete, in den Augen seines Vaters eine typische Mädchenkrankheit zu haben und kein richtiger Mann zu sein, würde Alfred das nie und nimmer zugeben. Schlimm genug, dass seine Eltern sein Problem entdeckt hatten und ihre Familie das jetzt irgendwie überstehen musste. Aber dass es ein Mädchenproblem war? Das setzte allem die Krone auf. Er war kein Mädchen. Er sah nicht wie eines aus. Er war nicht mal besonders androgyn. Er war auch nicht homosexuell und das war es doch, was die Tatsache, dass er als Junge eine Mädchenkrankheit bekommen hatte, implizierte. Zumindest nach Meinung seines Vaters.

Alle Schwingungen, die an jenem Tag und mit jener Frage von Alfreds Vater ausgegangen waren, schienen Alfred zu etwas zu machen, was er gar nicht war. Es war diese Aura, diese durchweg von stiller Verurteilung verpestete Aura, deretwegen Alfred nicht fähig war, von sich aus kenntlich zu machen, seinen Dad in diesem speziellen Moment zu brauchen.
 

„Er hat dich also gefragt, ob’s stimmt, aber ihr habt nicht weiter darüber gesprochen?“

„Nein...“

„Möchtest du das denn mal nachholen? Morgen vielleicht, wenn deine Eltern da sind? Wir können deinem Dad ja gerne erklären, dass er ganz schön Unrecht hat, wenn er behauptet, Jungs kriegen keine Essstörungen. Ich mein, du siehst für mich sehr nach einem Jungen aus. Oder hab ich da was überlesen in deiner Akte?“

„Ich bin ein Junge! Und ich bin auch nich’ schwul oder so!“ Nicht, dass Alfred was gegen Homosexuelle hatte. Aber er hatte etwas gegen Dinge, die einen Keil zwischen ihn und seinen Dad trieben.
 

„Hätten wir das also auch geklärt. Ich denke mal, das ist dann ein Ja zu morgen?“
 

Alfred schätzte schon. Ein Punkt mehr auf seiner Agenda für Mittwoch...
 

Mit einem eleganten Griff angelte sich Frau Brooke ein Buch, was aufgeschlagen auf zwei weiteren Büchern auf ihrem Schreibtisch lag. Zweifellos hatte sie Alfreds Schweigen gerade als Zustimmung interpretiert. Sie musste ihn für ganz schön kompliziert halten, für stur, sogar für ein wenig pampig. Er fuhr bei ihr so schnell aus der Haut, er fauchte sie permanent an oder war alternativ dazu einfach nur verzweifelt. Dabei trat er Menschen sonst ganz anders gegenüber. Am liebsten würde er sich bei seiner Therapeutin dafür entschuldigen, dass sie ihn nicht so kennen lernte, wie es andere taten...
 

Immer noch an die Tischkante gelehnt, blätterte Frau Brooke ein paar Seiten um und hielt ihm dann das durchaus massive Fachbuch direkt unter die Nase.

„Ich bin keine Befürworterin der Schocktherapie, das vorweg. Ich will auch nicht, dass du jetzt Panik bekommst, aber du weißt wirklich entsetzlich wenig über deine Essstörung. Deswegen würde ich dich bitten, dir das hier wenigstens mal anzugucken.“
 

Unaufgefordert ließ Alfred seine rechte Hand aus der Tasche gleiten und fasste nach dem Buch, sodass das Gewicht fair zwischen ihnen verteilt war. Der charakteristische Duft von Druckerschwärze machte sich bemerkbar, jetzt da er sich etwas weiter vorbeugte und auf die in mehreren Kästen untergebrachten möglichen körperlichen Folgeerscheinungen der Bulimia Nervosa herabschaute. Dort unten stand zuallererst das Herz, welches ins Stolpern geraten und sogar stehen bleiben konnte. Als Ursache war Kaliummangel gelistet, hervorgerufen durch häufiges Erbrechen oder andere Maßnahmen, die entwässerten und letztlich den körpereigenen Säure-Basen-Haushalt durcheinander brachten. Alfred hätte das nicht im Traum vermutet. Das Buch kam ihm plötzlich so viel schwerer vor als noch vor knapp einer Minute.
 

„Jemals Herzrasen gehabt?“, hörte er Frau Brooke empathisch neben sich. Sein Blick saugte sich an den Buchstaben fest.

„Nur an den schlechten Tagen, wenn ich mehrmals gekotzt hab. Aber es is’ immer schnell wieder weggegangen!“ Sein letzter Satz sollte primär ihn selbst beruhigen. Sein Körper hatte ihn bislang gar nicht so sehr im Stich gelassen, wie Alfred allein ob des Übergewichts immer vermutet hatte. Es hätte schlimmer sein können...
 

Er hatte keine Beschwerden im Darmtrakt, er hatte nie Blut erbrochen und die Magensäure hatte ihm bisher auch nicht den Zahnschmelz zerstört. Sein Zahnfleisch war okay, mit eingerissenen Mundwinkeln war er vertraut. Ebenso mit spröden Lippen oder geröteten Knöcheln an der Hand, die er vorlieblich zum Erbrechen nutzte. Zum Glück hatte ihm die Säure nicht die Haut zerfressen. Alfred wollte keine Narben auf dem Handrücken, auch keinen durchgebrochenen Magen und auch keine kaputte Speiseröhre. Seine Nieren funktionierten bislang tadellos, aber jetzt, da er las, dass dem irgendwann womöglich nicht mehr so sein könnte, begriff er, warum er nach dem Gespräch mit dem Hausarzt gleich am nächsten Tag zur Blutabnahme und für eine Urinprobe hatte antanzen müssen.
 

Die Buchstaben woben eine verhängnisvolle Liste voller Leiden, die ihm Angst und Bange werden ließen. Er kannte Ohrensausen, leichtes Schwindelgefühl, gelegentliche Mundtrockenheit und übermäßige Müdigkeit, Übelkeit und Konzentrationsmangel. Aber woher hätte er wissen sollen, dass selbst Krampfneigungen und Parotisschwellungen auf eine akute Ess-Brech-Sucht zurückgeführt werden konnten? Er wusste nicht mal, was Parotisschwellungen waren!
 

„Was ist das?“

„Parotisschwellungen?“

„Ja, das hab ich noch nie gehört.“ Das merkwürdig anmutende Wort war als sonstige Begleiterscheinung aufgereiht.

„Das sind Schwellungen der Ohrspeicheldrüsen. Wir sagen auch schon mal Hamsterbäckchen dazu. Konnte man bei dir auch sehr gut sehen, als du letzte Woche hier angekommen bist.“

„Oh...“ Es war wahrlich kein Wunder, dass Alfred kontinuierlich das Gefühl gehabt hatte, hier drin gegen Wände zu reden. Sie hatten ihn grinsen und lächeln und lügen lassen, ohne von ihrer fachmännischen Meinung abzurücken. Wer glaubte schon einem Jungen wie ihm, der beschwor, alles sei in bester Ordnung, wenn der gleiche Junge deutliche Hamsterbacken hatte? Wenn seine Worte und sein Erscheinungsbild zwei so grundlegend verschiedene Aussagen machten?
 

Garantiert war auch anhand seiner Blutwerte eindeutig, was er tat. Da konnte er daheim noch so häufig alles runterspielen und steif und fest behaupten, sich nicht mehr zu übergeben. Seine Eltern hatten ihn ja nicht 24 Stunden am Stück überwachen können. Doch sie wussten um die Lügen. Immerhin hatten sie mehrere Gespräche mit dem Arzt geführt. Vermutlich war es deswegen auch so verhältnismäßig schnell gegangen mit seinem Therapieplatz. Was seine Umwelt betraf, hatte sich Alfred also extrem verschätzt. Seine Mom und sein Dad hatten aufgrund der Befunde ganz genau gewusst, dass er ihnen ins Gesicht log. Er log, sie logen; anscheinend waren sie, zumindest in dieser Hinsicht, ein eingespieltes Team...
 

„Immer noch nur eine 2 auf der Skala von 1 bis 10?“ Das Buch wieder an sich nehmend, legte Frau Brooke es still hinter ihnen auf die Tischplatte und wollte wissen, ob Alfred bei seiner gestrigen Einschätzung blieb. Dieser musste so schwer schlucken, dass es wehtat. Überall. Im Herzen und in der Seele. Warum hatte er nie in der Schule gelernt, wie gefährlich Essstörungen waren?
 

„Nein, viel mehr. Aber ich kann nicht mehr aufhören...“ Das Eingeständnis ließ seine verspannten Schultern nach vorne sinken, während er sich erneut nach Hause wünschte, in sein Zimmer. Wo vermeintlich alles gut war und tatsächlich alles schlecht. Die Art und Weise, wie er seine Sommerferien bis zur Klinikeinweisung gestaltet hatte, demonstrierte genau eines: Er kam nicht mehr weg von seiner Bulimie. Schlafen, Trübsal blasen, essen, im Internet surfen, noch mehr essen, erbrechen, lügen, noch trauriger sein als zuvor – und dann alles wieder von vorne. Die beschäftigungslosen Ferientage boten diesem Verhalten einen optimalen Nährboden.
 

„Kopf hoch! Daran arbeiten wir doch gerade. Ich kann leider nicht mit dem Finger schnipsen und dann bist du geheilt. Sonst würde ich das tun, Sonnenschein.

Aber wenn ich mir so anhöre, was deine Freunde gesagt haben, was deine Mom gesagt hat und was dein Dad gesagt hat, dann verstehe ich sehr gut, warum es so schwierig für dich ist, über deine Essstörung zu reden. Ich vermute auch mal stark, dass du immer erst versuchst, Probleme mit dir selber auszumachen. Vielleicht hat man dir häufig zu verstehen gegeben, dass es falsch ist, nach Hilfe zu fragen. Oder du hast es zumindest so aufgefasst, als wäre es falsch. Viele Menschen empfinden das so. Aber es gehört sehr viel Mut dazu, sich einzugestehen, dass man mit etwas nicht mehr alleine zurecht kommt. Und es gehört noch viel mehr Mut dazu, sich dann Hilfe zu suchen.

Reden ist schwierig, ja. Für die einen mehr, für die anderen weniger. Aber wir können an deiner Blockade arbeiten, weißt du? Du hast sogar die beste Voraussetzung dafür: du möchtest unbedingt gesund werden. Und du wirst sehen, mit der Zeit wird’s auch etwas leichter mit dem Reden. Du bist heute zugänglicher als gestern, und du warst gestern zugänglicher als vorige Woche. Du bist also schon auf dem richtigen Weg!

Sollen wir beide mal weiter vorne anfangen und uns anschauen, wann sich dein Essverhalten so gravierend verändert hat? Du weißt ja sicherlich, dass wir hier auch eine Kopie des Berichts liegen haben, den dein Hausarzt damals verfasst hat? Da steht, ziemlich nett formuliert, drin, dass du nicht bereit bist, mit der Sprache rauszurücken.“
 

Sonnenschein? Weiter vorne anfangen? Nicht bereit mit der Sprache rauszurücken? Alfred wusste nicht, was ihn gerade mehr aus der Fassung brachte: der Kosename, der unverfrorene Arztbericht oder die Aussicht, in seinen Erinnerungen noch tiefer zu wühlen?
 

„Oh, und es wird erwähnt, dass deine Mom davon ausgeht, dass du dich vermutlich seit dem späten Frühjahr übergibst, weil du zugenommen hast. Sie nimmt also an, du machst das, weil du gerne Gewicht verlieren möchtest. Ich glaube, das stimmt so nicht genau?“
 

Jetzt sollte er also etwas dazu sagen. Etwas, das die Dinge ins rechte Licht rückte. Na schön, er konnte es ja wenigstens probieren.

„Ich kotz schon seit letzten Herbst. Am Anfang hab ich’s echt nicht oft gemacht. Wirklich nur ganz selten, wenn mir einfach schlecht vom vielen Essen war. Das mit dem Essen ist zuerst schlimm geworden. So Ende letzten Sommers.“

„Du bist wann genau aus deinem Baseballteam ausgetreten? Anfang des Jahres?“

„Ja, Mitte Januar.“

„Also hattest du deine Freunde im letzten Sommer und auch im letzten Herbst noch. Und sie haben dich auch noch nicht wegen irgendwas gemobbt zu der Zeit?“

„Nein.“

„War vielleicht was in der Schule nicht in Ordnung? Schule kann ja manchmal auch sehr stressig sein.“

„In der Schule lief’s eigentlich gut. Ich war letztes Schuljahr sogar noch was besser als dieses.“ Das war auf den Rückgang der mündlichen Mitarbeit zurückzuführen. Sie hatte darunter gelitten, dass in einigen von Alfreds Kursen ehemalige Freunde von ihm saßen und ihm zuweilen die Jackentaschen voller Papierschnipsel stopften oder, wenn er sich meldete und dran kam, ein Würgen unter einem Husten oder Räuspern tarnten. Unter diesen Umständen war er lieber unauffällig geblieben, anstatt die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Während er also im Unterricht zunehmend stiller wurde, wurden seine Tests und Arbeiten besser. Kein Mitschüler quatschte mehr mit ihm und Zuhause wartete Zeit, die man selbst dann noch mit Lernen füllen konnte, wenn man todunglücklich war und nebenbei Apple Pie mit Sprühsahne in sich reinschaufelte.
 

„Freunde in Ordnung, Schule in Ordnung... Zuhause alles in Ordnung?“

„Ja, sicher!“

„Mhm...“ Bedacht hielt sie inne, betrachtete ihn und schien sich dabei gedanklich etwas zurecht zu legen. Alfred stopfte seine Lüge mitsamt seiner rechten Hand zurück in seine Jackentasche.
 

„Also vorweg noch mal“, fing Frau Brooke dann an und machte eine erdende Geste, „ich kann dir nicht in den Kopf gucken. Ich kann nur mit dem arbeiten, was in deinen Akten steht und was du mir zeigst und sagst. Letzteres ist nicht besonders viel. Im Moment hab ich hier einen Alfred sitzen, der sich bis oben hin eingemauert hat. Und dieses Eingesperrtsein gefällt seiner Frohnatur überhaupt nicht. Die merkt genau, dass ihr die Luft ausgeht. Die will unbedingt raus und einfach wieder Spaß am Leben haben, ohne sich für irgendwas zu fett zu fühlen.

Du bist eigentlich unheimlich gern unter Leuten, stimmt’s? Du gehst, solang keins deiner Probleme dazwischen funkt, sehr direkt auf Menschen zu. Und du magst Sport. Du warst jahrelang im Baseballteam, du gehst gerne schwimmen, vermutlich gibt’s auch noch andere Sportarten, die dir wirklich viel Spaß machen.

Es ist so, dass viele Essstörungen mit Diäten anfangen. Oder bei Männern auch häufig mit dem Ziel, mehr Muskeln aufzubauen. Aber wenn du irgendwas davon letzten Sommer hättest tun wollen, wärst du einfach eine Runde mehr joggen gegangen oder hättest dir ein paar Hanteln besorgt. Ich bin davon überzeugt, dir wär gar nicht eingefallen, dich nach dem Essen zu übergeben. Du hättest auch nicht so viel gegessen, bis es nicht mehr anders geht.

Die Frage ist also: was hat da plötzlich nicht mehr gestimmt in deinem Leben, dass du immer mehr gegessen hast? Du hast nicht mit deinen guten Freunden darüber gesprochen, nicht mit deinen Eltern, nicht mit deinem Freund auf youtube. Stattdessen ist das still und heimlich immer schlimmer geworden, und du hast dich mit der Zeit auch immer weiter eingeigelt. Du traust dich nicht mal, auch nur noch irgendjemanden in die Nähe deiner Sorgen zu lassen. Ich muss dich jedes Mal richtig provozieren, damit du mal ein Stückchen aus deinem Schneckenhaus rauskommst und dich macht das immer so schrecklich wütend, wenn ich das tue. Was macht dich denn so traurig, dass du niemandem zutraust, dir helfen zu können? Dass du dich nur noch verstecken möchtest? Hm? Irgendeine Ahnung, Sonnenschein?“
 

Nicht nur irgendeine, sondern eine sehr genaue... Alfred musste gleich zwei Mal schlucken, damit sich ja kein Ton über seine Zunge schlängelte und den Weg nach draußen fand. Er war vollkommen übermannt davon, dass seine Therapeutin ihn nach so verhältnismäßig kurzer Zeit schon so verdammt gut einschätzen konnte. Dass sie sah, wie er agierte, wie er seine Energie fehlleitete und wie er schlussendlich in diese Katastrophe geschlittert war. Für sie war sogar einleuchtend, warum das Reden ihn so viel Überwindung kostete.
 

Apropos Reden:

Er sollte endlich reden.

Er wollte es auch. Er wollte ihre Hilfe und wieder frei sein. Aber sie hatte Recht: er war komplett blockiert. Es schien, als habe da jemand eine Straßensperre in ihm errichtet und die Worte hämmerten gegen seinen Gaumen und quollen aus seinem Herzen, aber er konnte sie nicht frei lassen.

Konnten sie nicht einfach über die Auslöser hinwegsehen und an seiner Genesung arbeiten? Ging das nicht? Er wollte nicht buddeln...
 

„Manchmal kommt es auch vor, dass es scheinbar keinen Grund gibt, warum man sich schlecht fühlt. Man ist müder, trauriger, antriebsloser, es ist mühsam morgens aufzustehen und man fühlt sich immer bedrückt und niedergeschlagen. So was gibt es auch“, ließ Frau Brooke sanft anklingen.
 

„So war’s aber nicht...“ Vor allem die ermattende, dauerhafte Traurigkeit hatte sich bei Alfred erst manifestiert, nachdem man ihn aus dem Team gemobbt hatte. Vorher hatte er durch den Sport und die Freunde zumindest noch eine temporäre Ablenkung.
 

„Verstehe.“ Wollte seine Therapeutin auf irgendwas hinaus? Die Pause, die sie einlegte, deutete darauf hin, allerdings befreite sie Alfred gnädigerweise recht zügig von der erwartungsvollen Stille.

„Ich möchte dir einen Vorschlag machen. Meinst du, wir können uns darauf einigen, dass du mal versuchst, aufzuschreiben, was dir so zum letzten Sommer einfällt? Was dich da beschäftigt hat? Du brauchst das nicht zu morgen fertig haben. Wir können ja erst mal grob den Rahmen von einer Woche festlegen. Wie klingt das?“
 

Eine Woche, damit Alfred seine wirren Gedanken sortieren und in halbwegs brauchbarer Form zu Papier bringen konnte? Ihm wäre selbst die Ewigkeit zu kurz, trotzdem ertappte er sich dabei zu nicken.
 

„Ich kann mich also darauf verlassen? Und wenn du den Eindruck hast, du schaffst das aus irgendwelchen Gründen nicht, dann sag mir das ruhig. Es gibt auch keine verbotenen Gedanken oder so was. Schreib auf, was immer dir einfällt. Selbst wenn irgendjemand dir mal gesagt haben sollte, du sollst nicht darüber schreiben oder reden. Du darfst das. Du darfst hier bei mir über alles reden.“
 

„Okay.“ Eventuell konnte er ja irgendwas verfassen, das ihn und seine Eltern nicht wie einen Super-GAU aussehen ließ...
 

„Prima! Und jetzt atmest du mal ganz tief durch. Ich glaub, das war gerade alles sehr viel für dich.“
 

Wie Recht sie doch hatte. Trotzdem schien sie gar nicht böse zu sein, weil er schon an seine Grenzen gestoßen war.

Den Kopf in den Nacken legend, befolgte Alfred den Rat, ließ die Wirbel knacken und blinzelte zur Zimmerdecke hinauf. Sein Körper war so angespannt, als bemühe er sich, mit purer Willenskraft ein Hochhaus in die Luft zu sprengen. Das konnte nicht gesund sein. Die Hände aus den Taschen gleiten lassend, spreizte Alfred die vor Angst steif gewordenen Finger, deren Knöchel leidig krachten. Hinter sich hörte er, wie seine Therapeutin ihre Schreibtischschublade aufzog und dann etwas auf den Tisch legte. Als er sich umdrehte, entdeckte er zwei Säckchen aus Samt.

„Was ist das denn jetzt?“
 

„Ich dachte mir, wir schauen uns mal all deine guten Eigenschaften an. Mir scheint, die hast du ein wenig vergessen in letzter Zeit. Hier drin“, sie zog an der Kordel des deutlich größeren, proppevollen Samtsäckchens, „sind lauter guter Eigenschaften. Siehst du?“
 

Kleine, elfenbeinfarbene Plättchen grüßten schimmernd aus dem Smaragdgrün. Alfred erspähte spontan die Worte freundlich, abenteuerlustig und hilfsbereit, die ihn dazu animierten, neugierig mit der rechten Hand die Plättchen zu durchkämmen. Das feine Klirren lud ihn dazu ein, sich auf die Suche nach dem Menschen zu machen, den er fast nicht mehr sehen konnte. Der Mensch, der nicht bloß zu fett oder zu traurig für irgendwas war. Der nicht achtlos weggeworfen oder ersetzt wurde. Der mehr verspürte als Furcht und Verzweiflung. Der das Leben so sehr mochte und der früher einmal befürchtet hatte, ein einziges Leben würde gar nicht reichen, um all die verrückten Dinge zu tun, die ihm vorschwebten.
 

Sämtliche Plättchen in Augenschein nehmend, pickte Alfred eine Vielzahl heraus. Dann lagen sie wie frisch gesiebtes Gold auf dem Tisch, bildeten einen Schatz an Charakter und ließen ihn eine wohlige Wärme im Bauch empfinden. Er war gar nicht so grässlich wie er – vor allem in den letzten Monaten – immer gedacht hatte.
 

„Fertig?“, erkundigte sich Frau Brooke bei ihm, als er für einen unbestimmten Moment weder nach neuen Plättchen gegraben noch sonst etwas getan hatte.
 

„Jep, denk schon!“
 

„Und bist du zufrieden mit dir, Sonnenschein?“
 

Zum wiederholten Male errötete Alfred leicht ob des Kosenamens, hob aber trotzdem stolz den Blick und musste seine Therapeutin unbefangen anlächeln. Denn ja: fernab von allen Problemen und allen Menschen, die ihn an sich zweifeln ließen, fand er sich schwer in Ordnung.

{ 18. | Im Schatten }

Die Bilder, Schnipsel und Farben fanden spielend zueinander, ohne dass Alfred großartig darüber nachdenken musste. An einem breiten Holztisch im Kunstraum sitzend, hatte er die große Pappe vor sich liegen, die dem Namen Collage bereits alle Ehre machte. Um ihn herum erstreckte sich ein bunter Reigen aus Katalogen und Zeitschriften, ein Klebestift, ein paar Flaschen Acrylfarbe, eine Schere, ein Wassergefäß und eine Handvoll Pinsel.

Es roch gut, nach gehaltvollem Papier und nach angenehmer Ruhe, die eigentlich gar keine Ruhe war, denn von den übrigen Tischen stiegen gedämpfte Unterhaltungswogen auf und füllten den Raum wie wohlgesonnene Heizungsluft ein ausgekühltes Gebäude. Kein Regen klopfte gegen die Fenster, dafür war der Himmel halbwegs aufgeklart. Das Tief der vergangenen Tage schien vorübergezogen, um den Spätsommer seinen Platz zurück zu geben.
 

Seit Beginn der heutigen Kunsttherapiestunde war Alfred eifrig dabei, mit dunkler Acrylfarbe die Skyline seiner Heimatstadt anzulegen. Die eher schemenhaft angedeuteten Gebäude würden später mit helleren Farben ihre Ecken, Kanten und Lichtakzente verpasst bekommen und reckten ihre Köpfe kühn bis zur Bildmitte, wo das Polaroidbild prangte.

Wenn man so wollte, war Alfreds Collage in zwei Hälften aufgeteilt. Im Laufe der letzten Kunsttherapiestunden hatte er bereits die obere Hälfte mit allerlei Bildchen aus den Zeitschriften und Katalogen zugekleistert. Dort trumpften seine Lieblingssportler auf, überschnitten sich Fotos von Städten und Ländern, die er irgendwann einmal bereisen wollte, und glänzten die Filmstars seines Universums mit den Heldenfiguren aus seiner Kindheit um die Wette. In einer der Zeitschriften hatte er sogar eine Seite gefunden, die fast komplett von einer amerikanischen Flagge eingenommen wurde. Dank all seiner Flugzeugmodelle mit einem sehr geschulten Auge ausgestattet, war es für Alfred ein Leichtes gewesen, die Form eines der vielseitigsten Jagdflugzeuge weltweit heraus zu schneiden. Die F-16 C zog nun mit dem Anmut eines Adlers über die obere Bildhälfte hinweg und peilte ein Ziel außerhalb der Zweidimensionalität an.
 

Von den Gebäuden ablassend, ging Alfred nun zu seinem Foto über, während er gedanklich die Schwimmstunde Revue passieren ließ. Das wirklich Gute an der Schwimmstunde war gewesen, dass er ein T-Shirt hatte anbehalten dürfen. Frau Brooke hatte ihm dies am Ende der Einzeltherapie noch mitgeteilt. An und für sich hätte sie ihm das natürlich schon wesentlich früher verraten können, es aber schlicht und ergreifend nicht getan. Alfred würde sich rückwirkend darüber aufregen, eigentlich, aber er entwickelte allmählich ein Bewusstsein, das ihn verstehen ließ, warum sie ihm die Information willentlich vorenthalten hatte. Es war wichtig für ihn zu lernen, bestimmte Gegebenheiten, wie zum Beispiel sein körperliches Unbehagen, an- und auszusprechen. Stichwort: Redeblockade.
 

Dass er überhaupt eine hatte, hätte er vor heute Vormittag niemals vermutet. Klar, es fiel ihm schwer, gewisse Dinge laut zu sagen, aber die Therapiestunde hatte ihm aufgezeigt, dass es ihm nicht nur verdammt schwer fiel, sondern dass er im Laufe des letzten Jahres ein ernsthaftes Problem entwickelt hatte. Eines, das er zuvor definitiv nicht gehabt hatte. Da war er selten darum verlegen gewesen, selbstbewusst für sich einzustehen, wenn ihm etwas nicht in den Kram passte. Aber seither hatte er Bekanntschaft mit einigen hässlichen Geheimnissen und Verhaltensweisen gemacht, die seinen Hals wie einen maroden Stollen gesprengt hatten. Resultat war, dass das ganze Geröll nun seinem Herzklagen den Weg versperrte.

Man konnte nicht einfach den erstbesten Stein fortschaffen, ohne dass direkt die nächsten nachrutschten.

Er konnte nicht einfach irgendwas sagen, ohne dass er Gefahr lief, von den zutage beförderten Konflikten erschlagen zu werden...
 

Wenn er aber etwas aus der heutigen Sitzung mitgenommen hatte, dann, dass es ihm nicht besser gehen würde, wenn er ewig an dem Schweigen festhielt. Es machte ihn kaputt. Es sorgte dafür, dass er mittlerweile nicht nur krampfhaft all jene Dinge totschwieg, die ihn familiär belasteten. Genauso hartnäckig verschwieg er, was mit seinen Freunden geschehen war oder was er überhaupt fühlte – in Bezug auf seine Eltern, sein soziales Umfeld, seinen Körper und auch seine Essstörung.
 

Alfreds Einigeln und Mauern, sein unerbittlicher Kampf gegen all die schwer verdaulichen Emotionen, war eine Kriegsfront, an der er mutterseelenallein die Stellung zu halten versuchte. Aber die Einsamkeit fiel ihm dauernd in den Rücken und die ganze Situation stellte somit ein perfektes Mastmittel für seine Essstörung dar. Er hatte einfach immer und immer mehr Probleme mit Fressen und Kotzen mundtot zu machen versucht, bis er irgendwann den kompletten Alltag an die negativen Gefühle und seine Essstörung abgetreten hatte.
 

Die Erkenntnis war niederschmetternd und mit ihr fertig zu werden verdammt anstrengend. Entsprechend elanlos war Alfred vorhin durchs Wasser gepaddelt und hatte das kühle Nass auf sich wirken lassen. In der kleinen Gruppe waren auch keine sonderlichen Aktivitäten geplant; Alfred hatte das überrascht. Sie hatten sich lange Zeit nur mit Schwimmbrettern treiben lassen und, auf Mathias’ Geheißen hin, dann und wann die Beine bewegt oder sanft mit den Armen gerudert, die Finger durchs Wasser gleiten lassen oder ihm zugehört, wenn er ihnen auftrug, zu versuchen, das Gewicht ihres Körpers einmal komplett auszublenden. Im Wasser war das sogar möglich. Selbst Alfred fühlte sich nicht mehr so ungeheuer schwer, wenn er auf dem Rücken durchs Becken trieb und glucksend-gluckernde Wellen gegen seine Ohrmuscheln schwappten. Es hatte ihm irgendwie gut getan, dieses sich Treibenlassendürfen.
 

Nichtsdestotrotz kam sich Alfred erschöpft vor. Seelisch müde, zugleich aber wach genug, um sich konzentriert mit sich selbst auseinander zu setzen, anstatt gewohnt bemüht alles zu verdrängen. Diese Therapiesache stieß ihn stärker an, als er es je für möglich gehalten hätte...

Frau Brooke hatte all die kleinen Plättchen, die Alfred aus dem grünen Samtsäckchen gepflückt hatte, in das andere Samtsäckchen gepackt, es zugezogen und ihm stolz in die Hände gedrückt. Er sollte es behalten – als ein Andenken an sich selbst. An den Menschen, der zwar einige Kilo zugenommen hatte und der gerade tatsächlich nicht wusste, wie er seine Schwierigkeiten meistern sollte, der aber die Zuversicht besaß, definitiv zu sagen: du packst das! Augenzwinkern. Daumen hoch.
 

Er packte das.
 

Irgendwie.
 

Bei dem Irgendwie würde man ihm helfen müssen. Aber genau deshalb befand er sich ja auch in dieser Klinik: weil alle um ihn herum längst wussten, dass man ihm unter die Arme greifen musste. Wenn es in ihm nur nicht diesen empfindlichen Nerv treffen würde, der immer aus voller Kehle schrie, es schon irgendwie selber zu schaffen. Sein Trotz war wie ein Kind, das patzig die Arme verschränkte und mit dem Fuß stampfte, weil es daran gewöhnt war, zu bekommen und zu machen, was es wollte – nicht was andere wollten. Denn an und für sich führte Alfred sein Leben mehr oder weniger in Eigenregie.
 

Der Gedanke, für einen wichtigen Schritt im Leben Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen – und zwar viel Hilfe; das hier war keine Lappalie – war schrecklich. Es war, als müsse er die mit zunehmendem Alter errungene Unabhängig in fremde Hände geben. Es fühlte sich wie eine Rückentwicklung an, wie eine komplette Niederlage. Er war doch kein Verlierer!

Warum setzte er Hilfe anzunehmen mit Verlieren gleich? Weil er nie besonders viel Hilfe gebraucht hatte? Weil er offiziell nie Probleme gehabt hatte? Oder weil Alfred sich nur all zu gut daran erinnern konnte, wie er und die anderen Jungs im Team vor jedem Spiel einen Kreis gebildet und sich zugebrüllt hatten, als Sieger vom Platz zu schreiten?

Verlieren war schlicht und ergreifend nie eine Option für ihn gewesen und trotzdem, er war ja schon in Behandlung, ihm wurde bereits geholfen und seinen Helfern schien es nichts auszumachen, dass er gestürzt war. Wenn es also für andere Leute okay war, Alfred beim Aufstehen zu helfen, wieso konnte er sich dann selber so furchtbar schlecht damit arrangieren?
 

Er war überfordert, von sich und von diesem Widerspruch.

Hilfe – ja!?

Hilfe – nein?!

Aber wie vertrug sich das letztlich mit dem, was bei ihm Zuhause geschah? Was er nicht aufhalten konnte? Wie eliminierte man Wahrheiten, die wie immer neuer Sprengstoff in der Kehle gezündet wurden und fortwährend mehr Geröll loslösten?

Wie sollte er Frau Brooke jemals darlegen, was ihn so traurig machte? Alfred schätzte, der Ausdruck Trauer war nicht mal mehr angemessen für das, was er für seine familiäre Situation empfand. Eine bessere Beschreibung fiel ihm allerdings nicht ein. Selbstverständlich war er traurig, aber das Gefühl war eigentlich viel mächtiger, viel elementarer. Es hatte ihm jegliches Vertrauen in sich selbst und in seine Umwelt geraubt und ließ ihn nur noch Bällchen fangen...
 

Wenn er jetzt nicht hier hocken würde, den linken Ellbogen auf den Tisch und den Kopf auf die Handfläche gestützt, würde er Zuhause rumgammeln und vor der Ausweglosigkeit kapitulieren. Er war nicht hungrig, doch er war angsterfüllt und verzweifelt, und alles in ihm wäre gerade bereit für einen Karton Galaxy cake bars oder einen riesigen Pott Ben&Jerry’s half baked zu morden! Die Erinnerung an den Geschmack von samtweichem Kuchen, sämiger Schokolade und cremigem Eis war überwältigend und ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Alfred sollte all das nicht wollen, natürlich nicht, aber das Verlangen schoss parallel zum neu gewonnenen Selbstverständnis in die Höhe.

Höchstwahrscheinlich hatte es auch etwas damit zu tun, dass er jetzt seit bald einer Woche von diesem massiven Überessen abgehalten wurde, er aber zuvor seinen armen Körper beinahe ein Jahr lang darauf getrimmt hatte, die Probleme runterzuschlingen. Jetzt konnte er nichts mehr runterschlingen, seinen Probleme ging es jedoch nach wie vor prächtig. Sie hatten einen Kreis um ihn gebildet und hielten sich kameradschaftlich bei den Händen. Er kam da nicht raus.
 

Es war klaustrophobisch.
 

Tief ausatmend und zugleich bemüht, die Empfindungen so gut wie möglich zu ignorieren, stellte Alfred den Pinsel ins Wassergefäß. Um ihn herum war Aufbruchstimmung ausgebrochen, in deren Verlauf die anderen Patienten ihre benutzten Utensilien an ihre Plätze zurückbrachten. Da die Kunsttherapie regelmäßig stattfand, durfte Alfred seine Collage auf seinem Platz liegen lassen. Antonio hatte gestern gemeint, das sei gar kein Thema. Vermutlich würde es Antonio aber nicht mal auffallen, wenn man die Collage irgendwann dezent verschwinden ließ und behauptete, sie ihm gegeben zu haben, weil er für sie ein Plätzchen an den zugepflasterten Wänden des Kunstraums suchen wollte. Der Mann wäre allenfalls irritiert und für den Rest der Woche im Materialraumdschungel verschollen. Alfred schloss nicht mal aus, dass Antonio mit der Collage eines anderen Patienten von seiner Expedition zurückkehren würde...
 

Sich aufrecht hinsetzend, zog Alfred den Pinsel aus dem Wasser und legte ihn zum Trocknen auf ein Papiertuch, gerade als Feliciano mit seiner Palette am Tisch vorbei kam.
 

„Ve~, Alfred, du bist ja schon fast fertig mit deiner-!“ Felis Freudestrahlen erlosch als habe man seine Stromversorgung gekappt; Alfred konnte es sich in keiner Weise erklären. Sein Mitbewohner stand auf der anderen Seite des Tisches, die Arme betroffen herabsenkend und seine Augen, die sonst immer so honigwarm zwischen den verträumten Wimpern hindurch leuchteten, schienen vergessen zu haben, wie das überhaupt ging.
 

Etwas stimmte nicht. Alfreds Verdacht bestätigte sich, als Feli aufgeregt seine benutzte Palette auf den Tisch klatschte und gleich darauf neben Alfreds Stuhl stand. Hektik im Gepäck, beugte er sich leicht vor und studierte die Collage ausgiebig von der richtigen Seite. Das machte die Blässe auf seinen hohlen Wangen allerdings nicht besser. Im Gegenteil, seine Stimmbänder produzierten ein absurd hohes Krächzen, derweil schnelle Worte aus ihm herausplatzten:

„Dio mio! Du-du hast dich ja ganz schwarz gemalt! Das sieht scheußlich aus!“
 

„Hä...? Ach so! Das meinst du! Das is’ doch nur, weil-!“ Es war Alfred nicht negativ aufgefallen. Ihm erschloss sich auch nicht, warum ihm der Italiener plötzlich die knochigen Arme um die Schultern legte und ihn von oben herab panisch umarmte. So als müsse er fühlen, ob es Alfred noch gab.

Dieser spürte sich, entgegen jeder Logik, in der Umarmung verstummen und erröten. Ihn umarmt, ihn wirklich umarmt, das hatte lange niemand mehr getan. Erst recht nicht auf so abschnürend intensive Art und Weise. Es war kein Schulterklopfen, kein Handschlag und kein sachtes Drücken. Es war eng, ein kompromissloses Kümmern, ein reines Festhaltenwollen. Die Geste machte obendrein Felicianos anhaltendes Zittern kenntlich, das ausnahmsweise nichts mit seinem ausgemergelten Körper zu tun hatte.
 

„Das sieht aus, als wärst du gar nicht da! Warum machst du das, ve~?“
 

Warum er das machte? Alfreds Finger widerstanden nur knapp der Versuchung, wieder zum Pinsel zu greifen. Er hatte die letzte Viertelstunde tatsächlich dazu genutzt, sein Foto-Ich entlang der Konturen schwarz anzumalen, sodass er nur noch ein Schatten seiner selbst war. Seine Collage gefiel ihm, aber sein Foto nicht. Es hatte ihm schon letzte Woche nicht gefallen. Es passte irgendwie nicht in sein Leben – oder in das Leben, was Alfred gerne hätte.
 

Wenn Alfred ganz ehrlich war, war dieses Foto das erste Foto, auf dem er sich hässlich fand. Wirklich durch und durch hässlich. Es war nicht misslungen, es war nicht überbelichtet, er schnitt darauf auch keine Grimasse und selbst eine solche hätte ihn früher nicht gejuckt. Da waren Kameras für ihn eher eine Aufforderung gewesen, welche zu machen. Was Fotos betraf, war er nie zimperlich gewesen.

Aber dieses Foto hier? – Es war hässlich, ganz ohne Grimasse. Alfred konnte nicht mal die Qualität des Polaroids dafür verantwortlich machen. Die Kamera konnte gar nichts dafür. Er selbst war der Grund. Er mochte sich, so wie er derzeit aussah, nicht. Er war so fett!
 

Übergewichtig!, schallte es belehrend aus seinem Hinterkopf. Aber die Ermahnung war nicht zur Stelle gewesen, als er eben, abgelenkt von all seinem inneren Zwiespalt, munter sein Gesicht mit schwarzer Farbe unkenntlich gemacht hatte. Zwar hatte er verstanden, dass er durchaus gute Eigenschaften besaß und dass sein Äußeres auch keine Naturkatastrophe war, der man nichts entgegen setzen konnte, aber das befreite ihn nicht von jetzt auf gleich von der negativen Einstellung, die er über Monate hinweg sich selbst gegenüber entwickelt hatte. Andernfalls hätte er sein Foto irgendwie zähneknirschend toleriert. Genau das tat er aber nicht. Im Moment tolerierte er sein Äußeres und all die schlechten Gefühle überhaupt nicht.
 

Er wollte nicht krank sein – und er sah auf diesem Foto so krank aus wie nie zuvor.
 

„Das is’ traurig...“ Von Felicianos Körper aus wob sich ein Umhang aus Sympathie um sie beide, war empathisch weich und ließ Alfred das konstante Schaukeln nachempfinden, das Feli auf ihn übertrug. Fast wie eine Mutter, die ihr Baby wog.
 

Alfred konnte nach wie vor nicht fassen, wie Feliciano diese Collage anschauen und davon so ergriffen sein konnte. Wie konnte ihn ein geschwärztes Foto dermaßen aus der Bahn werfen? Was war das für ein Verständnis, das Feli hier an den Tag legte? Gerade Feli, der doch gar kein anderes Ziel mehr hatte, als sich zu seiner toten Familie ins Jenseits zu hungern, dieser Feli fand Alfreds Bild traurig!? Dieser Feli fand die Vorstellung, Alfred würde ebenfalls gehen, irgendwohin, wo man ihn nicht mehr zu fassen bekommen konnte, scheußlich!?
 

Wieso war es für Feliciano in Ordnung, wenn er selbst verschwand, aber nicht, wenn jemand wie Alfred sein hässliches Foto schwärzte? Und war Feliciano nicht eigentlich beleidigt oder zumindest schwer enttäuscht, weil Alfred sich klipp und klar gegen die heimlichen Sportübungen ausgesprochen hatte? Seither redeten sie zwar noch miteinander, aber Feli weckte den Anschein, als sei er emotional ein Stück von Alfred weggerückt.
 

Davon konnte im Moment definitiv nicht mehr die Rede sein. Alfred musste schwer schlucken. Tiefe Betroffenheit drückte ihm auf den Kehlkopf, indessen seine Ohrspitzen rot glühten.

„Ne, das soll echt nich’ traurig rüberkommen oder so! Ich hab das doch nur gemacht, weil mein Foto echt scheiße aussah. Don’t worry, okay?!“ Mit einem leisen Lachen versuchte er die Situation erträglich zu machen. In erster Linie für Feliciano, der ihn ungläubig anblinzelte und noch immer völlig durch den Wind war.

Alfred tat das leid; er hatte das weder geahnt noch gewollt und jetzt hielt er es für seine Pflicht, stark zu sein, um das Ganze wieder ins Reine zu bringen. Er sollte Feliciano einmal drücken und ihm zu verstehen geben, dass alles bestens war! Außerdem brauchte Feliciano die Wärme, die er in die Umarmung investierte, doch selber! Alfred hingegen konnte durchaus für sich alleine sorgen. Immerhin war er nicht bis auf die Knochen abgemagert. Es ging ihm also an und für sich gar nicht so schlecht und-
 

Ihn überfiel erneutes Schlucken, als sein Herz schmerzlich gegen seinen Magen trat und ihm die Wahrheit sauer aufstieß.

Wann nur hatte er verlernt, sowohl Trost als auch Fürsorge anzunehmen? Wann war er so destruktiv geworden? Und wann so drakonisch zu sich selbst? Denn das war man doch, wenn man nicht mal mehr glaubte, Sorgen oder eine Umarmung würden einem noch zustehen...
 

Betrübt senkte Alfred das Haupt und ließ das Lächeln fallen. Ihm fiel nichts ein, also blieb er still, während Felis Hände wohlwollende Streicheleinheiten verteilten, die sich über Alfreds Schulter erstreckten und gelegentlich seinen Hals streiften. So fragil der Braunhaarige auch wirkte, so stark war seine Zuwendung und ließ Alfred auf der Unterlippe kauen. Zwar wollte er keinen Trost nötig haben, aber es tat unbeschreiblich gut, ihn entgegen gebracht zu bekommen.
 

„Trotzdem...! Ich finde, du solltest das ändern. Sonst wissen wir ja gar nicht, wer du bist, wenn wir dich nicht sehen können.“ Eine Hand hatte es in Alfreds Haar geschafft und durchwuschelte es ermutigend, bis sämtliche Strähnen wüst abstanden und Feliciano kicherte. In Alfred zerbröckelte daraufhin das Verlangen nach Kuchen und Eiscreme und wurde durch das Bedürfnis zu weinen ersetzt. Wer wollte ihn denn bitte noch sehen? Wer wollte ihn noch kennen? In den letzten Monaten hatte er keine Antwort auf diese Fragen gewusst.

Jetzt hing hier Feli an ihm, wollte ihn sehen und wollte ihn kennen, wollte, dass Alfred sich zeigte. Wenn Feliciano ihn selbst im wahren Leben genug mochte, um ihn auf eine Art zu umarmen, die Alfred emotional völlig den Boden unter den Füßen wegriss, dann wäre es doch gelacht, wenn Alfred es nicht schaffen würde, zu seinem hässlichen Foto zu stehen. Es war doch nur ein Foto, es war nicht er selbst. Er war eigentlich alles, was um dieses Foto herum passierte und er wollte raus aus diesem schwarzen Loch. Weg von ‚Freunden’, die ihm den Rat gaben, mehr zu kotzen, weil er zu fett geworden war und denen er teils bewusst, teils unbewusst viel zu lange Recht gegeben hatte. Er wollte nach Hause und dort die nötige Unterstützung vorfinden, damit er sich wieder auf die Reise in ein farbenfrohes, reales, dreidimensionales Leben machen konnte, anstatt im Dunkeln vor die Hunde zu gehen.
 

Feliciano quiekte überrumpelt, als Alfred sich blitzartig erhob und die Arme um ihn schlang, als sei er ein Geschenk des Himmels. Das dazugehörige „Danke!“ ging in stumpfen, braunen Haaren unter, aber Alfred hielt es ohnehin nicht für ausreichend. Kein Wort der Welt konnte gerade zum Ausdruck bringen, was er fühlte. Allerdings schien Feli ihn trotzdem zu verstehen, denn er erwiderte die Umarmung sogleich ohne Vorbehalte. Alfred war herzlich willkommen – Probleme hin oder her.
 

Als sich Alfred kurz darauf zurücklehnte – im linken Augenwinkel ein beißendes Tränchen -, fiel ihm auf, dass die braunen Augen ihr Strahlen wieder gefunden hatten. Alfred war drauf und dran etwas zu sagen, als er über Felicianos Kopf hinweg die stille Beobachterin der Szene entdeckte. Während die meisten Patienten schon den Raum verlassen hatten und Antonio summend ein paar Kisten im Regal zurecht rückte, stand Anya in einiger Entfernung neben dem Waschbecken an der Wand. Tatsächlich hielt sie auch einen Borstenpinsel in der Hand, schien aber wenig daran interessiert, ihn auszuwaschen. Ihr Lächeln schien einzig und allein Feli und Alfred gewidmet, wenngleich letzterer noch etwas anderes witterte. Das Mädchen sah aus, als würde es über etwas sehr Schönes nachdenken. Den Schluss ließen nicht ihre geschmeidig lächelnden Lippen zu, sondern ihre verklärten Augen. In Gedanken schien sie unterwegs zu sein, auf Phantasiereise – und die beiden Jungen hatte sie ungefragt mitgenommen.
 

Als sie realisierte, dass Alfred sie bemerkt hatte, schwangen ihre Mundwinkel ein deutliches Stück empor, wobei sie die Augen zukniff. Wie ein Gruß, wie ein Lachen, aber ohne Ton. Der Pinsel in ihrer Hand deutete ein Mal bedeutungsschwanger zwischen ihr und Alfred hin und her, dann wandte sie sich ab und drehte den Wasserhahn auf.
 

Stutzig hob Alfred die Augenbrauen, konnte sich aber keinen Reim darauf machen und kam auch nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, da seine Aufmerksamkeit wieder von einem tratschenden Feliciano in Beschlag genommen wurde.
 


 

{  -  +  -  }
 


 

„..und als ich wach geworden bin, konnte ich mich nicht bewegen! Ich war komplett im Sand eingebuddelt. Kannst du dir das vorstellen, ve~?! Und dann...!“
 

Geschätzte 15 Schritte trennten Alfred und Feli von ihrem Zimmer, als der Unterhaltungsfaden riss. Alfred bemerkte es fünf Schritte lang nicht, dann begann ihn der unbeendete Satz zu stören.

„Was dann?“, neigte er sich neugierig zur Seite, wo er den Italiener erwartete, aber nichts weiter als leere Luft vorfand. Konfus drehte sich Alfred weiter herum, nur um entsetzt festzustellen, dass Feli sich mit der einen Hand an der weißen Wand abstützte und schwer atmend auf den Boden schaute. Seine Haut wirkte so blass, dass Alfred dem Verlauf eines jeden Äderchens folgen konnte. Das Netzwerk schien spinnenfadendünn und blutleer.
 

„Feli!? Hey, was ist denn?“
 

Bei der grellen Erwähnung seines Namens hob der Angesprochene sofort das Kinn.

„Nichts. Es ist nur..mein Fuß. Ich bin irgendwie umgeknickt...“ Abwinkend präsentierte Feliciano der Welt ein wackeres Lächeln. Alfred indessen war umgekehrt, um seinem Freund zu helfen.

„Soll ich dich zum Schwesternzimmer bringen?“ Da wäre garantiert jemand, der sich den Fuß mal genauer anschauen könnte. Alfred wollte schon die Richtung einschlagen, da schüttelte Feliciano verneinend den Kopf.

„Ach, es geht schon wieder! Ehrlich! Lass uns aufs Zimmer gehen, ja? Dann kann ich mich hinlegen.“
 

So weit der Plan, der sich auch zügig in die Tat umsetzen ließ. Feliciano zu stützen, war wahrlich keine Arbeit. Sein Federgewicht fiel kaum auf und Feli schien auch keine übermäßigen Schwierigkeiten beim Auftreten zu haben, wie Alfred im Hinterkopf notierte, als er wenige Schritte später die Türklinke hinab drückte. Die stickige Heizungsluft, die im Raum gefangen war, schlug ihnen entgegen wie eine Betonwand und Alfred verlor ein klagendes Stöhnen. Es musste dringend gelüftet werden! Allerdings kam er nicht dazu, dies seinem Mitbewohner mitzuteilen, denn dieser schlüpfte wie ein junges Küken aus der schützenden Umarmung und hastete zu seinem Schreibtisch hinüber.
 

Alfreds Augenmerk folgte zunächst verwundert, dann traf ihn fast der Schlag, weil der Raum wider Erwarten gar nicht leer war! Alfred hatte den anderen Patienten bloß nicht gesehen.
 

„Ciao, Arthur!“
 

Der Blonde stand verhalten wartend neben Felis Schreibtisch und hatte mehr mit einem Phantom gemeinsam als mit einem Wesen aus Fleisch und Blut. Seine Wangenknochen erweckten den Anschein falsch modelliert worden zu sein und der Grund dafür war gewiss nicht die überschwängliche Freude, mit der Feliciano Arthur um den Hals fiel. Anders als Feli Alfred umarmt hatte; mit viel weniger Schwung, aber mit dem gleichen Grad an Führsorge.

„Du bist zu mir zurückgekommen!? Da bin ich aber froh!“
 

„Also eigentlich...nein.“ Unbeholfen fand Arthurs rechte Hand den Weg auf Felis Rücken. Fast als würde er ihn tätscheln, weil er nicht wusste, wie er alternativ mit der Nähe umgehen sollte. Seine Stimme war gedeckt, wutlos, unverhältnismäßig ruhig, wie Alfred fand, der Arthur primär keifend kannte. Zudem schien es Arthur aufrichtig zu bedauern, Felis Enthusiasmus in die Schranken weisen zu müssen.
 

„A-aber du hast doch gestern gesagt, dass-!“ Feliciano trat ernüchtert zurück. Die Umarmung ging dabei zu Bruch. Schmerz, dem der Irrglaube, nichts und niemanden halten zu können, zugrunde lag, überflutete Felis Miene. In seiner Not ließ er die Finger in den langen Ärmeln seines Cardigans verschwinden und resignierte. Kein Lächeln mehr, nur noch die Kopie eines solchen.

„..Du bist nur wegen Alfred hier, stimmt’s?“
 

Der Gefragte nickte langsam und ließ seine Aufmerksamkeit dann auch zu Alfred hinüber gleiten, der noch immer höchst verwirrt war. Nicht nur über Arthurs unerwarteten Besuch oder dessen Erscheinungsbild, für das es weder die richtige Garderobe noch einen passenden Gesichtsausdruck mehr auf dieser Welt zu geben schien. Ihn verwirrte vor allem, dass Feli gerade eine Unterhaltung zwischen sich und Arthur erwähnt hatte. Irgendwann im Laufe des gestrigen Tages musste sich Feliciano in Arthurs Zimmer geschlichen haben! Alfred konnte sich nämlich nicht vorstellen, dass Arthur von sich aus das Zimmer verlassen hatte. Stehen, reden, sein – all das waren Aktivitäten, die ihn wesentlich mehr Energie kosteten als seine Depots noch besaßen. Er verheizte sich selbst – oder er hatte es sogar schon längst getan. All die Monate lang, die er seiner Krankheit Tag für Tag in den Rachen geworfen hatte. Alfred hatte es mit Asche zu tun.
 

Sich leise räuspernd, kam Arthur nun auf Alfred zu. Die grünen Augen unbewaffnet, streckte er ihm einsichtig die Hand entgegen.

„Ich wollte mich entschuldigen..wegen neulich Nacht. Tut mir leid, Alfred.“
 

Verdattert wechselte Alfreds Blick zwischen der Hand und Arthurs bleichem Antlitz. Die Entschuldigung war definitiv ernst gemeint und nicht einfach so daher gesagt. Jedes Wort hatte seine wohl verdiente Länge zugestanden bekommen. Es gab kein Haspel und kein Rasen. Die beiden Sätze schienen mehr Gewicht auf die Waage zu bringen als Arthur und Feliciano zusammen. Das war verstörend und ließ Alfred unbeabsichtigt zögern, bevor er auf die versöhnliche Geste einging.

„..Ach, Schwamm drüber!“ Er war ja nicht derjenige gewesen, der weinend auf dem Boden gesessen hatte...
 

Arthurs Hände ähnelten Felicianos: die Haut verband überproportional dick erscheinende Knochen miteinander und zwischen den einzelnen Fingern existierten weitläufige Leerräume. Der Händedruck an sich spiegelte den Charakter der vorangestellten Entschuldigung wider: war solide und wesentlich kräftiger als Alfred erwartet hatte, obwohl Arthur es darauf gar nicht bewusst anzulegen schien. Er schien es auf rein gar nichts mehr anzulegen, am allerwenigsten auf ein verstecktes Machtspielchen.
 

Die Feststellung bürdete Alfred ein unbehagliches Grinsen auf und ließ ihn nervös drauf los plappern.

„Ich bin zwar noch nie mit Keksen beschmissen worden, aber hey! Es waren nur Kekse! Ich hab’s überlebt! Kommst du eigentlich gleich zum Abendessen? Dann setz ich mich wieder an den Fenstertisch. Weißt du, ich sitz im Moment bei-“
 

„Du kannst ruhig am anderen Tisch sitzen bleiben. Dann brauchst du dich auch später nicht beschweren, weil dich jemand getreten hat.“ Arthur sprach ohne Reue, aber auch ohne Überheblichkeit, obwohl er nachhaltig der felsenfesten Überzeugung war, mit seiner ‚Erziehungsmaßnahme’ im Recht zu liegen.
 

Bei Alfred sorgte die Erwähnung des Tritts einerseits dafür, dass die malträtierte Stelle an seinem Bein erneut wehtat. Andererseits wollte er wissen, warum Arthur ihn überhaupt erziehen zu müssen meinte? Es ging ihn doch überhaupt nichts an, wenn Alfred sich im Ton vergriff oder gegen irgendwelche schwachsinnigen Klinikregeln verstieß! Sein Leben, seine Entscheidung, seine Bewährungsproben, seine Erfahrungen! Er war doch kein Baby, das man vor der großen, bösen Welt beschützen musste!
 

Alfred wollte es gerade zum Besten geben, als Arthur sich wieder Feli widmete. Sein Blick galt den oberen drei Knöpfen von Felicianos Cardigan. Bisher war es Alfred zugegebenermaßen nicht aufgefallen, aber der oberste Knopf befand sich nicht im für ihn vorgesehenen Knopfloch, sondern in dem darunter. Der zweite Knopf, der eigentlich für dieses Loch vorgesehen war, wurde von einer schwungvollen Falte verschluckt. Feli hatte sich schräg geknöpft, was zur Folge hatte, dass Arthur sich nun direkt vor ihn stellte und so sorgsam wie eine Nanny den obersten Knopf zwischen die Finger nahm, um die gewünschte Ordnung wieder herzustellen.
 

„Eh..?“, war alles, was Feliciano spontan dazu sagte und verlegen drein schaute. So als passiere das hier nicht zum ersten Mal. Abschließend zupfte Arthur an Felis Hemd, das er unter dem Cardigan trug, und strich alle Kleider an den Schultern entlang glatt. Beinahe so akribisch als sei Feli eine Schaufensterpuppe, die teure Ware an den Mann bringen sollte.
 

Danach sprangen Arthurs Pupillen zurück zu Alfred und keine zwei Sekunden später zog er auch ihm die Reißverschlussjacke an den Schultern zurecht. Schnell, präzise und ohne Blickkontakt, dafür mit geflissentlicher Hingabe, wie Arthur mit einem Male auch selbst auffiel.

„Ach“, hastig zuckten seine Hände zurück, „ihr könnt das auch alles ohne mich, nicht wahr.“ Er lachte heiser und aufgesetzt, wobei er über sich selbst den Kopf schüttelte. So als hätte er gar nicht so dumm sein wollen zu zeigen, dass er sich wie ein alter Mann um längst erwachsen gewordene Enkel kümmerte.
 

„...na klar!“, bestätigte Alfred verwundert. Doch seine Aussage hatte keinen Effekt auf Arthur, der noch immer kopfschüttelnd zur Türe schlich und dann ohne ein Wort des Abschieds verschwand.
 

Die Stirne runzelnd, starrte Alfred für einen unbestimmten Moment hinterher und kratzte sich dabei abwesend im Nacken.

„Was war’n das jetzt?“
 

Von Feli kam keine Antwort, stattdessen tapste er zu seinem Bett hinüber und rollte sich in seine Decke ein. Die schmerzliche Enttäuschung war ihm noch genauso gut an der Nasenspitze abzulesen wie vor knapp drei Minuten.

Alfred stellte sich ans Fußende des Bettes, zwischen Schreibtisch und Schreibtischstuhl, und betrachtete den Italiener eingehend. Ihm erschloss sich einfach nicht, was hier vor sich ging! Was hatte Feliciano vorhin mit ‚zurückkommen’ gemeint? Wieso war er Arthur um den Hals gefallen? Was um alles in der Welt ging hier vor sich?
 

„Öhm... Feli? Du hast mir gar nich’ gesagt, dass du gestern bei Arthur warst. Worüber habt ihr beide denn so gesprochen?“
 

Der Deckenrollmops verlor zunächst keinen Ton, sondern drehte sich lediglich auf den Bauch, sodass sein Gesicht gänzlich im Kopfkissen verschwand. Alfreds Finger wurden daraufhin klamm; es war wie so oft, wenn er Feli auf das Thema ansprach. Er bekam einfach keine vernünftigen Informationen aus ihm heraus! Es war so frustrierend! Das einzige, was aus dem Stoff drang, war ein fahles „Ach nichts... Ich bin nur müde“. Aber war das eine richtige Antwort? Oder doch nur die nette Aufforderung, Feliciano bis zum Abendessen schlafen zu lassen?
 

Was hatte Feli dazu bewegt, gestern zu Arthur zu gehen? Alfred kapierte es einfach nicht. Seit er die beiden kannte, hatte er sie nur ein Mal wirklich interagieren sehen und das war am Sonntag gewesen, als Francis Arthur aufgefordert hatte, Feliciano beim Essen Gesellschaft zu leisten. Ansonsten schienen die zwei nichts miteinander zu schaffen zu haben und besonders viel gemeinsam hatten sie auch nicht.
 

Aber diese Umarmung eben...
 

Alfred musste sich an Arthurs Gesichtsausdruck und seine Körperhaltung erinnern, als Francis ihm die Wangenküsschen aufgehaucht hatte. Er war so starr verteidigend gewesen. Nicht bereit, den Schutzschild auch nur einen Zentimeter herabzusenken.

Das war heute komplett anders und Alfred hoffte inständig, dass Arthur sich nicht selbst aufgegeben hatte. Denn falls dem doch so sein sollte, würde auch die Konstellation Feliciano-Arthur wieder erschreckend viel Sinn machen.

{ 19. | Selbstlosigkeit }

Sein Magen fühlte sich in etwa so an, als würde darin eine Ameisenkolonie wüten, deren fleißige Bewohner allesamt dabei waren, Angst, Panik und Nervosität in Alfred zu verbreiten. Es juckte und biss und machte ihn vollkommen wahnsinnig, während er in seinem Zimmer auf- und ablief und die Sekunden dahinschwinden hörte. Einen Blick zu seiner auf dem Nachttisch liegenden Armbanduhr konnte er sich dabei getrost sparen; seine innere Uhr tat ihm den Gefallen, mit jedem Herzschlag ein bisschen mehr der Vorstellung zu verfallen, er würde gleich gehängt werden. Jedoch konnte er nicht mal mit Bestimmtheit sagen, warum.
 

Er hatte einfach nur entsetzlich große Angst...
 

Seine Familientherapiestunde war auf den Nachmittag terminiert, wie Alfred heute früh beim Blick auf seinen Stundenplan festgestellt hatte. Irgendwie hatte ihn das enorm verwirrt; er war der felsenfesten Überzeugung gewesen, seine Familientherapiestunde würde zu seiner regulären Therapiezeit am Vormittag stattfinden. Dem war jedoch nicht so. Wahrscheinlich hatten seine Eltern in Absprache mit Frau Brooke bewusst eine Zeit gewählt, die ihnen entgegen kam. Wenn sie erst nachmittags hier erwartet wurden, konnten beide noch bequem bis zum Mittag arbeiten gehen, anstatt sich bereits morgens die Laune verderben zu lassen und mit dieser Laune dann noch Kunden und Kollegen beglücken zu müssen.
 

Falls die beiden denn überhaupt herkommen würden. Das stand ja immer noch in den Sternen...
 

Alfred konnte nicht mal sagen, was ihm lieber wäre: Wenn die zwei den Termin absagten oder wenn sie ihn zähneknirschend wahrnahmen. Einerseits wollte er seine Eltern unbedingt wiedersehen – Gott, er vermisste seine Mom und seinen Dad. Auf eine Weise, die ihm so nie untergekommen war und die jedweder Beschreibung trotzte! –, andererseits wollte er kein therapeutisches Gespräch mit ihnen führen müssen. Vor allem nicht im Beisein von Frau Brooke. Ihm schwante nämlich längst, wo das enden würde. Sie waren alle so kaputt und seine Therapeutin würde das eher früher als später herausfinden.
 

Nein. Die Lider betrübt niederschlagend, berichtigte Alfred sogleich seinen letzten Gedanken, denn eigentlich waren seine Eltern gar nicht kaputt. Die beiden hatten ihre Differenzen, wie er das vorsichtig für sich formulierte, aber, abgesehen davon, waren sie kerngesund. Kaputt war nur einer – und das war er. Schließlich saß er in einer Klinik. Nicht seine Mutter und auch nicht sein Vater. Er war derjenige, der krank geworden war...
 

Um sein plötzliches Verlangen nach frischer Luft zu stillen, stellte sich Alfred ans Fenster, das er vorhin überschwänglich aufgerissen hatte, kaum dass Feliciano das Zimmer verlassen hatte. Vorab hatte der geschafft aussehende Italiener noch über Kopfschmerzen geklagt und auch mit seinem Fuß schien er wider Erwarten noch Probleme zu haben. Zumindest wirkte sein Gang etwas angeschlagen, so als wate er über eine Hüpfburg.

Es war auch kein Wunder, nichts von beidem. Die stickige Heizungsluft bereitete einem zwangsläufig Kopfschmerzen und da das Fenster prinzipiell nur auf kipp geöffnet werden konnte, grenzte es beinahe an eine Unmöglichkeit, den Raum gescheit durchzulüften. Außerdem musste Feliciano hundemüde sein. Alfred hatte vorige Nacht kaum ein Auge zu bekommen können und so die Unruhe seines Mitbewohners live mit angehört.
 

Feliciano war mehrmals aufgestanden. Nicht nur, weil er ständig aufs Klo musste, sondern vorlieblich auch, um sich im dunklen Zimmer die Beine zu vertreten. Wirklich etwas gesehen hatte Alfred nicht, aber nach dem vierten Mal hatte er stutzig nachgefragt. Daraufhin war Feli in der Dunkelheit kieksend zusammen geschreckt und hatte gemeint, er könne nicht einschlafen. Alfred ging das ja an und für sich genau so und bevor er sich versehen hatte, hatte Feli es bewerkstelligt, dass sich die ganze Unterhaltung nur noch um Alfred drehte. Darum, wieso er nicht schlafen konnte und warum er diesen Mittwoch samt Familientherapie nicht erleben wollte...
 

Alfred hatte primär bedrückt geschwiegen und mit dem Zeigefinger die Struktur der Raufasertapete nachgefahren. Heimlich und leise. Seit er wusste, was mit Felicianos Familie geschehen war, war es Alfred zuwider, in ihren Gesprächen seine Eltern zu erwähnen oder gar zu thematisieren. Aus Felis Erzählungen ging immer klar hervor, dass sich seine Familienmitglieder aus tiefstem Herzen liebten. Streit war etwas Natürliches bei ihnen; es geschah, offen und in klärenden Maßen. Mit Temperament, das schwelende Exzentrik und versöhnende Leidenschaft gleichermaßen zuließ. Die Konflikte brodelten also nicht wie Vulkanlava unter der Oberfläche und waren auch ganz anderer Art als bei Alfred daheim...
 

Wie sollte er Feliciano das beibringen? Feli war eine innige Familienbande gewöhnt. Alfred konnte und wollte ihn nicht desillusionieren, indem er daher kam und berichtete, dass seine eigene Familie kein Schatz war, sondern lediglich ein mit Goldspray überzogenes Imitat. Sie waren alle so falsch...
 

Sich darüber zu beklagen, kam ihm aber unangebracht vor in Felicianos Anwesenheit. Das war so, als sei Feli bettelarm und Alfreds größte Sorge seien seine vor Geld stinkenden Hände. Ihm war ja sogar schon mal rausgerutscht, dass seine Eltern sich hassten und im Nachhinein verfluchte er sich dafür. Immerhin hatte er ja noch Eltern. Feli nicht. Es stand also völlig außer Frage, Feli mit der Angelegenheit zu belasten. Alfred konnte nicht reden. Schon wieder nicht. Also hatte er so getan, als sei er eingeschlafen. Über ihm, in der warmen Luft, noch Felicianos letzter Satz:
 

„Deine Eltern freuen sich bestimmt, wenn sie dich morgen wiedersehen, ve~!“
 

Nein.
 

Nein, sie freuten sich garantiert nicht. Wenn sie herkämen, dann nur, weil es erwartet wurde. Weil sie den Schein wahren wollten.

Für Alfred wiederum bedeutete das, es würde furchtbar aufreibend und anstrengend werden, denn er musste irgendwie eine Stunde Therapie mit ihnen überleben. Lächeln, lügen und innerlich ignorieren, dass er nicht mehr ihr Sohn war, sondern nur noch ihr Problem.
 

Sich ausgiebig mit der rechten Hand durch den verspannten Nacken streichend, wandte sich Alfred der Türe zu. Er würde abgeholt werden, sobald seine Eltern da waren. Das Familientherapiezimmer war offenbar nicht im für die Patienten frei zugänglichen Bereich der Klinik untergebracht. Und wenn man vom Teufel sprach, ertönte just in dieser Sekunde ein Klopfen. Gleich darauf wurde die Tür geöffnet und Schwester Elizabeta lugte ins Zimmer.
 

„Hey, Alfred.“ Wie so oft hatte sie ihr brünettes Haar zu einem langen Flechtzopf gebunden, dessen Ende eine raffinierte Haarspange in Form eines Notenschlüssels zierte. „Dr. Brooke hat gerade bei uns durchgeklingelt. Deine Eltern sind da.“
 

Die letzte Bemerkung drängte Alfred so weit zurück, dass sich der Heizkörper in die Rückseite seiner Oberschenkel bohrte. Seine Eltern waren also tatsächlich hier! Und er? Er bekam sein Gesicht nicht unter Kontrolle; er wusste, er lächelte, und er wusste auch, dass er rasch nickte – allerdings wollte er all das nicht tun. Insgeheim wünschte er, der Heizkörper wäre dermaßen heiß, dass er sich durch die Kleidung brennen und mit seiner Haut verschmelzen würde, nur damit er jetzt nicht zu dieser Therapiestunde gehen brauchte.
 

Er hätte Frau Brooke etwas sagen sollen. Irgendetwas. Am besten, dass er keine Familientherapie wollte, weil er es nicht ertragen konnte, als ein gemeinsames Problem behandelt zu werden. Zwar wollte Alfred seine Eltern um jeden Preis wiedersehen, aber er wünschte sich zugleich, vorher die Zeit zurückdrehen zu können, damit seine Krankheit noch ein Geheimnis war. Wieso mussten sie denn alles in einer Therapie ausdiskutieren? Konnten sie ihn nicht einfach nach Hause holen? Er würde brav in ihr altes Leben zurückgleiten wie die Seele in den verstorbenen Körper und er würde sich jegliche Mühe geben, seine Eltern nicht zu enttäuschen. Vor allem würde er besser aufpassen, damit keiner von beiden je wieder mitbekam, wie kaputt er doch war.
 

Er wollte nur nach Hause – nicht als das gemeinsame Problem, sondern als der gemeinsame Sohn von Frank und Amanda Jones.
 

Mit morschen Gliedern durchquerte Alfred das Zimmer und folgte der freundlichen Schwester über den Flur, dann durch die für Patienten abgeschlossene Hauptstationstür und eine Treppe hinauf. Das größtenteils verglaste Treppenhaus und die Stufen waren von teigigen Sonnenstreifen überschwemmt, die durch die Fenster trieften. Alfred wäre es ausnahmsweise lieber, es würde regnen. Ihm war warm und er schwitzte wie ein Schwein in dem hellen Sommerhemd mit den kleinen, schwarzen Akzenten an der Brusttasche und am Kragen. Die anderen Patienten durften gerade alle eine ruhige Kugel bei Antonio in der Kunsttherapie schieben und er? Er musste durch die Hölle gehen!
 

„Da wären wir schon.“ Das Lächeln, welches Schwester Elizabeta ihm schenkte, war sowohl aufbauend als auch unterstützend, als sie vor einer Tür anhielt. In der kleinen Plastiktafel an der Wand war die Zimmernummer sowie die Information Arbeitsraum II untergebracht.
 

Arbeitsraum hießt das hier also.
 

Dass Therapie kein Zuckerschlecken war, hatte Alfred längst in Erfahrung gebracht, aber Arbeitsraum? Die Therapiezimmer auf der Station hießen immerhin noch Konsultation I und II. Das Wort Arbeitsraum hatte direkt einen ganz anderen Beigeschmack...
 

„Äh ja, cool, danke...“, er wusste nicht, was gerade einer angemessenen Reaktion entsprach und trat auch nicht so weit an die Türe heran wie die laut und deutlich anklopfende Schwester.
 

„Ja, herein!“, drang Frau Brookes Stimme von innen heraus.
 

„Bitteschön“, wurde Alfred per Kopfdeuten aufgefordert, die Tür selbst zu öffnen. Es war in etwa, als verlange man von ihm, sein eigenes Todesurteil zu unterschreiben. Seine Hand zitterte sogar dezent, als er sie auf die Klinke legte und diese dann hadernd herabdrückte.
 

Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber der Türspalt wurde durch sein eigenes Zutun breiter und gewährte ihm zunehmend mehr Einblick in den großen Raum. Eine Seite war von einem hohen, weitläufigen Fenster dominiert, deren halb geschlossene Lamellenvorhänge gutmütiges Licht ins Innere vordringen ließen. Die Wände waren in dem gleichen Cremeweiß gestrichen, das er auch von seinem Einzeltherapiezimmer kannte. Im Unterschied zu den Konsultationsräumen war hier jedoch weitaus mehr Platz vorhanden. Zwei hochgewachsene Topfpflanzen standen rechts und links neben dem Fenster in den Ecken. Ihre Töpfe waren zartorange und passten somit optimal zum Teppich in der Raummitte. Es gab einige naturfarben bezogene Polstersessel und ein gleichfarbiges Sofa, die in einer Runde arrangiert waren. In der Mitte der weit gefächerten Runde befand sich ein tiefbrauner Abstelltisch, auf dem eine Tempobox und vier Gläser Wasser auf ihren Einsatz warteten. Davon abgesehen gab es, neben der Deckenlampe, noch zwei japanisch anmutende Stehlampen mit papierner Ummantelung.

Ob der Sonnenintensität waren sämtliche künstlichen Lichtquellen jedoch gerade überflüssig. Alfred konnte Frau Brooke bestens erkennen; sie saß ihm quasi gegenüber. Seine Eltern hingegen saßen seitlich und mit dem Rücken zur Türe, jeder auf einem der Sessel, und schauten nun automatisch in seine Richtung, als er eintrat.
 

„Hallo, Alfred. Schön, dass du zu uns gefunden hast.“ Frau Brooke ließ es klingen, als hätte er vorab eine auszehrende Odyssee überstehen müssen. Auf ihren überschlagenen Beinen balancierte sie ein Clipboard, wie es auch Frau Brussels in der Gruppentherapie stets dabei hatte.
 

Sich weiter ins Zimmer schiebend, schloss Alfred die Tür hinter sich – ohne sich dazu überwinden zu können, näher an die Sitzgelegenheiten heran zu treten. Sein Blick war an seinen Eltern festgefroren. Seine Mom war bereits aufgestanden und kam geradewegs auf ihn zu. Ganz so als würde sie ihn nach sechs Wochen Ferienlager wieder in Empfang nehmen. Als mache er hier Urlaub!
 

„Hallo, mein Liebling. Wie geht es dir?“
 

„Gut!“ Ihre Erscheinung sog ihm die Antwort aus dem Bauch, nicht aus dem Herzen. Irgendwo tief in ihm knackte etwas und füllte ihn mit temperaturloser Apathie, als seine Mutter ihm die Hände auf die Oberarme legte, kurz hinüberstreichelte und dann in ihren Pumps auf die Zehenspitzen ging, um seine Wange zu küssen. Nur flüchtig, damit ihr Lippenstift keinen Abdruck hinterließ.
 

„Das freut uns! Nicht wahr, Frank?“ Ihr Augenmerk wechselte zu Alfreds Vater hinüber, der in der Zwischenzeit ebenfalls näher getreten war und nicht zu wissen schien, wie er einen alten Freund begrüßen sollte, ohne dass es sich für einen von ihnen beiden merkwürdig anfühlte. Die Irritation überspielend, tat er, was er immer tat: Alfred locker einen Arm umlegen und ihm dann einmal schnell zur Begrüßung den Rücken klopfend.

„Aber sicher! Hast du dich soweit gut eingelebt, Kumpel?“
 

Eingelebt.
 

Musste man sich nicht nur dann irgendwo einleben, wenn ein längerer Aufenthalt bevorstand?
 

Alfreds Blick zerschellte auf dem Boden, aber es tat nicht weh, als er übertrieben nickend „Klaro!“ sagte. Er war viel zu sehr an diese Art der Interaktion gewöhnt, als dass er anders hätte agieren können. Selbst seine Handflächen waren nicht mehr schwitzig. Eher war es, als seien er und seine Eltern ganz in ihrem Element und jeder spielte artig nach dem familieninternen Drehbuch.
 

Seine Mutter in dem tintenfarbenem Hemdblusenkleid von Jonny Boden, das ihr bis zu den Knien reichte und ihre schlanke Figur umschmeichelte wie es kein Gentleman der alten Schule besser hätte tun können. Die kleinen Knöpfe leuchteten perlmuttfarben und verstanden sich bestens mit ihrer Halskette und den dazugehörigen Ohrringen. An den Füßen trug sie braune Lederpumps, von denen Alfred nicht wusste, ob sie neu waren oder nur eines von unzählig vielen Paaren aus ihrer umfangreichen Kollektion. Ihre Fingernägel präsentierten sich im dezenten Frenchlook und sie hatte den goldenen Ehering, nebst diamantbesetztem Verlobungsring, traditionsgemäß an den linken Ringfinger gesteckt.
 

Gezielt sprang Alfreds Blick zur Hand seines Vaters hinüber. Auch dort prangte der breite, goldene Ring am linken Ringfinger, genau wie an jedem anderen verdammten Tag. War ein Accessoire, das sich mit einem glücklichen Status brüstete und sich zugleich mit dem Edelstahlband der Armani Armbanduhr biss, welche halb unterm Ärmel des hellen Hemdes verschwand. Das dazugehörige Zwei-Knopf-Sakko des puristischen Calvin Klein Anzugs hing tadellos über einem der unbenutzten Sessel und war, ebenso wie die Anzughose, in taubenblau gehalten. Die elegante Schlichtheit des Anzugs kam durch die schwarzen Business Schuhe und den Verzicht auf eine Krawatte erst richtig zur Geltung.
 

Alfred musste den Blick abwenden, als ihm genau ein Wort durch den Kopf jagte: Arbeit.

Seine Eltern waren zum Arbeiten hier und sie bildeten ein wie aus dem Ei gepelltes Sondereinsatzkommando, das sich auf zwei Stühle verteilte, um die Krisensitzung möglichst effizient hinter sich zu bringen. Ob einer von beiden Alfred tatsächlich im Zuge der Begrüßung berührt hatte, wagte dieser zu bezweifeln. Spürbar war es für ihn jedenfalls nicht gewesen...
 

„Wir haben dir auch ein paar Sachen mitgebracht“, ließ seine Mutter versöhnlich verlauten, als sie wieder Platz genommen hatte und an einer großen Einkaufstasche neben ihrem Sessel rumnestelte. „Du kannst sie dir ja nachher mal anschauen. Eigentlich ist es nichts Besonderes. Ich dachte nur-“

„Schatz, bitte! Jetzt lass den Jungen doch damit in Frieden. Das sind doch eh fast nur Klamotten und davon hat er nun wirklich mehr als genug.“ Die Bemerkung kam eher beschwichtigend daher, verstand sich aber als Erzieher, der einem Kind vorschrieb, was sich gehörte und was nicht. Der Mundwinkel von Alfreds Mutter vollführte daraufhin eine erboste Zuckung, doch sie ließ von der papiernen Tasche ab und schlug lediglich ein Bein über das andere.

„Wenn du das sagst...!“ Falsche Süße.
 

Alfred schluckte, da er plötzlich extrem viel Speichel in der Mundhöhle hatte. Das hier war eine einzige Katastrophe. Er lächelte geübt, seine Mom lächelte geübt, sein Dad lächelte geübt – nur Frau Brooke lächelte professionell und flach, was ihr Lächeln zur aufrichtigsten Gemütsregung im gesamten Raum machte.
 

„Ich hab mich gerade schon kurz mit deinen Eltern bekannt gemacht“, richtete sich Frau Brooke nun an ihn, bevor sie der Reihe nach alle Anwesenden anschaute. „Und ich denke, es ist das Beste, wenn wir zunächst über ein paar grundlegende Dinge sprechen. Na komm, Alfred, setz dich. Dann können wir anfangen.“
 

Mitsamt einem Winken deutete sie ihm, Platz zu nehmen. Schon das stellte eine enorme Herausforderung für ihn dar, weil er nicht wusste, wo er sich lassen sollte. Das Sofa wollte er nicht alleine beanspruchen. Also blieb nur einer der Sessel. Den, auf dem die Jacke seines Vaters hing, mochte er nicht nehmen, dummerweise war aber sonst nur noch direkt neben Frau Brooke ein Sessel frei. Alfred fühlte sich jedoch unwohl auf diesem Platz, sofort und auf der Stelle. Wann immer seine Eltern Frau Brooke anguckten, geriet er automatisch mit in den Fokus...
 

„Worüber ich heute und zu Beginn unserer gemeinsamen Sitzungen mit Ihnen sprechen möchte, ist, wie Alfreds Therapie aufgebaut ist und was für eine Funktion dabei die Familiengespräche haben. Bevor wir dazu übergehen, möchte ich aber ihre Frage von vorhin aufgreifen. Alfred, deine Eltern haben mich eben gefragt, wie es dir bei uns gefällt? Du bist ja jetzt etwa eine Woche hier. Möchtest du ihnen vielleicht selbst von deinen Fortschritten erzählen?“
 

„Äh..ja, klar! Kann ich machen. Also, ich hab abgenommen!“ Die Worte gingen ihm so leicht von der Zunge als spucke er aus. Er hoffte nur, dass dies einer der erwähnenswerten Fortschritte war. Zumindest fiel ihm wenig Anderes ein; ihm gefiel es hier nicht. Überhaupt nicht. Aber das konnte er schlecht sagen, denn das wollte keiner hören. Die Nachricht über die verlorenen Kilos hingegen erfreute seine Eltern deutlich.
 

„Super, Kumpel! Ich wusste, das wird schon wieder! Wirst sehen, in ein paar Monaten-!“

„Frank...!“, bremste seine Mom seinen Dad leicht aus, indem sie ihm eine Hand auf den Unterarm legte. Die Geste bewirkte unglücklicherweise das genaue Gegenteil.

„Was denn? Du warst doch diejenige, die sich schon vor zig Wochen über seine Gewichtszunahme mokiert hat! Und jetzt nimmt der Junge ab und es ist trotzdem nicht gut?!“

„Du weißt genau, dass ich das nicht gemeint habe gerade!“
 

„Mr. und Mrs. Jones, ich denke, es ist wichtig, dass wir nicht aus den Augen verlieren, warum Alfred hier ist. Die Gewichtsreduktion ist ja nur eines unserer Ziele...“ Frau Brookes Stimme schob sich wie eine gläserne Trennwand zwischen die beiden Erwachsenen, denen urplötzlich auffiel, sich rechthaberisch gegeneinander aufzulehnen. Magnetfeldern gleich und Kräfte gegeneinander richtend, die Alfred unterschwellig spürte, auch wenn keiner der beiden den falsch-freundlichen Tonfall ablegte. Es war der Tonfall, den er bereits von Zuhause kannte und auf den er nie großartig Einfluss nehmen konnte.
 

Ehe Frau Brooke fortfuhr, wartete sie kurz ab, bis sich Alfreds Eltern wieder zurückgelehnt hatten und scheinbar alle Wogen geglättet waren. Das dauerte nicht lange; das tat es nie in Gesellschaft anderer.
 

„Ich würde vorschlagen, wir lassen Alfred erst mal ausreden. Vielleicht hat er ja noch mehr zu erzählen?“
 

Noch mehr? Alfred zuckte reflexartig mit den Schultern und betrachtete lieber seine Latschen, als den Blickkontakt mit seiner Therapeutin aufrecht zu erhalten. Ihm fiel nicht sonderlich viel Positives zur Klinik oder zu sich selbst ein...
 

„Da gibt es doch noch was, hm?“, stupste seine Therapeutin weich und er taxierte sie flüchtig. Okay, wenn sie meinte... An und für sich war er ja ganz gut darin, positive Aspekte zu finden. Zumindest wenn es nicht gerade um ihn und seine Essstörung ging. Diesbezüglich fiel ihm, neben der Gewichtsabnahme, nur noch eines ein:

„Ich..äh, ich hab nich’ gekotzt.“
 

„Ja, genau!“, anerkennend nickte ihm Frau Brooke zu. Ihr Stolz ließ ihn ungewollt die Nase kräuseln. Wieso konnte sie sich so sehr über sechs kotzfreie Tage freuen? Sollte es nicht umgekehrt sein? Immerhin ging es nicht um sie, sondern um ihn und um seine Genesung. Trotzdem kam ihm knapp eine Woche wie nichts vor und es war ja auch nicht so, als habe er in all der Zeit nicht häufig genug den Drang verspürt. Wäre er nicht hier eingesperrt, hätte er ihm auch nachgegeben. Womöglich konnte er den Enthusiasmus seiner Therapeutin deshalb nicht teilen. Außerdem war ihm die Thematik gegenüber seinen Eltern einfach viel zu peinlich! Die beiden fanden sein Erbrechen widerlich. Jeder normale Mensch fand es widerlich und dass er so eine perverse Angewohnheit pflegte, verurteilten seine Eltern doch über alle Maße...
 

„Alfred hat sich seit seiner Einweisung bei uns nicht mehr übergeben. Außerdem beginnt er langsam, sich auch in der Einzeltherapie zu öffnen“, erörterte Frau Brooke und sandte eine regelrechte Welle positiver Energie in Richtung von Alfreds Eltern, die davon jedoch wenig bis nichts zu bemerken schienen.
 

Geradezu verschämt legte seine Mutter die Hände im Schoß zusammen und stellte einen unsicheren Gesichtsausdruck zur Schau.

„Also..das ist doch gut. Denke ich. Ein Fortschritt-?“

„Wie meinen Sie das? Beginnt langsam, sich zu öffnen? Das klingt ja so, als würde er die Zähne nicht auseinander kriegen!“ Ein absurd heiseres Auflachen entfloh Alfreds Vater. Weniger, weil er die Aussage amüsant gefunden hatte, als vielmehr grotesk. Alfred konnte das sogar nachvollziehen. Üblicherweise war er ja äußerst leutselig und sein vorlautes Mundwerk hatte seine Eltern, insbesondere als er noch jünger war, mehr als ein Mal in Verlegenheit gebracht in der Öffentlichkeit. Aber sein Vater hatte überhaupt keine Ahnung davon, dass es Dinge gab, für die Alfred schlicht und ergreifend die Worte fehlten. Oder wenn er sie doch hatte, er sie nicht rausmanövriert bekam...
 

Sein Vater konnte ja nicht mal mit dem lobenden Tonfall etwas anfangen, den Frau Brooke eben an den Tag gelegt hatte. Er wusste nicht, wie das war, wenn man eine Woche irgendwo festsaß und gezwungen wurde, sich mit sich selbst und seinem verkorksten Leben zu befassen und deshalb den Drang verspürte, einen halben Supermarkt leer zu fressen und alles hinterher wieder erbrechen zu wollen.
 

Vielleicht demonstrierte seine Ignoranz auch nur, warum Alfred es nicht bewerkstelligte, auf sich selbst stolz zu sein: Es war selbstverständlich, dass er dieses Überessen und Erbrechen nicht machte. Weshalb sollte man ihm bitteschön dazu gratulieren, es unterlassen zu können? Das tat man ja bei normalen Menschen auch nicht...
 

„Wissen Sie, es fällt ihm nicht besonders leicht, sich auf unsere therapeutischen Gespräche einzulassen, Mr. Jones.“
 

„Unsinn. Mein Sohn redet sonst wie ein Wasserfall. Nicht wahr!“ Keine Frage. Trotzdem nickte Alfred geübt leichtfertig.

„Yeah...!“

„Wenn er nichts sagt, hat er vermutlich einfach keine Lust. Schüchtern ist er jedenfalls nicht. Das hat er gar nicht nötig!“ Die Tirade schien Alfred stimmlich erneut die Schulter zu klopfen. Schüchtern war er in der Tat nicht. Es war deswegen wenig überraschend, dass sein Dad die Sache ins rechte Licht zu rücken gedachte. Womöglich vermutete er, Alfred fände die therapeutischen Gespräche lästig oder langweilig und zeige aufgrund dessen keine sonderliche Redebereitschaft. Alfred wünschte, dem wäre so. Zugegeben, er mochte die Therapie nicht besonders gerne, aber selbst ihm war mittlerweile schmerzlich bewusst geworden, über eine Menge Dinge reden zu wollen, es aber aus diversen Gründen nicht zu können...
 

„Das ist auch eher weniger eine Frage der Schüchternheit. Und ich glaube auch nicht, dass es irgendetwas damit zu tun hat, dass er keine Lust hat“, gab Frau Brooke zu bedenken.
 

„..Entschuldigung?!“ Jetzt lüpfte Alfreds Vater doch irritiert eine Augenbraue. Auf seinem Unterarm landete erneut die Hand seiner Frau.

„Alfred redet halt nicht gerne darüber. Das ist doch selbstverständlich! Das tut doch keiner!“, zischte sie, als wäre er schwerbegreiflich, was ihm wiederum überhaupt nicht in den Kram passte und ihn postwendend zurückzischen ließ.

„Mag sein, aber dafür ist er ja nun mal hier!“
 

Alfred merkte, wie sich sein gesamter Mageninhalt zu einem stählernen Klumpen verdichtete, als ihn ein vorwurfsvoller Blick seitens seines Vaters traf. Dahinter stand die durchdringende Aufforderung, es seiner Therapeutin zukünftig nicht zusätzlich schwer zu machen.
 

Um dem zu entkommen, konzentrierte sich Alfred auf die Schatten der langen Wassergläser auf dem Tisch. In ihm schienen die Ameisen ihre gesamte Säure verspritzt zu haben, doch er merkte erschreckend wenig davon. Irgendwas war vorhin passiert, als es in ihm geknackt hatte. Seither funktionierte er bloß noch, derweil all seine Emotionen als steinharte Kapsel in seine linke Herzkammer umgezogen waren. Es tat nicht mal weh. Kaum etwas tat ihm mehr weh... Unter diesen Umständen war es sogar ein Leichtes, Frau Brookes prüfenden Seitenblick getrost zu ignorieren.
 

„So wie ich das sehe, betrifft sein Schweigen nicht nur seine Essstörung...“, ließ sie dezent durchscheinen. „Wie Sie wissen sollten, und vermutlich auch schon in Gesprächen mit Alfreds Hausarzt erfahren haben, gibt es für Essstörungen eigentlich immer Auslöser. Das kann vieles sein und ist auch von Patient zu Patient ganz unterschiedlich.“
 

„Ich versteh ja, dass er abnehmen möchte, aber doch nicht so.“ Der nächste Blick, den Alfred ignorierte. Dieses Mal von seiner Mutter, die durchweg hilflos klang. Viel hilfloser, als er sich gerade fühlte. Es war ironisch, wie sie es immer und immer wieder schaffte, ihn emotional zu überholen und in ihm somit das Bedürfnis zu wecken, sie beschützen und von all dem hier in Sicherheit bringen zu müssen. Er wollte einfach nicht, dass ihr etwas Kummer bereitete. Für sie schien jedes emotionale Päckchen zu schwer und anstatt zu helfen, strich sein Vater nur unbehaglich über sein rechtes Hosenbein.
 

„Hat Alfred Ihnen gesagt, dass er sich absichtlich übergibt, um abzunehmen?“, hakte Frau Brooke forsch nach.
 

„Na...“, stockend legte seine Mutter den Kopf schief, die Miene mit Selbstverständlichkeit gepflastert, „also, er ist ja seit Jahresbeginn sehr kräftig geworden...“
 

„Ich kann nachvollziehen, dass er wieder richtig fit sein möchte. Ich weiß nur nicht, warum er dann nicht einfach mehr Sport treibt“, stützte sein Vater die Beobachtung. Wenn die beiden doch mitbekommen hatten, dass er Gewicht zugelegt hatte, wieso hatte ihn keiner von ihnen je darauf angesprochen? Nicht, dass es Alfred lieb gewesen wäre, aber die Vorstellung, dass seine Eltern es zwar registriert und auch in Gesprächen untereinander erwähnt hatten, war erschütternd. Es war so, als hätten sie es nicht für wichtig gehalten, obschon er unter seiner äußerlichen Veränderung massivst litt. Oder hatten sie es eventuell deswegen nicht zur Sprache gebracht, weil sie keinen Sinn darin gesehen hatten? Weil sie nicht daran glaubten, dass er diese Pfunde je wieder verlieren konnte?
 

Alfred wünschte, sie würden aufhören, ihn anzustarren und ihm ein paar Worte reichen, mit denen er sich das Lächeln vom Gesicht kratzen und die Kugel in seinem Herzen in die Luft jagen konnte. Stattdessen ließen sie ihn links sitzen. Alles war gut, wie Feliciano sagen würde. Alles war gut...
 

„Mhm...“, dehnte Frau Brooke ihr Nicken, während sie beiläufig etwas auf dem Clipboard notierte. „Sie sagen also, Sie haben sich mit Alfred über seine Beweggründe unterhalten? Und auch darüber, wie lange er die Essstörung schon hat?“
 

Warum fragte sie das? Alfred begriff es nicht. Was wollte sie damit bezwecken? Er hatte ihr doch gestern erst offenbart, dass keiner von beiden sich wirklich danach erkundigt hatte. Glaubte sie ihm etwa nicht? Es sollte ihn wütend machen. Er sollte schreien, statt still zu sitzen, aber es geschah nicht.
 

In ihm geschah gar nichts.
 

Lediglich seine Mutter sah reumütig auf ihre Pumps hinab und zog ertappt die Unterlippe zwischen die Zähne. Alfred konnte damit nichts anfangen. Also meldete sich sein Vater zu Wort.

„Meine Frau hat mit ihm gesprochen. Als sie es herausgefunden hat. Da war ich nicht Zuhause.“ Es klang wie eine faule Ausrede dafür, absichtlich jede Gelegenheit für eine Unterhaltung mit seinem Sohn versäumt zu haben.
 

„Sie wissen also, wie lange er die Essstörung schon hat?“
 

„Ja. Seit..na...“, sein Augenmerk sprang zu seiner Frau hinüber, die ihm eilig verbal unter die Arme griff.

„Seit dem Frühjahr, vermutlich.“
 

Die Stirn kraus ziehend, übergab Frau Brooke gestisch das Wort an Alfred, dem sich noch immer nicht erschloss, warum sie jetzt darüber diskutieren mussten, wie lange er die Essstörung schon hatte. Die zwei würden bloß sauer werden, weil er sie und den Arzt ganz dreist belogen hatte. Dass er die Essstörung angeblich seit dem Frühjahr hatte, glaubte seine Mutter schließlich nur aus einem einzigen Grund: weil sie mit ihm im Behandlungszimmer gesessen hatte, als sich der Hausarzt mit Fragen an die brenzlige Thematik heran getastete hatte:

Wie lange machst du das mit dem Erbrechen denn schon?  – Schulterzucken. – Ein paar Wochen? – Kopfschütteln. – Ein paar Monate? – Nicken. – So drei, vier Monate? Also seit dem Frühjahr? – Zögern. Verhaltenes Nicken. – Und wie oft? – Gar nicht oft. – Alle paar Tage? – Kopfschütteln. Nein, fast nie. – So, so. Fast nie...
 

Es war nicht richtig gewesen, all seine Lügen waren nicht richtig gewesen; Alfred wusste das heute. Aber er hatte sich wie ein Schandfleck im strahlend weißen Behandlungszimmer gefühlt und es erschien ihm damals klüger, den Termin schnellstmöglich hinter sich zu bringen und dabei zumindest ein klitzekleines bisschen seiner Würde zu retten. Seine Mutter wäre am Boden zerstört gewesen, wenn er gestanden hätte, sich schon seit rund einem Dreivierteljahr zu übergeben. Von dem permanenten Überfressen, das ihn schon vorher in seine Gewalt gebracht hatte, hatte er auch kein Sterbenswörtchen verraten. Es war so beschämend und er konnte es nicht erklären...
 

Seine Eltern würden ihn köpfen, wenn sie je erfuhren, wie viel Taschengeld er in Essen investiert hatte. Dennoch rang er sich nun ein geständiges „Bisschen länger“ ab, das er mit mildem Schmunzeln garnierte, damit niemand dadurch zu Schaden kam. Höchstwahrscheinlich würde er nie aufhören können, in Gegenwart seiner Eltern der Junge zu sein, der er für sie sein Leben lang gewesen war. Und dieser Junge lächelte nun mal.
 

„Alfred, ich denke, das ist jetzt ein guter Zeitpunkt, um mal zu versuchen, deinen Eltern zu erzählen, was du in der Gruppentherapie erzählt hast und was du im Baseballteam erlebt hast. Hm?“ Die Ermutigung nahm ihn bei der Hand und wollte ihn in Richtung Wahrheit begleiten, aber Alfred regte sich nicht.

„Ach, das...“, kam es ihm von den nervös grinsenden Lippen, derweil er die Knie etwas weiter auseinander schob, die Füße aber dafür näher zusammen.
 

„Was, das?“, frug sein Vater nach, nur um sich im gleichen Atemzug an Frau Brooke zu wenden. „Mein Sohn ist ein erstklassiger Baseballspieler und spielt schon seit der Grundschule. Was hat das jetzt mit seinem Problem zu tun?“
 

Problem. Keine Essstörung, sondern ein Problem. Alfred hörte es glasklar: er war nicht der einzige Anwesende, der das hässliche Wort nicht in den Mund nehmen konnte. Selbst Zuhause hatte sein Vater es nie ausgesprochen, aber von ihm wurde hier verlangt, das zu tun?! Wie sollte er das schaffen, wenn kein Mann, den er kannte und respektierte, mit gutem Beispiel voranging?
 

Sein Vater war ihm in vielerlei Hinsicht ein glänzendes Vorbild gewesen und Alfred fühlte sich seelisch wund, wenn er sich daran erinnerte, wie er als Kind seinen Vater idealisiert hatte. Sein Vater war der Mann gewesen, der stets unbesiegbar, groß und mächtig erschien. Alles richtig machte und hart arbeitete, aber gleichzeitig liebte und versorgte. Er stand früh auf, er blieb lange weg, er verdiente reichlich Geld und an den Wochenenden hatte er Alfred im Freibad das Schwimmen und Tauchen beigebracht, war mit ihm zum Baseball gegangen und ins Kino (offiziell in einen Disney-Film, aber inoffiziell hatten sie einen dieser Actionfilme gesehen, für die Alfred eigentlich noch zu jung war, aber sein Vater hatte an der Kinokasse seinen Charme spielen lassen und es war immer ein großes, popcornsüßes Geheimnis zwischen ihnen gewesen) und wenn sie einen Ausflug gemacht hatten, die Straße ruhig war und weit und breit kein anderes Auto in Sicht, hatte Alfred gelegentlich auf dem Schoß seines Vaters sitzen dürfen, das Auto lenkend und zugesichert bekommend, dass er am Tag seines 16. Geburtstags sein eigenes Auto haben würde.
 

So war es auch gekommen. Der Wagen hatte am 4.7. da gestanden, in der Einfahrt ihres Hauses, aber keinem von ihnen war nach einer Spritztour zumute gewesen. Alfred hatte lediglich zu viel Geburtstagstorte in sich reingeschaufelt und die Karten für die Yankees vermisst. So wie ihm vieles andere fehlte, zum Beispiel die Freunde, von denen er abends, als seine Eltern von der Arbeit zurück waren, behauptete, sie wären nachmittags bei ihm vorbei gekommen und hätten mit ihm die reichhaltige Schokoladen-Sahnetorte vertilgt.
 

Fakt war, dass er die Torte allein aufgefressen hatte und dass sein Vater ihn schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr spielen sehen hatte. Wie kam es also, dass er jetzt so große Töne spuckte? Dass er es klingen ließ, als sei er Alfreds Coach?

Alfred kam sich schön geredet vor. Er war nicht fit, er war nicht in Form, er war im Moment alles andere als ein guter Spieler. Sein Dad log, allen voran wohl für sich selber, da er mit der Wahrheit genauso wenig zu schaffen haben wollte wie Alfred...
 

Jener räusperte sich versteckt, all seine zehn Finger waren kalt und lagen nutzlos auf dem Stoff des Sessels, als er stumpf zu reden begann.

„Ich bin nich’ mehr im Team, Dad.“ Die traurige Wahrheit schlitzte ihm die Kehle auf. Es blutete, aber er musste nicht husten. Lediglich die Emotionskapsel in seinem Herzen schlenkerte mit jedem Pumpen munter in der kleinen Kammer umher.
 

„Was? Die haben dich nach der letzten Saison rausgeworfen?!“
 

„Nein, ich..ich bin ausgetreten...“
 

„Du...!?“ Die Fassungslosigkeit übermannte seinen Vater. Ihm stand die Enttäuschung quer übers ganze Gesicht geschrieben. Enttäuschung darüber, dass sein Sohn etwas so Dummes getan hatte wie das Team zu verlassen und dafür lieber die Zeit mit etwas so Unmännlichem wie seinem Problem verplemperte.
 

Kaum dass Alfred diese Botschaft in der Miene seines Vaters entschlüsselte, sah er abrupt weg. Der Absturz vom absoluten Traumkind zur hochgradigen Enttäuschung war soeben perfekt geworden...
 

„Aber Liebling, wieso denn?“ Ebenfalls bestürzt, beugte sich seine Mutter ein Stückchen auf ihrem Sessel vor. Ihre Augen glichen der Tiefsee und drohten Alfred mit ihrer Trauer zu ertränken. Bevor er gar keine Luft mehr bekam, schüttelte er hastig den Kopf.

„Ich wollt’ halt nicht mehr.“
 

„Aber wenn du keinen Sport mehr gemacht hast, ist es doch auch nicht verwunderlich, dass du zugenommen hast. Vor allem, wenn du so viel isst. Das-“

„Das wird er wohl selber wissen, Amanda!“

„Ach ja? Wenn er das weiß, warum sind wir denn dann heute hier?!“ Dieses Mal ließ sie sich nicht über den Mund fahren, sondern wandte sich ruckartig ihrem Ehegatten zu. Die atmosphärische Kriegsfront war binnen weniger Sekunden wieder zu voller Größe herangereift und verdrängte Alfreds Präsenz gänzlich.
 

„Bitte...“, intervenierte Frau Brooke abermals und hob gleich beide Hände, um Frieden zu stiften. „Alfred, möchtest du es ihnen nicht wenigstens versuchen zu erklären?“
 

„Ja, erklär uns das. Du hast so viele Jahre gespielt. Warum hast du einfach von einem Tag auf den anderen das Handtuch geworfen? Und warum erfahren wir das erst jetzt? Was soll diese ganze Geheimniskrämerei?“ Unwissenheit und Ungeduld ließen seinen Vater wütend klingen. Viel wütender, als Alfred es ertragen konnte...
 

Mit einer spitzen Frage kam ihm seine Therapeutin provokativ zur Hilfe.

„Hat ihr Sohn denn sonst keine Geheimnisse vor Ihnen?“
 

„Nein, also..Sie wissen doch, wie das in dem Alter ist. Da redet man mit seinen Freunden, nicht mit seinen Eltern.“
 

Wenn man denn Freunde hat...
 

Geknickt ließ Alfred die Schultern hängen und griff trüb nach den Zipfeln seines Hemds, um sie glatt zu streichen. Er konnte schlecht atmen und das hatte nichts damit zu tun, dass er gefühlt verblutete, sondern dass er schon die ganze Zeit über unbewusst den Bauch einzog. Was sollte er denn noch zu seiner Verteidigung sagen? Er war doch nicht so dämlich, zu glauben, übermäßiges Essen und null Bewegung würden sich nicht auf der Waage rächen. Aber er hatte es nicht aufhalten können. Er hatte es nicht geschafft. Er hatte alles gut machen wollen. Er hatte sich und somit der Familienharmonie helfen wollen...

Doch anstatt sich mit der Essstörung dauerhaft emotional auszubalancieren, hatte sie ihn irgendwann komplett zu Fall gebracht. Und seine Eltern hielten ihn jetzt für ein disziplinloses, dummes Problem, von dem sie von Minute zu Minute mehr enttäuscht wurden... Er wollte ihnen nichts mehr erklären müssen. Er servierte ihnen bloß noch das Lächeln, was sie ihm anerzogen hatten.
 

Seine Stille richtig interpretierend, sprang Frau Brooke wieder für ihn in die Bresche:

„Sie sollten wissen, dass ihr Sohn aus dem Baseballteam rausgemobbt wurde. Von seinen eigenen Freunden. Und dass er sich nicht getraut hat, Ihnen das zu sagen.“
 

„Oh Gott! Gemobbt?!“ Das wahrlich nicht erwartet habend, schlug sich seine Mutter geschockt eine Hand vor den Mund. Ihr Entsetzen drängte sich klamm an ihren French Nails vorbei. „Aber wieso denn? Ihr kennt euch doch alle schon so lang! Was-was war denn da los, Alfie?“
 

Obwohl Alfred dank seiner Therapiegespräche endlich verstanden hatte, dass es nicht seine Schuld war, kam er sich gerade wie der einzig Schuldige vor. Wäre er normal, wäre er nicht gemobbt worden. Wäre er normal, wäre er keine Enttäuschung.
 

Angespannt flüchtete sein Blick einmal durch die ganze Runde wie ein rastloses Gespenst, das nirgends seine letzte Ruhestätte zu finden fähig war.

„Brad hat’s raus gekriegt und dann allen erzählt...“ Nach all den Jahren der Freundschaft, wussten seine Eltern sehr genau, wer Brad war. Brad, Chris, Simon, Drake; es waren immer die gleichen Jungs, seit der Grundschule. Alfred war mit ihnen nicht nur im Baseballteam gewesen. Er war mit ihnen ins Pfadfinderlager und ins Sommercamp gefahren, und er wollte keinen von ihnen jemals wiedersehen. Sie alle hatten gelacht...
 

„Jetzt lass dir doch bitte nicht alles aus der Nase ziehen, Kumpel. Was war los? Was hat er allen erzählt?“
 

„Na das mit..mit...!“, um Hilfe bittend glitt sein Augemerk zu seiner Therapeutin hinüber, die ihn als einzige Anwesende nicht ständig mit Fragen traktierte oder mit vorwurfsvollen Blicken quälte. Sie mochte wenig wissen und er bereute so sehr, dass er ihr im Vorfeld kein größeres Vertrauen hatte entgegen bringen können, denn er merkte, dass er sie brauchte. Er brauchte irgendeinen Menschen, der ihn kannte und der ihn unterstützte, damit er diese Schlacht hier heil überstand. Er bekam es alleine einfach nicht hin. Er kriegte es nicht gesagt und Frau Brooke wusste das. Entsprechend nickte sie ihm besänftigend zu und nahm ihm die Erwartungshaltung von den Schultern.

„Einer von Alfreds Freunden hat heraus gefunden, dass Alfred eine Essstörung hat und es im Team publik gemacht. Alfred ist daraufhin von allen so stark gemobbt und geschnitten worden, dass er aus dem Team ausgetreten ist. Und zwar schon im Winter, nicht erst im Frühjahr.“
 

Die Hiobsbotschaft ließ die Hand seiner Mutter wie in Zeitlupe herabsinken. Für ihr eigentlich unaufdringliches Rouge wirkte sie mit einem Male viel zu blass. Die Realität stellte eine Überforderung sondergleichen für sie dar.

„A-aber das ist doch gar nicht möglich! Du bist doch immer regelmäßig zum Training gefahren und hast dich auch an den Wochenenden oder zwischendurch mit den Jungs getroffen. Das hast du immer gesagt! Selbst in den Sommerferien noch, bevor wir dich hier her gebracht haben!“
 

So sahen sie aus: all seine Lügen. All seine verzweifelten Lügen, die sich soeben demaskierten und sogar seinen Vater schockstill machten. Etwas Unbenennbares schien ihn seelisch durchzurütteln. So als habe er keinen 16-Jährigen vorm inneren Auge, sondern seinen kleinen Jungen, der nicht mehr tat, was er liebte, weil andere ihn gewissenlos vom Spielfeld gegrault hatten... Und der kleine Junge hatte kein Wort darüber verloren, weil er viel zu viel Angst davor gehabt hatte, seinen Eltern den Grund des Mobbings zu beichten...
 

„Ich nehme mal an“, schaltete sich Frau Brooke leise ein, „dass Alfred nur gesagt hat, dass er noch zum Training geht und sich mit seinen Freunden trifft, damit keiner von Ihnen Verdacht schöpft. Stimmt’s, Alfred?“
 

Für ihre clevere Kombinationsgabe erntete sie eine wortlose Bestätigung von ihm.
 

Im Raum tat sich nichts.
 

Viel zu lange, wie Alfred fand, der sich befahl, den Blick höchstens zwischen den Wassergläsern und seinen Latschen hin und her wandern zu lassen. Konnte er bitte weg und raus und von irgendjemandem nicht entgeistert angestarrt, sondern einfach nur umarmt werden? Wo waren seine Mom und sein Dad bloß hin? Warum konnten sie selbst jetzt nicht erkennen, was er brauchte?
 

Konnten sie nicht?
 

Oder wollten sie nicht?
 

„Was geht Ihnen gerade durch den Kopf? Jetzt, da Sie wissen, dass Ihr Sohn die Essstörung schon länger hat? Und dass er Ihnen nichts davon erzählen wollte? Dass er Ihnen sogar verschwiegen hat, dass er deswegen von seinen Freunden schikaniert wurde?“
 

„Also, ich-es...“ Ein hartes Seufzen zerhackte die Absicht seines Vaters, etwas zu sagen, von dem dieser ausnahmsweise mal nicht wusste, was es sein sollte. Unkoordiniert schwebte seine rechte Hand in der Luft, der dazugehörige Ellbogen war auf die Lehne gestützt und seine Augen waren zwar kritisch verengt, nahmen aber nur desillusioniert das Nichts in den Schwitzkasten. „Was soll ich dazu sagen?! Ach verdammt, Alfred...! Warum machst du das nur? Es ist doch klar, dass sich Jungs in dem Alter das Maul darüber zerreißen.“
 

„Was willst du denn jetzt damit sagen?! Dass es Alfies Schuld ist, wenn seine Freunde ihn mobben?!“ Anders als die Male zuvor, drehte sich seine Mutter nun nicht mehr nur mit dem Oberkörper in Richtung ihres Mannes, sondern mit dem ganzen Körper. Ihre blauen Augen brannten lichterloh und fingen züngelnd den Blick ihres Mannes ein.
 

„Nein! Ich wollte damit nur sagen, dass Jungs halt so sind!“ Seine Handfläche schlug prompt auf die Lehne, ließ Alfreds Mutter allerdings in keiner Weise zurückrudern.

„Du meinst, dass Männer wie du so sind?!“
 

„Männer wie ich?! Entschuldige mal, wer kauft den permanent diese Frauenzeitschriften, in denen immer mit irgendeiner neuen Diät geworben wird? Und wer geht zwei Mal die Woche zum Yoga und kippt sich alle paar Monate drei Mal täglich diese merkwürdigen Abnehmdrinks rein, anstatt was Vernünftiges zu essen?! Irgendwoher hat der Junge den Unfug doch! Und meine Schuld ist es ganz sicher nicht!“
 

„Natürlich nicht! Es ist ja nie irgendwas deine Schuld! Nie! Du machst immer alles richtig, Mr. Perfect! Während ich mich anstrengen kann, wie ich will! Aber dir fällt das gar nicht auf! Dir ist nie irgendwas gut genug, was ich mache!“
 

„Das ist doch totaler Quatsch, Amanda! Und ich kann’s nicht mehr hören! Ständig die gleiche, alte Leier! Ich tue alles für euch! Und du weißt, wie’s in der Firma läuft, seit der Senior an seinen Junior übergeben hat! Ich hab’s dir schon tausend Mal gesagt!“
 

„Darum geht’s doch hier gar nicht! Wir sind dir einfach vollkommen egal geworden!“
 

„Jetzt geht das wieder los...! Du bist völlig paranoid! Jedes Mal, wenn ich wieder nach Kanada fliege und jedes Mal, wenn ich zurückkomme, hör ich von dir das gleiche! Meinst du, da freu ich mich noch, nach Hause zu kommen?!“
 

„Ich wusste es! Ich wusste es...!“
 

„Nein, verdammt! Du hörst mir nicht zu! Du bist doch immer diejenige, von der ich nur noch zu hören kriege: Geh doch einfach für immer! Du willst ja sowieso lieber bei-!“
 

„Hör auf! Alfie ist hier!“ Einhalt gebietend schnellten die Hände seiner Mutter hervor und machten für den Bruchteil einer Sekunde den Eindruck, als wollten sie sich auf den Mund ihres Mannes pressen. Jedoch schien die Erwähnung ihres Sohnes zu genügen, damit Alfreds Vater mitten im Satz verstummte.
 

Beide guckten verstört zu Alfred hinüber, in dessen Gegenwart sie normalerweise nicht die Kontrolle verloren. Anprangernde Worte, bedeutungsschwangere Vorwürfe und verletzende Anmerkungen; all das fiel gelegentlich auch in Alfreds Anwesenheit. Aber der eigentliche Streit fand stets hinter verschlossenen Türen statt. Dort, wo sie glaubten, ungehört zu sein.
 

Sie hielten ihn ja für so dumm...
 

Die Hemdzipfel noch immer fester umklammernd als nötig, kam es Alfred so vor, als lutsche er auf einem uralten Geldstück rum. Seine Mundwinkel bohrten sich in seine Grübchen, als sich ein schales Flüstern den Weg aus seinem Mund suchte und den dicken Leib durch seine Lippen zwängte.

„Er will lieber bei Matthew in Kanada sein...“
 

Widerlich.
 

Die Wahrheit war widerlich und ließ seine Mutter hörbar nach Luft schnappen.

„...Du hast es ihm gesagt, Frank?!“, wallte ihre Stimme schrill auf.
 

„Nein! Ich hab ihm gar nichts gesagt!“
 

„Und woher weiß er es dann?! Wie konntest du nur? Wie konntest du? Wir-wir hatten doch...!“ Die letzten Worte fielen ihrer tsunamiartigen Tränenflut zum Opfer und wurden fort geschwemmt, bevor sie von irgendjemandem identifiziert werden konnte.
 

„Ich hab wirklich keine Ahnung, wie Alfred davon erfahren hat! Ich-!“ Die trostlosen Beschwichtigungen und Beschwörungen, bei denen Frank Jones panisch zwischen seiner Frau und seinem Sohn hin und her schaute, blieben fruchtlos. Die Tatsache, dass Alfred entgegen ihrer aller Erwartung von Matthews Existenz wusste, hatte ihm definitiv den Boden unter den Füßen weggerissen. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen.
 

„..wie konntest du nur? Wie konntest du uns das nur antun? Nie denkst du an Alfie und mich..!“ Überstürzt riss seine Mutter zwei Taschentücher aus der Tempobox auf dem Tisch, um die haltlos purzelnden Tränen wegzuwischen.
 

„Schatz, ich hab doch gesagt, ich weiß nicht-!“
 

„Nenn mich nicht Schatz! Du Mistkerl! Du gottverdammter Mistkerl!“
 

„Mr. und Mrs. Jones, wenn ich Sie bitten dürfte, sich zu beruhigen.“ Das Clipboard beiseite stellend, gelang es Frau Brooke endlich, sich in das völlig ausgeartete Familienchaos einzuklinken.
 

Alfred für seinen Teil kam sich wie paralysiert vor. Das, was hier gerade geschah, das geschah nicht wirklich. Oder? Es kam ihm surreal vor. Zu surreal. In den hintersten Ecken seines Vorstellungsvermögens waren die Dinge häufig eskaliert und hatten ihn immer so ergriffen, ihn so viel sagen und schreien und weinen lassen, aber jetzt fiel ihm rein nichts ein. Sein Kopf war leer, sein Herz war leer und auf seiner Zunge ruhte keine einzige Silbe. Da war nur der metallisch widerliche Geschmack einer verrosteten Wahrheit.
 

Wie war es möglich, dass er hier saß, absolut ruhig, und im Hinterkopf all seine Panik jaulen und kratzen hörte, diese aber nicht zu ihm durchdrang? Er und seine Mom, sie waren jetzt abgeschrieben, nicht wahr? Die Bombe war geplatzt. Seine Eltern wussten, dass er wusste, dass es in Kanada noch eine Familie gab, zu der sein Vater viel lieber gehören wollte. Keiner von beiden musste sich mehr an Alfred festhalten oder sich um sein vermeintliches Wohl scheren. Sie konnten ihn fallen lassen und offiziell die Scheidung einreichen.
 

Ende.
 

Aus.
 

Vorbei.
 

Keine Familie mehr.
 

Kein Grund zum Streiten mehr.
 

Er hatte es immerhin versucht, richtig? Er hatte rund ein Jahr lang all seine Energie und all seine Kraft aufgebracht, um ihr Auseinanderbrechen zu verhindern. Er hatte ahnungslos und dumm getan, damit sie kalkuliert das Elternspiel mit ihm spielten und ihre Trennung zumindest aufschoben, bis er volljährig und aus dem Haus war. Aber er hatte nicht so lange durchhalten können. Er war nicht stark genug gewesen. Seine Bemühungen hatten nicht gereicht. Er war stattdessen krank geworden.
 

Er hatte alles vermasselt.
 

Ob er noch lächelte? Alfred musste die rechte Hand heben und mit den Kuppen von Zeige- und Mittelfinger einmal geistesabwesend über seinen Mund streichen. Dort war alles an seinem Platz. Ganz so, wie es sich gehörte. Rein äußerlich betrachtet, war er vollkommen okay, obgleich er hartnäckig nichts fühlte.
 

Er konnte nicht mal etwas mit dem argwöhnischen Gesichtsausdruck anfangen, den seine Therapeutin ihm nun widmete, als sie sich erhob:

„Alfred, ich würde mich gerne mal mit deinen Eltern alleine unterhalten. Ich glaube, es gibt hier ein paar wichtige Dinge, die unbedingt geklärt werden müssen, bevor wir uns überhaupt zu dritt zusammen setzen können. Ist das in Ordnung für dich, wenn du die heutige Therapiestunde etwas eher verlässt?“
 

Ihre Hand auf seiner Schulter ließ ihn automatisch aufstehen und ihn wie ein Hündchen neben ihr her trotten.

„Ja, sicher!“ Es war befremdlich, die eigenen Schritte nicht zu spüren. Alfred gesellte sich gedanklich zu Feliciano auf die Hüpfburg; er hoffte nur, er schwankte nicht. Doch die Welt behielt ihr Gleichgewicht, ihr Sonnenlicht und ihre Zeit. Sie drehte sich einfach weiter, obgleich er immer davon ausgegangen war, sie würde mit der Wahrheit stehen bleiben.
 

„Gut...“ Die Türe öffnend, gesellte sich Frau Brooke mit ihm auf den Gang hinaus, wo, mit Ausnahme von zwei Pflegern, gerade niemand zu entdecken war.
 

Die Hand an seiner Schulter fuhr einmal anerkennend hinüber.

„Du warst ganz prima gerade, Sonnenschein. Ehrlich. Ich weiß, dass das alles schwer ist. Vor allem zu Anfang. Tut mir auch leid, dass ich dich ein bisschen früher entlassen muss und dass alles etwas anders gelaufen ist als geplant. Aber ich muss mich mit deinen Eltern wirklich dringend noch mal alleine unterhalten. Wir zwei sehen uns morgen und reden dann über alles. Und falls heute noch irgendwas sein sollte, egal was, sprich eine Schwester oder einen Pfleger an. Einverstanden?“
 

Was sollte denn sein? Alfred musste blinzeln, wobei ihm ein lang gezogenes „okay!“ entwich und das Kügelchen gegen seine Herzwand klackte. Frau Brooke sollte ihn nicht so kritisch ins Visier nehmen; aus unerfindlichem Grund kam er sich sonderbar dabei vor. Gut, er war sonderbar und kaputt und sie wusste jetzt, dass er sie tagelang belogen hatte und seine Familie der Bezeichnung Familie keine Ehre machte und es nichts mehr zu kitten oder zu besprechen gab. Er konnte nichts gut machen. Er mochte ein Samtsäckchen voller guter Eigenschaften besitzen, aber das waren nur Plättchen mit Wörtern drauf. Er könnte sie runterschlucken, alle zusammen, und dann wieder erbrechen, alle zusammen. So lange, bis sie entweder auf ihn abfärbten und er wieder er selbst war – oder bis er an ihnen zugrunde ging.
 

„Wenn du möchtest, kannst du ja noch zum Rest der Kunsttherapiestunde gehen? Findest du den Weg? Du musst die Treppe runter und dann-“
 

„Ja, kein Problem! Ich weiß, wie ich von hier aus da hin komm!“ Er war schließlich nicht dumm, selbst wenn seine Eltern das immer gedacht hatten. Er hatte einen BMI über 26 und er hatte ein Problem, aber er war nicht dumm und er hörte seine Mutter bis hier hin durch die angelehnte Tür weinen. Sie sollte aufhören. Es war doch eh alles vorbei.
 

Vorbei, vorbei, vorbei...
 

„Okay, bis morgen dann.“
 

Mit schnellen Schritten steuerte er die Treppe an und nahm die Verabschiedung seiner Therapeutin kaum mehr zur Kenntnis. Auch Blickkontakt vermied er weiterhin tunlichst; ihm gefiel dieser Ausdruck in ihren Augen nach wie vor nicht. Was hatte sie denn erwartet?
 

Er wusste ja nicht mal, was er selbst erwartet hatte...
 

Vor lauter Angst war er halb verrückt geworden, hatte nicht schlafen und nicht verschnaufen können. Doch nun war er taub – abgesehen von der wieder und wieder und wieder gegen die Wände seiner Herzkammer klackenden Kugel. Wenn er nur wüsste, was mit ihm los war...
 

Alfred stieg die letzten beiden Stufen hinab und trabte den Flur entlang, in dem unerwartet Aufruhr ausbrach. Eine Krankenschwester überholte ihn mit einem gehetzten „Hier lang!“ und wies zwei Sanitätern, die eine Liege mit sich schoben, den Weg. Sie mussten das Gebäude durch den Haupteingang betreten haben und drängten Alfred mit ihrer Hektik gegen die Wand, als sie an ihm vorbei schneiten. Perplex beobachtete er, wie sie am Ende des Flures rechts abzweigten. So als würden sie, ganz genau wie er, den Kunsttherapieraum anpeilen. Die alles entscheidende Frage war jedoch: Was hatten sie dort zu suchen?

{ 20. | richtig und falsch }

Der Platz hatte nicht leer zu sein. Das war nicht richtig.
 

Mit der Gabel durchkämmte Alfred trübselig seinen Tomatensalat mit Basilikum und Mozzarella, der auf seinem Abendessentablett stand. Auf dem großen Teller in der Tablettmitte wartete eine fade Scheibe Graubrot mit Margarine und Putenbrust auf ihn. Daneben befand sich noch ein Schälchen wässrig ausfallendes Rührei, das nach nichts und wieder nichts schmeckte. Selbst die grün hervorstechenden Kräuter darin erledigten ihren Job als Geschmacksträger mehr schlecht als recht.
 

Dieses Abendessen war nicht richtig. Einfach nicht richtig.
 

Ungeniert sah Alfred zum geschätzten siebten Mal binnen der letzten Viertelstunde auf die Plastikuhr über der Eingangstür und fragte sich, wie lange es wohl dauern würde? Wann endlich käme eine Schwester oder ein Pfleger über den Flur und trieb Feliciano wie ein entlaufenes Schaf vor sich her? Sein Platz konnte nicht leer bleiben. Das war nicht richtig.
 

Nichts war mehr richtig...
 

Von dem verhaltenen Klirren des Bestecks abgesehen, war es im Speisesaal gespenstisch still. Niemand schien etwas zu sagen zu haben oder gar sagen zu wollen. Keiner wagte es, auch nur in Richtung des Eingangstisches zu schielen, an dem für üblich der zitternde Italiener saß und sein Essen verschmähte. Alfred konnte aber nicht wegsehen. Selbst wenn er nichts fühlte, so wusste er doch, dass all das hier falsch war. Von Grund auf falsch.
 

Felicianos Platz sollte nicht leer sein. Aber er war es.
 

Feli war fort – und Alfred hatte nicht die geringste Ahnung, wie es seinem Mitbewohner ging. Als er vorhin von der missglückten Familientherapie aus zur Kunsttherapie hatte gehen wollen, hatte die Abwärtsspirale endgültig ihre Drehung aufgenommen. Im ersten Moment hatte die Hektik der Krankenschwester sowie die Anwesenheit der beiden Sanitäter Alfred noch verwirrt, im nächsten Moment war er ihnen hinterher gerannt und um die Ecke gehechtet, wo er eine fahle Patiententraube vor dem Kunstraum vorgefunden hatte. Sie hatten dort gestanden, die vielen Mädchen und Jungen; kollegial entrückt weiß, so als könnten sie allesamt einen Schritt zurück machen und ereignislos in der Wand verschwinden. Nur noch spuken, nicht mehr sein.
 

Die Hände verkrampft gefaltet, hatte Lili in ihrem perlrosanen Jäckchen gegen unsichtbare Tränen angekämpft – bis ihr aufgescheuchter Blick auf Alfred fiel, so als erkenne sie ihn wieder, obwohl er in einer ganz anderen Welt ansässig war. Alfred wusste nicht, wie sich das ergeben hatte, aber plötzlich war er nah genug gewesen, um über die unsichtbare Schwelle zwischen den Welten zu treten und dem Mädchen zu geben, was es benötigte: eine kurze, tröstende Umarmung. Das, was so häufig gebraucht und viel zu oft verwehrt wurde.

In ihm eine klickende Kugel, die mit den Wallungen seines Blutes in seiner Herzkammer auf- und abwog und zu all dem den metallenen Kopf schüttelte. Keine Gefühle und keine Umarmung für ihn, nicht mal von seiner Mom oder seinem Dad; aber darüber dachte er nicht nach. Alfred lief auf Autopilot. Das reichte ihm. Das reichte vor allem, um eine innerlich vollkommen aufgelöste Lili emotional so weit zu stabilisieren, dass sie nicht zu weinen begann.

Aber es reichte nicht, damit sie ihm etwas sagte. Die rasche Umarmung war schweigend vonstatten gegangen und Alfred wusste im Nachhinein nicht mal mehr, ob er hinterher gefragt hatte, was geschehen war. Er war sich eigentlich ziemlich sicher, es getan zu haben, allerdings hatte ihm niemand eine Antwort gegeben.
 

Sofia hatte erstickt an ihrem türkisfarbenen Halstuch mit dem Eulenprintmotiv gezupft und sich an zwei Zipfeln Halt gesucht. Natalia hatte sich mit verschränkten Armen direkt am Türrahmen postiert und ihre Lippen so stark aufeinander gepresst, dass sie einander verschlangen. Kein Mund, kein falsches Wort. Die verhängnisvoll schlanke Eiskunstläuferin schien sich aus freien Stücken zum Bindeglied zwischen den draußen wartenden Patienten und den Geschehnissen im Kunsttherapieraum erklärt zu haben. Dass sie eine kerzengerade Reglosigkeit aus dem Effeff beherrschte, hatte Alfred bereits mehrmals im Hinterkopf notiert. Jedoch war ihre Reglosigkeit zu diesem Zeitpunkt anderer Natur gewesen. Es erweckte den Eindruck, als habe sie über sich ein Verbot verhängt, das ihre Atemzüge drosselte und ihre Lunge nur mit der Menge an Sauerstoff füllte, die von Nöten war, um einer Ohnmacht zu entkommen. Natalia wollte keine trügerische Regung machen, denn sie hatte Angst. Angst, dadurch die anderen Patienten in Panik zu versetzen.

Alfred hatte nie erlebt, dass das Mädchen Angst gezeigt hatte. Weder in der Gruppentherapie, noch bei den gemeinsamen Mahlzeiten, wo sie ihr Essen wie Gegner zu behandeln pflegte, die sie unbarmherzig zerschnitt und zerstieß, während sie rein äußerlich so konzentriert blieb, als entschärfe sie eine Bombe.
 

Als ihr Blick Alfreds Gesicht streifte, war es, als ohrfeigte sie ihn. Der Klarheit zuliebe. Er sollte bloß nicht zunichte machen, was sie minutenlang zu vermeiden fähig war. Nur keine Massenpanik schüren.

Alfred verstand.

Wenn er etwas erfahren wollte, führte ihn kein Weg an dem Kunsttherapieraum vorbei. Ein gedämpftes Stimmwirrwarr drang bis auf den Flur hinaus und ließ ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, ins Ungewisse stürmen. Warum auch nicht? Was sollte ihm schon noch zustoßen? Für die anderen war es vielleicht gefährlich, aber für ihn? Keineswegs! In ihm war längst alles kaputt.
 

Unter Alfreds Schuhsohlen quietschte es, als er scharf bremste. Die bereits auf dem Flur zu vernehmenden Stimmen stammten von drei Klinikärzten, den beiden Sanitätern und Antonio, welcher aber nicht an der medizinischen Konversation teilnahm. Stattdessen war er über die Liege gebeugt, über der die Konversation wie eine tiefschwarze Wolkenfront thronte. Zwischen den Körpern der umringenden Anwesenden hindurch, sichteten Alfreds blaue Augen Antonios Hände, die eine bleiche, aber von Natur aus eigentlich wohl gebräunte Hand umschlossen, ihr Beistand leisteten und sie mit Worten salbten. Antonio redete Spanisch. Nein, Italienisch! Nein, beides durcheinander! Es war ein melodisches Klagelied, das ihm einfühlsam und leise von den Lippen tropfte und den Jungen mit Silben benetzte, die den Charakter von Weihwasser erschreckend genau zu imitieren fähig waren.
 

Alfred war nicht imstande gewesen, über die Sanitäter und Ärzte hinweg zu gucken. Sie hatten eine Mauer aus weißen Kittel und dunkelblauen Uniformhemden gebildet, einer widerspenstigen Kette gleich. Sofort suchte Alfred nach dem schwächsten Glied und schubste es keine halbe Minute später beiseite.

„Was zur Hölle...?!“, fauchte Arthur postwendend auf. Vielleicht sah er böse aus, vielleicht auch nicht. Alfred hatte nicht drauf geachtet, sondern auf Feliciano hinab geschaut, der durch einen bereits gelegten Zugang in der Armbeuge etwas gespritzt bekam. Der andere Sanitäter stellte derweil die Geschwindigkeit der angehängten Infusion ein und die Ärzte gaben Instruktionen in ihrem fachmännischen Kauderwelsch, das wie eine Elefantenherde über Antonios weiche Worte hinweg trampelte.
 

„Was ist passiert?“ Fassungslos hob Alfred die rechte Hand und wollte Feli berühren, wagte es aber nicht. Es schien, als sei ein unsichtbares Sauerstoffzelt um den abgemagerten Körper errichtet worden, der eine beachtlich tiefe Kuhle zwischen den Schlüsselbeinen beherbergte. Felis Ellbogengelenk war deutlich dicker als sein magerer Arm und sein Haar war ein zerzaustes Nest dünner, strohartiger Strähnen, die ihm teils in die Stirn fielen und teils hinters Ohr gestrichen worden waren.
 

Einer der Ärzte warf sich sein Stethoskop wieder um den Hals wie einen modischen Schal. Offenbar war er nicht zufrieden mit dem, was er gehört hatte. Sein Kollege sprach vom letzten Blutbild und Urintest, die ein Mal wöchentlich pauschal durchgeführt wurden an den Patienten. Doch es gab keine Antwort. Zumindest nicht für Alfred, der bereits im nächsten Moment mitverfolgte, wie die Ärzte den Sanitätern grünes Licht gaben, woraufhin einer der beiden den Notfallkoffer vom Boden aufhob und ihn neben Felicianos dürre Beine auf die Liege verfrachtete. Dann setzte sich die Meute in Bewegung. Samt Liege, wohlgemerkt. Sie nahmen Feli einfach mit! Das konnten sie doch nicht machen! Er war doch nur bewusstlos! Bestimmt kam er in ein paar Minuten wieder zu sich!
 

Antonios Hände drückten so fest zu wie bei einem Abschied für die Ewigkeit. Dann zerbrach die Verbindung ob der aufkommenden Distanz und Antonios Finger krallten sich nur mehr in das Nichts, was Felicianos Platz einnahm.
 

„..Was ist passiert!?“, wallte Alfreds Stimme erneut auf, als die Sanitäter in Begleitung der Ärzte und mit Feliciano aus dem Raum marschierten. Stramm und schnell; definitiv keine Zeit verlieren wollend. Auf Felis Hose ein ausschweifender Fleck, der aussah, als sei ihm sein Wassergefäß gefallen. Dabei brauchte er doch gar kein Wasser. Sein sagenhaftes Bild malte er schließlich mit wasserunlöslichen Ölfarben.
 

Die Welt nicht verstehend, hatte sich Alfred umgedreht und Anya angesehen, die dabei war, ein paar verlorene Tübchen Ölfarbe vom Boden aufzulesen. Doch aus ihr wurde er genauso wenig schlau wie aus sich selbst. Sie schien nur mehr ein Spiegel seines Inneren: äußerlich versöhnlich lächelnd, aber was im Verborgenen schlummerte, konnte Alfred nicht erfassen. Da mussten Gedanken und Gefühle sein, aber er konnte sie nicht spüren.
 

Er war nicht fähig, mit ihrem Gesichtsausdruck oder gar mit sich selbst etwas anzufangen.
 

Stattdessen bückte er sich flink nach der Palette, die halb unter dem Tisch zu seiner rechten hervorlugte und die Feli gehörte. Niemand sonst nutzte eine Palette. Alfreds Finger registrierten etwas Matschiges, als er das Malutensil zu fassen bekam und herumdrehte. Dabei stellte er fest, dass die Rückseite voller Farbe war. Ein Klatschen Königsblau, ein großer Tupfen weiß und ein kleinerer in schwarz. Sie alle hatten auf dem grauen Boden und auf seinen Fingern ihre schmierigen Spuren hinterlassen. Warum war die Palette dreckig? Was machte sie überhaupt dort unten? Und wieso lag Arthurs Pullover ebenfalls auf dem Boden?
 

Alfred bemerkte letzteres, als er sich wieder aufrichtete und auf den anderen Jungen aufmerksam wurde, der neben dem Kleidungsstück in die Hocke gegangen war. Unter dem tiefgrünen Stoff mit dem hellen Rautenmuster schimmerten die Überreste einer scheinbar durchsichtigen Lache hervor. Sie musste der Grund für eine stellenweise dunklere Verfärbung des Stoffes sein. Alfreds Blick sprang konfus von dem Pulli zu Arthur, dem ein langer Hemdzipfel aus dem Hosenbund ragte. Außerdem war sein Kragen halb nach oben umgeklappt. All dies deutete darauf hin, dass er den Pullover hastig über den Kopf gezogen und auf den Boden gepfeffert hatte, um die unwillkommene Lache aufzusaugen. Aber warum hätte er das tun sollen? Was war das für eine Flüssigkeit? Und was war mit Feliciano geschehen?
 

Arthurs Miene paarte widersprüchlicherweise Stumpfsinn und Ergriffenheit miteinander. Die Pfütze sollte weg, aber ihre alleinige Existenz schockte Arthur zu sehr, damit er gewohnt effizient zu handeln fähig war. Was auch immer vorgefallen war, Arthur war davon überrascht worden. Er hatte damit nichts zu tun und seine Fingerspitzen schwebten hadernd über dem Pulli in der Luft. Nicht bereit, zuzugreifen und sich der Sache anzunehmen.
 

„..ach, lass gut sein, Arthur. Ich kümmere mich gleich darum.“
 

„Aber...!“ Etwas in Arthurs Kehle ruckelte und schien das Wort entzwei zu brechen. Antonio nickte und schüttelte in einer einzigen Bewegung den Kopf, was Alfred noch nie zuvor bei jemanden beobachtet hatte. Eine seltsame Geste, die sich mit dem verlorenen Abklatsch des Lächelns auf Antonios Lippen deckte. Mit Hilfe einer simplen Berührung am Unterarm veranlasste er Arthur zum Aufstehen. Kein Gezeter. Arthurs Pupillen schwangen abwägend zwischen dem nassen Pullover und dem Kunstpädagogen hin und her. Dann ein Schlucken. Eine Akzeptanz. Kein Ärger und kein Zorn.

„Den können sie getrost wegwerfen...“ Nur eine Aussage. Er schien in Gedanken zu einem Ergebnis gekommen zu sein.
 

Alfred wollte schreien, weil er hier so unsichtbar war wie vor seinen Eltern und ihm keiner seine Frage beantwortete. Doch es passierte nicht; die Taubheit in ihm siegte, indessen Antonio alle Patienten, die noch im Raum waren, instruierte, die Sachen stehen zu lassen. Er würde aufräumen. Die Stunde sei für heute beendet. Lediglich die Krankenschwester, die nachhaltig schweigend dort stand, wo eben die Liege gestanden hatte, bat er, die Patienten zurück auf die Station zu bringen. Mit einem auffordernden „Kommt!“ winkte sie Alfred und die anderen mit sich, als seien sie ihre Küken.
 

Seine Betroffenheit oberflächlich beiseite kehrend, wandte sich Antonio seiner leutseligen Gutmütigkeit wieder zu und wünschte ihnen allen trotzdem noch einen schönen Tag.

Trotzdem?!

Alfred wäre liebend gern wütend geworden, weil er eine Floskel vermutete. Doch es war keine. Ihm war selten eine so aufrichtige Verabschiedung zuteil geworden.
 

Die benutzte Palette auf den Tisch legend, fiel sein Blick beiläufig auf seine Collage, an der er heute keine Änderung hatte vornehmen können. Sein Ich war immer noch ein durch und durch schwarz angemaltes Wesen. Dachte Alfred – bis ihm die feinen, hellblauen Striche auffielen, die jemand seinem Ich verpasst hatte. Punkt, Punkt, Komma, Klammer: ein Smileygesicht.
 

Das Hellblau war dasselbe, was ihm an den Fingern klebte.
 

Das Hellblau war dasselbe, was der Junge gemischt hatte, dessen Platz beim heutigen Abendessen leer blieb.
 

Alfred ertrug das nicht. Es war falsch und er hatte in der kurzen Zeit, die bis zum Abendbrot vergangen war, drei Mal am Schwesternzimmer nachgefragt, ob es Neuigkeiten wegen Feli gab. Fehlanzeige. Man würde ihn und die anderen gegebenenfalls darüber unterrichten.

Gegebenenfalls? Was sollte das wieder bedeuten?

Alfred war ratlos gewesen und hatte deswegen nicht sonderlich mehr getan, als verloren beim Schwesternzimmer herumzulungern oder deprimiert der Durchforstung von Felicianos Hab und Gut beizuwohnen. Im Beisein der Oberschwester hatten sich Dr. Brussels und einer der Oberärzte, den Alfred vor dem heutigen Tag noch nie zu Gesicht bekommen hatte, Felicianos Sachen vorgeknöpft: das Bettzeug in Augenschein genommen, den Schrank durchforstet, die Zeitschriften und Anziehsachen inspiziert.
 

Da waren etliche leere Plastikflaschen zwischen Felicianos Kleidern, seinem Schrank und der Wand versteckt...

In seiner hoffnungslosen Naivität hatte Alfred stets angenommen, jemand vom Personal habe nachts oder zwischendurch seine Wasserflaschen weggeräumt. Aber dem war nicht so. Feli hatte sie klammheimlich einkassiert. Deswegen war er wohl nachts so aktiv: Zunächst schmuggelte er massenhaft Wasser in gestohlenen Flaschen ins Zimmer und trank es im Laufe der Nacht bzw. kurz vorm Aufstehen. Danach rief das morgendliche Wiegen, bei dem sich das viele Wasser als Mehrgewicht auf der Waage bemerkbar machte.
 

Das war nicht richtig. Das war krank...
 

Beim Abklopfen von Felis Bademantel sowie einigen anderen Kleidungsstücken stieß die Oberschwester auf harte Klümpchen: eingenähte Geldmünzen.
 

„Fehlt dir zufällig Kleingeld, Alfred?“, hatte der Oberarzt unvermittelt gefragt und Alfred dabei durchdringend ins Visier genommen. Jener hatte die Antwort nicht gewusst. Sein Portemonnaie war seit seiner Einweisung ein mehr oder weniger unangetastetes Accessoire, das in seiner Schreibtischschublade Staub ansetzte und ihm nicht von Nutzen war. Wofür auch? Er durfte ja keine Abstecher an die Snackautomaten machen und das Verlassen der Klinik war ihm ebenfalls nicht gestattet. Das Kleingeld eignete sich demnach nur noch zum Telefonieren. Feliciano jedoch hatte mit den Münzen etwas anderes zu tun gewusst.

Wann? – Alfred hatte keine Ahnung.

Wie? – Alfred hatte keine Ahnung.

Warum? – Weil Feli sterben wollte und sich auch mit dem Münzgeld Mehrgewicht beim morgendlichen Wiegen ergaunerte. Für ein paar lausige Gramm, die die Magersucht von ihm verlangte, war er zur diebischen Elster geworden.
 

Sich abartig schlecht fühlend, hatte Alfred in sein geplündertes Kleingeldfach gestarrt und nichts erwidert. Sein Schweigen sagte eh mehr als genug in dem Moment.
 

Wie hatte all das unmittelbar hinter seinem Rücken geschehen können?
 

Alfred wusste es beim besten Willen nicht. Er wusste nur, wie es war, am Eingangstisch zu sitzen und auf Felicianos leeren Stuhl zu starren:
 

Es war falsch.
 

Lili pickte langsam die Gobbetti aus ihrem mayonnaiselastigen Nudelsalat und hatte rote Augenränder. Sie hockte auf ihrem Stuhl wie ein verängstigtes Tier in seinem Bau: Gestern noch hatte es einen Artgenossen gehabt, heute war dieser fort. Gejagt und gefangen genommen von den bitterbösen Auswüchsen einer Krankheit. Und sie? Sie war noch da, aber sie könnte die nächste sein...!

Alfred konnte ihre Panik quasi riechen. Obwohl sie kaum länger in der Klinik war als er, hatte sie in den gemeinsamen Essen mit Feliciano eine gewisse Routine gefunden. Ein festes Standbein im aufreibenden Klinikalltag. Es ging hier nicht ausschließlich um Stundenpläne, Kunst-, Gruppen- oder Einzeltherapien. Das Essen am immer gleichen Tisch in immer gleicher Gesellschaft hatte, ganz ohne großes Geplauder, eine andere Art der Gemeinschaftlichkeit zwischen den beiden erschaffen. Doch nun war ihr lieb gewonnener Artgenosse, mit dem sie sich bislang durch fettige Aufläufe und fingerdicke Fleischscheiben gebissen hatte, wie vom Erdboden verschluckt und keiner konnte sagen, ob Felicianos Platz auf ewig leer blieb...
 

Alfreds Aufmerksamkeit wanderte zum Fenstertisch ab, wo Arthur saß. In einem anderen Pullover und mit einer Attitüde, die sich weder ums Essen noch um diese Welt zu kümmern schien. Zwar hatte Feli Arthur in den letzten Tagen aufgesucht, aber Arthur war nicht mit ins untergehende Boot geklettert. Absurderweise schien er aber auch keinen Schritt in Richtung Genesung zu machen. Er machte einfach gar nichts!

Alfred hätte gerne genug Zorn verspürt, um seine Salatschüssel mit voller Wucht durch den Raum zu schleudern, damit Basilikum, Mozzarella und Tomaten Arthurs Apathie durchschlugen und ihn grün-weiß-rot ins Hier und Jetzt zurückholten. Jemand musste endlich klarstellen, dass die Dinge nicht richtig waren! Merkte das denn keiner? Arthur war doch sonst so furchtbar kaltschnäuzig, so belesen und sich über alles erhebend. Wo waren seine neunmalklugen Sprüche und seine präzis kühle Art abgeblieben? Was hatte er zu all dem hier zu sagen? Was war mit Feliciano passiert und warum war es für das gesamte Personal vollkommen normal, nicht über den Verbleib eines Patienten zu reden?
 

Warum saß Arthur da hinten mutterseelenallein an diesem blöden Fenstertisch und spazierte in Gedanken durch seinen Zauberwald? Seinen beschissenen Zauberwald gab es nicht! Er hatte es doch selbst gesagt! Er hatte Alfred sogar ausgelacht, als sie sich darüber unterhalten hatten:

„Wo soll’n der Zauberwald sein?“ – „Nirgendwo natürlich, du Idiot...!“
 

Idiot.
 

Nein, Alfred war kein Idiot. Er war ein kaputtes, abgeschobenes Problem, das nichts fühlte und das sich hier auf niemanden verlassen konnte. Das sah und wusste, etwas, nein, vieles war falsch, aber er konnte es nicht ändern. Doch er war kein Idiot. Er war emotional komplett abgeschaltet und der einzige Mensch, von dem er wusste, er konnte schreien, fluchen und über alle Maße stark sein, war ins imaginäre Unterholz abgetaucht! Direkt vor den Augen aller Anwesenden!
 

Vermisste denn niemand Arthur?
 

Die Frage beantwortete sich offenbar von selbst...
 

Das war genauso falsch wie Felis Abwesenheit und mindestens genauso traurig. Was war denn mit–?
 

Alfreds Gabel rutschte kreischend über den Boden des Salatschälchens, woraufhin sich die Köpfe aller Anwesenden in seine Richtung drehten. Keine Sekunde verging, bis er doof bis verlegen zu grinsen begann, mit den Schultern zuckte und eine gekonnte Entschuldigung zum Besten gab.
 

Dann kamen die Sekunden alle auf einen Schlag zurück und jeder kaute wieder gedehnt auf seinem eigenen Essen herum. In Alfreds Kopf rotierte indessen eine fixe Idee, eine brennende Neugierde: Was war mit Francis?
 

Wenn es irgendjemanden gab, der bei den Krankenschwestern nicht auf Granit biss, dann er! Alfred bekam ja nicht mal die Information, in welchem Krankenhaus Feli sich zurzeit aufhielt. Von einer Telefonnummer ganz zu schweigen. Ebenso wenig kannte er irgendjemanden, der in direkter Nähe der Klinik lebte und den er um Hilfe bitten konnte.

Doch Francis konnte nicht nur die Krankenschwestern mit wenigen Worten und verboten viel Charme um den kleinen Finger wickeln, er wohnte obendrein nah genug, um mühelos vorbei zu kommen und etwas an der Rezeption abzugeben – so wie damals die Macarons. Dies bedeutete logischerweise auch, dass er Feliciano in einem hiesigen Krankenhaus besuchen könnte. Dazu musste er nur von Felicianos Einweisung erfahren.
 

Der Plan gestaltete sich also folgendermaßen: Alfred würde Francis anrufen und dieser wiederum würde dann entweder eine Krankenschwester mit seinem betörenden Akzent in die Mangel nehmen oder sein Glück direkt bei den Krankenhäusern versuchen. All zu viele konnte es hier im Umkreis nicht geben; die Stadt war nicht gerade eine Metropole.
 

Alles, was Alfred für die Ausführung seines perfekten Plans noch fehlte, war Francis’ Telefonnummer. Es galt also, sich einen Weg durch den unsichtbaren Zauberwald zu bahnen und den einzigen Menschen zu finden, der im Besitz der Telefonnummer war. Arthurs Versöhnlichkeit vom Vortag ließ Alfred nicht an dessen Hilfsbereitschaft zweifeln.
 


 

{  - +  - }
 

Mit seiner nächsten Bewegung befreite der Minutenzeiger Alfred von seiner obligatorischen halben Stunde. Einige der Patienten waren bereits fertig mit dem Abendbrot und gegangen, andere ließen noch ihre halbe Stunde über sich ergehen. Arthur hatte vor etwa zehn Minuten seinen Tisch verlassen und musste auf seinem Zimmer sein. Alfred verlor keine Zeit, sondern steuerte zielorientiert über den Gang und stand gleich darauf vor der Türe, hinter der man ihn kürzlich mit Keksen attackiert hatte. Ungenießbare Kekse, so scheußlich, dass sie einem die Geschmacksnerven wegätzten. Bei der Entdeckung war Arthur förmlich ausgerastet und das war erst drei Tage her. Was war in diesen drei Tagen mit Arthur passiert, dass er auf das Klopfen mit einem unvoreingenommenen, ja geradezu andächtigen „Herein“ reagierte?
 

Durch seine schlechte Erfahrung geprägt, lugte Alfred vorsichtig ins Zimmer, in dem die Vorhänge zugezogen waren. Ansonsten hatte sich auf den ersten Blick nichts verändert. Die dunklen Waldbilder hingen noch immer im akkuraten Abstand zueinander an den Wänden und erschufen eine Atmosphäre, vor der man sogleich Reißaus nehmen wollte. Auf dem Nachttisch und dem Schreibtisch herrschte eine für Arthur typische, perfekte Symmetrie zwischen allen Gegenständen. Arthur war also noch da! Sein Zimmer verriet es. Warum zeigte er sich dann aber nicht?
 

„Äh, hey, nur ’ne kurze Frage“, schob sich Alfred in den Raum und schloss die Türe hinter sich, ohne näher zu treten.
 

Der Angesprochene saß im Schneidersitz auf seinem Bett, die Decke wärmend um den unteren Teil seines Körpers geschlungen und einen Stapel Magic Karten in der Hand. Seine falsch modelliert wirkenden Wangenknochen dominierten nach wie vor seinen uncharakteristisch passiv ausfallenden Gesichtsausdruck. So oft sie sich auch angepflaumt hatten, Alfred mochte diesen zurückgezogenen Arthur nicht...
 

Die Deckenlampe malte alles lichtgrau an und erschuf eine Umgebung, die eine frappierende Ähnlichkeit mit Alfreds Innenleben aufwies. Da war tristes Nichts in ihm, eine klackende Kugel in seiner linken Herzkammer und in der Ferne grollte mächtiger Donner, der ein Unwetter ankündigte. Doch ob ihn dieses je erreichen würde? Spontan tippte Alfred auf Nein. Er fühlte sich viel zu leer, um mit etwas anderem zu rechnen. Alles war doch sowieso vorbei. Nicht wahr?
 

Als Zeichen dafür, dass Alfred seine Frage stellen sollte, hob Arthur eine der buschigen Augenbrauen. Es wirkte gleichgültig. Darüber frustriert, blies Alfred die Backen auf und atmete übertrieben laut aus.

„Kannst du mir mal eben Francis’ Telefonnummer geben?“
 

Die Augenbraue sank herab und nahm eine neutrale Haltung ein. Doch irgendwas an Arthurs Miene war ganz und gar nicht neutral.

„Nein“, kam es ihm schließlich traurig über die rauen Lippen, wobei sein Blick auf die Karten hinabfiel. Ein kleiner Stapel lag direkt vor ihm. Den größeren durchsortierend, ging er Karte um Karte sorgsam von vorne nach hinten durch.

Er war nicht da.

Er bemühte sich nicht mal, für eine Unterhaltung anwesend zu sein. Lieber verkroch er sich in Phantasiewäldern und zwischen kindischen Spielkarten voller mystischer Gestalten und Items. Das war jawohl die Höhe!
 

„..nein?“, brauste Alfred auf, ohne es selbst zu merken. „Wieso nein?!“
 

„Ich geb nicht einfach die Telefonnummer von jemand anderem raus“, meldete sich das gut erzogene Kind in Arthur zu Wort, das grundsätzlich nichts von Fremden annahm, nicht zu Fremden ins Auto stieg, Fremde nicht ins Haus ließ und Fremden nicht vertraute.
 

Die Kugel in Alfreds Herzkammer flatterte aufgrund der Abweisung verzagend im sauerstoffreichen Blut. Verdammt, es ging doch hier nicht um irgendeinen Fremden, sondern um Feliciano!

„Is’ mir scheißegal, ob du das sonst machst oder nicht! Ich brauch die Nummer!“

„Wofür?“

„Na damit ich Francis anrufen kann! Wenn er weiß, dass Feli im Krankenhaus ist–!“

„Untersteh dich!“ Die Wut wallte wie eine Stichflamme auf und Alfred presste sich instinktiv gegen die Türe. Er war definitiv auf dem richtigen Weg, aber er hätte sich nicht träumen lassen, dass dieser Weg einem Sturz in eine Schlangengrube glich.
 

„Warum denn nich’?! Feli ist auch Francis’ Freund! Francis würde es hundert pro wissen wollen, wenn was mit ihm ist!“
 

„Geh, Alfred! Sofort.“ Arthur machte den Eindruck, als wolle er aufstehen, verzichte aber aus triftigen Gründen darauf. Stattdessen legte er die Karten nieder, um nach einer unsichtbaren Waffe zu fassen. Womit auch immer er einen anzugreifen gedachte, Alfred würde sich nicht in die Flucht schlagen lassen.
 

„Nein! Ich geh erst, wenn du mir die scheiß Telefonnummer gegeben hast!“, toste er und rechnete damit, wieder mit irgendwas beschmissen zu werden. Arthur jedoch blieb sitzen, im Rückgrat ein gebrechliches Zucken und in den Augen eine unermessliche Anstrengung. Er war von irgendetwas komplett erschöpft, aber er war noch da. Er lebte noch. Alfred hatte eindeutig die richtigen Zweige beiseite gerissen, um in das Waldversteck vorzudringen. Bloß dass er hier nicht willkommen war. Arthur wollte seine gottverdammte Ruhe. Seinen Frieden. Eine geistige, letzte Ruhestätte. Er war müde.
 

Alfred sollte das beherzigen und respektieren. Unglücklicherweise konnte er aber gerade keine Rücksicht darauf nehmen, denn in irgendeinem Krankenhaus lag Feli und tat womöglich seine letzten Atemzüge!

„Arthur! Die Telefonnu–!“

„Hörst du schlecht oder was? Ich hab nein gesagt! N, E, I, N! NEIN!” Alle beiseite geschobenen Zweige fegten Alfred in Form von bornierten Worten wieder ins Gesicht. Gertenschlägen gleich. Es tat nicht weh. Natürlich tat es das nicht. Aber die Impertinenz von Arthurs Nein war beispiellos und verlangte, anerkannt zu werden. Den Gefallen konnte Alfred ihm allerdings nicht tun.

„Ich weiß verdammt noch mal, was Nein bedeutet! Ich-!“

„Na offenbar weißt du’s nicht, du blöder Wichser!“ Das klang nach Arthur. Laut und deutlich, aber sich keine Mühe um Selbstschutz gebend.
 

Obendrein kapierte Alfred einfach nicht, was Arthurs Problem war? Gönnte er Feliciano keinen einzigen Menschen an seiner Seite? Oder war sich Arthur schlicht und ergreifend zu fein, die Nummer rauszugeben, weil er paranoiderweise erwartete, man würde hinter seinem Rücken über ihn herziehen? Das war doch schon am Sonntag seine größte Sorge gewesen.
 

„Dann ruf du ihn an!“ Alfred gab es auf, seinen Gesprächspartner verstehen zu wollen und trat ungehemmt mit der Ferse gegen die Türe, sodass es laut rumpste.
 

Ich?“ Trotz der voluminösen Decke war Arthurs Zusammenschrecken unverkennbar. Alfred beschlich der Verdacht, dem anderen Jungen weh getan zu haben, jedoch konnte er nicht nachvollziehen, wie oder warum. Also beharrte er weiter.

„Ja, du! Wenn du mir die Nummer schon nich’ geben willst, dann ruf Francis gefälligst selber an und sag ihm, was mit Feli is’!“
 

„..nein“, kam es final, aber reumütig. Blinzelnd betrachtete Arthur die Karten, plötzlich wieder so verlebt wie ein alter Mann. Alfred ließ sich aber nicht länger verarschen. Er wusste, dass Arthur noch Energie hatte. Die einzige Schlussfolgerung, die Alfred demnach aus Arthurs Sturheit ziehen konnte, war, dass Arthur seine Mitmenschen nicht genug würdigte, um sich für sie anzustrengen. Das war gemein und grausam. Feli lag vollkommen allein im Krankenhaus und Arthur, der selbst schon dort gelegen hatte, überließ ihn gewissenlos der verzehrenden Einsamkeit! Wie konnte Arthur das nur tun? Selbst Alfred, der nichts fühlte, fühlte, dass so was inakzeptabel war.
 

Es war falsch.
 

Am liebsten hätte Alfred Arthur an den Kopf geknallt, dass Francis damals auch Arthur im Krankenhaus Gesellschaft geleistet und um ihn gebangt hatte! Und wären die Dinge umgekehrt: wäre Feli hier und Arthur im Krankenhaus, und hätte Feli Francis’ Telefonnummer, Feli hätte garantiert nicht lang gefackelt und bereitwillig die Nummer rausgegeben oder selber zum Telefonhörer gegriffen.
 

„Es ist so zum Kotzen, wie jeder immer nur an sich selbst denkt!“ Mit dem Hass in der Stimme, der seinen Eltern gebührte, brüllte Alfred in Richtung Bett. „Ruf Francis verdammt noch mal an, damit Feli da nicht allein liegen muss! Wenn du ihm nich’ so viele scheiß Tricks beigebracht hättest, wär er nie so krank geworden!“
 

Das Türeknallen ließ die ganze Station erbeben. Alfred stürmte blindlings über den Flur. In ihm war alles kochendheiß, ohne ihn zu verbrennen. Er konnte sich nicht mal der Wut angemessen hingeben. Sie brach aus ihm heraus, ohne ihn zu berühren. Nichts an ihm oder in ihm ging mehr kaputt. Es war wirklich egal, was er sagte oder machte. Er war unverwundbar.
 

„Alfred! Was in aller Welt soll denn der Krach?“, herrschte Josh vom Schwesternzimmer aus über den Flur. Das Gesicht stocksauer und die Hände streng in die Seiten stemmend, war der Pfleger aus der Türe getreten und verlangte eine Erklärung. „Hier werden keine Türen geknallt! Und rumgeschrieen erst recht nicht! Komm dir lieber deine Tüte abholen!“
 

Tüte? Alfred, dem die Ermahnung eigentlich sonst wo vorbei ging, hielt abrupt inne. Wenn es nach ihm ginge, würde er sich einfach auf sein Zimmer verziehen und die nächste Tür hinter sich zuschlagen. Allerdings weckte die Erwähnung der Tüte die Erinnerung an seine Mom in ihm...

Aufgrund all des Trubels rund um Feliciano, hatte Alfred die Tüte glatt vergessen. Wahrscheinlich hatte sie noch einige Zeit oben auf der Etage gestanden, bis sie jemandem ins Auge gefallen war und schließlich der richtigen Person zugeordnet werden konnte. Oder Frau Brooke hatte sie verspätet am Schwesternzoll abgegeben. All das war möglich. Alfred wollte sich nicht über die Handhabung von Geschenken an diesem Ort das Hirn zermartern. All die internen Abläufe hingen ihm zum Hals raus!
 

Josh für seinen Teil vollführte nun eine auffordernd heranwinkende Handbewegung, der Alfred augenrollend nachkam.
 

„Bevor ich dir die Tüte von deinen Eltern aushändige, möchte ich, dass du mir sagst, warum wir hier bei uns keine Türen knallen.“
 

„Weil...“ Alfred stockte, als er in der Tür des Schwesternzimmers die korpulente Papiereinkaufstüte in ihren schillernden Farben entdeckte. Die strenge Aura lotste sein Augenmerk aber schnell wieder zu Josh zurück, dessen Gesicht von einer brettharten Stirn und einem ausladenden Kinn regiert wurde.
 

„Weil wir es hier drin nicht mögen, wenn wir Dinge tun, die andere stören? Und weil wir alle nett zueinander sein sollen?“ Es kratzte nicht mal an Alfreds Stolz, so gleichgültig waren ihm seine lieblosen Rateversuche ins Blaue.
 

Der Pfleger verzog keine Miene und schien ihm eine stille Botschaft zu zu senden. Sie kam nicht an. Sie musste emotionaler Natur sein und dafür hatte Alfred keine Empfangsstation mehr.
 

„Ich hoffe, du verstehst, dass es wichtig ist, sich an diese Regeln zu halten. Wir möchten hier kein negatives Klima. Damit ist wirklich keinem von euch geholfen. Denk dran, du bist aus dem gleichen Grund hier wie alle anderen: um gesund zu werden.“
 

„Yeah.“ Was auch immer...!
 

„...Gut. Hier ist deine Tüte.“ Unspektakulär gab Josh die Tasche schließlich heraus und Alfred nahm sie ebenso unspektakulär entgegen. Wieso holte er sie überhaupt ab? Mit der Frage beschäftigte er sich, derweil er zurück zu seinem Zimmer stapfte. Das Zimmer, das ihm vorerst – und bitte nicht für immer – allein gehörte.
 

Allein.
 

In der Sekunde, als die Tür leise hinter ihm zuklackte, zog ihn die Stille in eine abschnürende Umarmung. Das Fenster stand auf kipp, es war nicht stickig, niemand hatte die Heizung zurück auf Stufe 5 gestellt und keiner das Fenster geschlossen. Das Kissen, was Feli sonst immer auf die Heizung legte, um es sich dort gemütlich zu machen, befand sich fälschlicherweise auf seinem Bett.
 

Das war nicht richtig.
 

Es war düster und unbewohnt. Mit dem Ellbogen tippte Alfred auf den Lichtschalter, woraufhin das Kunstlicht in den Raum krachte wie ein Swat-Team. Orientierungslos blickten sich die Männer um, die Waffen im Anschlag und die Kiefer knirschend, suchten sie etwas mit ihren geschulten Adleraugen. Wollten retten – und stellten dann fest, dass niemand mehr da war, den sie noch retten konnten.
 

Alfred schritt zu seinem Schreibtisch hinüber, zog seinen Stuhl hervor und ließ sich hinauf fallen. Er war so tot. Keiner kam, um Leichen zu bergen und seine Eltern hatten sich nicht mal von ihm verabschiedet... Seine Mom hatte bestimmt auf der ganzen Fahrt nach Hause noch geschnieft und sein Dad hatte die miesen Rechtfertigungen irgendwann aufgegeben, denn es brachte ja nichts, sich den Mund fusselig zu reden wegen völlig an den Haaren herbei gezogenen Vorwürfen, wie er immer sagte.

Er hatte aufgegeben.

Alfred ebenfalls.

Wer eigentlich nicht? Wer hatte bitte noch Energie für dieses Affentheater übrig?
 

Mit steifen Fingern begann Alfred, in der Tüte zu graben. Stück um Stück holte er Kleidung hervor; ein naturfarbener Pullunder, ein darunter passendes Hemd, Socken, Unterwäsche, zwei dünne Pullover, eine neue Jeans mit Gürtel (als ob er den bräuchte! Er konnte froh sein, wenn er überhaupt in diese Hose passte...), ein längliches Kopfkissen und ein Sommerschlafanzug mit Area51-Aufdruck. Der würde auch keine Aliens anlocken, die ihn entführten und mit ins All nahmen. Die Hoffnung brauchten sich seine Eltern gar nicht erst machen.
 

Süßigkeiten fand Alfred keine. Dafür zwei in Geschenkpapier eingeschlagene Päckchen. Es ritschratschte, als er langsam und ohne Erwartung ein neues Set Duschgel mit passendem Shampoo und Deo dazu aus dem ersten Papier schälte. Ja. Schön. Konnte er gebrauchen. Immerhin war er ja noch in der Einlebungsphase und wer wusste, wie lange diese andauerte und wie lange ‚das Leben danach’ erst dauern würde...
 

Alfred war hundeelend zumute, als er das andere Päckchen zur Hand nahm und das Papier runterriss. Die Schipsel rieselten teils auf den Boden, teils in die leere Tüte hinab. Es war ein Buch, noch in klare Folie eingeschweißt. Höchstwahrscheinlich von seiner Mutter ausgewählt und wie sie Bücher kaufte, wusste Alfred nur all zu gut: amazon + Stichwortsuche + flüchtiges Überfliegen der Kundenrezensionen. Dieses Buch hier, das hatte sie garantiert nicht persönlich für ihn in einer Buchhandlung ausgesucht. Mit ziemlicher Sicherheit hatte sie nicht mal eine rechte Vorstellung, worum es in der Geschichte überhaupt ging.
 

Nothing[1] stellte sich das Buch mit seinem Titel vor; einen Klappentext gab es nicht. Dafür sah der trotzige Junge auf dem Cover höchst unzufrieden aus. Alfred schob das Buch beleidigt unter den neuen Klamottenberg, der sich auf seinem Schreibtisch auftürmte.

Lediglich das Kissen, welches in seiner Optik der Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika nachempfunden war, lag noch auf Alfreds Schoß. Es roch nach irgendwas. Intuitiv hob der Blonde es an und begann zu schnuppern. Seine Nase strich hungrig über den weichen Stoff. Das war unklug von ihm, denn die Kugel in seinem Herzen machte daraufhin einen gewaltigen Satz.
 

Zuhause.
 

Das Kissen roch nach dem korngelben Waschmittel, was seine Mom immer benutzte und der Duft trieb die Kugel abscheulich tief in Alfreds Herzwand. Unerwarteter Schmerz flammte scharf auf und drückte ihm die Luft ab.
 

Nichts war gut, alles war falsch. Alles war vorbei.
 

Das konnte doch gar nicht sein! All ihre gemeinsamen Familienfeste, ihre Weihnachtsessen und ihre Dreisamkeit, wie konnte all das ein für alle mal vorbei sein? In seiner plötzlich hellen Panik vollführte Alfred eine überschwängliche Drehung auf dem Stuhl und ließ den Blick durch den Raum toben: kein Mülleimer, keine leeren Flaschen, keine Gefäße, keine Kartons, keine Tüten, kein gar nichts!

In Windeseile hetzte er zu seinem Kopfkissen hinüber – Nein! Auf keinen Fall! Das ging nicht. Das würde nicht klappen. Seine Zähne bissen auf seine Handknöchel, als er sie hilflos zum Mund führte und weder ein noch aus wusste. Ihm musste was einfallen. Ganz, ganz schnell! Warum war die verfluchte Einkaufstüte aus Papier? Das würde nicht halten! Und Anziehsachen halfen ihm auch nicht! Nichts würde ihm helfen! Kein Pullunder, kein Hemd, kein Kissen, kein Buch und auch keine Krankenschwester und kein Pfleger, die es sofort spitz kriegten, wenn er sich im Bad verschanzte und–!
 

Seine Hände schnappten sich den riesigen Karton mit seinem Modellflugzeugbausatz und rissen den Deckel ab. Volltreffer! Alles war noch ordentlich verpackt – in Plastikbeuteln! Alfred riss den erstbesten auf und schüttete die Teile achtlos in den Karton, wo sie zwischen die übrigen Beutel purzelten. In ihm wallte ein nervöses Spannungsgefühl auf, das ihn eines der älteren T-Shirts aus seinem Schrank holen ließ. Das T-Shirt als Unterlage missbrauchend, kniete er keine Sekunde später auf dem Boden. Der Beutel war vielleicht nicht besonders groß, aber so viel hatte er nicht zu Abend gegessen und bevor er überhaupt einen weiteren Gedanken an all das hier verschwendete, hatten sich seine Finger schon daran gemacht, seinen Würgereflex auszulösen. In ihm überschlug sich alles mehrfach und die Kugel spießte sein Herz auf wie eine mit Stacheldraht präparierte Lanze.
 

Es tat weh.
 

Die Augen so fest wie irgend möglich zupressend, drängte Alfred es von sich weg und aus sich raus. Es sollte nicht weh tun. Es sollte ihn in Ruhe lassen. Weg, weg, weg! Raus, raus, raus! Magensaft spülte die Verzweiflung nach draußen und war letztlich nichts weiter als ein alter Bekannter in Alfreds Rachen und Mundhöhle. Weil er den kleinen Beutel dicht vor sein Gesicht hielt, stieg ihm der Gestank geradewegs in die Nase und ließ ihn reflexartig einen zweiten Schwall erbrechen. Flüssig. So flüssig kannte er das nicht. Zumindest nicht direkt zu Anfang des Übergebens, erst am Ende. Dann signalisierte ihm der reine, bittere Saft immer, sich leer gekotzt zu haben.

Er war also schon leer? Irritiert hob Alfred den Kopf. Zerkaute Essensreste im Magensäurebad schwammen in dem Beutel, rannen ihm bräunlich über die Finger der linken Hand und tropften ins T-Shirt. Automatisch waren ihm Tränen in die Augen gesprungen, wie er registrierte, als er wohltuend tief inhalierte. Das Bewusstsein klar und der Bauch wie getreten.
 

Es war abartig.

Es tat abartig gut.
 

Sein Abendessen war gänzlich in dem Beutel gelandet. Das wenige, was daneben gegangen war, war wirklich nicht der Rede wert.
 

Für eine geschätzte Minute blickte Alfred teilnahmslos an die gegenüberliegende Wand und lauschte. Er war nicht laut gewesen, oder? Es hatte ihn doch keiner gehört? Die Pampe hatte ihn nur zwei Mal husten lassen, das restliche Würgen hatte Alfred erfolgreich unterdrückt. Der Laut hing ihm quer in der Lunge und renkte sie ihm fast aus, doch die Kugel in seinem Herzen hatte sich wieder besänftigt. Kein Bohren mehr.
 

Es tat nicht länger weh.
 

Endlich. Sein Seelenleid tangierte ihn nur noch peripher und hielt ihm die Gedanken an die Geschehnisse des heutigen Tages und des ganzen letzten Jahres vom Leib. Körperlich betrachtet, schlüpfte der Schmerz in Gestalt eines Magendrückens. Das war okay, völlig okay, nicht weiter schlimm. So okay wie schon lange nichts mehr okay gewesen war in Alfreds Leben.
 

Dumpf sah er in den Beutel hinab und auf das T-Shirt, was einen markanten Fleck aufwies. Sein Abendessen war eine dünne Suppe voller Brotstücke und Tomatenhäutchen. Nur das Basilikum war noch absolut unzersetzt und paddelte als grünes Suppengemüse durch die bräunliche Brühe. Das war widerlich. Wirklich, wirklich widerlich. Zumindest predigte das Alfreds Verstand. Seine Augen hingegen hatten schon so viel Kotze gesehen, dass sie nichts Abschreckendes mehr darin erkannten. Dieses Erbrochene in dem Beutel, es kam Alfred wie nichts vor.
 

Es war ja auch nichts. Nicht wahr?
 

Ja, es war gar nichts. Gar nichts war das! Und ihm ging es besser. War das nicht die Hauptsache?

Ja, doch. Ihm musste es besser gehen. Deswegen war er hier und was spielte da ein Beutel Erbrochenes für eine Rolle? Der fiel doch gar nicht ins Gewicht.
 

Schleunigst knotete Alfred den Beutel zu und knüllte dann das T-Shirt zusammen, um sich mit einer trockenen Stelle zunächst über die Augenpartie zu wischen und anschließend über Wangen, Nase, Mund und Kinn. Zuletzt waren seine Hände dran.

Die Welt behielt ihre schwummrige Ungenauigkeit, auch als er das T-Shirt wieder niederlegte. Wo war seine Brille? War er tatsächlich noch so gegenwärtig gewesen, sie eben geschwind abzuziehen? Tastend suchte seine Hand neben sich den Boden ab und stieß auf den gesuchten Gegenstand. Ja, er war noch so gegenwärtig gewesen. Eine Woche Abstinenz war gar nichts. Eine Woche Abstinenz reichte nicht mal, um ihm die unbewusst verinnerlichten Abläufe auszutreiben.
 

Die bräunliche Suppe stellte trotz scharfer Sicht ein Problem dar. Wo sollte er diesen Beutel denn jetzt hintun? Soweit hatte er eben in seiner Not nicht gedacht...
 

Mit Beutel und T-Shirt kroch Alfred das kurze Stück über den Boden bis zu seinem Schrank, in dem auch seine leere Reisetasche stand. Auf den Beutel aufpassend – verdammt, er war trotz des Knotens nicht ganz dicht! –, packte er das T-Shirt und den Beutel in die Reisetasche. Gut angelehnt, damit nichts umkippte; dann zog er den Reißverschluss zu. Das würde keiner merken, oder? Nein, nein, bestimmt nicht. Bestimmt nicht. Er konnte einfach die Schranktüre zumachen und keiner sah etwas.
 

Alfred sah zumindest nichts, als er vor der geschlossenen Türe ausharrte und der Befürchtung unterlag, der Beutel würde jeden Moment hinaus hüpfen und ihn öffentlich anprangern. Es geschah jedoch nicht.
 

Nichts geschah.

Nothing.
 

Er fühlte sich nur wieder geerdet. Gar nicht mehr wütend, gar nicht mehr von Schmerz geplagt.

Nichts, nichts, nichts.

Alles war weg. Die gefährliche Kugel in seinem Herzen hielt Winterschlaf.
 

Durch das geöffnete Fenster zog der vernichtende Gestank von dannen. Um ihn auch aus der Nase zu kriegen, schüttelte Alfred den Kopf. Als der Versuch fehlschlug, stand er träge auf und nahm das neue Kissen wieder zur Hand. Sich auf sein Bett sinken lassend, vergrub er die Nase sehnsüchtig im Stoff und labte sich an dem wohlbekannten Duft, indessen er auf die Seite rollte und sich eng an das kuschelige Geschenk schmiegte. Korngelbes Waschmittel... Ein ganzes Bett, was danach roch. Ein ganzes Zimmer, was danach roch. Ein ganzes Haus, was danach roch.
 

Sein Zuhause.
 

Wenn er es sich nur fest genug wünschte und die Lider schloss, dann war er Zuhause.

{ 21. | hauseigene Poltergeister }

Um 0:51 Uhr von selbst wach zu werden und einer bewohnten Stille zu begegnen, war gruseliger als jeder Horrorfilm, den Alfred sich jemals angeguckt hatte. Ein eiskalter Schauer war ihm wie ein elektrischer Schlag durch den ganzen Körper geschnellt, als er heute Nacht in seinem Bett gelegen und in die scharfkantige Dunkelheit gestarrt hatte. Die Ohren gespitzt und die Atmung flach, hatte er sich unter der Decke versteckt. Alles machte den Anschein, als würde Felicianos Geist jeden Moment in den Raum schweben und, statt mit Ketten zu rasseln, im Zimmer auf und ab laufen, Wasser trinken, Flaschen verstecken, Münzen einnähen, Sportübungen machen. Irgendwas tun, was letzten Endes dazu geführt hatte, dass Feli nicht mehr da war.
 

Die angsteinflößende Vorstellung hatte sich auf Alfred herab gesenkt und ihn tief in die Matratze gedrückt; ganze zehn Minuten lang, in denen er nichts weiter tat, als seinem drängenden Herzpochen zu lauschen. Er hatte sich nicht mal getraut, nach dem Lichtschalter zu greifen. Er hatte nur eine durchweg eisige Furcht empfunden, die ihn für all das empfänglich gemacht hatte, was nicht richtig war. Und das war vieles. So, so vieles...
 

Irgendwann war er in den Schlaf zurück geglitten; die Seele noch von Angst gepackt, als die Schwester um 6 Uhr an seiner Tür klopfte. Das allmorgendliche Weckritual – und er war alleine im Zimmer, in dem keiner die Heizung auf Stufe 5 gestellt und niemand des nachts herum gespukt war. Letzteres bildete sich Alfred nur ein, wohl ob des schlechten Gewissens, das einer Bestie gleich in ihm wütete.
 

Mit Bauchschmerzen hatte er sich aus dem Bett gequält, was ihm in etwa so schwer gefallen war, als habe man ihn dort festgetaut. Ihm fehlte Energie. Er war müde und er wollte schlafen – nicht einen neuen Tag beginnen. Weder in dieser Klinik noch als Teil seines kaputten Lebens...
 

Cleopatra hatte heute früh eine Laune gehabt, die jedes Wort wie eine Unzumutbarkeit erscheinen ließ. Alfred hörte ihr maschinell runter gerattertes „Gut, abgenommen!“ selbst dann noch in seinen Ohren nachhallen, als er später aus der Dusche gestiegen und sich kurz darauf im Spiegel betrachtet hatte. Er war am heutigen Donnerstag genauso fett wie auch am letzten. Nichts hatte sich verändert. Was erzählten sie ihm hier eigentlich? Er sah absolut keinen Unterschied...
 

Sein innerliches wie äußerliches Unwohlsein hatte ihn unbehaglich über seinem Frühstück hängen lassen. Lili, mit der Alfred den Tisch am Eingang weiterhin treu teilte, sah nach wie vor so aus, als habe sie sich eben erst die Tränen weggewischt. Alle anderen Patienten hielten sich zurück und schienen akustisch nicht über ein Flüstern hinauszukommen. Sogar die Ankündigung einer Schwester, Feli ginge es den Umständen entsprechend und in der heutigen Gruppentherapie könne gerne mit Dr. Brussels über den Vorfall gesprochen werden, hatte die Stimmung im Speisesaal nicht sonderlich gehoben. Niemand wagte es, Felicianos Namen in den Mund zu nehmen; so als würde ihn das umbringen und keiner wollte die Verantwortung dafür übernehmen.
 

Alfred biss den nagenden Vorwurf tot, der ihm in einer Tour zuwisperte, dass er Felis Mitbewohner war und dass er nie eingegriffen hatte. Natürlich, er hatte die gemeinsamen Sportübungen abgelehnt, aber er hätte Felis nächtliches Herumwandern melden müssen. Wieso hatte er das nicht getan? Sie waren doch Freunde! Feli hatte ihn vor nicht mal zwei Tagen umarmt und Alfred zu verstehen gegeben, welch traurigen Eindruck seine Collage vermittelte. Er hatte es ehrlich gemeint. Fürsorglich. Nicht wie jemand, der lediglich ein schönes Bild einem düsteren vorzog, sondern wie jemand, der etwas von Herzen kommen sehen wollte.

Zeig dich, wir möchten dich sehen. Das war Felicianos Botschaft an Alfred gewesen. Und was hatte Alfred getan? Er hatte in Felicianos Fall einfach weggesehen. Er war dem Italiener kein Freund gewesen. Er hatte ihn sein eigenes Grab schaufeln lassen. Er war ein schrecklicher Mensch...
 

Alfred schämte sich abgrundtief dafür. Wofür er sich nicht schämte, war der Beutel Erbrochenes, der sich unmittelbar nach dem Frühstück zu seinem Artgenossen im Schrank gesellt hatte. Es war einfach alles zu viel, viel zu viel: das frühe Essen, die Umgebung, die Erwartungen, die Einsamkeit, Felis Zusammenbruch, der nächtliche Spuk und über seine Eltern wollte Alfred gar nicht erst nachdenken! Er brauchte sich nur sein Spiegelbild vor Augen zu rufen und dann hörte er es:

Er war so fett, dass seine eigenen Freunde ihn hassten und auslachten.

Er war so dumm, dass er Felicianos Masche nicht durchschaut hatte.

Er war so unwichtig, dass es keiner je für nötig befunden hatte, ihm die Wahrheit zu sagen.

Er war so ungeliebt, dass sein Vater gehen und seine Mutter ihn nicht mehr haben wollen würde. Er war weder ein toller Freund noch ein guter Sohn, und er war erst recht kein Samtsäckchen voller positiver Eigenschaften. Das war er vielleicht einmal gewesen, vor langer, langer Zeit, aber das war längst vorbei. Vorbei, vorbei, vorbei!
 

Alfred ging es nur noch schlecht. Er hatte nach dem Frühstück seine Zimmertüre hinter sich zugemacht, sich nach weinen gefühlt und stattdessen erbrochen. Ein oder zwei Beutel, das tat nicht mehr zur Sache. Er konnte diese Beutel nicht mal gescheit erklären. Alfred spürte lediglich, wie es ihm besser ging, wenn der Endorphinkick nach dem Übergeben seine Stimmungskurve nach oben auszucken ließ. Die Gefühle rückten weg, nicht sehr lange, aber für ein paar Minuten ging es ihm gut genug, um zu atmen und nicht mehr zu glauben, jeden Moment den Verstand zu verlieren. Etwas passierte da in ihm und er hatte keine Worte dafür. Für all das nicht, was ihn bewegte und antrieb. Aber warum sollte er auch etwas sagen? Das half ihm doch ohnehin nicht. Das Erbrechen leistete ihm da viel bessere Dienste.
 

Wären da nur nicht diese zwei Beutel Kotze...
 

Wie um alles in der Welt sollte er die verschwinden lassen? Das bereitete Alfred wahrlich Kopfzerbrechen. Im Geiste hatte er schon sämtliche Möglichkeiten durchgespielt: Er konnte die Beutel nicht einfach aus dem Zimmer schmuggeln und ins Klo kippen. Dabei würde man ihn garantiert erwischen. Er konnte sie auch nicht aus dem Fenster schütten. Was er aber noch viel weniger tun konnte, war sie im Schrank stehen zu lassen. Noch hielt die Reisetasche erstaunlich dicht; im Zimmer war kein verräterischer Gestank zu wittern.

Öffnete man die Schranktüre jedoch, wurde es brenzlig. Deswegen hatte sich Alfred zwei der großen Badehandtücher von dem Stapel, den er von Zuhause hatte mitbringen müssen, geschnappt und sie in die Tasche gestopft. Quasi um den verräterischen Gestank einzudämmen. Das Ganze erwies sich als keine sonderlich glorreiche Konstruktion, also hatte er sicherheitshalber ein weiteres Handtuch mit etwas Wasser aus seiner Flasche getränkt und massenhaft von dem neuen Duschgel darauf verteilt. Das war effektiv. Zumal auch das Sprühdeo noch zum Einsatz gekommen war. Sein Zimmer war nun eine Wand aus Cool Street Jungle Experience, hinter der etwas verweste. Alfred hoffte inständig, ihm würde im Laufe des Tages ein Geistesblitz kommen. Die Beutel mussten weg. Ganz egal, wie. Hauptsache weg!
 

Nachdem er die aufwendige Vertuschungsaktion hinter sich gebracht hatte, hatte er fast bereut, den zweiten Beutel gefüllt zu haben. Allerdings nur fast. Was hätte er denn alternativ tun sollen? Ihm half doch sonst nichts. Die Kugel hielt nicht still, wenn er nicht dafür sorgte. In diesem Zimmer fehlte nicht nur ein Mensch, sondern regierte obendrein ein schlechtes Gewissen. Außerdem war Alfreds familiäre Situation eine Katastrophe. Bei dem Gedanken an seine Mom und seinen Dad bekam er postwendend Herzstiche und feuchte Handflächen.

Wieso wurde er ständig so panisch?

Warum brachte ihn alles dazu, sofort rot zu sehen?

Was war nur aus ihm geworden?

Wer war er überhaupt noch?
 

Wenn er das nur wüsste...
 

Doch genau das war die Frage, die ihn zu spalten drohte. Alfred konnte die gefährlich aufflackernden Emotionen verhängnisvoll über seine Nackenhärchen streichen spüren. Sich schüttelnd, klammerte er sich an sein Kissen. Der Geruch fungierte als Zeitmaschine, die ihn zu etlichen schönen Momenten in seiner Vergangenheit transportiere, die aber allesamt keine Zukunft mehr hatte. Wenn ihn schon seine eigenen Eltern und Freunde nicht wollten, wie sollte ihn dann je jemand anderes wollen? Jemand wie Amelia zum Beispiel. Das war ausgeschlossen. Das würde nicht passieren. Er war viel zu fettdummunwichtigundungeliebt. Er hätte auch sofort seinen blöden Mund aufmachen können! Warum hatte er damals bloß nichts gesagt? Stattdessen hatte er Tag für Tag immer mehr gefressen.

Selbst jetzt, da er die Verbindung zwischen falsch gehandhabten Emotionen und seiner Essstörung in Erfahrung gebracht hatte, profitierte er nicht davon. Sobald seine Gedanken in die falsche Richtung abdrifteten – und das taten sie permanent –, begann die Kugel in seinem Herzen wie ein Pendel auszuschlagen und wenn sie bei der Übung gegen irgendetwas stieß, tat es weh. Deswegen gab es mittlerweile ja auch schon zwei Tüten Erbrochenes in Alfreds Kleiderschrank. Wie krank war das bitte?
 

Er würde die Essstörung nie loswerden...
 

Warum also ließen ihn die Ärzte nicht essen, was er wollte?

Warum konnten sie ihn nicht endlich entlassen? Dann würde er einfach irgendwo hingehen. Nach Hause konnte er leider nicht zurück, denn dort war er nichts weiter als ein Störfaktor. Das hätte er seiner Therapeutin irgendwie sagen sollen. Aber dafür war es nun zu spät. Sie hatte alles selbst herausfinden müssen und war im Laufe des gestrigen Gesprächs ungewarnt zwischen die elterlichen Fronten geraten...
 

Ja, jetzt wusste auch sie, wie wenig Sinn es machte, Alfreds Behandlung fortzusetzen. Es würde nicht mehr gut werden. Ihm ging es noch am besten, wenn er sich vollstopfte und taub kotzte. Dass das nicht gesund für ihn war, davon merkte er gerade herzlich wenig. Von einem leichten Bauchziehen abgesehen, hatte er keine Beschwerden. Zwei Mal kotzen, das war ja auch nichts. Und das eklige Müsli war vorhin so reibungslos hoch gekommen, als sei es einzig und allein für diesen Zweck geschaffen. Wenn das nicht ein Zeichen des Himmels war.
 

Alfred empfand aber keine Erleichterung. Unterschwellig war er unbeschreiblich traurig; die Emotion lag als metertiefe Pfütze vor ihm und er schaute angestrengt über sie hinweg. Das kostete ihn Energie, viel zu viel Energie, und es würde nicht mehr lange gut gehen.

Im Idealfall wäre das einzige, was passieren würde, dass Alfreds Wut ausbrach und er sich Arthur erneut vorknöpfte, um endlich an Francis’ Telefonnummer zu kommen. Dem Personal zufolge, war Felicianos Zustand unverändert geblieben. Aber was genau hatte sich nicht verändert? Alfred hatte keine Ahnung und Arthur hatte mittlerweile so viele imaginäre Zweige und Äste vor sein Zauberwaldversteck gestapelt, dass ein Blickwechsel mit ihm in etwa so ergiebig war wie mit einer Nebelwand.
 

Vielleicht war ihm wirklich scheiß egal, was aus Feliciano wurde. Vielleicht auch nicht. Alfred konnte die Sache so lange drehen und wenden, wie er wollte, er kam zu keinem schlüssigen Ergebnis.

Dafür blühte ihm jetzt gleich seine Einzeltherapie. Mit einer Frau, die er in den letzten Tagen teils gewollt, teils ungewollt belogen hatte. Garantiert war Frau Brooke stocksauer auf ihn, weil er eifrig alles unter den Teppich gekehrt hatte.
 

Zuhause alles in Ordnung? Ihre Frage von vorgestern huschte ständig durch sein Gedächtnis. Gar nichts war bei ihm Zuhause in Ordnung, doch er hatte ihr kein Sterbenswörtchen verraten. Er war der größte Feigling weit und breit, aber es spielte sowieso keine Rolle mehr, weil sie ihm und seinen Eltern nicht helfen konnte.
 

Alfred hatte nicht mal mehr Hoffnung für sich selbst. Er war nicht mehr der Junge vom letzten Jahr, der sich eisern durch alles durchschlagen konnte, der Mut und Zuversicht besaß und diese aufrichtigen Herzens mit seiner Umwelt zu teilen pflegte. Stattdessen war aus ihm der Junge geworden, der in einem tiefen, düsteren Loch feststeckte und der kein Licht sah, wenn er gen Himmel blickte. Es war so dunkel. Er hatte Angst und er war vollkommen ausgelaugt; er wollte bloß noch ins Bett und schlafen und nie mehr Familien- oder Einzeltherapie oder sonst etwas über sich ergehen lassen müssen...
 

Entsprechend haderte Alfred mit sich, als er sich langsam auf den Weg über den Flur machte. Die Hände in den Hosentaschen und einen der neuen, unscheinbaren Pullis tragend, die er gestern in der Geschenktüte entdeckt hatte, wünschte er, er könnte die Therapie absagen. Sein himmelblaues Tagebuch lag unangetastet auf seinem Schreibtisch, weil er es sich getrost sparen konnte, noch etwas zum letzten Sommer zu notieren. Nach gestern war Frau Brooke wohl klar geworden, was Alfred damals in Erfahrung gebracht und ihn so tief im Kern zerbrochen hatte. Dieses arglistige Lügenmärchen... So was konnte man doch niemandem zumuten. So was konnte man nicht erzählen oder aufschreiben. Erst recht nicht für eine Therapeutin, die einen völlig zu Recht hasste, weil man mit 16 Jahren den Mund nicht aufbekam.
 

Sich nicht zum Anklopfen überwinden könnend, blieb Alfred neben dem Therapiezimmer stehen und sah auf seine Füße hinab, wippte mit den Zehen und hörte das schräge Gluckern in seinen Eingeweiden. Sein Kissen lag auf seinem Bett und wenn ihn heute Morgen niemand zum Aufstehen gezwungen hätte, würde er ihm jetzt noch Gesellschaft leisten. Alfred war entsetzlich erschöpft. Er wollte nicht mehr für all das aufstehen, leben oder gar sein müssen. Nicht für ein „Gut, abgenommen!“, das er nicht sah; nicht für ein Frühstück, das er nicht wollte; nicht für Gefühle, die ihn lieber erbrechen als reden ließen, und erst recht nicht für eine Therapie, die ihm nicht helfen konnte. Warum wurde all das von ihm verlangt?
 

Der Jugendliche linste die Türe an und schämte sich erneut, sowohl für sich selbst als auch seine Eltern. Konsultation I schrie ihm das Plastikschildchen von der Wand aus entgegen. Dabei wollte er gar keine Konsultation.
 

Zu seinem Unglück wurde nun auch noch die Türe von innen geöffnet und eine verdutzte Frau Brooke schaute ihn unverwandt an.

„Ach, du bist ja doch schon da!“
 

Er war zu spät. Allerdings nicht, weil er vorab getrödelt hatte, sondern weil er minutenlang hier gestanden und Däumchen gedreht hatte. Sogar ein höflicher Blickkontakt war ihm zuwider. Wenn er jetzt in dieses Therapiezimmer ging, würde die Frau ihn fertig machen und das wäre...nicht gut für ihn. Gar nicht gut. Überhaupt nicht gut. Allein bei der Aussicht begann die Kugel in seiner Herzkammer in Schwingungen zu geraten.
 

Von der Tür zurücktretend, winkte Frau Brooke Alfred herein, dem dabei schlagartig übel wurde.
 

„Was stehst du denn da draußen, hm?“ Ohne es zu beurteilen, schloss sie freundlich gesinnt die Türe hinter ihm.
 

„Äh, ich wollt’ gerade klopfen. Bin ’n bisschen spät dran. Sorry!“, rupfte Alfred an der ersten Notlüge, die ihm in den Sinn kam und nahm notgedrungen Platz. Die Sterne und das Sonnenbild hinter sich, befand sich sein Stuhl exakt gegenüber Frau Brookes Stuhl. Sie hatte aber nicht absichtlich an den Stühlen rumgerückt, oder? Na immerhin gab es noch die trennende Schreibtischplatte zwischen ihnen.
 

Bevor er feststellen konnte, ob ihm seine Therapeutin die mit einem schiefen Grinsen runtergerasselte Lüge abkaufte, ließ Alfred fahrig den Blick schweifen und konzentrierte sich letztlich auf die Kante des breiten Schreibtischs. Seine Füße wollten hibbeln, aber das wollte er nicht, also zwang er sie mit aller Macht dazu, fest auf dem Boden stehen zu bleiben.
 

Das hier war so unangenehm. So furchtbar, furchtbar unangenehm! Was hielt man denn von einem Menschen, mit dessen Eltern man eine Unterhaltung darüber geführt hatte, dass er im Grunde genommen komplett überflüssig war? Gar nichts hielt man von so einem Menschen. Absolut gar nichts! Alfred musste es wissen, denn er war dieser Mensch...
 

„Wie geht’s dir heute?“
 

„Gut“, schnellte ihm das Wort von der Zunge. So offensichtlich falsch, dass er gepresst weiterlächelte und den Blickwechsel anhaltend vermied.
 

Von der anderen Tischseite aus erreichte ihn ein langes „Mhm...“, dem sich Schweigen anschloss. In der rechten Hand einen Kugelschreiber und vor sich ein Clipboard für Notizen, wartete Frau Brooke. Sie wartete darauf, dass Alfred etwas sagte und sie wusste, er hielt es nicht aus, dauerhaft nichts zu sagen. Mit dieser Erwartungshaltung konnte sie ihn immer gar köcheln. Es war nur eine Frage der Zeit: tick tack, tick tack, tick tack...!
 

„Wie soll’s mir schon gehen?“ Sein Lachen war immer noch durchweg nervös, als er die Arme lasch verschränkte, wobei ihm jedes Gelenk so stark schmerzte, als sei es von Arthritis befallen. Zudem tippte sein linker Fuß jetzt doch. Alfred hatte sich wirklich in keiner Weise im Griff...
 

„Das frag ich dich ja“, erwiderte seine Gesprächspartnerin weich, die filigranen Augenbrauen hebend.
 

Sie sollte bitte damit aufhören. Konnte sie ihm nicht einfach einen Anschiss verpassen und ihn danach zum Teufel jagen? Musste sie ihn in einem fort anschauen? Sie wusste doch, wie unerträglich es für ihn war, dass sie einerseits von seiner völlig demolierten Familie erfahren hatte und andererseits über seine grundlegende Unwichtigkeit unterrichtet worden war. Seine Mom und sein Dad hatten ihr doch bestimmt in angemessenen Worten zu verstehen gegeben, dass er nicht mehr gebraucht wurde. Von gewollt konnte gar nicht erst die Rede sein!
 

Wie sollte es ihm also damit gehen? So, wie es ihm eben seit einem Jahr damit ging...
 

Als Zeichen dafür, kein Wort für dieses Gefühl übrig zu haben, schüttelte Alfred verneinend den Kopf. Es war eine kurze, herbe Regung, die er ob seiner stechenden Nackenmuskeln sogleich bereute.
 

„Weißt du“, setzte Frau Brooke in einer vorsichtigen Tonlage an, „normalerweise schicke ich keine Patienten aus ihrer eigenen Familientherapie raus. Aber gestern, da musste ich wirklich mal dringend mit deinen Eltern unter vier Augen sprechen. Wir können ja keine Therapie in deinem Interesse führen, wenn deine Mutter und dein Vater nicht fähig sind, ihre eigenen Konflikte zurückzustellen. Das geht so nicht. Und zu erleben, wie heftig sie miteinander gestritten haben, das war sehr..nun, erschreckend. Oder wie empfandest du das?“
 

Erschreckend war ein Ausdruck, der vor allem gegen Ende letzten Sommers zutreffend gewesen war. Als Alfred zum ersten Mal Sätze und Worte vernommen hatte, die nicht für seine Ohren bestimmt waren.

Natürlich, seine Eltern hatten sich auch früher schon gelegentlich gestritten, aber er hatte häufig darüber hinweg gehört, die Musik lauter gedreht, den Fernseher eingeschaltet, sich die Kopfhörer aufgesetzt und gezockt oder sich sein Rad geschnappt, um zu einem Kumpel zu fahren. Ihm war eigentlich immer was eingefallen und es war nie so haarsträubend gewesen wie in den jüngsten Jahren. Ihm war eiskalt und zugleich schwindend heiß geworden, als er letzten August in seinem Wandschrank rumhantiert hatte und der Streit seiner Eltern ausgebrochen war. Im Schrank aufgrund des Lüftungsschachts und der dünnen Wände so viel besser zu vernehmen als im Zimmer. Und plötzlich waren da diese Worte gewesen, diese Wahrheiten.
 

Sogar jetzt noch begann Alfred unterschwellig zu zittern, wenn er an damals, an gestern und an die unwiderlegbaren Tatsachen dachte. Versteckt schluckend, brachte er ein „Doch, schon“ heraus, das erbärmlich klang und bei dem ihm die Fingerspitzen unangenehm prickelten, so als würden sie einschlafen.
 

„Mhm. Und das passiert bei euch Zuhause häufiger in letzter Zeit?“
 

Er konnte lediglich nicken, nicht darüber reden. Das mit seiner Familie, das packte ihn ganz tief in der Seele und ließ ihn unerbittlich frieren. Das Frieren wiederum strömte in Richtung Herz und machte sich daran, Zelle um Zelle zu vereisen. Die Kugel bekam allmählich Schwierigkeiten, da das Blut dicker wurde, das Herz sich aber unaufhaltsam zusammen zog. Alfred merkte all das vor allem an den immer schwerer zu tätigenden Atemzügen. Seine Brust schnürte sich zu und in seinem Nacken stach und stach und stach es.
 

„Deine Eltern haben mir gestern gesagt, sie waren bisher der festen Überzeugung, du bekommst das gar nicht mit...“, ließ Frau Brooke im Raum stehen. Alfred erkannte ihre Stimmlage sofort wieder. Es war dieselbe, die sie auch an den Tag gelegt hatte, als sie ihm nach der Aktion mit den Bauklötzen ein „Natürlich verstehst du das“ zugestanden hatte. Sie hielt ihn nicht für dumm. Sie hielt seine Eltern für blauäugig.
 

„..dabei hast du sehr viel mitbekommen, kann das sein?“, fuhr sie nun langsam fort.
 

Alfred musste ertappt nach Luft schnappen, wobei seine Hände auf seine Oberschenkel fielen.

„Ich weiß, Sie sind total angepisst, weil ich Ihnen nix gesagt hab und es tut mir auch leid, aber..wie denn?“ Wie, verdammt noch mal, wie!? Er konnte das nicht! All seine Lungenbläschen waren gerade dabei zu verkümmern und er hielt diese Unterhaltung nicht durch. Sein Rückgrat schien sich zusammen zu stauchen und er wollte einfach nur, dass ihm Frau Brooke ihren Missmut mitteilte und ihn gehen ließ...!
 

Diese jedoch rückte auf ihrem Stuhl ein Stückchen nach vorne und legte den Kugelschreiber mit dem Kliniklogo drauf beschwichtigend nieder.

„Ich bin nicht sauer auf dich. Wirklich nicht. Darüber musst du dir keine Sorgen machen. In Ordnung?“
 

Das ergab doch alles keinen Sinn! Das hier nicht, seine Familie nicht und vor allem er selbst nicht. Alfred nahm es trotzdem hin, indessen er die Unterlippe weit genug zwischen die Zähne zog, um mit der Zungenspitze hinüber gleiten zu können.

„Okay.“
 

„Außerdem hast du mir bezüglich deiner Eltern schon mal was gesagt. Naja, nicht viel, aber zumindest ein ganz kleines bisschen.“
 

„Nein!?“ Nein, hatte er nicht! Einen Scheiß hatte er getan, weil er es gar nicht hinbekam! Nicht mal richtig protestieren konnte er, bloß aufschauen und sich über die gutmütigen Augen seiner Therapeutin wundern.
 

„Doch, sicher. Als wir am Montag dein Arbeitsblatt ausgefüllt haben. Da hast du genau da gesessen, wo du jetzt auch sitzt, und weißt du noch, was du da zu mir gesagt hast?“
 

„Dass meine Eltern nich’ herkommen.“ Es zu wiederholen, machte es nur bitterer und schmeckte so, wie sich Alfred den Geschmack des über Nacht stehen gelassenen Erbrochenen vorstellte. Sein Magen kniff und sein Herz pumpte hektisch. Rein äußerlich klammerten sich seine verschwitzten Finger in den Stoff seiner Jeans, denn der doofe Pullover hatte keinen Reißverschluss und keine Schnüre, an denen ablenkend gezupft oder gezogen werden konnte.
 

Wie um alles in der Welt war es eigentlich möglich, dass Frau Brooke nicht sauer war? Das überstieg Alfreds Horizont. Die Frau wollte ihn doch garantiert aufs Glatteis führen! Sein Dad war eh schon wütend, weil Alfred in dieser Therapie die Zähne nicht auseinander bekam. Wenn er von Frau Brooke erfuhr, dass es munter so weiterging, würde er womöglich auf die geniale Idee kommen, Alfred das Taschengeld zu streichen und ihm das Auto wegzunehmen, um damit die horrende Klinikrechnung zu begleichen – und das wäre nur der finanzielle Aspekt. An den daran geknüpften Ärger wollte Alfred gar nicht erst denken...!
 

„Ja, das auch. Und davor hast du mir noch was gesagt, als wir uns darüber unterhalten haben, ob sich deine Eltern Sorgen um dich machen.“ Frau Brookes Mimik wollte ihn zu einer Rückreise bewegen, aber Alfred verzichtete und zuckte rasch mit den Achseln, derweil seine Mundschleimhaut in Sekundenschnelle staubtrocken wurde.
 

Warum hörte der ganze Spuk nicht endlich auf? Er wollte sein Kissen und sein Zuhause. Seine Mom und seinen Dad und dass alles wieder wie früher war und er in aller Seelenruhe erwachsen werden konnte. Aber das würde nie passieren. Er würde niemals erwachsen werden. Er war völlig gefangen in dem ganzen Dilemma und seine Herzwände waren drauf und dran, die mit Stacheldraht ummantelte Emotionskugel zu zermalmen.
 

„Das weißt du doch bestimmt auch noch?“
 

Ja, aber das wollte er nicht wissen! Deshalb konnte er auch nicht reden. Nur schwitzen und schlucken. Sein Gegenüber wartete dieses Mal vergebens. Alfred starrte unbeirrt auf die Tischkante, während seine Schlüsselbeine und sein Hals zu jucken anfingen. Den Drang, sich wie wild zu kratzen, konnte er nur mühsam unterjochen.
 

„Da hast du zu mir gesagt, dass du gar nicht wirklich krank bist, sondern deine Eltern nur unbedingt wollen, dass du weg bist“, holte ihm seine Therapeutin nun auch noch seine eigenen Worte ins Gedächtnis zurück und sorgte mit ihren nächsten Sätzen dafür, dass etwas in Alfred zerplatzte.

„Das fand ich sehr traurig zu hören, Sonnenschein. Da musste ich mich natürlich sofort fragen: was ist denn da bei euch Zuhause los, dass für dich ganz klar ist, dass deine Mom und dein Dad dich nicht da haben möchten?“
 

Unkontrolliert musste Alfred aufschluchzen, während all die Gefühle, die er seit gestern nur bedingt wahrnahm, plötzlich seinen Brustraum überschwemmten. Sich zwischen seinen verwelkten Lungen ausbreiteten, in die Adern drangen und mit den hastigen Herzschlägen durch seinen Körper fluteten. Gleichzeitig verkrampften sich seine Hände zu Fäusten und seine Augen brannten, als hätten sie Kontakt mit unverdünnter Salzsäure gemacht. Ihm war so kalt, dass seine Worte wie von Schüttelfrost zerhackt aus ihm herausbrachen:
 

„Die..die wollen mich halt nicht mehr! So einfach is’ das! Warum auch? Was soll’n die denn noch mit mir?! Dad hat schon ewig ’ne andere Familie und keiner sagt mir was! Die haben mich mein ganzes Leben lang belogen! Ich bin einfach total überflüssig und den beiden nur noch lästig! Wenn ich nich’ wäre, dann..Die trennen sich doch nur wegen mir nicht! Aber sie streiten ständig. Ich hör das doch! Ich bin doch nich’ taub, verdammt!“ Dumm. „Meine Mom sagt auch immer, dass mein Dad gehen will und mein Dad behauptet dann jedes Mal, da wär nix, aber Matthew gibt es! Und der sieht aus wie ich! Nur normal! Der is’ weder fett noch abgefuckt!“ Fett. „Ich hab den mal gesehen, auf Facebook, nachdem ich meine Eltern streiten gehört hab und Mom gesagt hat, dass Dad doch endlich zu seiner Michelle und seinem Matthew verschwinden soll...!“ Ungeliebt. „Ich dachte immer, mein Dad wär wegen der Arbeit ständig in Kanada! Aber in Wahrheit ist er bestimmt immer bei Matthew. Mein Dad hat mich einfach eingetauscht!“ Ersetzbar. „Warum bin ich meinem Dad zu schlecht? Ich hab das früher nie gemerkt! Ich hab das echt nicht gemerkt...!“ Verzweifelt. „Und meine Mom, die kann überhaupt nicht ohne meinen Dad! Sie hat gesagt, ich muss so schnell wie möglich gesund werden, sonst geht er. Aber ich werde nich’ mehr gesund. Ich wollte ja nich’ mal krank werden! Ich versteh nicht, wie das passieren konnte! Ich wollt’ doch nur..Ich hab doch nur versucht...“ Bemüht. „Aber jetzt bin ich krank und mein Dad geht und meine Mom ist total enttäuscht von mir, weil ich uns nicht zusammen halten konnte.“ Versager! „Dabei weiß ich nich’ mal, ob meine Mom...ob die wirklich...? Ich kapier’s einfach nicht! Ich hab keine Ähnlichkeit mit meiner Mom und Matthew sieht aus wie ich, und der is’ auch etwa so alt wie ich. Was, wenn meine Mom überhaupt nicht meine echte Mom ist!? Sie sagt immer, Matthew wär Dads anderer Sohn! Aber nich’ ihr anderer! Wer is’ Matthews Mom und-und wer ist meine Mom?! Keiner sagt mir was! Mir hat nie irgendjemand auch nur irgendwas davon gesagt!“ Unwichtig. „Wenn ich meine Eltern letzten Sommer danach gefragt hätte, dann hätten die doch nur wieder gelogen! So wie all die Jahre schon! Ich werde immer nur belogen! Mein ganzes Leben ist ’ne Lüge! Was soll ich denn Ihnen oder sonst wem erzählen? Ich weiß doch selber nix. Ich weiß gar nichts mehr...!“
 

Da waren gigantische, dunkle Flecken auf seiner Jeans, weil ihm plötzlich so viele Tränen übers Gesicht strömten. Sie sprangen Alfred geradewegs aus dem verkümmerten Herz und deformierten seine Worte, brachen seinen Silben das Genick und erstickten ihn fast. Teilweise waren seinem Unterbewusstsein Sätze entflohen, die er sich strikt zu denken verboten hatte, denn er konnte damit nicht umgehen.
 

Was hatte es wirklich mit Matthew auf sich?

Was war mit seiner Mom? Was mit seinem Dad?
 

In seiner bodenlosen Verzweiflung hatte Alfred letztes Jahr an einem stillen Nachmittag die Schubladen der Wohnzimmerschränke durchforstet, bis er auf ein hellblaues Babyfotoalbum gestoßen war. Zwischen den drolligen Zeichnungen von quietschgelben Entchen und bunten Zootieren hatte seine Mutter etliche Fotos von ihm liebevoll platziert, alle mit Datum und kleinen Bemerkungen versehen. Unter seinem ersten Foto prangte das Datum 29.07. Wieso? Was war mit den Wochen davor? Es machte den Anschein, als hätte er vom 04.07. bis 29.07. gar nicht existiert! Dabei zückte seine Mom seit je her an jedem Geburtstag, jedem Halloween und jedem Weihnachtsfest pflichtbewusst die Kamera. Warum dann ausgerechnet in seinen ersten Lebenswochen nicht?
 

Früher hatte Alfred nie über seine Babyfotos oder sonst was nachgedacht; doch seit er die erschütternden Streitereien belauscht und Matthews Profilbild entdeckt hatte, konnte er sich die fehlenden Fotos nur so erklären: er war nicht von Geburt an bei seiner Mom gewesen. Sie war nicht seine echte Mom. Sie war vermutlich eine völlig fremde Frau, die er unsagbar liebte und die in bester Schönschrift seine Fotos im Album kommentiert hatte. Allerdings hatte sie auch keine Skrupel gehabt, ihn von klein auf hinters Licht zu führen und ihn stets ihren Sohn zu nennen.
 

Die Erkenntnis war für Alfred so dermaßen schockierend gewesen, dass er gar nicht in der Lage war, seine Eltern darauf anzusprechen. Er wollte nicht hören, wie sie logen oder, noch schlimmer, ihm sagten, dass sie keine echte Familie waren. Seine Mom würde immer seine Mom bleiben; etwas Anderes akzeptierte er nicht.

Folglich hatte Alfred das Fotoalbum zugedonnert und seit jenem verhängnisvollen Tag den erdrückenden Verdacht auf seinen gedanklichen Index gesetzt. Die bloße Vorstellung, richtig zu liegen, machte ihn mindestens genauso krank wie das unaufhaltsame Verschwinden seines Dads...
 

Das stumpfe Entsetzen hatte ihm an dem Tag die Tränenkanäle verstopft und ihn nicht weinen, sondern bloß apathisch in die Küche gehen und die Kühlschranktür aufziehen lassen. Hier und jetzt sah das ganz anders aus:

Aufgrund seiner vorgebeugten Sitzhaltung war Alfreds ganze Sicht ein verschwommenes Fiasko. Sogar auf seinen Brillengläsern hatte sich eine dünne Wasserschicht gebildet. Er konnte die Brille allerdings nicht abnehmen. Er schaffte momentan gar nichts. Ursprünglich hatte er nicht mal vorgehabt, überhaupt etwas zu sagen, aber irgendwo kam das alles plötzlich her und glich einem Schwall angstbesetzter Gefühle, die er ein Jahr lang in sich gebunkert hatte, ohne sie je loswerden zu können. Was er durchmachte, kümmerte doch eh niemanden. Er war fettdummunwichtigundungeliebt; er hatte keine echte Vergangenheit, er war krank in der Gegenwart und sein Ich würde keine Zukunft mehr erfahren.
 

„..ich-ich weiß nur, dass mich keiner mehr will. Nicht meine Eltern und auch nich’ meine Freunde... Meine Eltern holen mich hier nie wieder ab! Die holen mich nie mehr nach Hause! Die kommen mich nicht mal besuchen! Die hassen mich...! Meinem Dad bin ich nich’ gut genug, weil er Matthew hat und meine Mom ist wütend auf mich, weil ich meinen Dad enttäuscht hab und er uns deswegen verlässt...!“ Der nächste Schwall aus Tränen und Schluchzen überkam Alfred. Mittlerweile hatte sich die schmerzliche Anspannung vom Nacken aus in seinem ganzen Körper ausgebreitet. Vor allem die Schulter- und Brustpartie taten ihm höllisch weh. Das Gesicht über und über von einer löchrigen Röte überwuchert, rang er erfolglos nach Atem. Es war, als säße er im Vakuum. Warum hatten seine Eltern ihn zum Sterben hierhin gebracht? Wie konnten sie ihm das antun? Er hatte sich so angestrengt, für sie alle! Doch jetzt, da er offiziell krank war und nicht mehr konnte, hatten sie ihn ohne mit der Wimper zu zucken abgeschoben...
 

Unbewusst registrierte er, dass sich jemand neben ihn hockte und ihn behutsam an den Schultern nach hinten, in eine aufrechte Sitzhaltung, zu dirigieren versuchte.

„Shhhh, hey... atmen, Sonnenschein, versuch ruhig zu atmen, ja?”, lautete die dazugehörige Besänftigung, während sein Rücken Kontakt mit der Stuhllehne machte. Aber Atmen war ein Ding der Unmöglichkeit. Alfred konnte weder Atmen noch das haltlose Weinen oder das unkoordinierte Reden einstellen.
 

„...Ich-ich kann nich’! Ich will nach Hause. Bitte... ich will doch nur nach Hause und dass alles wieder so is’ wie früher...“
 

Jemand zog ihm mit geschickten Fingern die Brille von der Nase, was ihn nur noch bitterlicher heulen ließ, denn sonst war nie jemand da, wenn er traurig war oder wenn ihm etwas wehtat.
 

„Ich hätt’ gestern nicht sagen dürfen, dass ich das von Matthew weiß. Das hätt’ ich nich’ sagen dürfen... Jetzt trennen sich meine Eltern doch sofort und Dad zieht nach Kanada und-und..wenn meine Mom gar nich’ meine echte Mom ist, dann behält sie mich auch nicht und dann kann ich nirgendwo mehr hin...!“
 

Er hätte gestern seine verdammte Klappe halten müssen! Dann wäre heute alles nur halb so wild. Dann müsste er jetzt nicht an Herzversagen und Atemnot krepieren. Sein Herz hämmerte nämlich ohne Punkt und Komma und das läppische bisschen Luft, was er tatsächlich einatmete, schien auf dem Weg in seine Lunge verloren zu gehen. Das Blut in seinen Ohren surrte und eine rücksichtslose Schwärze prügelte so heftig wie ein Kickboxer auf sein Bewusstsein ein. Aus Alfreds Mund tropfte etwas, das die Gestalt eines „Ich kann nicht atmen“ oder eines „Ich sterbe“ annahm; oder aber von etwas ganz Anderem, das er selbst nicht zu identifizieren vermochte.
 

Er bekam einen Herzinfarkt; richtig?
 

Man hatte ihn zum Sterben her gebracht und jetzt starb er tatsächlich, ohne Familie und ohne je erwachsen geworden zu sein. Er würde nie wieder Baseball spielen und nach einem erfolgreichen Home Run seine Mitspieler high-fiven. Er würde nie wieder mit Freunden ins Kino gehen und über drei Sitzreihen hinweg Popcorn durch den Saal werfen. Er würde nie wieder den köstlichen Kürbiskuchen mit selbstgemachter Zimtsahne von seiner Mom zu Halloween essen, und er würde nie wieder mit seinem Dad ein Spiel der Yankees ansehen. Nie wieder im Sommer auf dem Rücken im Wasser treiben und zum meerblauen Himmel hinauf blinzeln. Nie wieder Amelias kesses Lachen hören und sich nie wieder bei einem schaurigen Film dermaßen gruseln, dass er das Gesicht halb in der Decke verstecken musste. Er würde nie wieder früh morgens wach werden und den frühlingsfrechen Sonnenstrahlen dabei zuschauen, wie sie langsam in sein Zimmer krochen. Nie wieder das Tanzen von Schneeflocken beobachten oder wild blinkende Weihnachtsdeko aufhängen. Nie wieder den Geruch von Regen oder das Farbspektakel eines Feuerwerks genießen. Nie wieder ein Modellflugzeug bauen, nie wieder den kosmischen Weiten im Planetarium begegnen, nie wieder neugierig knisterndes Sternenpapier von schillernden Weihnachtsgeschenken reißen. Er würde nie einen unbeschwerten Ausflug in seinem neuen Auto machen, während die anderen Plätze von Freunden besetzt waren – nicht von irgendwelchen Tüten diverser Fast Food Restaurants. Er würde nie wieder am Unabhängigkeitstag singen, nie wieder schlumpfblaue Eiscreme lutschen und niemals die Westküste kennen lernen. Kein Motorradurlaub, kein San Francisco und keine Golden Gate Bridge für ihn. Auch kein anderes Reiseziel. Kein Collegeabschluss und keine eigene Wohnung. Nie mehr der Duft von frischen Waffeln und nie, nie wieder das gute Gefühl, nach Hause zu kommen und dort liebevoll in die Arme geschlossen zu werden.
 

Das war so traurig...
 

„Alfred, hör mir zu. Versuch mich anzusehen und hör mir zu!“ Die Hände an seinen Schultern zeigten sich weiterhin unnachgiebig. Je mehr er sich, gebeutelt vom Weinen, nach vorne lehnte, desto mehr Widerstand übten sie aus. In seinem Kopf hallte alles echoartig wider, seine Finger und Füße kribbelten, ihm war eiskalt, speiübel und sein Gesicht war knallrot vor Hitze und Aufregung. Vor allem aber vor Panik, weil er einfach keine Luft mehr bekam, sondern hechelte wie ein Hund, der bei 35 Grad Außentemperatur und mit geschlossenen Fenstern ins Auto gesperrt worden war.
 

„..zurücklehnen!“, drückten ihn die Hände stark in die entsprechende Richtung, indessen die dazugehörige Stimme ihn klar und deutlich zu erreichen probierte. „Und jetzt tief einatmen“, Pause, „und wieder aus. Schön durchatmen, Sonnenschein. Ein. Aus. Na komm. Ein – und wieder aus. Du musst nicht sterben, keine Angst. Hörst du? Du musst nicht sterben. Ein- und wieder ausatmen. Mit deinem Herzen ist alles in Ordnung.“
 

Nein, war’s nicht, war’s nicht, war’s nicht! Alfred merkte doch, wie es jede Sekunde zu zerspringen drohte. Nichtsdestotrotz bemühte sich irgendein Abkömmling des Selbsterhaltungstriebs in ihm, den Anweisungen folge zu leisten. Allerdings diktierte ihm Frau Brooke einen sehr schwer einzuhaltenden Rhythmus auf.
 

„Ein- und ausatmen. Ein, aus. Na komm... ein, aus. So ist gut. Ein, aus.“
 

„...ich will nach Hause...“, war das einzige, was Alfred heraus manövrierte, kaum dass ihm wieder genügend Luft zur Verfügung stand. Wie oft er seine Sehnsucht wehklagend wiederholte, war er nicht zu zählen fähig. Genauso wenig wie die ihm entgegen plätschernde Sympathie, die aus einem durchgehenden „Ich weiß, Sonnenschein, ich weiß, schön atmen. Ein, aus“ bestand.
 

Irgendwann verloren die Hände an seinen Schultern ihren eisernen Klammergriff und machten eine leicht streichelnde Auf- und Abbewegung. Die Welt hatte all ihre Formen und Konturen durch die ungeheure Tränenmenge verloren. Die Hand auf Alfreds linker Schulter ließ von ihm ab, etwas raschelte kurz, dann prangte ein weißer Tupfen in seinem Sichtfeld. Ungeschickt reimte sich Alfreds Restverstand zusammen, dass es sich um Taschentücher aus der auf dem Schreibtisch stehenden Box handeln musste. Aber es war so ungeheuer schwer, nach ihnen zu greifen. Sein gesamter Körper schien wie fremdgesteuert. Porös löste sich seine rechte Hand aus seiner Hose; jeder Knöchel tat so weh wie in einer Eisentür eingeklemmt. Dennoch bekam Alfred den Knubbel Taschentücher zu fassen und tupfte damit ungeschickt über sein klatschnassen Gesicht. Dabei schmeckte er, dass ihm, abgesehen von Tränen, auch die Rotze über Mund und Kinn rann. Wie erniedrigend...
 

Von einem erneuten Schluchzen durchgeschüttelt, hob Alfred seine linke Hand, um sich beidhändig die Taschentücher aufs Gesicht zu pressen. Es kam immer noch Träne um Träne und ein Ende schien nicht in Sicht. Sein Pulli war der Länge nach mit Salzwasser durchweicht. Unter den Armen hatten sich massive Schweißflecken gebildet. Wieso schwitzte er so stark, wenn ihm doch eigentlich kalt war? Weshalb hatte er überhaupt den verrückten Eindruck, direkt neben sich zu stehen und sich selber zu beobachten, obwohl er zweifelsohne hier saß und jeden überstrapazierten Muskel in sich spürte? Er konnte doch nicht an zwei Orten gleichzeitig sein!?
 

„Shhh... schön ans Atmen denken. Dann wird’s gleich besser...“ Erneut war da das zupfende Geräusch. Alfred verstand blind und tauschte sein durchweichtes Taschentuchknäuel gegen ein neues, das ihm wohlwollend angereicht wurde. Um sich sonst in irgendeiner Weise zu äußern, fehlten ihm sowohl die Stimme als auch die Kraft. Zumindest vermittelte ihm aber sein heftig pochendes Herz nicht länger den Eindruck, sich selbst zu Tode zu hetzen. Auch die Luft drang wieder tiefer in seine Lunge, die ihre Leistungsfähigkeit zurück erlangte. Doch es tat weh.
 

Alles tat furchtbar weh...
 

„Sonnenschein, ich würde dich gerne auf dein Zimmer zurückbringen, damit du dich hinlegen kannst. Meinst du, wir beide schaffen es, zu deinem Zimmer zu gehen, wenn ich dir helfe?“
 

Alfred nickte am mittlerweile sicher schon fünften Taschentuchknäuel vorbei. Zimmer klang gut, denn im Zimmer war sein Bett und sein Kissen, das nach dem Waschmittel roch, was seine Mom immer benutzte und wenn er schon nicht nach Hause konnte, dann wäre das noch der beste Ort zum Sterben. Wenn nur endlich die blöden Tränen aufhören würden! Aber seine Lippen bebten wacker weiter und er weinte immer noch viel zu viel.
 

„Gut. Dann komm... Nicht mehr weinen. Das wird wieder besser, hörst du? Das wird wieder besser.“
 

Alfred hatte nichts weiter als ein Kopfschütteln für das Gerede übrig, derweil er irgendwie auf die Füße kam. Mit Beinen so wabbelig, als sei er jahrelang im All unterwegs gewesen, ließ er sich aus dem Therapiezimmer geleiten.
 

„Doch, wird es...wird es“, sickerte ihm tröstender Zuspruch ins Ohr. Frau Brooke winkte auf dem Weg über den Flur zum Schwesternzimmer hinüber, was Alfred erst klar wurde, als ihn eine weitere Person von der anderen Seite stützte. Es dauerte schier ewig, bis sie seine Zimmertür erreichten und die Duftwand durchbrachen. Gleich darauf registrierte er die Matratze unter sich. Das Gesicht der Wand zugekehrt und das Kissen an sich ziehend, war sein Schluchzen zu einem armseligen Wimmern zusammen geschrumpft. Die Tränen purzelten zwar noch, hatten aber an Geschwindigkeit verloren.
 

Hinter ihm im Raum wurde zurückhaltend geflüstert. Jemand legte Alfred seine Decke über, was ihm in Anbetracht der scheußlichen Kälte ganz recht war.
 

Wo war seine Unverwundbarkeit vom Vortag abgeblieben? Wieso ging der Schmerz nicht weg? Warum tat alles so weh?
 

Alfred atmete hörbar durch den Mund und versuchte, trotz verstopfter Nase, mehr des Kissendufts aufzuspüren. In sein Bewusstsein begannen allmählich die nüchternen Fakten vorzudringen: Da war eine Therapeutin in seinem Zimmer, der er sein Herz ausgeschüttet hatte, und da war noch jemand, vermutlich eine der Krankenschwestern. Die zwei sahen ihn, wie er hier lag und sich die Augen aus dem Kopf heulte. Er musste sich zusammenreißen und damit aufhören, aber es wollte partout nicht klappen! Gedemütigt kauerte er sich noch mehr unter der Decke zusammen; die Nachkommen des Schluchzens mit einem Biss auf die Zunge mundtot machend.
 

Noch jemand betrat das Zimmer. Eine Unterhaltung, gedämpft wie unter der Wasseroberfläche, fand statt. Analytische Sätze wurden beratschlagend hin und her geschoben, bis die Wissenschaft sich in Stille verwandelte. Dann ließen sich gleich zwei Leute hinter Alfred auf der Bettkante nieder.
 

„Alfred?“ Frau Brooke. „Versuch dich ein bisschen auszuruhen und ein wenig zu schlafen, ja? Dann geht’s dir nachher auch etwas besser.“ Parallel zu ihren sanften Worten, lüpfte sie langsam die Decke, nahm sich seine rechte Hand und zog seinen Arm aus der angewinkelten Haltung. Wohlgemerkt nur den Arm, denn Alfred wollte sich nicht umdrehen und schon gar nicht irgendjemanden ansehen.
 

„Wir geben dir jetzt noch schnell was, damit du ruhiger wirst, in Ordnung?“
 

Es war keine Frage, allerdings begriff Alfred das nicht, sondern blockte mit einem „N-nein“ ab. Das Wort ging zwischen zwei Schniefern unter, derweil sich Frau Brookes warme Finger um sein Handgelenk legten. Ihr Daumen strich ihm in leichten Kreisen über die empfindliche Haut und spendete ihm Ruhe. Jemand anders krempelte den Ärmel seines Pullovers hoch, was Alfred zuwider war, denn das war kalt. Bevor er in irgendeiner Weise aufmucken konnte, wurde es noch kälter. Konkreter wurde es direkt in seine Armbeuge feuchtkalt. Ein Tupfer kam mit der Haut in Berührung. Dann nichts und dann das Stechen, das ihm ein lautes „Au!“ aus dem trockenen Hals riss.
 

Wie konnte ihm ein kleiner Piekser noch weh tun? Und warum stach man ihn überhaupt?
 

„Schon vorbei. Gleich kriegst du wieder besser Luft und dann kannst du auch schlafen“, wurden ihm weitere Worte auf dem Handgelenk verstrichen, unterdessen ihm die andere Person ein Pflaster in die Armbeuge klebte. Eine zweite Frauenstimme erwähnte etwas, dann meldete sich erneut die Männerstimme im Hintergrund zu Wort. Reflexartig vergrub Alfred das Gesicht tiefer im Kissen und wünschte sich, entweder Zuhause oder tot zu sein. Hauptsache weg...
 

Nachdem man seinen gepiesackten Arm zurück unter die warme Decke geschoben hatte, verabschiedeten sich beide menschlichen Gewichte von der Matratze. Die Zimmertür klappte leise, aber Alfred spürte, dass er nicht alleine war. Da war die Präsenz eines anderen Menschen im Raum. Sein Verdacht bestätigte sich, als er das feine Quietschen des Schreibtischstuhls ortete. Jemand war definitiv geblieben und hörte sich an, wie ihm die Tränen ausgingen.
 

Alfred wusste nicht, wie er das finden sollte. Geschweige denn, was hier überhaupt mit ihm passierte. Er war nur noch für das Hämmern hinter seiner Stirn sowie für seine gleichmäßiger werdenden Atemzüge empfänglich. Der Stoff unter seiner Wange war klamm und seine Nasenspitze bohrte sich in das Kissen, sodass er den Kopf notgedrungen ein wenig drehen musste, um besser atmen zu können. Es ging sogar. Da war Luft, die ihm unter zitterndem Frieren in den Körper glitt.
 

Er hatte sich noch nie im Leben so schlecht gefühlt...
 

Die Decke schien an Gewicht zu gewinnen. Aber er war viel zu geschafft, um dafür noch einen Gedanken übrig zu haben. Müdigkeit fraß sich durch seine gequälten Hirnwindungen. Alfred hatte riesigen Durst; in seinem Hals brannte jeder Atemzug lichterloh, aber er konnte sich nicht bewegen, weil ihm dazu viel zu kalt war. Seine Zähne schlugen klappernd aufeinander und seine Zehen rieben sich gegenseitig warm.
 

Im Hintergrund ertönte ein feines Klick. So wie es immer ertönte, wenn Feliciano am Heizungsknopf drehte und Stufe 5 einstellte. Die Feststellung war das Letzte, was Alfred durch die Sinne spukte, als er im Beisein seines groben Herzstolperns und der sadistischen Kälte endlich in den Schlaf übersiedelte.

{ 22. | Such a Shame }

Die Kälte war fort. Kein Zähneklappern und kein heimliches Aneinanderreiben der Füße mehr. Das war das erste, was sich am dünner werdenden Schlaf vorbei einen Weg in Alfreds Bewusstsein bahnte. Das kleine Kissen, an dem seine linke Gesichtshälfte klebte, war unangenehm feucht und hatte seine Wange klamm wund gescheuert. Der Geruch des mit Streifen und Sternen bezogenen Stoffknäuels drang nicht durch Alfreds verstopfte Nasenlöcher.

Nichts duftete nach Zuhause.

Sein Herz kauerte sich ob der Erkenntnis traurig zusammen.
 

Im Verlauf der nächsten Sekunden wurde dem Jugendlichen obendrein bewusst, dass er die letzten Stunden ausschließlich durch den Mund geatmet hatte. Infolgedessen fühlte sich jeder Atemzug an, als zwinge man Alfred, in Flammen stehenden Metaxa hinunter zu spülen. Bitte, Wasser oder irgendwas Anderes zu trinken...! Alfred verspürte noch genauso riesigen Durst wie unmittelbar vorm Einschlafen, aber die Augenlider aufzustemmen und etwas gegen den Missstand zu unternehmen, stellte für ihn eine enorme Herausforderung dar, der er sich gerade nicht gewachsen fühlte. Hinter seiner Stirn, direkt oberhalb der Augenbrauen, presste sich drückender Kopfschmerz gegen sein Befinden und schien sein Gehirn stetig weiter zurück zu drängen, bis es unnütz gegen den hinteren Schädelknochen stieß.
 

Wo war er?
 

Die Beschaffenheit des Untergrundes und die weiche Schicht, die ihn umhüllte, wisperten seinem Verstand zu, es mit Bettzeug zu tun zu haben.

Ein Bett also.

Aber er war nicht Zuhause.

Logischerweise konnte es also nur sein Bett in Sunny State sein...
 

Die niederschmetternde Erkenntnis seilte sich spinnenartig von der Decke ab und kroch durch Alfreds verstopfte Nase in seinen Kopf, während er sich mühevoll von der Seite auf den Rücken drehte. Bereits das kostete ihn abartig viel Energie und tat weh. Überall. Seine Wirbelsäule schien ein Sammelsurium verkalkter Knochen, seine Muskeln wie von elektrischen Stößen gebrandmarkt und seine Augenlider klebten dermaßen fest zusammen, als habe jemand sie mit Sekundenkleber präpariert.

Als er sie endlich halbwegs auseinander bekommen hatte, schwebte die helle Zimmerdecke über ihm. Ein trister Abend gestaltete die Dinge farblos. In Anbetracht der Tatsache, dass die Sonne nur morgens und vormittags direkt in den Raum fiel, nicht weiter verwunderlich. Doch die Lichtverhältnisse setzten Alfred darüber in Kenntnis, dass es spät geworden war. Er hatte lange geschlafen. Von Erholung konnte allerdings nicht die Rede sein...
 

Die Erinnerung an die jüngsten Ereignisse durchbrach die kleine Barriere, die der Schlaf in Alfred errichtet hatte und flutete über sein Gemüt hinweg. Wehleidig legte er sich daraufhin eine Hand auf die Augenpartie und rieb ausführlich hinüber.

Verdammt!

Mit jeder weiteren Erinnerungswelle ertrank er ein bisschen mehr im Schamgefühl. Er Idiot! Was hatte ihn bloß geritten, von all den Dingen zu erzählen, die ihm auf der Seele lasteten? Und mit Erzählen allein war’s ja nicht getan gewesen. Er hatte obendrein auch noch tierisch geheult! Was war da nur in seiner Therapiestunde mit ihm geschehen? Weshalb hatte er komplett die Kontrolle über sich verloren? Und was war mit seinem Herzen? Frau Brooke hatte zu ihm gesagt, es sei kein Infarkt, aber ihm war es so vorgekommen. Dieses Herzrasen war schrecklich gewesen und hatte entsetzlich geschmerzt. Außerdem hatte Alfred keine Luft bekommen und die daraus resultierende Angst hatte ihn in zunehmend größere Panik versetzt. Selbst rückblickend war es ihm ein Rätsel, nicht tot vom Stuhl gekippt zu sein. Innerlich hatte er wirklich schon mit dem Leben abgeschlossen...
 

Sich zentimeterweise aufrappelnd, stützte sich Alfred auf die Ellbogen und sah sich im Zimmer um. Alles wirkte wie mit einem Fotofilter verschandelt. Als habe man im Grafikprogramm ein paar Klicks getätigt und die Welt sei daraufhin hinter einem dreckigen Schleier verschwunden. Die Vorhänge waren beinahe gänzlich geschlossen; ein hagerer Lichtstrahl fiel mittig über den weißen Fensterrahmen und verlor sich dämmrig auf dem Boden. Kaum mehr scharfe Kanten existierten – und das hatte nicht einzig und allein mit Alfreds eingeschränkter Sehkraft zu tun. Seine Augen waren müde; gebeutelt von Schlaf und Tränen.
 

Sich noch ein bisschen weiter aufsetzend, rutschte er nach hinten, bis sein Rücken Bekanntschaft mit dem Kopfstück des Bettes machte. Sein Kopfkissen quetschte sich bei der Übung unliebsam zwischen seinen malträtierten Körper und das Holz. Lasch angelte er sich seine Armbanduhr vom Nachttisch und erschrak: es war beinahe 18 Uhr! Aber das bedeutete ja, er hatte den ganzen Tag verschlafen!? Wieso fühlte er sich dann immer noch so mitgenommen? Das war doch eigentlich gar nicht möglich und-
 

Gerade als Alfred die Uhr verstört zurücklegen wollte, ziepte es plötzlich in seiner Armbeuge. Hurtig krempelte er seinen Ärmel hinauf und sah sich im nächsten Moment mit einem Pflaster konfrontiert. Unter dem beigefarbenen Streifen ragte ein dicker Tupfer hervor.

Stimmte ja: sie hatten ihm irgendwas gespritzt, nachdem sie ihn ins Bett geschleppt hatten. Hatte er deswegen wie ein Stein geschlafen? Aber einen Erholungswert hatte das definitiv nicht gehabt. Davon mal ganz abgesehen, was war denn das für eine Art, ihm einfach irgendein Zeug zu injizieren? Er wäre fast gestorben und sie stellten ihn mit Medikamenten ruhig?! Nahm denn niemand seinen Zustand ernst? Irgendwas stimmte eindeutig nicht mit ihm, wenn er dermaßen Herzrasen und Atemnot bekam!
 

Vielleicht war er ja doch zu fett geworden und jetzt rächte sich das?
 

Verängstigt griff Alfred nach der Plastikflasche mit Wasser, die ihm netterweise jemand parat gestellt hatte. Kohlensäure zischte erquickt, als er den Deckel abschraubte und ihm das Nass die geschundene Kehle hinab rann. Obwohl die Flüssigkeit Zimmertemperatur hatte, kam sie ihm nach dem stundenlangen Schmoren unter zwei Decken erfrischend vor. Ja, er zählte zwei Decken, als er an sich hinabschaute. Da war einmal seine weiße Bettdecke mit den langweiligen, aprikosenfarbenen Streifen und dann noch eine zweite Decke, filzigblau und nicht unbedingt eine Wonne, wenn man sie anfasste. Mit der freien Hand schob er beide Decken bis zu seiner Hüfte hinab. Das Wasser half und löschte das Feuer in seinem Hals. Immerhin. Ansonsten blieb alles beim Alten.
 

Alfred versuchte, seine Situation zu überdenken, kam aber zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis. Feli war immer noch fort. So viel verriet ein Kontrollblick zum anderen Bett, das seit gestern unangetastet an der gegenüberliegenden Wand stand. Dabei hätte Alfred schwören können, sein Mitbewohner sei heute Vormittag da gewesen und hätte die Heizung höher gedreht. Doch selbst vom Bett aus war ersichtlich, dass sie lediglich auf Stufe 2 eingestellt war. Kein Feliciano also...
 

An seinem Verstand zweifelnd, stellte Alfred die fast ausgetrunkene 0,75l Flasche zurück auf seinen Nachttisch und wusste nicht, was er tun oder gar denken sollte. Was war passiert? Keiner hatte ihn geweckt und keiner war mehr da, obschon er sich entsinnte, nicht allein eingeschlafen zu sein. Seine innere Stimme flüsterte ihm zu, dass seine Therapeutin bei ihm gewesen war. Sie hatte ein Auge auf ihn gehabt und sogar seine Hand gehalten, als man ihm die Spritze gesetzt hatte. Wer wiederum das gemacht hatte? Diese Lücke konnte Alfred, trotz redlichem Bemühen, nicht schließen.
 

Ohnehin verstand er unsagbar vieles nicht, zum Beispiel das mit seinen Eltern und das mit seinem Gefühlsausbruch. Warum all die Tränen? Was war da in ihm kaputt gegangen und ließ ihn auch jetzt noch vollkommen fertig im Bett liegen? Er könnte aufstehen, jemanden fragen und Antworten verlangen und der Junge, der er einst gewesen war, hätte das auch ohne zu zögern getan. Aber jetzt war dieser Junge einfach nicht in der Lage dazu. Er war viel zu ausgelaugt und sein Bauch stieß ein merkwürdig unkooperatives Geräusch aus, da er nicht zu wissen schien, was er mit dem Sprudelwasser anfangen sollte. Doch ebenso wenig wusste Alfred, was er noch mit seinem Leben anfangen sollte. Er war nichts mehr, außer ein heulendes Elend in einem Klinikbett. Und hier wollten sie ihn gesund machen? Hier war er kränker denn je...
 

Er spielte nicht mal mit dem Gedanken, seine Mom oder seinen Dad anzurufen. Das erschien ihm vollkommen sinnlos. Sie würden doch eh nicht kommen. Sie würden ihn auch nicht mitnehmen. Er war ihnen egal...

Er war fettdummunwichtigundungeliebt und zu allem Überfluss wohl auch noch mit einem selbst gezüchteten Herzfehler gesegnet. Wenn das Klopfen hinter seinen Rippen sich beim nächsten Mal in ein Rasen verwandelte, wäre wahrscheinlich alles vorbei. Ihm graute davor. Sterben tat unbeschreiblich weh, wie ihn der Vormittag gelehrt hatte...
 

Ob sein Vater schon ausgezogen war?

Ob seine Mutter, die höchstwahrscheinlich gar nicht seine Mutter war, schon darüber nachdachte, wie sie sein Zimmer umdekorieren wollte?
 

Mit dem Handrücken putzte sich Alfred barsch übers linke Auge, das unerlaubt zu tränen begann. Er kam sich unsagbar naiv vor; all die Jahre hatte er an seine Eltern geglaubt und nie irgendwas infrage gestellt. Dabei hätte ihm so einiges seltsam vorkommen müssen. Beispielsweise die verlängerten Wochenenden, die seine Mutter etwa einmal im Quartal bei ihren Eltern verbrachte, als Alfred noch ein Kind war. Ihn hatte das damals nie gestört, denn die Wochenenden waren für ihn pure Daddy time gewesen, in der er mit seinem Vater auf dem Sofa sitzen und Peperoni Pizza aus der Schachtel essen durfte. Die hausinternen Regeln wurden an solchen Wochenenden größtenteils außer Kraft gesetzt; er durfte länger aufbleiben und sein Dad war nicht arbeiten, sondern ausschließlich für ihn da. Das war wie der Himmel auf Erden für Alfred gewesen.

Essenstechnisch waren diese Wochenenden ein totales Desaster; für üblich sorgte seine Mutter für anständige Mahlzeiten, da sie in jenen Jahren noch nicht wieder zu arbeiten angefangen hatte. Doch wenn sein Dad die Aufsicht führte, gab es abends Pizza, zwischendurch Süßigkeiten und morgens gerne mal McDonald’s oder Dunkin’ Donuts, wenn Alfred raffiniert genug bettelte und sein Vater sich lieber erweichen ließ als das Lächeln seines Sohnes zu gefährden.
 

Diese Wochenenden hatten aufgehört, als Alfred etwa elf Jahre alt war. Seine Großmutter war gestorben, kurz darauf auch sein Großvater. Seine Mutter fuhr nicht mehr weg und kam auch nicht mehr mit frostiger Laune zurück.

Alfred konnte nur darüber spekulieren, weshalb seine Mutter nach den Wochenendtrips so eigenartig gewesen war: möglicherweise hatte sie gar nicht zurückkommen wollen? Unmittelbar vor dem Ausflug in die Disney World, den Alfred damals phantastisch fand, war sie ebenfalls bei ihren Eltern gewesen und hatte die unterkühlte Stimmung mit in den Familienurlaub genommen. Je länger Alfred es überdachte, desto klarer wurde es ihm: seine Mutter war nie glücklich zu ihnen zurück gekehrt. Aber warum nicht? An seinem Dad konnte es nicht liegen. Den liebte sie abgöttisch. Also konnte es nur Alfreds schuld sein. Ob er sich schon als Kind nicht so entwickelt hatte, wie von ihr gewünscht?
 

Theoretisch hätte sie ihn ja zu ihren Eltern mitnehmen können, doch selbst sein Vater schien dort nicht aus freien Stücken hinzufahren und Alfred hatte nur noch sehr verstaubte Erinnerungen an das verwitterte, ländliche Holzhaus mit der knarrenden Veranda und dem blättrigweißen Anstrich. Seinen Großvater hatte er eigentlich recht gut leiden können. Der Mann war ein gutmütiger, wenn auch schweigsamer Mensch gewesen und pflegte ihm heimlich Milchbonbons mit lustigen Kühen auf dem Papier zuzustecken. Ihre dünne Schale hatte immer herrlich zwischen Alfreds kleinen Zähnen geknackt, ehe sie den karamellcremigen Inhalt preisgab.

Seine Großmutter hingegen hatte bei jeder Gelegenheit an Alfred rumgemäkelt. Ihm das Tollen im Haus untersagt, ihn getadelt, wenn er in seinem Malbuch über die Linien gerutscht war, seine Hände vor den Mahlzeiten akribisch in Augenschein genommen und ihm verboten, den stocksauren Waldbeernachtisch zu zuckern. Zu viel Süßes sei ungesund und würde seine Zähne ruinieren. Alfred war daraufhin aufmüpfig geworden und hatte den Nachtisch verweigert, und seine Großmutter hatte entschieden, dass so ein ‚frecher, verwöhnter Bengel’ wie er ohne Abendessen ins Bett gehörte. Weder seine Mutter noch sein Großvater hatten es gewagt, Einspruch zu erheben. Alfred hatte störrisch in dem urigen Zimmer mit den dicken Holzdielen und gestickten Gardinen gesessen und alles so ungerecht gefunden, dass er vor Zorn ein paar dicke Krokodilstränen geweint hatte und nach Hause wollte. Zu seinem Dad, der ihn viel besser behandelte und bei dem es Pommes mit Ketchup statt herbes Gemüsegratin gab. Mit dem er abends auf der Couch liegen durfte, die offene Chipstüte im Anschlag, und sich explosionsreiche Actionfilme anschaute, bis er einschlief und ins Bett getragen wurde.
 

Ja, früher hatte sein Dad ihn noch geliebt. Das waren gute Zeiten gewesen...
 

Alfreds Blick verirrte sich zu seiner Zimmertüre, als diese langsam geöffnet wurde und gleich darauf Schwester Elisabeta den Kopf prüfend ins Zimmer steckte.

„Ach! Schön, dass du endlich wach bist“, legte sie eine Freude an den Tag, die Alfred nicht teilte und demnach auch nichts sagte. Auf die Welt, in der er aufgewacht war, konnte er getrost verzichten...
 

Die Tür hinter sich schließend, kam die Schwester schnurstracks auf ihn zu und fühlte ihm dann die Stirn.

„Wir haben etwa jede halbe Stunde nach dir geguckt; Doktor Brooke hat fast ihre ganze Mittagspause nach dir gesehen, aber du hast tief und fest geschlafen. Wie geht es dir jetzt?“ Ihre Handfläche verriet ihm, dass sein Kopf gut aufgewärmt und seine Haut von einem schmierigen Schweißfilm überzogen war.
 

„..naja...“ Das war keine Antwort, das war ihm durchaus bewusst, aber etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Stattdessen errötete er ob der Information, wie viele Menschen über ihn gewacht hatten. Das wäre doch gar nicht nötig gewesen.
 

Die brünette Krankenschwester setzte sich rücksichtsvoll auf die Bettkante und schien ihn mit ihrem Blick von oben bis unten zu durchleuchten. Alfred sah lieber weg. Sie hatten ihn heute Vormittag sicher auch weinen sehen oder zumindest von seinem Gefühlsausbruch gehört. Wie peinlich!
 

„Mhm, Fieber hast du jedenfalls nicht. Das ist schon mal gut! Aber das war eine ganz schöne Aufregung vorhin, nicht wahr?“ Sie schien bemüht, ihm Worte zu entlocken. Er wünschte, sie würde damit aufhören, weil er sich viel zu sehr schämte. Zudem war er zu fertig, um die ganze Angelegenheit Revue passieren zu lassen. Wenn es nach ihm ginge, würde er einfach weiterschlafen. Die Schwester hatte aber ganz andere Pläne und holte einen kleinen, elektronischen Blutdruckmesser aus ihrer rechten Kitteltasche.

„Tut dir irgendwas weh?“
 

Der Kopf, die Brust, die Augen, der Hals, die Lunge, das Herz, die Seele; Alfred hätte die Aufzählung endlos fortsetzen können, leckte sich allerdings lieber über die trockenen Lippen und verlor eines heiseres „Ne, geht schon“.

„Sicher?“

„Yeah...“

„Na gut. Einer unserer Ärzte wird dich trotzdem durchchecken. Wenn dir gerade nichts akut wehtut, kann das bis morgen warten. Noch vor dem Frühstück, damit du nüchtern bist. Das muss auf jeden Fall sein.“
 

Nüchtern? Dann wollten sie ihm also schon wieder Blut abzapfen? Und was, wenn sie etwas finden würden? Alfred musste gleich zwei Mal schwer schlucken. Die Krankenschwester witterte seine Furcht und streichelte ihm aufbauend über den rechten Unterarm.

„Keine Sorge, das ist reine Routine. Eine Kollegin oder ein Kollege von mir nimmt dir morgen früh erst ein bisschen Blut ab und danach unterhält sich einer unserer Ärzte mit dir. Aber falls es dir im Laufe des Abends oder der Nacht doch in irgendeiner Form schlechter gehen sollte, sag jemandem von uns sofort Bescheid. Okay?“
 

„Okay...“ Von wegen! Dann verfrachteten sie ihn vermutlich auch in ein Krankenhaus und niemand würde ihn je wieder zu Gesicht kriegen – so wie Feliciano! Alfred schlug die Augen schuldbewusst nieder, derweil die Krankenschwester weitersprach.

„Lass mich mal eben deinen Blutdruck messen.“ Im Nu schlang sie ihm das handliche Gerät ums Gelenk. Der Klettverschluss knatschte, ehe das Gerät unter pumpendem Surren seine Aufgabe erfüllte. Auf dem Display tickerten die Ziffern hinweg, bis ein Piepsen erklang. Alfred wollte spitzeln, aber die Schwester hielt ihre Hände rein zufällig so, dass er nichts erkennen konnte. Die Zahlen zur Kenntnis nehmend, nickte sie und guckte ihn dann zuversichtlich an.

„Das ist so weit normal nach so einem Tag wie heute, und gleich gibt’s auch Abendessen. Du wirst sehen, dir tut’s gut, wenn du was in den Magen bekommst.“
 

Alfred deutete sogleich ein Kopfschütteln an. Ihm fielen die beiden Beutel Kotze in seinem Schrank ein, deren Existenz seinen Teint von zartrosé in tomatenrot umschlagen ließ. Vor kurzem hätte er jeden Bissen, den sie ihm hier servierten, in sich reingeschlungen – sofern es sich nicht gerade um Kohlrabi oder ein anderes undefinierbares Gemüse handelte –, aber momentan hatte er wirklich keinen Appetit.
 

„Doch, du musst auf jeden Fall was essen. Du hast doch schon das Mittagessen und die Zwischenmahlzeit versäumt. Also mach dich ein bisschen frisch und dann seh ich dich gleich im Speisesaal.“ Ratschend löste sie den Klettverschluss des Blutdruckmessgeräts von Alfreds Gelenk und steckte es zurück in ihre Tasche.
 

„Aber ich bin echt müde und hab überhaupt keinen Hunger!“ Einen protestierenden Blick riskierend, merkte Alfred schnell, damit nicht weit zu kommen. Obwohl Schwester Elisabeta ihm ein empathisches Lächeln schenkte, ließ sie genauso wenig mit sich diskutieren wie der Rest des Personals.

„Du weißt, dass wir feste Essenszeiten haben und das regelmäßiges Essen extrem wichtig ist. Vor allem, wenn man so einen anstrengenden Tag hinter sich hat wie du. Außerdem kannst du dich doch nach dem Essen wieder ausruhen.“ Ihre Hand legte sich erneut auf seinen rechten Unterarm und strich mit tröstender Professionalität, die weder künstlich noch aufdringlich war, hinüber.

„Also, ich seh dich in zehn Minuten drüben. Brauchst du noch Hilfe bei irgendwas?“
 

Bei was denn? Er brauchte keine Hilfe, höchstens ein Wunder. Oder wieder so festen Schlaf, dass er nichts mehr mitbekam...
 

Die Unterlippe zwischen die Zähne ziehend, schüttelte Alfred verneinend den Kopf. Die Bewegung tat genauso weh wie während seiner Therapiestunde und entsprechend zügig ließ er sie auch wieder sterben. Warum verstand niemand, dass er keinen Hunger, sondern Schmerzen hatte?! Und dass er keine Kraft mehr besaß, um für sich kämpfen...!
 

Das war nicht er selbst.
 

Irgendwo im Hinterkopf wusste und merkte er es, konnte aber weder Einfluss auf die Geschehnisse noch sein Verhalten nehmen. Anscheinend stand er bis zu einem gewissen Grad noch immer neben sich. So als habe sich ein Teil seines Ichs aus seinem Körper verabschiedet, um dem Kummer zu entfliehen.
 

„Dann bis gleich, Alfred.“ Ihm ihre Zuversicht da lassend, erhob sich die Krankenschwester und verließ den Raum.
 

Alfreds Schulterblätter mochten seine momentane Haltung nicht, doch die Mattheit ließ ihn noch ein paar Minuten in der Position verharren. Dann erst zwang er sich, die Beine über die Bettkante zu schieben und aufzustehen. Es ging, aber es fühlte sich komisch an. Das puddingartige Empfinden in seinen Waden hatte sich nur bedingt gebessert. Als Alfred seinen Schrank erreichte, legte er die Hand auf den hölzernen Knauf und überlegte kurz. Er sollte sich umziehen, aber er wollte da jetzt nicht reingucken. Zwar roch er nichts weiter als Cool Street Jungle Experience, aber er befürchtete, dies ändere sich, sobald er die Türe aufzog. Was sollte er nur mit diesen beiden Beuteln machen?
 

Ihm würde was einfallen – oder auch nicht. Jetzt jedenfalls entschied er, sich an dem Klamottenstapel zu bedienen, den er gestern Abend in der Geschenktüte gefunden hatte und der nach wie vor auf seinem Schreibtisch lag. Zumindest ein anderes Oberteil musste er sich gönnen. Nach dem Essen würde er duschen gehen und dann zurück ins Bett kriechen, zu seinem Kissen und seinen schönen Erinnerungen. Vielleicht wäre er morgen früh wieder halbwegs auf der Höhe...
 

Momentan war er ausschließlich müde und mutlos. In dieser Verfassung kostete es ihn nicht nur unbeschreibliche Überwindung, überhaupt das Zimmer zu verlassen; auch die Kommunikation mit anderen Leuten war Alfred zuwider. Wahrscheinlich sah er übel aus. Zumindest schloss er das aus den merkwürdigen Blicken, die er unverhohlen erntete, als er als letzter den Speisesaal betrat. Für einen Abstecher in den Waschraum hatte die Zeit nicht mehr gereicht, entsprechend war ihm auch sein Spiegelbild unbekannt.
 

„Oh hallo, Alfred“, hauchte Lili deutlich überrascht. Der Angesprochene hatte zwar seine Brille, die jemand gesäubert auf dem Nachttisch für ihn bereit gelegt hatte, vor Verlassen des Zimmers aufgesetzt, doch auch mit ihr war Lili kaum mehr als ein vages Wesen, dem Alfred mit einem leisen „Hey“ begegnete, als er sich setzte. Lilis Mimik wollte er nicht studieren, denn er wollte nicht in Erfahrung bringen, was sie oder sonst wer über ihn dachte.

Wussten die anderen Patienten, dass er seine Einzeltherapie hatte abbrechen müssen? Und wenn ja, wussten sie auch, warum? Es stand fest, dass sie mitbekommen hatten, dass er seit dem Vormittag sämtlichen Aktivitäten fern geblieben war. Kein Sport, kein Essen, keine Gruppen- oder Kunsttherapie, gar nichts. Aber ob man ihnen dafür einen Grund genannt hatte? Das Personal verhielt sich ja durchaus diskret.
 

„Ähm...geht’s-geht’s dir wieder besser?“ Es waren rund drei Minuten vergangen, bis ihm die schüchterne Frage entgegen schwappte. In der Zwischenzeit waren zwei Tabletts auf dem Tisch abgestellt worden und Alfred konnte sich nicht anders helfen, als mit den Achseln zu zucken und tonlos aufzulachen.

„Ja, klar!“
 

Die Atmosphäre verriet ihm, dass dem Mädchen noch mehr Worte auf dem Herzen lagen, es aber keine Ahnung hatte, wie es diese vortragen sollte. Das Augenmerk weiterhin gesenkt haltend, strahlte Alfred auch kein Bedürfnis nach Kommunikation aus. Er empfand nicht mal das Bedürfnis zu essen. Vor ihm auf dem Teller lagen zwei dunkle Brötchen, von denen eines mit bleichem Käse belegt war und das andere mit magerem Schinken. Der dazugehörige Salat bestand heute aus Gurken, Paprika, halbierten Cocktailtomaten, Schafskäse, drei Oliven und winzigen Zwiebelstückchen, sparsam gesprenkelt mit Dressing. Zusätzlich gab es noch eine halbvolle Suppentasse, deren Inhalt eine klare Brühe mit Kräutern zu sein schien.
 

Das ging gar nicht!
 

Die kleinen Brötchen waren okay, der Salat war okay, die halbe Tasse Suppe war okay; aber Alfred war nicht okay und der Geruch des Essens betrübte ihn. Beim Gedanken an seine Gesamtsituation begann sein Bauch glatt zu rebellieren und seine Kopfschmerzen entwickelten die Lautstärke von ungehobelten Metallarbeitern.
 

Neben ihm wurde der Stuhl zurück geschoben, dann leistete ihnen Schwester Elisabeta Gesellschaft. Alfred wusste, sie beobachtete ihn dabei, mit der Gabel alibimäßig durch den Salat zu stochern. Er bekam nichts runter; er wollte bloß nach Hause...
 

„Iss doch erst die Suppe, bevor sie kalt wird“, ließ der erste, gut gemeinte Ratschlag der Schwester nicht lang auf sich warten.
 

„Ne...“
 

Alfreds Phantasie erschuf detailgetreue Bilder von Doppelcheeseburgern, Wedges, einem Starbucks Strawberry Frappuccino im venti Format und einer großen Baked Potatoe mit Sour Cream. Die Bilder hatten einen plastischen Charakter, dem Alfred nichts abgewinnen konnte. Warum hatte er weder Hunger noch Appetit? Nicht mal Sehnsucht nach Essen? Man könnte ihm eine proppevolle Tüte von In-N-Out Burger vor die Nase stellen und er würde trotzdem keinen Bissen runter kriegen. Morgen bestimmt. Morgen ginge es sicher wieder...

Konnten sie ihn nicht einfach für heute mit ihrer Klinikpolitik verschonen und ihn ins Bett entlassen? Er wollte die morschen Glieder ausstrecken und weder an seine Eltern noch an Felis Verschwinden denken. Vor allem wollte er nicht daran denken, seiner Therapeutin all seine Ängste vor die Füße gekotzt zu haben. Garantiert hielt sie ihn jetzt für noch gestörter als sie es bisher schon getan hatte. Schließlich war er 16 Jahre alt! Warum also hatte ihn diese Familiengeschichte so krank gemacht? Andere Jungs in seinem Alter hätten sich bestimmt nur ein paar Tage mit ihren Eltern gezofft und keiner hätte eine Essstörung entwickelt. Nur er war so abgefuckt. Da konnte seine Therapeutin schwadronieren, wie sie wollte. Er war einfach nicht normal! Und dadurch, dass er vor einem Abendessen hockte, das er nicht runter bekam, wurde er nicht normaler.
 

Er hätte sich nie erwischen lassen dürfen...
 

Alfred kaute unverhältnismäßig lang auf einem Tomatenstück und kämpfte gleichermaßen gegen Tränen und Würgereiz an. Als er alles einigermaßen hinunter geschluckt hatte, ging er dazu über, mit der Gabel den Schafskäse zu zerquetschen, bis die grobkörnige Substanz zwischen den Zinken hervorquoll. Zeit verging, doch für Alfred änderte sich nichts.
 

Vom Nebentisch aus kam ein Pfleger herüber, flüsterte Schwester Elisabeta etwas zu und tauschte einen langen Blick mit ihr aus. Sie seufzte leise, bevor sie dem Pfleger ein „Ich weiß. Ich hab die Notiz gelesen“ zuwisperte. Dieser nickte und ging dann zum Mitteltisch zurück. Alfred hatte die Aktion mehr oder minder untangiert verfolgt, jetzt jedoch rückte er wieder in den Fokus der Schwester.

„Alfred, iss bitte auf.“
 

„Ich hab doch eben gesagt, ich hab kein’ Hunger.“
 

„Ja, und ich hab dir eben gesagt, dass du trotzdem was essen musst. Die Suppe oder die Brötchen, wenigstens eins von beidem“, ließ sie ihre Aussage wie einen Kompromiss klingen, den Alfred furchtbar unfair fand. Wenn man nicht essen wollte, war ein ‚iss entweder dieses oder jenes’ kein Entgegenkommen. Aber die Diskussion hatte er bereits an seinem ersten Morgen in der Klinik beim Frühstück geführt. Er konnte nicht gewinnen. Er musste essen.
 

Die Brötchen erschienen ihm gewaltig, die Suppe indes akzeptabel, wenngleich sie nur noch lauwarm war. Dass man ihm die Wahl einräumte, hing wohl mit seinem Übergewicht zusammen. Er war so fett, dass es nicht mal schlimm wäre, wenn er ein paar Tage Nulldiät hielt; so weit seine Meinung dazu. Also weshalb machten sich alle die Mühe, ihn zum Essen zu zwingen? Das war reine Zeitverschwendung! Sie sollten sich lieber den Patienten widmen, die dringend ein paar Kilo zunehmen mussten!
 

„Bitte, ich bin sau müde und ich hab Kopfschmerzen. Kann ich nich’ einfach wieder auf mein Zimmer gehen?“ Die Suppentasse schien auch drei Löffel später noch genauso voll wie vorher, was Alfred hochgradig frustrierte. Er bekam zunehmend mehr Bauchschmerzen und niemand konnte ihm weismachen, dass eine leer gegessene Suppentasse sein Leben verbessern würde! Essen brachte rein gar nichts wieder in Ordnung!
 

„Weißt du“, begann die Schwester und stockte, ehe sie erneut seufzte. „Lass mich ein Wort mit der Oberschwester wechseln. Ich bin gleich wieder da.“
 

Beruhigt ließ Alfred seinen Löffel los und lehnte sich zurück, ohne dass sein Körper eine komfortable Haltung fand.
 

„So schlimm ist die Suppe heute gar nicht. Neulich die Karottensuppe fand ich echt eklig. Sei froh, dass du die nicht essen musstest. Sie schütten da Sahne rein. Das ist wie so ein richtiger Fettberg. Ich dachte hinterher, ich hätte ein Stück Butter runtergeschluckt.“ Die Sätze schwammen einfühlsam über die Tischplatte und ließen Alfred nach langer Abstinenz wieder zu Lili gucken. Ihre Suppe war leer, ebenso ihr Salatschälchen. Von ihren Weizenmehlbrötchen war noch eines da, auf dem eine bombenfeste Schicht Streichwurst klebte.
 

Alfred wusste nicht, was er sagen sollte. Er dachte nicht über Fettberge, Butter oder Sahne in Karottensuppen nach. Er klamüserte kein Essen auseinander, er zählte keine Kalorien, für ihn waren bisher immer nur der Geschmack und die Wonne von Bedeutung gewesen. Er aß, was er wollte und zwar dann, wann er es wollte – oder wenn ihm seine Essstörung diktierte, zu fressen. Alles, was ihm hier und jetzt am Essen widerstrebte, war die Schwere und der Schmerz, den die Menge ihm aufbürdete. Er konnte doch niemandem beichten, dass er im Grunde genommen den ganzen Tag noch nichts zu sich genommen hatte.
 

Zwei Beutel Kotze!, mahnte sein Gewissen und ließ ihn erneut glühendheiße Ohrspitzen bekommen. Alfred musste was einfallen. Für alles. Für die Kotze in seinem Schrank und für sich selbst. Aber sein Kopf rief in einer Tour Nein. Nein im Sinne von ‚ich mag nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr’. Nein zum Essen und Nein zu Gesprächen mit Leuten, die ihm sicher an der Nasenspitze ablesen konnten, dass er wie ein Baby geheult hatte. Es war so erniedrigend, hier auf dem Präsentierteller zu sitzen.
 

„Ich hasse Karottensuppe. Sollen die in der Küche die doch selber essen“, rang er sich Lili zuliebe ab, die daraufhin ihr Brötchen anschaute, als habe Alfred ihr die Türe vor der Nase zugeschlagen. Mit dem Nagel des reichten Zeigefingers knibbelte sie einen Krümel von einer Brötchenhälfte.

„Ja, das sollten sie... Hast du denn gar keinen Hunger?“ Sie sprach es aus, als wundere sie sich nicht. Alfred verblüffte das. Nahm nicht jeder an, dass sich ein Mensch in seiner Gewichtsklasse keine Gelegenheit zum Essen entgehen ließ? Den Löffel fixierend, schüttelte er kurz den Kopf.

„Ne, aber so what?“ Die Gewohnheit wollte ihn grinsen lassen, aber die Trauer wich nicht von seiner Seite. Das Vorhaben, Lili zu beruhigen, schien das genaue Gegenteil zu bewirken. Sie bemitleidete ihn doch nicht etwa, oder? In seine Suppe starrend, versuchte Alfred an irgendwas Witziges zu denken, damit er einen halbwegs normalen Eindruck erweckte.

„Man kann ja nich’ immer Hunger haben und ich bin eh zum Abnehmen hier. Also alles kein Problem. Die machen hier nur eins draus!“, hörte er sich selbst sagen und wusste zugleich, dass Lili ihm genauso wenig glaubte wie er sich selbst. Es war albern, was er hier veranstaltete. Wem wollte er denn noch was vormachen? Immerhin ging es ihm zu dreckig, um ein Schälchen Salat, eine halbe Tasse Suppe und zwei Brötchen zu essen.
 

Lili knibbelte einen weiteren Krümel ab und nickte. Nicht wissend, wie sie seinem Stolz begegnen sollte. Alfred konnte es ihr nicht verübeln; Faken funktionierte bei ihm einfach nicht mehr. Doch wie er sich ohne Lächeln anderen Leuten gegenüber verhalten sollte, überstieg seinen Erfahrungshorizont.
 

„Vielleicht frühstücken wir ja morgen zusammen...“ Lilis vereinsamtes Flüstern erreichte ihn in genau dem Moment, als Schwester Elisabeta mit einem blassorangen Plastikbecher in den Raum zurückkehrte.

„Alfred?“ Im Zuge einer fixen Bewegung nahm sie den Brötchenteller von seinem Tablett hinunter, stellte den Becher hinauf und hob dann das Tablett an. „Es ist in Ordnung, wenn du auf deinem Zimmer isst. Ich hab das mit der Oberschwester geklärt. Doktor Brooke hat ja auch entsprechende Anweisungen hinterlassen, falls du heute Abend nicht fit bist. Na komm, ich bring dich auf dein Zimmer.“
 

Es war in Ordnung? Ernsthaft? Aber das löste das Suppenproblem nicht. Und was war das da in dem Becher? Es war braun, dickflüssig und erinnerte spontan an Kakao.
 

Wie ein nasser Sack hievte sich Alfred von seinem Stuhl hoch und schlurfte hinter der Schwester her. Zu beschämt, um Lili und den anderen Patienten eine Verabschiedung zu schenken. Auf dem Stück vom Speisesaal ins Zimmer rüttelte die Welt am Boden; das Ziel verfolgend, Alfreds Gleichgewichtssinn zum Kentern zu bringen. Als er sich endlich auf sein Bett sinken ließ, war ihm richtig schwindelig. Die Augen schließend, rollte er sich auf die Seite; weg von der Schwester, die soeben das Tablett auf dem Nachttisch ablud.

„Geschlafen wird erst nach dem Essen.“ Ihre milde Predigt veranlasste ihn dazu, den Kopf zu drehen und sie anzublinzeln.

„Mhm...“
 

„Nichts mhm. Hier, deine Suppe“, blieb sie höflich, aber unnachgiebig und reichte ihm auffordernd die Suppentasse samt Löffel.
 

„Kann ich nich’..gleich essen?“ Wenn sie ging, könnte er die Suppe in einen der wenigen Beutel umfüllen, die er noch in seinem Modellbaukasten hatte. Die tiefer sinkenden Augenbrauen der Schwester wiesen seine Bitte jedoch unverzüglich ab.

„Nein. Außerdem ist es wirklich nicht viel. Die Suppe ist doch schon fast leer und danach trinkst du noch deinen Becher aus und dann kannst du dich wieder schlafen legen.“
 

Wie konnte jemand so nett klingen, aber gleichzeitig so strikt sein? In Elisabetas runden, warmen Augen spiegelte sich ein Feuereifer wider, der dem blonden Patienten verriet, dass hier nach ihren Regeln gespielt wurde. Er sollte gar nicht erst versuchen, irgendwelche krummen Dinger zu drehen, sonst würde er die Frau mal richtig kennen lernen. Im Geiste schien sie die Ärmel bereits seit Schichtbeginn hochgekrempelt zu haben und für alles gewappnet zu sein.
 

Widerstrebt setzte er sich weit genug auf, um die Tasse und den Löffel in Empfang zu nehmen und die Suppe in mechanischen Bewegungen auszulöffeln.
 

„Langsamer“, legte ihm die Schwester keine Minute später eine Hand auf die Hand, in der er den Löffel hielt und die eilig die lauwarme Brühe in seinen Mund schaufelte.
 

„Ich ess ganz normal!“
 

In ihren Augen blitzte es.

„Nein, du schlingst. Mach dir den Löffel erst wieder voll, wenn du den Mund leer hast.“
 

Verdammt, er war doch kein kleines Kind mehr! Wollte sie ihm jetzt beibringen, wie er zu essen hatte?! Das war lächerlich! Noch viel lächerlicher, als überhaupt von ihm zu verlangen, diese Suppe zu essen. Nichtsdestotrotz drosselte er wunschgemäß das Tempo. Seine Taktik, das Unheil schnellstmöglich hinter sich zu bringen, war gescheitert und die Suppe plusterte seinen zusammengepferchten Magen auf wie Stickstoff den McFlurry bei McDonald’s.
 

Klirrend stellte Alfred kurze Zeit später Tasse und Löffel auf sein Tablett zurück, das Schälchen finster anstierend.

„Den Salat ess ich nich’ auch noch!“
 

„Wäre aber besser.“
 

„Nein!“ Er hatte Magenschmerzen und irgendwas hinter seinen Augen brannte. Er kam mit dem heutigen Tag einfach nicht zurecht. Jeder verfluchte Mensch sollte ihn in Ruhe lassen! Es verstand eh niemand seine Enttäuschung und seine Tränen. Weder eine Suppe noch ein Salat konnte ihm in seiner Situation noch helfen...
 

„Sturkopf“, schimpfte die Schwester altertümlich, was gar nicht zu ihrer jungen Erscheinung passte. Obendrein war ihre Stimme von einer gerührten Routine beherrscht, die es nicht wagte, Alfred ernsthaft zu verletzen.

„Aber der Becher wird noch ausgetrunken. Keine Widerrede!“ Und schon hielt sie ihm besagten Becher hin. Der Inhalt sah wirklich wie extrem sämiger Kakao aus.
 

„Is’ das Kakao?“
 

„Kann man so sagen.“ Die Bestätigung kam wesentlich warmherziger daher als Schwester Elisabetas vorheriger Satz.
 

Die Stirn runzelnd, schnupperte Alfred perplex. Kakao war doch eigentlich gar nicht mit seinem Abnehmplan vereinbar, oder?

„Wieso krieg ich Kakao?“ Den Becher mit beiden Händen umfassend, studierte er die braune Plempe. Sie roch auch wie kalter Kakao. Er sollte so was nicht trinken, sonst würde ihn Cleopatra morgen mit einem „Nicht gut, zugenommen!“ erstechen.
 

„Du bekommst doch immer ganz normales Essen bei uns. Oder meinst du nicht?“, begegnete ihm Elisabeta mit einer begründeten Gegenfrage.
 

„Naja, aber ich hab hier noch nie Kakao trinken dürfen.“
 

„Du hast heute nicht gerade viel gegessen. Wir müssen ja irgendwie zusehen, dass du trotzdem deinen Tagesbedarf deckst.“
 

„Achso, ja...“ Tagesbedarf. Er wusste, dass man ihm das alles mal haarklein vorgerechnet hatte mit dem Tagesbedarf, dem Grundumsatz, den Kalorien und den Nährstoffen, jedoch konnte sich Alfred gerade partout nicht daran erinnern. Anscheinend konnte er aber einen großen Becher Kakao trinken, wenn er sich sonst sämtliches Essen verkniff. Wie sollte er nur jemals wieder gesund werden? Ein Becher Kakao war doch ein schlechter Scherz! Manchmal kaufte er sich diese wunderbar süßen Päckchen Kakao mit Sahne drin, die 500ml fassten und die er ganz nebenbei schlürfte. Das zählte für ihn nicht mal als Essen! Und hier päppelten sie ihn mit einem Becher Kakao auf?!

Wenigstens schmeckte der eigenartige Kakao, obwohl er recht dickflüssig war. Die typische Milchnote fehlte oder sie wurde gänzlich von der Schokonote absorbiert. Alfred störte das geschmacklich nicht. Ihn störten nur seine einsetzenden Bauchkrämpfe, die seine Gesichtszüge in eine Grimasse zwängten.
 

„Gleich hast du’s geschafft“, informierte ihn die unterstützende Stimme der Schwester. Wahrscheinlich ging sie davon aus, ihm schmecke es nicht.
 

Sich überwindend, führte Alfred den Becher ein letztes Mal zum Mund. Drei Schlucke später war der Kakao verschwunden. Essen war für ihn selten so eine Qual gewesen wie heute. Selbst das altbekannte Überfressen war grundlegend anders; dabei war er nie observiert worden und hinterher winkte ihm die Aussicht auf Erleichterung.
 

„War doch gar nicht so schlimm, oder? Möchtest du dich wieder schlafen legen?“
 

„Ich brauch unbedingt ’ne Dusche. Das war eben so warm unter den Decken...“
 

„Schaffst du das denn? Oder soll ich dir jemanden schick-?“
 

„Klar schaff ich das!“ Unter gar keinen Umständen würde er unter Aufsicht eines Pflegers duschen! Nicht solange dieses Übergewicht seinen Körper derartig entstellte.
 

„Na schön. Dann geh dich duschen; ich zieh in der Zwischenzeit dein Bett ab. Dann musst du nicht in der durchgeschwitzten Bettwäsche schlafen.“
 

Alfred bekam eine Gänsehaut, als er die lächelnde Schwester geschockt anstarrte. Ihr Flechtzopf war am Hinterkopf zu einem raffinierten Dutt hochgesteckt, um den ein samtiges Haarband gebunden worden war, das wunderbar zu Elisabetas Augenfarbe passte. Dass sie ihm das Bett frisch beziehen wollte, war an und für sich eine noble Geste von ihr. Allerdings wusste Alfred beim besten Willen nicht, wie er in Anwesenheit der Schwester unbemerkt einen der Plastikbeutel aus dem Modellbaukasten holen sollte. Erbrechen war ebenfalls absolut undenkbar, solange sie sich in seinem Zimmer aufhielt, doch sein klagender Magen wollte sich nicht aufs Abstellgleis stellen lassen. Der wollte jetzt seinen Frieden schließen und das unwillkommene Essen wieder loswerden.
 

„..okay“, nickte Alfred wie betäubt und schleppte sich zu seinem Schreibtisch hinüber. Nur gut, dass seine Mom ihm auch einen neuen Schlafanzug eingepackt hatte. So ersparte er sich das Kramen im Kleiderschrank und fischte in Sekundenschnelle frische Unterwäsche aus dem obersten Fach. Aufgrund der geringen Essensmenge hielt es die Schwester wohl für bedenkenlos, ihn jetzt schon duschen gehen zu lassen. Oder war etwa seine allgemeine Verfassung dafür verantwortlich?
 

Alfred konnte sich die Frage nicht beantworten. Dies änderte sich schlagartig, als er den Duschraum betrat und sich in einem der Spiegel über den Waschbecken entdeckte. Die schwarze Flasche Shampoo, die er im passenden Set mit Deo und Duschgel bekommen hatte, rutschte ihm schockiert aus der Hand. Der Verschluss klackte kleinlaut und der Geruch mit dem trendigen Namen stahl sich in den Raum.

Alfred roch es nicht.

Er war zu sehr damit beschäftigt, den Jungen anzustarren, der er selbst sein sollte und dessen weizenblonde Haare vollkommen zerzaust waren. Die Spitzen tränenverklebt, machte der Rest seiner Haare einen dermaßen ausgetrockneten Eindruck, als sei es stundenlang glühend heiß geföhnt und somit systematisch zerstört worden. Aber Alfreds Haar war gar nicht mal das Schlimmste an seinem Spiegelbild. Seine keifendroten Augen beherbergten verquollene Lider, unter denen sich ausgeprägte Augenringe gebildet hatten, die wiederum über leichenblassen Wangen thronten. Stress hatte den Umfang seiner Poren schier verdoppelt und hinter seinen Ponysträhnen bildeten sich lauter hässliche Pickelchen, die darauf aus waren, seine ganze Stirn zu erobern. Dass seine Wangen noch immer viel zu fett waren, verstand sich eh von selbst.
 

„Fuck...!“, war alles, was Alfred dazu einfiel. Das Urteil ließ ihn sich mit beiden Händen die Haare nach hinten kämmen und wünschen, nie einen Schritt in den Speisesaal getan zu haben. Er wollte wirklich nie mehr irgendeinem Menschen in dieser Klinik unter die Augen treten. Ihm war es ein Rätsel, wie die arme Lili es ertragen hatte, in seinem Beisein zu essen. Er sah schlimm aus. Nicht nur fett, sondern zu allem Überfluss auch noch richtig krank.
 

Bei dem Stichwort umarmte ihn kühle Panik von hinten und presste ihre unsichtbaren Hände gezielt auf seinen Magen. Eine halbe Tasse Suppe und ein Becher Kakao, das war gar nichts. Das konnte gemäß seiner Erbrechgewohnheiten gut und gerne bleiben, wo es war. Dummerweise war der schlingernde Schmerz da anderer Ansicht.

Aber das ging doch nicht...!

Aussichtslos wandte sich Alfred vom Spiegel ab. Er hatte keinen Beutel zur Hand und wenn jemand in den Duschraum käme und er sich ins Waschbecken erbrach, würde man es sofort sehen. Außerdem wäre es total schwachsinnig von ihm, diesem triezenden Drang schon wieder nachzugeben.
 

Die Tür einer Kabine hinter sich zuklatschend, holte Alfred tief Luft und schälte sich aus seinen Klamotten, die er unter den ausklappbaren Plastikstuhl schob, auf den er vorab den Schlafanzug und die saubere Boxershorts gelegt hatte. Keine Minute später drehte er das Wasser an und stieg in die Duschtasse. Eine schmale Plastiktür vereitelte, dass das Wasser in den Rest der Kabine lief und hielt den Bereich um den Plastikstuhl, über dem auch ein Kleiderhaken angebracht war, trocken.
 

Um sich von seinem protestierenden Magen abzulenken, drückte Alfred Unmengen Shampoo aus der Flasche und begrub nicht nur seine Haare in weiß-bläulichem Schaum, sondern auch den Rest seines Körpers. Schweiß, Tränen und Anstrengung ließen sich herunterwaschen und verschwanden unspektakulär im Abfluss. Duschen war selten so auszehrend gewesen wie heute. Sich mit der Schulter gegen die Wandfliesen lehnend, ließ Alfred das Wasser einen unbestimmten Moment lang auf sich wirken. Die immer gleich proportionierten Tropfen prasselten auf ihn nieder und drangen nicht tief genug, um seine negativen Gedanken oder die Übelkeit hinfort zu schwemmen. Alfreds Atem ging flach und schnell, indessen er dem knurrend gurgelnden Schmerz lauschte. Es handelte sich nicht um richtige Krämpfe. Eher glich der Schmerz einem aggressiven Schwingen, das bis heute Vormittag in der Kugel eingesperrt gewesen war. Nach seiner Befreiung schien es sich einen neuen Aufenthaltsort gesucht zu haben...
 

Ob Schwester Elisabeta das Bett schon fertig bezogen hatte? Alfred trat einen Schritt zurück, sodass ihn der Tropfenregen nur noch unterhalb der Knie traf. Mit den Fingerspitzen strich er geistesabwesend über die Fugen zwischen den Wandkacheln.

Suppe und Kakao. Dafür eine weitere Tüte opfern? Das wäre hirnrissig. Wie blöd war er überhaupt, Tüten mit Erbrochenem zu füllen? Das war doch abartig. Eigentlich richtig pervers. Wenn seine Eltern das jemals erführen...! Aber die wollten ihn so oder so nicht zurückhaben...
 

Mit der rechten Hand stellte er das Wasser etwas niedriger, woraufhin die Tropfen langsamer in die Dusche platschten. Eine halbe Tasse Suppe und ein Becher Kakao – wieso zwang man ihn zum Essen? Wieso war er seit einer Woche hier und alles tat nur noch mehr weh als jemals zuvor?
 

Stumpfsinnig ging Alfred in die Hocke, wobei ihn das leichte Schwindelgefühl erneut überfiel. Die eine Hand an der Wand, tastete er mit der anderen nach dem Abfluss. Die Löcher darin waren nicht besonders groß. Aber Suppe und Kakao? Das würde durchgehen. Er überdachte es nicht mal mehr; das Gefühl der Erleichterung war das einzig gute Gefühl, das ihm im Verlies seiner Lebensumstände noch geblieben war und es war zugleich das einzige Gefühl, das nicht von seiner Umwelt abhing. Es war sein eigener Wille und es waren seine eigenen Finger, die dafür verantwortlich waren, als kurz darauf ein reichhaltiger Schwall seines Mageninhalts zum Vorschein kam. Die bräunliche Flüssigkeit triefte über Alfreds rechte Hand und drehte mit dem Wasser seine Runden in der Duschtasse, in der das Wasserprasseln sein kurzes Husten gänzlich absorbiert hatte.
 

Ein Kirmesbesuch der verschrobenen Art: Alfreds Herz puckerte aufgeregt, seine Gedanken stiegen wie auf einem Kettenkarussell in die Höhe und durch seine Adern preschte mehr Adrenalin als bei einer Achterbahnfahrt.

Zu viel Zuckerwatte. Zu laute Musik.

In seinem Sichtfeld zuckten Sternchen. In seinen Ohren toste Blut. Wildwasserfahrt. Das war gut und richtig.
 

In der Geisterbahn war das Licht gelöscht; Wassernymphen bewegten sich im Verborgenen. Die Sterne explodierten und ließen Alfred in einem schwarzen Nebel zurück, der sich auch durch mehrmaliges Zusammenkneifen der Lider nur bedingt auflockerte.
 

Das war schlecht und falsch...
 

Wie tief konnte er eigentlich noch sinken? Er hockte in einer Dusche und seine eigene Kotze umspülte seine Füße!
 

Wann war das Erbrechen für ihn zum Kinderspiel geworden? Als er sich letzten Herbst zum ersten Mal übergeben hatte, war alles vollkommen anders gewesen: er hatte seinen Pulli tierisch eingesaut und ihn hinterher mit spitzen Fingern in die Waschmaschine gestopft. Schnellprogramm, und er still vor der Maschine stehend, nicht mehr überfressen bis zum Gehtnichtmehr, sondern 15 Minuten darauf wartend, dass die Maschine fertig wurde und er begriff, was da gerade eben vorgefallen war.

Alfred hatte eine Viertelstunde lang versucht, zusammen zu rechnen, was er an diesem Nachmittag gegessen hatte und sich zähneknirschend eingestanden, dass das vielleicht etwas zu viel gewesen war. Ihm war es ja quasi von alleine hoch gekommen. Aber so was konnte doch mal passieren, nicht wahr? Also wieso sollte er sich darüber weiter den Kopf zerbrechen? Es war ja nichts Schlimmes und niemand hatte etwas davon mitbekommen.
 

Er war damals so schlecht im Kotzen gewesen. Es hatte ihn so viel Überwindung gekostet, sich die Finger in den Hals zu stecken. Und heute? Heute wusste er ganz genau, wo seine Fingernägel und Spitzen zu kratzen und zu pressen hatten, bis der Würgereiz nicht nur leicht geweckt wurde, sondern seinen Soll erfüllte. Die Finger noch mal zu Rate ziehend, provozierte Alfred eine erneute Erbrechenswoge, die der vorangehenden nur noch blass in ihrer Farbe glich. Dafür roch sie wesentlich saurer. Magensaft. Sein Magen war leer, schon wieder so ungewohnt schnell.
 

Die Augen abermals schließend, hielt Alfred sein Gesicht unter den Tropfenvorhang und wartete, während im Hintergrund die Lüftung des Duschraums ihre Arbeit erledigte und seine Hände neues Shampoo aus der Flasche drückten. Mehr und mehr und mehr. Wenn jemand roch, was er hier veranstaltet hatte, würde das gewaltigen Ärger geben. Außerdem würde sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreiten. Dann wäre er nicht nur ein heulendes Elend, sondern ein heulendes Elend, das in der Dusche kotzte. Die Aussicht, schon wieder von allen fertig gemacht zu werden, war für ihn bei weitem schlimmer als die Tatsache, überhaupt erbrochen zu haben, und erinnerte Alfred ungut an seine letzten Wochen im Baseballteam. Das sollte sich nicht wiederholen. Nicht wieder Sprüche, Blicke, Lästereien und ständige Beleidigungen. Bitte, bitte nicht...!
 

Was zur Hölle machte er hier bloß?

Kotzen in der Dusche? – Das konnte doch nicht sein Ernst sein!
 

Wie abgefuckt war er eigentlich?
 

Schaum stand Alfred bis zu den Knöcheln und knisterte seine Untat hinfort, als er einige Minuten später das Wasser abdrehte und aus der Dusche kletterte, das Handtuch vom Haken pflückte und die Shampooflasche anschaute, die beinahe halb leer war. Seine Liste der Dinge, die er wirklich niemals irgendeiner Menschenseele verraten konnte, hatte er erfolgreich um ein weiteres Ereignis ergänzt.
 

Er wollte schlafen. Einfach nur noch schlafen...
 

Die Haare grob getrocknet, fiel er kurz darauf auf sein Kissen und verkroch sich tief unter der Decke. Keine Neuigkeiten hinsichtlich Felis Zustand; dafür roch der  Duschraum nun wie Alfred und der Kleiderschrank: nach Cool Street Jungle Experience. Dadurch, dass das Erbrochene so reibungslos abgeflossen war, war auch der penetrante Gestank in Nullkommanichts verschwunden gewesen. Niemand hatte Verdacht geschöpft – nicht mal der Pfleger, der ein paar Minuten später den Raum betreten hatte, um nach dem Rechten zu sehen. Doch das Wissen, in der eigenen Kotze gestanden zu haben, würde Alfred bis an sein Lebensende begleiten...
 

Seine Hand knipste das Lämpchen auf dem Nachttisch aus, gerade als ihm neue Tränen in die Augen stiegen. Sie waren nicht so zahlreich wie heute Vormittag, sondern präzise und ihn still ausharren lassend, bis die Erschöpfung so gütig war, ihn wieder unter ihre Fittiche zu nehmen.

{ 23. | Lost in Despair }

Die verfluchten Beutel mussten weg! Nicht irgendwann, sondern so schnell wie möglich. Alfred war schwindelig von dem Gestank, der in der Tasche ein Eigenleben entwickelte. Warum hatte er sie auch noch mal aufgemacht? Warum war er so töricht gewesen, einen dritten Beutel darein zu stellen?

Was zur Hölle war los mit ihm?

Verzagend ließ er den Kopf nach vorne fallen, zwischen die Knie seiner angezogenen Beine. Im Rücken spürte er sein Kopfkissen und die kühle Zimmerwand, seine Füße wurden von der Bettdecke umwoben. Seine Hände hebend, ließ er sie verzweifelt durch seine Haare gleiten, bis sie in seinem Nacken zum Liegen kamen.
 

Resignation.
 

Sein Körper und seine Seele litten gleichermaßen unter Muskelkater und Alfred konnte sich nicht erinnern, warum er jetzt hier saß. Er wusste nur, dass heute Freitag war und dass er vorhin sein Frühstück in einen seiner letzten Beutel erbrochen hatte, weil er zu fett war und offenbar auch immer fetter wurde. Cleopatra hatte beim heutigen Wiegen mit spitzen Lippen geschwiegen, woraus er nur einen Schluss hatte ziehen können: er hatte zugenommen! Obwohl er den absonderlichen Kakao und die halbe Tasse Suppe so zügig erbrochen hatte gestern Abend, war das Zeug Gift für sein Gewicht gewesen! Wie konnte das sein?
 

Die Augenlider zupressend, zerbiss sich der 16-Jährige hoffnungslos die Unterlippe.

Warum machte er überhaupt noch irgendwas?

Warum musste er aufstehen? Warum musste er frühstücken?

Warum musste er sich an seinen beschissenen Stundenplan halten?

Und warum war ihm vorhin so schlecht geworden? Wie gestern von Schwester Elisabeta angekündigt, war Alfred unmittelbar nach dem Wiegen von einer Krankenschwester zu einem Behandlungszimmer geführt worden, wo sie ihm ein paar Röhrchen Blut abgezapft hatte. Mit fahlem Blick hatte Alfred die rote Flüssigkeit angeschaut, wobei ihm ganz flau geworden war. Sein leerer Bauch hatte einen Salto gemacht und Alfred war blass ums Näschen geworden. Die Krankenschwester hatte ihn deswegen angewiesen, sich für einen Moment auf die schwarze Liege mit dem kratzigen Schonpapier zu legen. Die Deckenleuchten hatten ihm in den Augen weh getan und die Übelkeit gegen seinen Rachen gestupst. Es war Alfred schrecklich unangenehm und obendrein unverständlich gewesen; normalerweise wurde ihm bei Blutabnahmen nicht schlecht. Er war doch keine Memme!
 

Etwa fünf Minuten später war ein Arzt in den Behandlungsraum gekommen, hatte Alfreds Lungen und Herz abgehorcht und ihn gefragt, wie es ihm ging. Er war müde. So ging es ihm. Und das war in etwa der einzige Satz, den er dem Mediziner als Antwort gegeben hatte. Danach hatte er sich hauptsächlich mit Ja, Nein und anderen knappen Antworten durch das Gespräch gehangelt:

Kopfschmerzen? Ja. Atembeschwerden? Nein. Schlafbeschwerden? Er war müde. Kreislaufprobleme? Ein bisschen. Ohrenschmerzen? Nein. Halsschmerzen? Nein. Übelkeit? Ein bisschen. Schwindelgefühle? Ein bisschen. Durstig? Vielleicht ein bisschen. Sonst noch etwas? Nein...
 

Doch: er war fix und fertig mit der Welt. Sein Akku war komplett leer und sein Körper nur mehr eine blutleere, baufällige Behausung. Aber wie kleidete man dieses Empfinden in Worte? Alfred war es, wie so häufig, nicht gelungen. Also war es ungesagt geblieben...
 

Das Peinlichste an dem Prozedere waren jedoch nicht die Blutabnahme oder die Fragen gewesen, sondern dass er für ein kurzes EKG den Oberkörper hatte frei machen müssen, damit ihm die Krankenschwester mithilfe eines kühlen Gels Elektroden auf der Haut befestigen konnte. Das Ganze dauerte zwar nur wenige Minuten, doch jede Sekunde, in der Alfred wusste, jemand sah ihn, wie er sich nicht mal selbst sehen wollte, war eine Sekunde zu viel für ihn. Was für eine Demütigung...

Stur hatte Alfred an die weiße Zimmerdecke gestarrt und war daran gescheitert, seine körperlichen Ausmaße zu ignorieren. Mit dem Zeigefingernagel hatte er wieder an seinem Daumen geknibbelt und sich in den Schlaf zurück gewünscht. Wenn Brad jetzt hier wäre, würde er prustend sein Handy zücken und die Fotos samt bissigen Kommentaren auf Facebook hochladen. Amelia würde aufschreien und entsetzt bis ans andere Ende der Welt rennen und seine Eltern würden ihn als ihren Sohn verleugnen.
 

Die stockfinstere Gedankenkette zerstob erst, nachdem der Arzt die Aufzeichnungen von Alfreds Herzrhythmus studiert hatte und ihm ein fachmännisches Lächeln zukommen ließ. Alles so weit in Ordnung. Kein Grund zur Beunruhigung.

Die Krankenschwester hatte Alfred daraufhin die Elektroden ploppend von der Haut gezupft und ihm grünlich-graue Einmaltücher gegeben, mit denen er die Gelreste abputzen konnte. Er hatte sich so schnell aufgesetzt, dass ihm erneut schwindelig geworden war. Ein Umstand, den er mit aller Macht verdrängte hatte, da er sich schleunigst wieder anziehen und in sein Zimmer verschwinden wollte. Dass mit seinem Herzen angeblich alles in Ordnung war, ergab für ihn keinen Sinn. Was war denn dann gestern los gewesen? Alfred wollte das nie wieder erleben, dieses hartheiße Hämmern in der Brust und dieses vergebliche Hecheln. Das war wie mit 180 Stundenkilometer in Richtung Lebensende zu rasen. Was, wenn er beim nächsten Mal sterben würde? Oder noch schlimmer: es immer wieder geschah, er aber nie starb, sondern es sich nur jedes Mal so grässlich anfühlte?
 

Die angsteinflößende Aussicht hatte ihn zum Frühstück begleitet; der Arzt hatte ihn mit dem netten Vermerk, die Untersuchungsergebnisse an seine Therapeutin weiterzureichen, verabschiedet. Am Schwesternzimmer konnte man Alfred bezüglich Feli nichts Neues mitteilen und Lili hatte während des Frühstücks immerzu zwischen ihrem rosafarbenen Erdbeer-Knuspermüsli und Alfred hin und her geblinzelt. Als ob er das nicht merken würde...! Aber ihm war es zu peinlich gewesen, großartig was zu sagen. Zwar bot er nicht mehr den katastrophalen Anblick vom Vorabend, aber wesentlich besser sah er auch nicht aus. Durch das Schlafen auf dem halbnassen Haar war dieses heute merkwürdig verwühlt und hatte sich nicht mal mit der Bürste zähmen lassen. Alfred fand die Spitzen zu lang; beim Pony war ihm das nur recht, denn dann konnte er wenigstens die paar lästigen Pickelchen auf seiner Stirn geschickt verdecken. Aber im Nacken störte ihn das.

Noch störender war aber, sowohl vom Personal als auch von sämtlichen Patienten kontinuierlich angestarrt zu werden. Ein Pfleger hatte es sich sogar zur Aufgabe gemacht, während des gesamten Frühstücks eisern neben Alfred und Lili auszuharren. Es hatte nicht viel gefehlt und Alfred hätte einfach wieder frustriert gefragt, ob er nicht auf seinem Zimmer essen konnte. Er ertrug keine Menschen mehr – oder er ertrug das Leben nicht mehr. Wahrscheinlich eher letzteres.
 

Deswegen hockte er jetzt auch auf seinem Bett und hüllte sich in seine Decke. Ihm war kalt, aber der Raum war an und für sich normal geheizt. Das Fenster stand zur Sicherheit auf kipp, nur falls sich der Geruch verstärken sollte. Eine neue Ladung Deo und Duschgel kämpfte gerade gegen geronnene und neu hochgewürgte Kotze an. Alfred hatte sich nicht getraut, einen der alten Beutel aus der Tasche zu heben und den Inhalt genauer zu inspizieren. Vorhin hatte er lediglich den Reißverschluss der Tasche ein winziges Stück aufgemacht und schon dabei gemerkt, dass alte Kotze ein ganz anderes Kaliber war als frische. Die Beutel mussten endlich weg! So ging das einfach nicht mehr!
 

Betrübt rieb Alfred die rechte Gesichtshälfte gegen sein Knie. Warum erbrach er ständig? Was war mit seinem Herzen? Wieso durfte er nicht nach Hause? Weshalb war er so müde und verspürte dieses befremdliche, innere Frieren? Es saß ihm bleischwer in den Knochen und er fühlte sich gar nicht nach Aufstehen, geschweige denn nach dem ganzen Rest, den sein Stundenplan ihm abverlangte: Einzeltherapie, Sport, Mittagessen, Gruppentherapie, Nachmittagssnack, Kunsttherapie, Abendessen.

Irgendwas in ihm rollte sich wie ein Igel zusammen, wenn er sich vorstellte, das schaffen zu müssen. Er schaffte es nicht. Alles nicht. Er wusste nicht, wie? Woher sollte er noch die Kraft nehmen? Er hatte nicht mal den Mut, aufzustehen und sich seiner Einzeltherapie zu stellen. Die Einstichstelle von gestern Vormittag hatte sich unschön verfärbt und rief ihm permanent ins Gedächtnis, eine Heulsuse zu sein und als solche konnte er seiner Therapeutin nie wieder unter die Augen treten. Er würde einfach gar nichts mehr machen.
 

Demnach zeigte er auch keine Reaktion, als es kurz darauf an seiner Tür klopfte. Bloß die Decke zog er näher um sich. Zu dem inneren Frieren hatten sich in der Zwischenzeit surrende Kopfschmerzen gesellt, die den Tag noch unannehmbarer gestalteten, als er ohnehin schon war.
 

Das zweite Klopfen ließ nicht lange auf sich warten; Alfred hob sporadisch den Kopf, da er, als sich die Türe einen Spalt öffnete, eine Krankenschwester erwartete, die ihn pflichtbewusst zu seiner Therapie scheuchen wollte. Zu seinem Entsetzen war es aber keine Krankenschwester, sondern Frau Brooke, die in den Raum trat. Ihr Anblick veranlasste ihn dazu, sofort die Decke über den Kopf zu ziehen. Unbehaglich schob er in seinem düsteren Unterschlupf die Knie zusammen und legte die Stirn dagegen. Wenn er an all die Tränen und Worte von gestern dachte, brach ihm der kalte Schweiß glatt wieder aus. Das durfte sich auf gar keinen Fall wiederholen! Lieber biss er sich die Zunge ab, als je wieder eine therapeutische Unterhaltung zu führen!
 

„Ich enttäusch dich nur ungern, aber du hast dir kein besonders gutes Versteck gesucht...“, hörte er es unmittelbar vor seinem Bett. Unter normalen Umständen würde er ihr ja Recht geben, aber unter normalen Umständen würde er sich auch nicht verkriechen. So was hatte er noch nie getan. Verstecken war aber immer noch besser, als noch mal so einen Horror wie gestern durchzumachen!
 

„...und jetzt, wo ich dich gefunden hab, solltest du aufstehen und mitkommen. Oder was meinst du?“

„Nein.“

„Ich kann dich so schlecht hören. Muss an der Decke liegen...“ Ihre Stimme war nicht amüsiert, nicht vorwurfsvoll und auch nicht kalt. Dennoch brachte Alfred nichts weiter als ein Schlucken zustande. Er konnte überhaupt nicht mit Menschen umgehen, die ihn so dermaßen am Boden erlebt hatten...
 

Die Matratze sank dezent ein; allerdings nicht zu genüge, als dass er vermutete, Frau Brooke habe sich hinauf gesetzt. Seine Schlussfolgerung erwies sich als richtig, als langsam eine Seite der Decke angehoben wurde und er affektiv über seine Knie hinweg linste. Seine Therapeutin hatte sich vor sein Bett gehockt und den linken Arm hinauf gelegt. Mit der rechten Hand hielt sie den Deckenzipfel in die Höhe. Ihre Miene wirkte nicht glücklich über diese Begegnung.
 

Den Kopf schüttelnd, versuchte Alfred erfolglos, nach hinten auszuweichen, doch die Wand zeigte keine Bereitschaft, ihn zu verschlucken. Es wurde wirklich immer peinlicher...!
 

„Also?“ Mehr Licht fiel in sein Deckenversteck, als die Decke weiter gelüpft wurde.

„Nein.“

„Alfred...“ Es war nicht direkt ein Mahnen, auch kein Seufzen. Nur eine sehr unverblümte Art, ihn stark beim Namen zu nennen. Frau Brooke fand ihn lächerlich, oder? Na was auch sonst?! Ihm wurde gleich noch elendiger zumute. Wenn er Energie hätte, würde er ihr jetzt die Decke aus der Hand reißen und ihr klipp und klar sagen, dass er nicht mehr wollte!
 

...Nein, das stimmte nicht. Wenn er Energie hätte, würde er gar nicht erst unter dieser Decke kauern. Dann würde er irgendwas an seiner Situation ändern. Aber ihm fiel nichts ein. Schon so lange nicht mehr...
 

„Wir zwei sollten uns unterhalten und das würde ich ungern machen, während du unter einer Decke sitzt“, ließ Frau Brooke einladend verlauten, so als wolle sie mit ihm einen Kaffee trinken gehen. „Du musst dich doch nicht verstecken, hm?“
 

Und wie er das musste! Wenn er nämlich mit ihr redete, würde er in spätestens einer Viertelstunde wieder wie ein Baby heulen und sie müsste ihn ohnehin zurück ins Bett stecken. Diese Aussicht war alles, nur nicht rosig!
 

„...So viel Angst?“ Die Frage strich ihm zart über die Wange. An den Lichtverhältnissen änderte sich ausnahmsweise nichts.
 

„Sie verstehen das nicht...“
 

„Ich verstehe, dass du dich vor lauter Angst unter einer Decke versteckst – und das ist wirklich nicht nötig. Wir werden das von gestern nicht alles wieder aufreißen, okay? Wir werden nur über ein paar Sachen reden, damit es dir besser geht. Wie klingt das?“
 

Der Inhalt der Worte leistete eher schlechte als rechte Überzeugungsarbeit. Es waren Frau Brookes Tonlage und ihr Gesichtsausdruck, die Alfreds Protest fürs erste verstummen ließen. Außerdem schenkte sie ihm ein aufbauendes Lächeln, als sie dazu überging, die Decke zentimeterweise weiter anzuheben.

„Na komm.“

„Ich bin keine Heulsuse. Nur dass sie’s wissen!“

„Das sagt doch keiner.“

„Aber alle denken das jetzt.“ Selbst um gekränkt zu sein, war er zu fertig. Sein Trotz lag niedergeknüppelt am Boden.

„Ich nicht. Können wir uns darauf einigen, dass du nicht denkst, dass ich das denke? Das macht es leichter, für uns beide.“ Sie stand aus der Hocke auf und zog bei der Übung die Decke seitlich von ihm hinunter. Ihre bernsteinfarbene Satin-Wickelbluse war präzise in der Taille geknotet, die schmalen Schleifenbänder reichten beinahe bis zur Mitte ihrer Oberschenkel, die mit einer schwarzen Stoffhose bekleidet waren. Gegen die Helligkeit blinzelnd, nickte Alfred teils notgedrungen, teils weil er es nett fand, was sie sagte. Falls sie ihn belog, machte sie es gut.
 

Lasch kroch er vom Bett runter und ließ es ungemacht zurück; mit den Fingern strich er richtend durch sein Haar, was wenig Wirkung zeigte. Fett, abgefuckt, ausgesetzt und schlecht frisiert; warum blieb er nicht einfach unter der Decke? Alfred warf dem zusammen geknautschten Haufen Bettzeug einen sehnsüchtigen Blick zu, bis ihn die nächsten Worte wieder zu seiner Therapeutin schauen ließen.
 

„Das nehmen wir auch mit.“ Ihre Hand fischte das himmelblaue Tagebuch von der Schreibtischplatte. Alfred zuckte erschrocken zusammen, denn direkt neben dem Buch stand sein Modellbaukasten, in dem sämtliche Teile kreuz und quer durcheinander flogen, da Alfred keine Geduld hatte, sich auf seinen Hintern zu setzen und sie neu zu sortieren. Ans Zusammenbauen war gar nicht erst zu denken.
 

„..und das Fenster sollten wir offen lassen. Hier muss mal dringend frische Luft rein.“ Die Zimmertüre aufziehend, wartete Frau Brooke, bis Alfred an ihr vorbei aus dem Raum geschlichen war. Zerknirscht, denn seine Therapeutin ging höchstwahrscheinlich davon aus, dass er sich einen ordentlichen Schwall Deo gegönnt hatte, aber die Wahrheit gestaltete sich ganz anders...
 

Alfred probierte, das Bild von drei Beuteln Kotze loszuwerden, derweil er unter Kopfweh und Schwindelgefühlen zum Konsultationsraum dackelte. Die Schultern noch verspannt, als er sich auf dem gewohnten Platz niederließ.

Er wollte nicht hier sein...

Aus dem Augenwinkel musterte er verlegen die Tempobox, die er gestern bestimmt halb leer geflennt hatte. Er war eine gottverdammte Heulsuse! Frau Brooke konnte gar nichts anderes von ihm denken. Schließlich hatte sie live miterlebt, wie irgendwas die Oberhand über ihn gewonnen und ihn nur noch weinen und stammeln gelassen hatte. Das sollte nie wieder passieren! Alfred schluckte, während er den rechten Ellbogen auf die Stuhllehne stützte und sein rotes Gesicht dezent abschirmte. Frau Brooke indes setzte sich ihm gegenüber auf ihren Stuhl.
 

„So, wie fühlst du dich heute?“
 

„Sorry, ich weiß nich’, wie das gestern passieren konnte!“, übersprang er ihre Frage mit einer Entschuldigung und studierte ratlos den Boden. Vom Schreibtisch aus erklang das Geräusch einer Kugelschreiberspitze, die über Papier glitt. Dann wurde es still, so als ließe man ihm Zeit zum Atmen.
 

„Sonnenschein, ich glaub, du kannst dir in etwa denken, wie das gestern passieren konnte. Wenn man so viele Ängste und Geheimnisse in sich einschließt, dann...“
 

Dann platzt man irgendwann? Verstohlen lauerte Alfred an seinen Fingern vorbei. Zu schnell, um einen Blickkontakt zuzulassen. Aber nicht schnell genug, um die ausschweifende Geste seiner Gesprächspartnerin zu verpassen. Diese Geste bestätigte es: man platzte. Trotzdem kam er sich deswegen furchtbar schlecht vor. Er hatte sich so lange zusammenreißen können...
 

„Irgendwo müssen diese Gefühle doch hin. Die lösen sich ja nicht einfach in Luft auf. Die bleiben da, wo wir sie hinpacken; und wenn du dein Herz mit so viel Kummer zupflasterst, wie soll es dann noch Luft bekommen?“
 

„Aber ich dachte, ich muss sterben...“ Und jetzt wieder in diesem Raum zu sitzen, ließ Alfred erschauern.
 

„Das kann sich so anfühlen, ja. Die gute Nachricht ist: organisch ist mit deinem Herzen alles in bester Ordnung. Das hat dir Dr. Rosenkrantz heute früh ja auch schon mitgeteilt. Diesbezüglich besteht also kein Grund zur Beunruhigung. Die weniger gute Nachricht ist: es gibt so genannte Panikattacken und mit so einer hatten wir es gestern zu tun. Tja, wie erklär ich dir das am besten? Weißt du, diese Taschentücher hier“, ihre rechte Hand tippte rasch auf die blau-weiße Box, „die stehen nicht zu Dekorationszwecken da. Es ist nicht verboten, in einer Therapie zu weinen. Weinen ist an und für sich gesund für die Seele, solange das Maß stimmt. Das trifft auf alle Menschen zu, Männer wie Frauen. Du bist ein Mensch, also darfst du weinen. Dafür musst du dich nicht schämen.

Bei Panikattacken steht man aber unter so extrem großem Stress und empfindet so riesige Angst, da kann sich aus ein paar Tränchen schnell ein richtiger Weinkrampf entwickeln. So wie dir das gestern passiert ist. Das kann schon mal vorkommen.“
 

„Ich wollt’ nicht heulen. Ich weiß nicht, warum ich nicht aufhören konnte...“ Stress hin oder her, wieso war das so aus dem Ruder gelaufen? Er war ja sonst nicht nah am Wasser gebaut. Ein paar Tränen dann und wann, ja; und ein paar Tränen mehr, wenn er wirklich wegen etwas am Boden zerstört war. Aber gestern? Das war eine ganz andere Dimension gewesen...
 

„Mach dir deswegen keinen Vorwurf. Viele Menschen erleiden im Laufe des Lebens mindestens ein Mal eine Panikattacke. Ich möchte nur, dass du mir was für unsere zukünftigen Sitzungen versprichst: wenn du merkst, dir wird es zu viel, dann sag mir das bitte.“
 

Gerne. Alfred nickte, die Spitzen seiner Schuhe fokussierend. Am besten würde er nie mehr irgendwas in dieser Therapie sagen. Dann lief er auch nicht Gefahr, noch mal von so einer Panikattacke überfallen zu werden.
 

„Gut. Man kann sich belastenden Themen und Gefühlen auch langsam nähern.“
 

Oder eben gar nicht! Das war die Alternative, die Alfred gerade bevorzugte. Den Ellbogen von der Lehne nehmend, verschränkte er die Arme vorm Oberkörper. Damit seine Finger nicht noch tippelten, klemmte er sie zwischen seinem Oberkörper und den Oberarmen ein. Lediglich die Daumen behielten ihre Freiheit.
 

In der aufkommenden Stille verzog Alfred die Mundwinkel. Seine Kopfschmerzen hämmerten, als bekämen sie es bezahlt, und er litt, trotz leerem Magen, unter saurem Aufstoßen. Außerdem flimmerte sein Herz und hinter seinen Augen thronte der Druck von Tränen, die sich kaum in Schach halten ließen. Es war, als habe man seinen Emotionen die Haut abgezogen und sie in Salz gewälzt. Alles in ihm vibrierte und tat weh. Davon, dass Weinen gut für die Seele war, merkte er rein gar nichts. Stattdessen belastete ihn die Erfahrung mit der Panikattacke zusätzlich. Leidend ging er dazu über, auf der rechten Backentasche zu kauen und mühevoll die Füße still zu halten. Er wollte so gerne nach Hause...
 

„Du magst heute gar nicht mit mir reden, oder?“
 

Die Vermutung war ihm lediglich eine bestätigende Geste wert. Kein Aufschauen, keinen Ton. Diese Klinik hatte ihn fertig gemacht...
 

„Möchtest du wirklich nicht? Oder kannst du eher nicht?“, wurde er als nächstes leise gefragt. Die Antwort war ihm allerdings selbst unbekannt, weswegen Nicken und Kopfschütteln unmittelbar aufeinander folgten und von einem zermürbten „Weiß nich’. Beides“ begleitet wurden. Diese Sache mit dem Reden war schlimm. Selbst wenn Alfred wollte und sich dazu überwand, endete es in einem Fiasko, wie die gestrige Sitzung bewiesen hatte.
 

„Mhm...“ Den Kugelschreiber ablegend, schlug seine Therapeutin unterm Tisch ein Bein über das andere. Sie sollte weggucken oder ihn entlassen, aber den Gefallen tat sie ihm selbstverständlich nicht.
 

„Deine Redeblockade hat auch was mit gestern zu tun, Sonnenschein. Diese Dinge greifen richtig ineinander.“ Demonstrierend verhakten sich ihre Finger, ähnlich wie beim Gebet. „Du kannst dir das so vorstellen: Deine Redeblockade ist eigentlich ein sehr guter Freund von dir. Ihr beide arbeitet super mit deiner Essstörung zusammen. Du sperrst die ganzen Ängste und schlechten Gefühle in dir ein und dann kommen die Redeblockade und die Essstörung und verhindern, dass du mit jemandem darüber sprichst. So bleibt die Angst im Verborgenen und dir geht es scheinbar relativ gut, weil du dich in Krisenmomenten schweigend mit Überessen und Erbrechen ablenkst.

Leider funktioniert das auf Dauer nicht. Je weniger du dich nämlich mit deinen Ängsten beschäftigst, desto größer werden sie im Stillen, denn du hast niemanden, mit dem du sie teilst und der sie dir gegebenenfalls abnehmen kann. Also wachsen sie weiter und immer weiter, bis sie eine richtige Angstwand bilden. Und wenn dich dann jemand oder etwas dazu bringt, diese Ängste wieder anzufassen, dann erschreckt dich das massiv. Die Angstwand ist einfach so groß geworden, dass du sie gar nicht mehr überblicken kannst. Das führt zu Gefühlen von Hilflosigkeit und Überforderung. Man kann Herzrasen oder Schweißausbrüche bekommen, Atemnot oder Weinkrämpfe. Manche Leute erstarren, wieder andere müssen sich übergeben oder haben Schwindelgefühle. Hinter all diesen körperlichen Symptomen, die eine Panikattacke charakterisieren, steckt aber letztlich kein Herzinfarkt oder Schlaganfall oder was auch immer man befürchtet, sondern ganz große Angst. Verstehst du das?“
 

„Ich glaub schon.“ Zumindest klang es halbwegs plausibel, wenngleich Alfred das Ausmaß seiner Angst nicht bewusst gewesen war. Die Angst war einfach da gewesen, sowohl gestern als auch an all den anderen Tagen, als er das Reden um jeden Preis vermieden hatte. Doch dass Angst einem so übel zusetzen konnte, dass man glaubte, zu sterben? Das fand er, gelinde gesagt, krass. Wie hatte sich jemals so viel Angst in ihm aufstauen können?
 

„Okay“, setzte Frau Brooke fort, die entfalteten Hände erörternd gehoben. „Wir beide werden versuchen, diese große Angstwand in dir Stein für Stein abzubauen. In gewisser Weise war es deswegen auch gut, dass du mir gestern so viel erzählt hast.“
 

Er starrte sie entsetzt an. Gut? Sie fand das, was gestern geschehen war, gut?! Darauf konnte er nur mit heftigem Kopfschütteln reagieren. Sie sprach jedoch unbeirrt weiter.

„Doch, jetzt weiß ich nämlich, was dir so auf dem Herzen liegt. Das ist ja nicht gerade wenig...“

„Meine Eltern werden stinksauer, wenn die rauskriegen, was ich Ihnen alles erzählt hab! Sie dürfen denen das auf keinen Fall sagen!“ Sie würden ihn lynchen! Er hatte all ihre Probleme verraten! So was machte man doch nicht. Immerhin waren sie eine Familie und als solche mussten sie zusammen halten, anstatt sich gegenseitig anzuprangern.
 

Alfreds Schultern fielen schuldbewusst nach vorne, wobei er die Ellbogen auf die Knie stützte und die Finger gegen Stirn und Augenbrauen presste. Warum hatte er nicht sein verfluchtes Maul gehalten? Er hatte sie offiziell kaputt gemacht. Seine Eltern stritten untereinander, Zuhause, und er ging zu einem wildfremden Menschen, einem Außenstehendem, und posaunte heraus, was für ein Trümmerhaufen sie eigentlich waren. Er war nichts weiter als ein elendiger Verräter, der mit der Aktion unter Beweis gestellt hatte, keine familiäre Loyalität zu besitzen!
 

„Hey, nicht den Kopf hängen lassen. Viele Familien haben Probleme und Krisen. Die meisten sprechen nur nicht darüber. Bei euch muss aber dringend wieder miteinander gesprochen werden. Richtig gesprochen. Vor allem auch mit dir. Deinen Eltern war bis Mittwoch in keiner Weise bewusst, dass deine Erkrankung auch nur das Geringste mit dem Klima bei euch Zuhause zu tun haben könnte. Ich hab gestern noch lange mit deinen Eltern telefoniert und–“

„Sie haben meine Eltern angerufen?!“ Sein Blick schoss zu ihr hinüber.

„Ja.“

„Ich dachte, Sie sind auf meiner Seite!? Haben Sie nicht so was wie ’ne ärztliche Schweigepflicht!?“ Alfred war fassungslos. Anscheinend machte nicht nur in der Klinik alles sofort die Runde, auch was er hier in der Einzeltherapie von sich gab, wurde auf der Stelle weitergeleitet! Dabei dachte er wirklich, er könnte dieser Frau wenigstens ansatzweise vertrauen!
 

„Habe ich, natürlich“, bestätigte sie ihm auch prompt und wirkte in keiner Weise reumütig, als sie ihm stringent ihre Entscheidung erläuterte. „Aber du bist minderjährig und ich versuche in erster Linie, in deinem Interesse zu handeln. Das heißt nicht, dass ich deinen Eltern alles erzähle, was du mir unter vier Augen sagst. Aber wenn so etwas wie gestern passiert, können wir das deinen Eltern auf gar keinen Fall verschweigen. Damit würden wir nur wieder eine Wand errichten und dieses ewige Einmauern ist nicht gesund für dich.“
 

Das war eine sehr harte und sehr klare Ansage, deren Wahrheitsgehalt Alfred einen Kloß in den Hals pflanzte. Er schluckte verzagend, während Frau Brooke ihr einfühlsames Lächeln wieder hervorholte.
 

„Wir wollen schließlich was dafür tun, dass es dir besser geht. Noch mehr Geheimnisse vor deinen Eltern sind uns dabei keine Hilfe. Die zwei hatten wirklich nicht die geringste Ahnung, worüber du dir Sorgen machst oder dass du über ihre häufigen Streitereien Bescheid weißt. Deine Eltern verschweigen dir vieles, ja – aber du verschweigst ihnen auch sehr viel. Das ist kein Vorwurf, Alfred. Versteh das nicht falsch. Du lebst, was du vorgelebt bekommst. Wir müssen nur alle gemeinsam schauen, wie wir das ändern können. Nicht nur bei dir, sondern auch bei deinen Eltern. In eurem Falle, und das habe ich deinen Eltern gestern auch genau so gesagt, gehe ich sogar so weit zu behaupten, dass wenn wir die Konflikte bei euch Zuhause nicht transparent gestalten, dann wird es dir nach deiner Entlassung sehr schnell wieder sehr schlecht gehen. Selbst wenn du hier in der Klinik Fortschritte machst. Es muss sich was daran ändern, wie ihr drei miteinander umgeht und wie du das schlussendlich verarbeitest. Dafür müssen wir auch dein Denken aufräumen, wenn man so will. Und deswegen“, galant schlug sie das kleine Tagebuch auf, „wirst du jetzt auf die erste Seite deines Tagebuchs schreiben: Meine Mom ist meine echte Mom.“
 

Alfred rührte sich nicht, sondern stierte Frau Brooke lediglich mit tellergroßen Augen an. Sie schob ihm auffordernd den Kugelschreiber zu.

„Schreib es auf.“

„A-aber...!“ Wie sollte er das aufschreiben? Er hatte Stift und Papier, aber er hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Sein Herz bibberte wie unter Graupelregen, wenn er an das mysteriöse Fotoalbum dachte. Die Frau, die sich seine Mutter nannte, konnte doch gar nicht seine Mutter sein!?
 

Der Stift kam noch näher.

„Ich hab deine Mutter gestern Nachmittag gefragt. Wir haben ja die Handynummern deiner Eltern für Notfälle. Also hab ich sie angerufen, nachdem du eingeschlafen bist. Sie ist deine leibliche Mutter, Alfred.“

„Ist sie nicht...“ Laut seinen Entdeckungen war das unmöglich!

„Doch, und ich möchte, dass du jetzt den Satz aufschreibst.“

„Warum?“ Gequält wechselte seine Aufmerksamkeit zwischen der blanken Tagebuchseite und Frau Brookes energischen Augen. Sie kannte kein Pardon und sie lächelte auch nicht mehr.

„Damit du anfangen kannst, ihn wieder zu glauben.“

„Meine Mom hat Sie angelogen.“

„Nein, hat sie nicht. Schreib jetzt bitte den Satz auf.“ Immer noch kein Lächeln und kein Anzeichen eines Rückziehers. Das bedeutete, sie hegte keinen Zweifel, oder?
 

Alfred begriff das nicht, aber seine Hand peilte den Kugelschreiber an. Seine Finger hatten jedoch arge Probleme, das Schreibgerät angemessen zu führen. Jeder Buchstabe sträubte sich wie im Wundstarrkrampf. Bereits nach den ersten beiden Worten tat Alfred die Hand unermesslich weh und kaum hatte er den Punkt gesetzt, ließ er den Kugelschreiber abrupt los.
 

Meine Mom ist meine echte Mom.
 

Der Satz prangte dort unten wie ein in Stein gemeißeltes Gebot und strahlte etwas Bedrohliches aus, das den Jugendlichen dazu veranlasste, ein weiteres Mal zu schlucken.

Seine Mom war also seine echte Mom?

Die Information wurde in seinem Kopf von einem Neuron zum nächsten weitergeleitet, doch schien nirgends verarbeitet werden zu können...
 

„Wie fühlst du dich damit?“ Etwas in Frau Brookes Stimme hatte sich verändert. Das Nachdrückliche war aus ihr gewichen und hatte Feingefühl Platz gemacht. Alfred klappte der Mund auf, dann wieder zu. Zwischen seinen Hirnhälften ping-pongte die Information noch immer heimatlos umher. Davon abgesehen tat sich allerdings nichts. Dieser Satz wirkte für ihn surreal. So als würde man von ihm verlangen, zu akzeptieren, dass die Erde eine Scheibe war. Seinem Gefühl nach zu urteilen, war es nicht richtig!
 

„Irgendwie...genau wie vorher“, hauchte er schließlich enttäuscht. Seine Mutter hatte gelogen, nicht wahr? Sie hatte ihn von klein auf belogen und sie hatte gestern auch Frau Brooke belogen. So einfach war das. Selbst wenn er wollte, konnte er nichts Anderes glauben. Es war deprimierend.
 

„Vertraust du deiner Mom?“
 

Früher: ja. Heute: nein! Hinter Alfreds Augen begann es gefährlich zu brennen. Oh Gott, bloß nicht wieder weinen! Nicht wieder weinen! Hastig schlug er das Tagebuch zu.

„Ich will nicht über meine Mom reden!“ Kein dummer Satz und keine Lügen mehr. Damit kam er momentan einfach nicht zurecht.
 

„Okay, dann machen wir das jetzt auch nicht“, beschwichtigend hob Frau Brooke kurz die Hände. „Aber ich möchte dir noch sagen, wie ich mich am Mittwoch mit deinen Eltern bezüglich der Fortsetzung eurer gemeinsamen Therapiegespräche geeinigt habe. Wir sind übereinstimmend zu der Entscheidung gekommen, dass es sinnvoller ist, wenn zukünftig nur einer von beiden herkommt.“

Aber–!

„Nein, nicht aufregen. Das ist etwas, worüber wir beide gleich auch noch reden werden.“

„Worüber?“

„Über diese Panik, die immer sofort in dir hochsteigt. Aber eins nach dem anderen. Die getrennten Gespräche bedeuten nicht, dass sich deine Eltern scheiden lassen.“
 

„..was denn sonst?“ Verbittert sank Alfred in seinem Stuhl zurück. Dass man ihm Panik unterstellte, fand er vollkommen ungerechtfertigt! Wie sollte er sich denn bitte nicht über so eine Nachricht aufregen? Es war genau das passiert, was er all die Zeit zu verhindern versucht hatte. Auf getrennte Gespräche würden getrennte Leben folgen – ohne ihn!
 

Verstärkt blinzelnd, verschränkte er erneut die Arme. Alles war kaputt...
 

„Es bedeutet, dass deine Eltern zurzeit nicht besonders gut miteinander auskommen und es auch zugeben.“ Frau Brookes Interpretation haftete etwas Positives an. „Ich habe den beiden empfohlen, ihre Konflikte im Rahmen einer Paartherapie zu klären. Das können wir nämlich nicht auch noch in den Familiengesprächen tun, in denen wir uns hauptsächlich mit dir befassen möchten.

Alfred, deine Eltern sind sich in vielen Dingen einig – und in ein paar anderen Dingen überhaupt nicht. Aber seit Mittwoch ist klar, dass dringend mit dir über all das gesprochen werden muss, was du nur am Rande mitbekommen hast. Vor allem gestern hat gezeigt, dass das viel, viel früher hätte passieren müssen.“
 

„Ist’s aber nicht...“
 

„Nein, leider nicht, aber deine Eltern möchten dir helfen. Gerade können sie das aber nicht als Team. Das erst mal einzugestehen, war alles Andere als leicht für deine Mom und deinen Dad. Das hab ich vorgestern in dem Gespräch mit den beiden ganz deutlich gemerkt. Nächste Woche wird einer von ihnen zur Familientherapiestunde herkommen und dir die Umstände bestmöglich erklären. Wie gesagt, deine Eltern sind sich in vielem einig. Nur was die letzten Jahre betrifft, ist es kompliziert. Deswegen haben sie momentan auch relativ große Probleme miteinander. Aber du bist nicht an diesen Problemen schuld. Schreibst du dir das bitte auf?“ Zielgenau tippte sie mit der Spitze des rechten Zeigefingers auf sein Tagebuch.
 

„Was?“
 

„Schreib dir auf, dass du nicht am Streit deiner Eltern schuld bist.“
 

Wenn nicht er, wer dann? Alfred war hochgradig verwirrt. Hinter seinem schlotternden Brustbein klopfte sein Herz nervös. Frau Brooke blätterte derweil im Tagebuch zur nächsten leeren Seite und hielt Alfred abermals den Kuli hin. Die Worte, die er gleich darauf widerwillig niederschrieb, kamen ihm genauso falsch vor wie ihre Vorgänger.
 

Ich bin nicht am Streit meiner Eltern schuld.
 

Mit unnötig viel Kraft drückte Alfreds Daumen gegen den blassgrünen Plastikclip des Kugelschreibers, der sich bedrohlich knirschend bog. Das, was dort unten stand, war nicht richtig. Es war verdammt noch mal nicht richtig!
 

„Verändert sich dadurch was in dir? Oder ist das wie mit dem anderen Satz?“
 

Per Nicken bestätigte er ihren Verdacht. Warum zwang man ihn, Lügen als Wahrheiten anzuerkennen?

Oder waren es doch keine Lügen?

Unter schlagartig zunehmenden Kopfschmerzen pfefferte Alfred den Kugelschreiber auf den Tisch und klatschte das Tagebuch rabiat zu. Seine Mutter war also seine echte Mutter, aber er traute ihr nicht? Er fühlte es ja nicht mal! Wie sollte er je wieder normal mit ihr umgehen? Zumal sie ja jetzt von seiner Unterstellung wusste und er kannte seine Mom: wenn sie seine echte Mom war, dann hatte er sie mit seinem Misstrauen zutiefst verletzt. Warum machte er so was? Und was war mit dem Fotoalbum? Was war Lüge und was nicht?
 

Alfreds Hirn streikte. Hinter seiner Stirn fanden einfach kein logischen Denkprozesse mehr statt. Er tappte im Dunkeln und wusste bloß noch eins:

„Ich will nich’, dass einer meiner Eltern nächste Woche herkommt...“ Die beiden hatten ihm jahrelang irgendwas verschwiegen, so viel stand fest. Frau Brooke hatte selbst gesagt, es bestand Erklärungsbedarf, aber er wollte es nicht hören. Er wollte nicht seiner Mom oder seinem Dad gegenübersitzen und sich anhören müssen, dass alles vorbei war und dass er sie bodenlos enttäuscht hatte...
 

„Es ist aber ganz wichtig für dich, endlich die Wahrheit zu erfahren. Wär’s nicht schön, wenn du glauben könntest, was du aufgeschrieben hast?“
 

„Das stimmt eh alles nicht und ich will nicht mit meiner Mom oder meinem Dad reden. Sie hätten meinen Eltern nich’ sagen sollen, was passiert ist“, klagte er heiser. „Ich hätt’ auch nichts sagen sollen...!“
 

„Du hast Angst davor, mit ihnen zu reden...“
 

Bei der Aussicht auf eine Aussprache produzierte das saure Aufstoßen eine gleißende Stichflamme. Es war viel zu warm im Zimmer, obgleich Alfred das Frieren nach wie vor in den Knochen saß wie eine verschleppte Grippe. Seine rechte Hand wanderte zu seinem Hals, wo es befremdlich juckte. Die linke klammerte sich an seine dunkelblaue Shirtjacke mit dem schlichten Reißverschluss und den goldgelben Akzenten an Ärmeln und Kragen. Warm, kalt, Jucken, Herzklopfen, seine Mom, sein Dad, die Lügen, die Erwartungen-
 

„...Ja, hast du und das ist auch ganz normal in deiner Situation.“
 

„Nein!“
 

„Doch, du zitterst und du kriegst vor lauter Nervosität schon Stressflecken am Hals. Nicht kratzen. Leg deine Hände mal hier hin.“ Leise klopfte sie auf den Tisch. Anstatt der Aufforderung nachzukommen, hätte Alfred seine Hände am liebsten in den Hosentaschen verschwinden lassen. Dennoch tat er, wie geheißen. Die Tischplatte hatte etwas merkwürdig Temperaturloses an sich, als seine feuchten Handflächen Kontakt mit ihr machten.
 

„Schön ans Atmen denken“, instruierte Frau Brooke und gewährte ihm eine Minute Pause.

„So ein Gespräch kommt dir vielleicht gerade wie etwas ganz Schreckliches vor, aber es wird dir auf lange Sicht gut tun. Du überlebst das. Und deine Eltern werden dich auch wieder mit nach Hause nehmen. Nicht nächste Woche, aber wenn es dir etwas besser geht. Ich versprech’s dir.“
 

Das konnte sie ihm doch gar nicht versprechen! Sein Vater wollte ihn nicht und für seine Mutter war er nutzlos geworden. Er würde niemals zurück nach Hause kommen!

Das Aufstoßen war plötzlich so durchschlagskräftig, dass es Alfred bis in die Augen hinauf schoss. Die Bindehaut wie verätzt, blinzelte er zur Deckenlampe hinauf und hielt mit seinen verbliebenen Leibeskräften die Tränen zurück. Keiner wollte ihn mehr und so, wie er sich aufführte, hatte er vollstes Verständnis dafür.
 

„Nicht wieder panisch werden, Sonnenschein. Hol mal tief Luft und versuch, diese Angst aus dir raus zu atmen.“
 

„Ich hab keine Panik, ich-ich weiß auch nicht..Ich bin sonst nicht so!“, rang er sich ein japsendes Restlächeln ab und wusste seinen Blick nirgends unterzubringen. Er wusste nur, dass er nicht wieder anfangen durfte zu heulen.
 

„Das glaub ich dir.“
 

„Ich bin nur müde und...“ Sprachlos zuckte Alfred mit den Schultern, das Herz zerfressen von Heimweh. Ihm fielen keine Rechtfertigungen mehr ein...
 

„Ja, so müde, dass dich die Schwester heute früh zwei Mal nachwecken musste, weil du nicht aufgestanden bist.“
 

Ertappt studierte er seine Hände, während sein Gegenüber ihre Aufzählung fortsetzte.
 

„Und gestern Abend hattest du auch keinen Hunger...“
 

„Ich hab aufm Zimmer gegessen.“
 

„Mhm, ich hab mir gedacht, dass du dich abends vermutlich nicht besonders gut fühlst und habe dem Personal entsprechende Instruktionen hinterlassen. Erinnerst du dich noch daran, als ich dir Anfang der Woche gesagt hab, dass es schon mal vorkommen kann, dass man sich sehr müde und niedergeschlagen fühlt? Man möchte gar nicht mehr aufstehen und gar nichts mehr tun, weil man so entkräftet ist und sich der Welt überhaupt nicht mehr gewachsen fühlt?“
 

„Ich bin nur müde“, lieferte Alfred die einzige Erklärung, die er parat hatte und kam sich dabei wie eine Schallplatte mit Sprung vor.
 

„Nicht aufstehen und nicht essen wollen, das sind schon sehr spezielle Signale, weißt du? Genau wie diese Panik, die du immer so schnell bekommst. In jeder unserer Sitzungen bist du entsetzlich angespannt und hast furchtbare Angst davor, etwas zu sagen. Man kann dir regelrecht dabei zugucken, wie dir die Angst die Luft abschnürt, wenn wir versuchen, uns bestimmten Themen zu nähern. Da seh ich immer nur Nervosität und Hibbeln und nicht reden können oder auch nicht reden wollen. Du lachst oder trotzt oder schweigst, um die Angst zu vermeiden. Solche Vermeidungsstrategien kosten einen unvorstellbar viel Kraft; und seit du mir gestern so viel anvertraut hast, ist die Luft bei dir ziemlich raus. Das ist das, was ich sehe. Oder täusch ich mich?“
 

„...nein.“ Alles stimmte. Absolut alles. Es einzugestehen, wurde dadurch jedoch kaum leichter.
 

„Ich schätze auch mal, du machst dir ständig Gedanken über das, was du mir da gestern erzählt hast?“
 

„...wie auch nicht?“ Alfred kickte ein nicht existentes Steinchen mit dem rechten Fuß weg.
 

„Ja, wie auch nicht? Und du kannst diese Gedanken auch gar nicht mehr abstellen?“
 

Sich über die Lippen leckend, ließ er die Hände vom Tisch gleiten und rückte weit genug zurück, um die Ferse des rechten Fußes auf die Kante der Sitzfläche seines Stuhls zu stellen. Während er die Arme um sein Bein schlang, legte er das Kinn auf seinem Knie ab. Den Blick gen Boden, wünschte er sich den verwegensten Winkel auf Erden, um seinem Leben zu entkommen.

Es war erniedrigend, dass Frau Brooke mit ihrer Einschätzung genau ins Schwarze traf. Schon am Dienstag war Alfred davon überwältigt gewesen, wie schnell sie sein Denkschema und seine Handlungsmuster durchschaute. Er lebte mit seinen Eltern unter einem Dach und die mussten ihn erst beim Erbrechen ertappen, um zu bemerken, dass bei ihm etwas gewaltig aus dem Gleichgewicht geraten war. Mit Frau Brooke hatte er noch keine zehn Stunden im gesamten Leben verbracht, doch sie sah ihn. Nicht sein gefälschtes Grinsen und nicht seine antrainierten Lügen, sondern sein verwundetes Herz und seine nackte Seele. Sie sah viel mehr von ihm, als Alfred je einen Menschen hatte sehen lassen wollen. Insbesondere ihre nächsten Sätze stellten das unter Beweis.
 

„Ich nehme auch an, ich liege goldrichtig damit, wenn ich sage, dass dieses viele Grübeln sehr anstrengend für dich ist, weil du dabei immer zu den gleichen Ergebnissen kommst und meinst, nichts ändern zu können?“ Ja. „Und du fühlst dich immer gleich schlecht.“ Ja. „Du rollst immer die gleichen Ängste auf.“ Ja. „Du machst dir immer die gleichen Vorwürfe.“ Ja. „Du denkst immer, was bei euch Zuhause passiert, ist alles deine Schuld.“
 

„Ist’s ja auch...“
 

„Nein, ist es nicht. Ist es wirklich nicht.“
 

Wenn er doch nur ihr oder den Sätzen in seinem Tagebuch glauben könnte...
 

Alfred realisierte erst, die Augen bedrückt geschlossen zu haben, als etwas gegen sein Knie piekte. Es stellte sich als die Kugelschreiberspitze heraus. Die Mine war zwar nicht ausgefahren, aber Frau Brooke schien Wert auf Blickkontakt zu legen.

„Hast du so was früher schon mal gehabt? Diese erschöpfende Müdigkeit und dieses endlose Gedankenwälzen? Dieses gar nicht mehr Aufstehen wollen?“
 

„Nein.“
 

„Sonnenschein, mal ganz ehrlich und nur unter uns beiden“, der Kugelschreiber deutete verschworen zwischen ihnen hin und her. „Wie fühlst du dich? Es gibt keine falsche Antwort. Sag mir bitte, wie es dir heute geht?“
 

„Ich bin müde und...“ Alfred suchte ein passendes Wort, fand aber wie so häufig keins. Sein kapitulierendes Flüstern skizzierte lediglich, was diesem übermächtigen Nein zu allem-Gefühl in ihm am nächsten kam: „Ich..ich kann nich’ mehr...“
 

„Das kann ich gut nachvollziehen, wenn ich daran denke, dass du zu mir gesagt hast, wie sehr du dich immer angestrengt und bemüht hast, damit bei euch alles funktioniert. Bemüht hast du sogar am Montag auf deinem Arbeitsblatt notiert. Man kann sich sehr, sehr lange bemühen, aber irgendwann stößt man auch an seine Grenzen. Es ist keine Schande, wenn man dann irgendwann nicht mehr kann.“
 

„Bitte sagen Sie’s nicht meinen Eltern!“ Aufgeben war nicht Teil der Philosophie seiner Familie. Alfred konnte sich nicht entsinnen, daheim jemals ein Ich kann nicht mehr gehört zu haben. Dieser Satz war ein absolutes Tabu. Sein Dad kämpfte, seine Mom kämpfte – und was machte er? Er stahl sich mit einem schwächlichen Ich kann nicht mehr davon. Wie erbärmlich!
 

„Ich hab deinen Eltern gestern schon gesagt, dass wir dringend was gegen deine depressive Episode tun müssen.“
 

„Ich bin nicht depressiv oder so!“
 

„Soll ich dir was verraten? Ganz viele Essgestörte haben Probleme mit depressiven Episoden. Bei manchen waren die depressiven Symptome vor ihrer Essstörung schon da, bei anderen sind sie erst unter der Essstörung entstanden. Grund dafür sind zum Beispiel anhaltende psychische Belastungen, darunter fallen auch die häufigen Streitereien deiner Eltern, die du mitangehört hast und auf die du nicht angemessen zu reagieren wusstest. Solche Belastungen setzen einen Menschen innerlich unter Dauerstress und der hat leider sehr verheerende Auswirkungen, mitunter auf die Neurotransmitter in deinem Gehirn, die für deine Stimmung zuständig sind. Serotonin ist einer dieser Neurotransmitter und wenn unter Stress ein Serotoninmangel entsteht, zieht das zwangsläufig eine depressive Verstimmung nach sich. Stress erhöht außerdem den Cortisonspiegel im Blut und den Blutzuckerverbrauch. Sehr viele Menschen reagieren darauf mit Heißhunger.“
 

„...deswegen fress ich so viel, obwohl ich eigentlich kein’ Hunger hab...“
 

„Du frisst nicht, du isst“, korrigierte sie sacht seine Ausdrucksweise, was Alfred relativ gleichgültig war. Schließlich wusste er selbst am besten, was er alles vertilgen konnte.
 

„Das Überessen und das Erbrechen sind deine Selbsthilfeversuche, um den ganzen inneren Spannungszuständen entgegen zu wirken. Bei dir kommt mittlerweile viel zusammen, Alfred: wir haben da dieses Alleinsein mit Problemen, die du nicht zu lösen weißt, und ganz viele Schuldgefühle, die sich negativ auf dein Selbstbewusstsein auswirken. Du bist sehr unzufrieden mit deiner familiären Situation und mit dir selbst und du hast gar kein richtiges Vertrauen mehr zu irgendjemandem. Das sind alles keine schönen Empfindungen und die haben sich auch nicht von jetzt auf gleich entwickelt; das hat sich seit dem letzten Sommer konstant zugespitzt. Je schlechter es dir aber geht, desto mehr versuchst du mit deiner Essstörung dagegen anzukämpfen. Essen und Erbrechen wird von fast allen Betroffenen als beruhigend und entspannend erlebt, auch als angstlösend und als so ziemlich das Einzige, wobei man mal abschalten kann. Die Essstörung ist scheinbar ein optimales Ventil, um den Alltag zeitweise zu vergessen.

Das trügt natürlich. Ich muss dir nicht sagen, wie sehr du dich für deine Essstörung schämst. Das weißt du selbst am besten und mit dieser Essstörung haben wir schon das nächste Geheimnis, was du bunkerst. Probleme, über die du nicht sprichst, erschaffen weitere Probleme, über die du nicht sprichst. So hält sich dieser Problemkreislauf quasi selbst am Leben. Wie soll das von alleine besser werden?“
 

„Gar nicht...“ Das Ganze war nicht nur ein Kreislauf, sondern ein regelrechter Strudel, in dem Alfred ertrunken war. An seinem Verständnis für seine Krankheit knackten sie seit seiner Einweisung herum, allerdings waren ihm die Zusammenhänge nie so einleuchtend gewesen wie in diesem Moment, als er, das Kinn noch immer auf dem Knie gebettet, zu seiner Therapeutin hinüber schaute, deren freundliche Gesinnung ihm das wunde Gemüt einsalbte.
 

„Richtig. Da muss aktiv eingeschritten werden“, bestätigte sie mit angenehmer Erzählstimme. „Ich mach das bei meinen neuen Patienten immer so: wenn ich im medizinischen Gutachten für die Klinikanmeldung keinen Vermerk über depressive Verstimmungen finde, dann schaue ich mir meine Patienten ein paar Sitzungen lang an. Das reicht vollkommen, um zu beurteilen, ob man gegebenenfalls ein bisschen nachhelfen muss.“
 

„Nachhelfen?“
 

„Ja, ich finde, wir sollten etwas gegen deine starke, innere Unruhe unternehmen. Immer nur Angst haben zu müssen und gar nicht abschalten zu können, das macht dich doch total fertig.“
 

„Schon...“ Aber was sollte er denn noch alles tun? Er stand um sechs in der Früh auf und er war zu kaputt für eine weitere Aktivität auf seinem Stundenplan. Entsprechend skeptisch verrutschten Alfreds Augenbrauen, was Frau Brooke zwar zur Kenntnis nahm, ihrer hellen Tonlage aber keinen Abbruch leistete.

„Schön, dass wir uns da einig sind. Der Vorteil ist, sobald du nicht mehr so angespannt bist, geht es dir nicht nur besser. Du kannst dann vor allem auch in der Therapie viel effizienter mitarbeiten, weil dir die Angst nicht mehr im Weg steht. Wenn du dann die Erfahrung machst, deine Schwierigkeiten aktiv angehen zu können, geht es dir automatisch noch besser. So setzen wir eine Aufwärtsspirale in Gang, du wirst sehen. Ich verschreib dir ein Medikament; das hab ich gestern auch mit deinen Eltern abgeklärt. Du bekommst morgens und mittags eine Tablette und-“

„Was denn für Tabletten?! Ich schluck doch keine Psychopillen!“ Alfred konnte gar nicht so schnell intervenieren, wie er wollte. Hätte ihn die Erklärung vorab nicht watteweich eingelullt, hätte er bereits bei dem Wort Medikament Einspruch erhoben.
 

Frau Brooke legte lediglich den Kopf leicht schief.

„Du hast doch noch nie Psychopillen verschrieben bekommen.“
 

„Nein!“ Natürlich nicht! Er war doch nicht verrückt!
 

„Dann weißt du ja auch gar nicht, wie dir so ein Medikament helfen kann...“
 

„Nachher lauf ich rum wie ’n Zombie!“ Er würde sich nicht mit irgendeinem Chemiezeug voll pumpen lassen und bis ans Ende seiner Tage in dieser Klinik verrotten. Das konnte sie sich abschminken! Heute sollte er Pillen schlucken und ab morgen hing er dann debil vor sich hinsabbernd in der Ecke oder was!?
 

„Ach, du siehst viel zu viel fern.“ Über seine Aufruhr seufzend, schüttelte seine Gesprächspartnerin den Kopf. „Ich weiß, du möchtest keine Medikamente. Du möchtest auch nicht krank sein. Also lass uns was dagegen tun. Du wirst diese Tabletten nicht für den Rest deines Lebens nehmen müssen. Sie verwandeln dich auch nicht in einen Zombie oder in einen anderen Menschen. Das Antidepressivum hat in erster Linie eine angstlösende und stimmungsstabilisierende Wirkung. Bis du davon etwas merkst, dauert es ein paar Tage.“
 

Am liebsten würde Alfred einfach nur schreien. Er wollte keine Pillen, sondern nach Hause! Wo war er hier nur gelandet? Er wollte ausbrechen, aber er war vollkommen ausgepowert...
 

Frau Brooke schenkte ihm eine Miene, der nichts Trügerisches anhaftete. Sie redete weder aggressiv noch nüchtern auf ihn ein. Sie redete lediglich wie jemand, der ihn verstand und sehr genau Bescheid wusste – sowohl über ihn, als auch über das, was gut für ihn war.

Eigentlich, und das spürte Alfred deutlich, wollte sie ihm nichts Böses. Andernfalls hätte sie ihn gestern wohl kaum getröstet oder gar ihre Mittagspause für ihn geopfert. Wenn er ihr egal wäre, hätte sie ihn auch nicht am Mittwoch aus der Familientherapie geschickt, um ihm vor dem elterlichen Eklat zu bewahren. Aber sie hatte all das gemacht. Sie kümmerte sich um ihn.
 

Trotzdem: Antidepressiva? Eine Aufwärtsspirale? Besseres Vorankommen? Das war doch von vornherein zum Scheitern verurteilt! Nichts würde je wieder wie früher werden! Alfred wollte die Tempobox an sich reißen und sich mutterseelenallein leer weinen, zumal die nächste Anmerkung seiner Therapeutin in exakt die gleiche emotionale Kerbe schlug.
 

„Du möchtest doch gesund werden. Ich weiß genau, dass du dir das wünschst.“
 

„Ich werd’ aber nicht mehr gesund...“
 

„Vielleicht kannst du gerade nur keinen Weg sehen, weil dir alles ganz dunkel erscheint? Aber diese Denkstrukturen, die ich bei dir erkenne, sind was ganz Typisches für depressive Phasen. Du siehst immer dich als den einzig Schuldigen und das unbehebbare Problem an, du schätzt deine Situation völlig aussichtslos ein. Du drehst dich in deinen schlechten Gedanken im Kreis... Das müssen wir ganz dringend ändern.“
 

Ja, seine Gedanken zogen fortwährend die gleichen Bahnen und sperrten ihn in Finsternis ein. Kein Licht. Kein Ausweg. Wieso verströmte Frau Brooke dennoch so große Zuversicht? Ob sie Recht hatte und die depressive Phase Alfreds Gefühle auf die falsche Fährte gelockt hatte? War es ihm auch aus diesem Grund nicht möglich, zu beurteilen, ob die Sätze in seinem Tagebuch der Realität entsprachen? Oder überhaupt zwischen vermeintlichen Lügen und der Realität zu differenzieren?
 

„Sie lügen mich doch nich’ an, oder? Die Pillen helfen mir wirklich?“, fragte er schließlich, weil er mit seinem Latein völlig am Ende war und nicht mal mehr seiner eigenen Urteilsfähigkeit traute.
 

„Ja, ich bin mir ganz sicher, wir kommen mit den Tabletten gut voran. Ich würde sie dir sonst nicht verschreiben.“

„Ich muss die scheiß Dinger ja eh nehmen...“ Zur Not würde man ihn zwingen. Man zwang ihn ja hier zu allem...

„Es wäre uns schon lieber, wenn du sie freiwillig einnimmst. Es ist mühsam, jemanden mit deiner Körpergröße und Kraft festzuhalten, um ihm ein Medikament zu verabreichen.“ Der Kugelschreiber klackte, ehe Frau Brooke etwas in ihren Unterlagen notierte und ihn dann beiseite legte.

„Wie lange denkst du eigentlich schon, dass du nicht mehr gesund wirst?“
 

„...die ganze Zeit.“ Seit ihm klar war, dass etwas bei ihm falsch lief. Sich vollzufressen, bis einem speiübel war, war nicht normal. Sich absichtlich zu übergeben ebenso wenig. Obwohl Alfred seine Essstörung sehr lange nicht als solche identifiziert hatte, war ihm spätestens nach den Vorkommnissen im Baseballteam klar geworden, verkorkst zu sein. Dass in seiner Familie überhaupt nichts mehr stimmte, hatte ihn vorab schon mental die weiße Flagge hissen lassen. Es würde auch nicht mehr gut werden. Zwar war er in den vergangenen Therapiestunden ab und zu motiviert gewesen, aber innerlich war er immer wieder bei seinen eigentlichen Ängsten gelandet. Sie hatten ihn umgehend zurück auf null geschubst: Nichts wird mehr gut.
 

Nicht das mit seiner Familie und auch nicht das mit ihm.
 

Selbst wenn er je wieder nach Hause käme, wäre dort alles anders und in der Schule würde er wieder Sprüche geprellt kriegen. Alfred hatte im letzten Halbjahr gar nicht erst sein Glück bei anderen Mitschülern versucht. Was, wenn Brad oder sonst wer davon Wind bekommen und sein Geheimnis ausplaudert hätte? Oder wenn es derjenige gar von selbst gemerkt hätte? Außerdem machte Übergewicht einen nicht gerade beliebt, wie Alfred auf die harte Tour erfahren hatte. Seine Unbeliebtheit war proportional zu seinem Körpergewicht gestiegen. Neue Freundschaften würden sich also eher nicht ergeben. Alfred würde weiterhin Tag ein, Tag aus allein in der Schule die Zeit totschlagen müssen. Wie furchtbar. Er war noch nie so ungern zur Schule gegangen wie in den letzten Monaten und eine Fortsetzung der Tortur würde sich nach den Ferien nicht vermeiden lassen, da er es nie und nimmer schaffte, bis zum Anfang des neuen Schuljahres wieder so auszusehen wie früher...
 

„Wir helfen dir hier doch alle beim Gesundwerden“, lockte ihn seine Therapeutin mit Unterstützung, die er lediglich stumpf verweigerte.

„Mir hilft Therapie nicht...“ Mit dem Oberkörper wich Alfred so weit zurück, bis er das Kinn vom Knie gleiten lassen und die Stirn gegen seinen angewinkelten Oberschenkel lehnen konnte. Wenn er in den letzten Tagen eines gelernt hatte, dann dass er keine Zukunft mehr hatte. Er konnte ja nicht mal mehr für sich kämpfen...
 

„Sag das nicht“, gedachten ihn die Worte aufzubauen. Aber er wollte nicht mehr. Er konnte einfach nicht mehr. Frau Brooke hätte ihn im Bett lassen sollen. Jetzt kauerte er auf einem Stuhl, weil er nirgends mehr hin konnte. Seine Eltern wussten, dass er diese fiese Essstörung hatte und sich bei Bedarf die Finger in den Hals steckte. Sie wussten auch, dass er gestern diese dämliche Heulerei veranstaltet hatte und sie wussten, dass er eine depressive Phase hatte und deshalb Tabletten schlucken sollte. So einen Psycho wie ihn würden sie sich niemals wieder freiwillig zurück nach Hause holen.

Wahrscheinlich ahnte Matthew nicht mal etwas von Alfreds Existenz, weil sein Dad ihn vor lauter Peinlichkeit gewissenhaft verschwieg. Und seine Mom? Konnte man adoptierte Kinder zurückgeben? Hatte sie noch irgendwo den Kaufvertrag und stand da was von xx Jahren Garantie oder Rückgaberecht drin?
 

Das Geräusch eines Stuhles, der zurückgeschoben wurde, ebbte durch den Raum, gefolgt von Schritten. Alfred spürte den fremden Körper, der direkt neben ihm in die Hocke ging und leise Besänftigung austeilte.

„Du kommst doch in unseren Sitzungen voran. Selbst wenn du dich an einem Tag nur ein klitzekleines bisschen besser zu verstehen lernst, ist das ein wichtiger Fortschritt.“ Eine Hand fand sich an seiner Schulter ein und strich wohlwollend hinüber. Der gleiche Trost wie gestern: nicht klinisch kühl und auch nicht grenzüberschreitend. Die Geste tat ihm gut, viel besser als die Begrüßungen seiner Eltern, bei denen er affektiv in eine Rolle geschlüpft war. Die Geste ließ ihn vor allem von Lügen und Falschheit abrücken. Es gab viel zu vieles, was er dringend loswerden musste und von dem er nicht mehr wusste, wo er es parken sollte, wenn nicht bei seiner Therapeutin.

„Es hilft trotzdem alles nicht. Ich hab gekotzt.“

„Wann?“

„Heute, gestern, vorgestern...“

„Oh Moment! Also, heute früh?“
 

Nickend wartete Alfred darauf, dass die Hand verschwand. Doch zu seiner Überraschung hielt sie lediglich kurz inne, bevor sie ihr Tun unbeirrt fortsetzte.

„Und wann gestern?“

„Abends und morgens...“

„Und wann am Mittwoch?

„Abends.“

„Nur abends?“

„Ja.“

„Nach deiner Familientherapie also.“
 

Die Bestätigung konnte er sich getrost sparen. Es war offensichtlich, als er, geplagt von Gewissensbissen, in Richtung seiner Therapeutin glimmte, deren andere Hand auf der Stuhllehne zwischen ihnen ruhte. In ihren Augen geerdete Ernsthaftigkeit anstelle von garstigen Vorwürfen.

„Das ist viel, Alfred. Sehr viel.“

„Nein, gar nich’...“ Es waren mickrige Portionen gewesen, aber ihm dämmerte, dass nicht die Portionsgröße gemeint war.

„Ich find das schon viel. Du hast ja im Grunde genommen seit Mittwoch Mittag nichts mehr gegessen – oder eher bei dir behalten.“
 

Theoretisch hatte sie damit Recht. Praktisch hatte er aber bisher nie an seinen leeren Magen, sondern immer nur an die Beutel gedacht. Die waren sein Problem. Ein großes Problem. Sie mussten weg und er wusste nicht, wie er das bewerkstelligen sollte. Höchstwahrscheinlich hätte er das Erbrechen auch nicht gebeichtet, wenn ihm die Berührung an der Schulter nicht die Seele angepiekst hätte. Jetzt triefte die Schande aus ihr heraus. Was er machte, war so hässlich. Wieso war die Hand an seiner Schulter trotzdem noch da? Frau Brooke rümpfte nicht mal die Nase.

„Du erbrichst wohl ziemlich leise, wenn dich keiner gehört hat.“
 

„Ne, ich hab nicht aufm Klo gekotzt. Ich hab in meinem Zimmer in Beutel gekotzt.“ Die Toilettenräume waren viel zu hellhörig. Das Risiko war er gar nicht erst eingegangen.

„Beutel?“

„Ja, ich hab doch den Modellbausatz. Die Teile sind in so Plastikbeuteln eingepackt. Die hab ich genommen. Aber“, Alfred schluckte bleischwer, „ich weiß nicht, wo ich die Beutel hintun soll.“
 

Sie musste ihm helfen. Sie musste ihm bitte helfen! Dies implizierend, klammerte sich sein Blick an ihr fest.
 

„Wo sind die Beutel denn jetzt?“

„In meiner Reisetasche in meinem Schrank. Ich hab Handtücher dazu gepackt und jede Menge Deo drauf gesprüht. Aber..die müssen weg.“

„Ja. Jetzt ist mir auch klar, warum es in deinem Zimmer wie in der Parfümerie riecht.“

„Ich will keine vollgekotzten Tüten in meinem Kleiderschrank stehen haben. So was mach ich Zuhause auch nicht. Echt, so was hab ich noch nie gemacht! Das ist richtig ekelhaft! Aber ich wusste nicht, wie ich hier...“

„Also hast du kurzerhand die Beutel genommen.“

„Ja. Und-“ Nein. Die Beutel waren wahrlich schlimm genug. Den Vorfall von gestern Abend sollte er besser für sich behalten. Sich auf die Zunge beißend, wich Alfred dem Blickwechsel aus. Nicht mal in den paar Wochen, als seine Eltern schon von seiner Essstörung wussten, hatte er Zuhause jemals vollgekotzte Tüten verstecken müssen. Ob nun daheim oder aushäusig, er hatte stets einen Moment gefunden, in dem er alleine war und sich erleichtern konnte. Aber hier? Hier klappte gar nichts.
 

„Und?“ Per ermutigendem Zudrücken an der Schulter piekste sie seine Seele erneut an. Sich zur Wahrheit zu bekennen, war aber kein leichtes Unterfangen für Alfred, der sich hinsichtlich des Erbrechens nie jemanden anvertraut hatte und nachhaltig auf den Moment wartete, in dem er losgelassen wurde, da er mit seinem perversen Verhalten den Bogen überspannt hatte.

„Schwören Sie mir, dass Sie’s meinen Eltern nicht sagen?“, bat er, bekam aber genau die Antwort, die er erwartet hatte.
 

„Das kommt drauf an...“ Frau Brooke würde tun, was sie für ihn am besten hielt.
 

Die Stirn gegen den Jeansstoff seiner Hose reibend, kratzte Alfred seinen letzten Rest Mut zusammen.

„Ich hab gestern Abend in der Dusche gekotzt. Ich bin voll abartig! Ich werde nicht mehr gesund! Es wird immer schlimmer...!“ So viel zur Wahrheit, die ihn sich nackt fühlen und noch weiter zusammenkauern ließ. Seine Lunge spuckte heftige Atemzüge aus und vor seinem inneren Auge tauchte das verschwommene Bild des braunen Erbrochenen auf, was ihm über Finger und Zehen gelaufen war. Warm und sauer. Warum konnte er die Erinnerung nicht ein für alle mal aus seinem Gedächtnis verbannen?

Dieses Kranksein trieb ihn zu immer weiteren Schandtaten an. Selbstinduziertes Erbrechen an sich war schon abstoßend genug in den Augen der Gesellschaft, aber Alfred hatte in Beutel gekotzt, die er in seinem Schrank versteckte. Und er hatte in einer Dusche gekotzt, in der er gestanden hatte. Was war denn als nächstes dran? Ein Kissenbezug? Socken? Sein Modellbaukasten? Seine Hände? Es rutschte kontinuierlich weiter ab und das würde sich durch nichts und niemanden mehr ändern...
 

„Nicht doch. Du weißt nur gerade nicht, wo oben und unten ist. Hey... So was kann passieren.“ Obschon das Streicheln an gutmütigem Nachdruck gewann, zeigte Alfred keinerlei Bereitschaft, den Blickkontakt wieder herzustellen.

„Nein, das is’ total widerlich. Sie dürfen das meinen Eltern nicht sagen.“

„Wir müssen ihnen nicht jedes Detail erzählen...“ Na immerhin.

„Danke. Ich bin so was von abgefuckt...!“

„Nein.“

„Ich hab in meiner eigenen Kotze gestanden! Sie wissen doch gar nicht, wie das ist!“ Es war ja nicht so, als hätte er sich eine Magen-Darm-Grippe eingefangen und es hätte ihn unerwartet überkommen. Er hatte es absichtlich herbeigeführt. Kein Mensch mit klarem Verstand machte so was!
 

„Du denkst sicher, nur du erlebst so was. Aber das stimmt nicht. Ich hab schon so einiges von Patienten erfahren. Wo und wie sie erbrochen haben oder wie sie’s haben verschwinden lassen, weil sie sich in einer Notlage befanden, wenn wir das mal so nennen wollen.“
 

„Ehrlich?“ Prüfend wandte Alfred das Gesicht herum.
 

„Ja, ehrlich. Und es ist gut, dass du mir Bescheid sagst. Rückfälle passieren, vor allem, wenn man großem Stress ausgesetzt ist und noch nicht damit umzugehen gelernt hat. Aber das wirst du noch. Genesung braucht nur seine Zeit.

Ist dir eigentlich noch schwindelig? Ich hab vorhin gelesen, du hattest da heute Morgen Probleme; jetzt ist mir auch klar, woran das lag.“
 

„Geht schon wieder...“ Alfred löste ertappt die rechte Hand und rieb sich die Nasenwurzel. „Sonst wird mir eigentlich nie schlecht beim Blutabnehmen.“
 

Frau Brooke hob tadelnd eine Augenbraue.

„Ich behaupte mal, das hatte weniger mit der Blutabnahme an sich zu tun. Es ist allerhöchste Zeit, dass du was isst und bei dir behältst.“

„Nein, ich hab zugenommen“, lehnte Alfred mit der Erinnerung an Cleopatras Schweigen sofort ab. Die Augenbraue auf dem anderen Gesicht wanderte daraufhin noch weiter nach oben.

„Unsinn! Und selbst wenn, würde ich jetzt wollen, dass du etwas isst und trinkst. Also komm, wir schmeißen diese Beutel in deinem Schrank weg und dann holst du dein Frühstück nach.“
 

Sollte das heißen, er hatte nicht zugenommen? Von der Nachricht wie betäubt, stutzte Alfred, derweil er der auffordernden Handbewegung folge leistete und aufstand. Langsam, weil die Welt nicht so wollte, wie er wollte und die ersten Schritte einem Waten durch Morast glichen. Frau Brookes Gesichtsausdruck machte deutlich, dass sie ein wachsames Augen auf ihn hatte, als sie Seite an Seite das Therapiezimmer verließen und das Schwesternzimmer anpeilten. Hinter dem großen Glasfenster saßen Josh und Nancy über eine Akte gebeugt und diskutierten angeregt miteinander. Josh verstummte, als er Frau Brooke und Alfred erblickte und auch Nancy stoppte mitten im Satz, weswegen Alfred lieber nicht zu nahe trat. Irgendwie fühlte er sich jetzt schon wie das schwarze Schaf.
 

Es wurde nicht besser, als Frau Brooke Josh bat, Alfred mitsamt einem Müllsack in sein Zimmer zu begleiten. Sie käme nach, sobald sie in der Küche angerufen habe. Bei der Ankündigung langte sie bereits nach dem Stationstelefon auf dem Schreibtisch. Alfred duckte sich geknickt, als Josh ohne Widerrede im angrenzenden Pausenraum verschwand, eine Schranktüre öffnete und gleich darauf mit einem Müllsack zurückkehrte. Das hier war peinlich. Mindestens so peinlich wie sich unter der Decke zu verstecken...
 

Da Alfred eh keinen guten Draht zu Josh hatte, trabte er wortlos in sein Zimmer und kam sich wie ein Ungetüm vor, das einen Polizisten zu dem Ort führte, an dem es die sterblichen Überreste seiner Opfer verscharrt hatte.
 

„Was werfen wir denn weg?“, hakte Josh forsch nach, woraufhin Alfred puterrot zur Schranktür greifen wollte, doch der Pfleger stand sogleich neben ihm.

„Ich mach das schon. Sag mir nur, was?“ Ohne abzuwarten, zog er die Türe auf und scannte das Innenleben. Die Finger in den Ärmeln versteckend, deutete Alfred nach unten.

„Die Tasche.“ Man roch das Deo und das Duschgel, und man roch noch etwas Anderes, etwas ätzend Vergorenes. Ohne die den Geruch blockierende Türe, schlüpfte die saure Note klammheimlich ins Zimmer. Wenn Alfred eines nicht tun würde, dann wäre es, die Tasche je wieder zu öffnen!
 

„Diese Tasche?!“, beugte sich Josh hinab und Alfred nickte still, die Finger tiefer in den Ärmeln verkeilt und das Gesicht anhaltend brennend rot. Mit der einen Hand manövrierte Josh vorsichtig die Tasche auf den Zimmerboden; darauf aufpassend, sie nicht unnötig anzuheben oder gar zu drehen. Der Mann wusste haargenau, was da drin war. Vielleicht wusste er nicht, dass es sich um vollgekotzte Beutel und Handtücher handelte, aber er wusste um die Kotze...
 

„Soll ich nich’...?“ Alfred fand es einfach nicht richtig, sein Erbrochenes von anderen Leuten wegräumen zu lassen. Wenn er sich den Finger in den Hals steckte, dann musste kein anderer Mensch daher kommen und hinter ihm sauber machen. Er war doch nicht pflegebedürftig und daheim putzte er sein Badezimmer auch selbst! Josh wies das Angebot allerdings mit einem harten Kopfschütteln ab, entfaltete knisternd den schwarzen Müllsack und verfrachtete die Tasche dann achtsam hinein. Alfred erwartete Ärger oder Ekel, irgendwas, das darauf schließen ließ, dass man ihn verurteilte. So wie er eben auf dem Stuhl gekauert und darauf gewartet hatte, losgelassen zu werden. Doch stattdessen wirkte Josh wenig tangiert.

„Noch was?“
 

„Ne.“
 

„Doch!“, schneite Frau Brooke in den Raum und deutete auf den Modellbaukasten auf dem Schreibtisch. „Da müssten noch Plastikbeutel drin sein.“

Obgleich sie es wie eine Frage klingen ließ, erwartete sie keine Antwort, sondern überzeugte sich lieber selbst, indem sie zum Schreibtisch hinüber schritt und geschwind den Deckel abhob. Das Teilchenchaos kam zum Vorschein und ließ Alfreds Unwohlsein in die Höhe schnellen. Er würde ewig brauchen, bis er die ganzen Teile wieder sortiert hatte und vorher brauchte er gar nicht erst mit dem Zusammenbau anzufangen. Sonst würde das ein Desaster geben. Dass seine Therapeutin nun auch noch die letzten drei Beutel aufriss und die Teile achtlos in den Kasten kippte, versetzte Alfred einen richtigen Herzstich, denn es bedeutete noch mehr Arbeit für sein ausgelaugtes Ich...
 

„Beutel? Raffiniert“, kommentierte Josh das Ganze und widmete sich abermals dem Kleiderschrank, um die Anziehsachen zu durchkämmen. „Ich schau mir mal den Rest des Zimmers an.“
 

„Ja, danke, Josh.“
 

„Hier ist sonst nichts mehr!“
 

„Reine Routine“, spulte der Pfleger ab, während Frau Brooke mit den leeren Plastikbeuteln zu ihnen herüber kam und sie ebenfalls in die Mülltüte stopfte. Alfred war sprachlos, weil sein Zimmer wie bei einer Razzia gefilzt wurde und er sich mehr denn je als Monstrum fühlte, dem man jeden unaufgeklärten Mord, der jemals in diesem Land verübt worden war, in die Schuhe schieben wollte.
 

„Aber hier ist nichts mehr...!“
 

„Lassen wir Josh doch einfach seine Arbeit machen und wir zwei schauen mal, ob Nancy schon dein Frühstück in der Küche abgeholt hat.“ Geleitend ließ sich Alfred mehr oder weniger freiwillig aus dem Zimmer führen und hatte das Bedürfnis, gegen die Wand zu schlagen und sich zugleich heulend im Bett einzumummeln. Da beichtete er die Sache mit den Beuteln und bekam nur Misstrauen geschenkt! Es war so ungerecht und zu allem Überfluss war Nancy tatsächlich schon mit einem Tablett zurück....
 

Es dauerte an die zehn Minuten, bis Alfred verhalten die Treppe hinter Frau Brooke ins Obergeschoss hoch stieg. Die Wangen von anhaltender Blamage eingefärbt, denn er hatte sich strikt geweigert, sich zum Frühstücken in den Speisesaal zu setzen. In seinen Augen wäre dies gleichbedeutend mit einer Lautsprecherdurchsage gewesen. Welcher Mitpatient auch immer ihn gesehen hätte, hätte auf Anhieb gewusst, weshalb Alfred ein zweites Frühstück bekam. Da er aber laut Klinikregeln nicht im Therapiezimmer essen durfte, seine Therapeutin offenbar aber auch nicht mehr mit ihm und seinen sichtbar blanken Nerven diskutieren wollte, hatte sie ihm nach vergeblichen Überredungsversuchen ihr Büro angeboten. Ihr ‚nicht für Therapiestunden hergerichtetes’ Büro, wie sie ausdrücklich betont hatte und was Alfred vollkommen egal war. Hauptsache keiner starrte ihn beim Essen an. Wenn er Pech hatte, hatte eh irgendwer mitbekommen, dass Josh vorhin eine Mülltüte mit in Alfreds Zimmer und auch wieder mit hinaus gebracht hatte...
 

Garantiert tuschelten alle anderen Patienten sowieso schon längst hinter seinem Rücken über ihn, weil er gestern als Heulboje zum Abendessen erschienen und heute früh mit Tunnelblick rumgelaufen war. Selbst ein Arthur war klug genug, auf seinem Zimmer zu bleiben, wenn er sich nicht gesellschaftstauglich fühlte. Nur Alfred hatte es – mal wieder! – geschafft, allen eine Steilvorlage zum Ablästern zu liefern. Er lernte wahrlich nicht aus seinen Fehlern...
 

Überdies sah er keine Notwendigkeit darin, das Frühstück zu essen, welches sich auf dem Tablett in seinen Händen befand, das ihm Frau Brooke soeben angereicht hatte, damit sie ihren Schlüsselbund aus der Hosentasche fingern und die unscheinbare Türe aufschließen konnte. Das Büro war im gleichen Flügel untergebracht wie die geschlossene Station, nur eine Etage höher. Bei einem Blick nach links waren am Ende des Ganges die Arbeitsräume zu entdecken, die für die Familientherapien genutzt wurden. Auf dem Rest des Ganges reihten sich ewig gleiche Türen aneinander, vereinzelt geöffnet. Im Vorbeigehen hatte Alfred in das ein oder andere Büro gespäht und fremde Menschen an ihren Schreibtischen vor sich hin tippen, lesen oder telefonieren sehen. Nie zuvor war ihm bewusst gewesen, wie viel Personal es in der Klinik gab und mit welch verschwindend geringem Anteil er selbst Kontakt hatte.
 

Das Türschloss knackte, gleich darauf zog Frau Brooke den Schlüssel hinaus und drückte die Klinke hinab.

„Nicht für Therapiestunden gedacht“, stellte sie dabei ein weiteres Mal klar und warf ihrem Patienten einen eindringlichen Blick zu, ehe sie die Tür öffnete.
 

Alfred wusste nicht, was er erwartet hatte, aber es war nicht das, was sich ihm offenbarte. Womöglich hatte er mit einem dokumentenverseuchten Raum gerechnet, allerdings konnte davon nicht die Rede sein. Die linke Wandseite war von einem hellholzigen Aktenschranksystem eingenommen und reichte ihm etwa bis zur Brust. Die quadratischen Schubfächer waren größtenteils mit silbriggrauen Türen versehen; aufgelockert von einigen türlosen Artgenossen, in denen entweder einzelne Ordner oder ein paar Dekorationsgegenstände hausten.

Geradeaus, gegenüber der Türe, befand sich der Schreibtisch, hinter dem wiederum ein Drucker auf einem Regal stand. Diverse Aktenordner und wohl sortierte Bücher zierten die anderen Regalbretter. Der Schreibtischstuhl war vom gleichen Modell wie der im Konsultationsraum. Ein zweiter Stuhl war mit dem Rücken an die Wand zwischen Schreibtisch und Regal geschoben. Darauf ruhte eine fuchsfarbene Lederhandtasche mit einem glänzenden Anhänger.
 

Alfreds Blick kraxelte die Wand entlang, übers Fenster zur rechten Zimmerseite, wo ein weiteres Regal seinen Platz hatte. Jedoch standen darin keine langweiligen Arbeitsunterlagen, sondern lauter bunte Sachen! Alfred erkannte die grüne und die blaue Plastikkiste, die er am Dienstag in seiner Therapiestunde benutzt hatte, auf Anhieb wieder. Sie ruhten auf dem obersten Regalbrett; die drei Bretter darunter waren mit Spielen und weiteren überaus interessant ausschauenden Dingen gefüllt.

Neben dem Regal, hinter einem Couchtischchen, befand sich ein dunkles Sofa. Ein Zweisitzer, auf dem sogar drei naturfarbene Kissen lagen, und als Frau Brooke die Türe schloss, sichtete Alfred ein weiteres Regal voller Krimskrams.
 

„Wunder dich nicht, ich hab jede Menge Sachen von meinem alten Arbeitsplatz mit hierher nehmen dürfen“, ein wenig hektisch wuselte seine Therapeutin zu dem Couchtisch hinüber und räumte drei Heftordner hinunter. Eine metallene Dose beiseite schiebend, deutete sie Alfred, Platz zu nehmen. Jener staunte wie ein Kind im Spielwarenladen, als er, den Kopf in sämtliche Richtungen drehend, von den neuen Reizen buchstäblich überflutet wurde.
 

„Hier isses viel cooler als unten!“
 

„Findest du?“
 

„Yeah.“ All die seltsamen Spielsachen beeindruckten Alfred gewaltig. Ein Karton schien kleine Holztierchen zu beinhalten, ein anderer Vier gewinnt und wieder ein anderer Handpüppchen. Obwohl Alfred spontan gar nicht so viele Eindrücke verarbeiten konnte, war ihm diese Umgebung doch deutlich lieber als der fast nackte Konsultationsraum.
 

„Hier, setz dich. Und dann wird gefrühstückt.“ Mit erneutem Verweis auf das Sofa rückte Frau Brooke die Kissen zurecht. Alfred lud das Tablett auf dem Tisch ab, direkt neben der Metalldose, auf der ein runder Aufkleber mit einer knallbunten Zirkusmanege prangte. Neugierig ließ er sich im Schneidersitz auf der Couch nieder und zog die Dose auf seinen Schoß. Darin klimperte es aberwitzig. Als er den Deckel abhob, wurde auch klar, warum: darin kullerten jede Menge Holzmalstifte herum, auf denen ein schmaler Block im Postkartenformat lag.
 

„Wenn du möchtest, kannst du gern was malen. Aber nur, wenn du mir versprichst, dein Frühstück zu essen. Und die Tablette wird als erstes geschluckt.“
 

Alfred löste sich von dem Duft der Holzstifte und stellte fest, dass seine Therapeutin zu ihrem Schreibtisch abgewandert war. Flink klickte sie etwas mit ihrer Maus an, ehe sie ihr Augenmerk vom Bildschirm löste und wieder auf ihn richtete. Zwar hatte sie vorhin noch erwähnt, dass sie kein Therapiegespräch führen würden, während Alfred aß, aber anscheinend meinte sie es ernst. Das Frühstück wurde dadurch aber nicht attraktiver. In seiner momentanen Verfassung konnte Alfred weder ein Gefühl für Hunger noch für Leben entwickeln. Die unscheinbare Tablette in dem hellblauen Tablettenbecherchen, das direkt neben seiner Teetasse stand, wirkte auch nicht sonderlich appetitlich...
 

Aufgrund der impertinenten Beobachtung stellte Alfred allerdings keine Sekunde infrage, dass Frau Brooke ein paar starke Pfleger herbestellen würde, falls er die vermaledeite Tablette nicht freiwillig schluckte. Ohne Elan beugte er sich weit genug vor, um die Tablette aus dem Becherchen zu pflücken und sich die kleine Plastikwasserflasche zu schnappen. Malen zählte nicht unbedingt zu seinen Hobbys, aber es war immer noch besser als Reden. Alfred wusste nicht, ob er diese ihm eigentlich fremde Einstellung je wieder loswerden würde, doch die Tablette landete auf seiner Zunge und wurde gleich darauf von einem tiefen Schluck Wasser in seinen Magen hinab gespült.

{ 24. | Wortgewalt }

Sie würden es sowieso erfahren. Alle Patienten würden in Kürze wissen, dass Alfred gekotzt hatte.
 

Es machte keinen Unterschied, dass er aufgrund seiner schlechten Verfassung für den Rest des Freitags vom Essen im Speisesaal sowie von sämtlichen Aktivitäten frei gestellt worden war. Spätestens morgen, wenn er wieder im Beisein aller Patienten essen musste, würden diese von seinem heimlichen Erbrechen erfahren – und dafür gab es gleich zwei Gründe:

Erstens hatte Frau Brooke Alfreds Wartezeit nach dem Essen von 30 auf 45 Minuten erhöht.

Zweitens hatte sie ihm gegen Ende der Therapiestunde einen schmalen, schwarzen Ordner gegeben, in dem lauter Kopien so genannter Essprotokolle abgeheftet waren. Fortan musste er nach jeder Mahlzeit unter Aufsicht des Personals ein solches Protokoll ausfüllen.
 

Das war gemein!
 

Alfred wollte nicht in Anwesenheit seiner Mitpatienten 45 Minuten absitzen und auf einem Blatt Papier vorgefertigte Kästchen ausfüllen. Niemand sonst in der Klinik musste das tun! Das war so demütigend... Und obwohl Alfred dagegen protestiert hatte – schwächlich, denn er war nach wie vor zu ausgelaugt für eine aufreibende Diskussion –, hatte Frau Brooke ihre Meinung nicht geändert. 45 Minuten und die Protokolle; außerdem würde ab heute immer jemand vom Pflegepersonal mit in den Waschraum kommen, wenn Alfred duschte. Zwar durfte er die Türe der Duschkabine anlehnen, aber das Abschließen war ihm untersagt. Man nahm ihm also auch sein letzten bisschen Privatsphäre weg.
 

Das war einfach nur unverhältnismäßig gemein!
 

So wie es auch gemein war, dass er hundemüde war, Tabletten schlucken musste und in dieser Klinik eingesperrt war.

All das war einfach nur unglaublich gemein!

Und ungerecht.

Und frustrierend.

Und deprimierend.

Und Tränen bringend. Nicht, dass Alfred schon wieder geheult hätte, aber er fühlte sich danach. Das war der springende Punkt: es ging nicht weg. Seit im Rahmen der Panikattacke die Angst haltlos aus ihm herausgebrochen war, war er näher am Wasser gebaut denn je und dieser akute Mangel an Selbstbeherrschung war ihm unheimlich. So kannte und so mochte er sich nicht...
 

Zumindest war es ihm selbst überlassen, ob er am heutigen Freitag oder am morgigen Samstag an irgendwelchen Aktivitäten teilnehmen wollte. Anscheinend befand er sich in einem derartigen Ausnahmezustand, dass selbst seiner Therapeutin einleuchtete, dass es völlig sinnlos war, ihn in den nächsten Tagen zu irgendwas zu zwingen. In der Gruppentherapie würde er sowieso nur stumpf die Zeit absitzen und sich ausschweigen. Für Sport mangelte es ihm vorne und hinten an Energie und sogar die Kunsttherapie erschien Alfred gerade unmachbar. Nette Lächeln oder ein paar pfiffige Sprüche für seine Mitpatienten kamen ihm partout nicht über die Lippen und ihm stand nach rein gar nichts der Sinn – außer dem, was er getan hatte, als er eben zurück auf sein Zimmer gekommen war: sich hinlegen.
 

Kissen, Decke, Ruhe.
 

Keine Ruhe...
 

Stattdessen Chaos im Kopf und Sturm im Herzen. Unter diesen Umständen war Schlaf undenkbar. Alfred war viel zu aufgewühlt.
 

Wenigstens war seine erste Aufsichtsperson nicht Josh, sondern Schwester Nancy gewesen, die ihn nach Ende der Therapiestunde unter ihre Fittiche genommen hatte. Ausgerüstet mit einigen Akten, hatte sie Alfred auf sein Zimmer begleitet und ihre Adleraugen bis zum Ende der vorgeschriebenen 45 Minuten zwischen ihm und dem nach Bearbeitung schreienden Papieren pendeln lassen.

Für Alfred bedeutet das: keine Gelegenheit, sich zu übergeben. Den Drang unterjochend, hatte er sich in sein Schicksal gefügt und widerwillig den Protokollordner zur Hand genommen. Im Angesicht der Fragen und vorgedruckten Linien war ihm allerdings nur wieder eines eingefallen: Nein.
 

Nein zu allem.
 

Er wollte und er konnte nicht mehr...
 

Und um sich vorzustellen, was seine Mitpatienten ab morgen über ihn denken würden, brauchte er weder magische Kräfte noch übermäßig viel Phantasie. Wenn es um Lästereien ging, hatte er schließlich einen weitreichenden Erfahrungshorizont, auf den er zurückgreifen konnte. Zwar hatte ihm Frau Brooke zugesichert, sich beim Ausfüllen der Protokolle im Speisesaal nicht schämen zu müssen, aber sie war garantiert noch nie zur Zielscheibe ihrer eigenen Freunde geworden.

Warum nur veranlasste sie Maßnahmen, die alle Welt wissen ließ, dass Alfred nicht mal eine Woche ohne Kotzen durchstand? Er wollte keine Sprüche, keine Blicke und kein Gelächter hinterm Rücken mehr. Alle anderen Patienten bekamen ihre Therapie auf die Reihe, nur er nicht. Er war einfach nicht stark genug...
 

Zugegeben, Tino hatte sich neulich auch übergeben und Arthur war ebenfalls Anfang der Woche auf seinem Zimmer geblieben, aber Alfred konnte sich nicht vorstellen, dass es den beiden auch nur annähernd so ging wie ihm. Und selbst wenn doch, war das wahrlich kein Trost!
 

Ihn tröstete einfach gar nichts mehr. Nicht die vermeintlich helfenden Psychopharmaka und auch nicht der marode Halbschlaf, der sich am frühen Mittag über ihn stülpte wie eine zerrissene Plane. Das kurze Wegdämmern war zwar nicht sonderlich erholsam, aber Alfred zog es der Realität alle male vor. Wenn er angeblich eine depressive Phase hatte, wieso war er dann nicht apathisch? Waren depressive Menschen nicht gefühlstechnisch wie abgeschaltet? Starrten sie nicht bloß stumpf vor sich hin, saßen im Dunkeln und verschanzten sich Zuhause? Alfred entsinnte sich, in etlichen Serien und Filmen depressive Menschen immer genau so vorgeführt bekommen zu haben. Konnte also bitte jemand herkommen und den Gefühlsschalter in ihm umlegen? Und dabei auch direkt diese widerwärtige Übelkeit mitnehmen, die ihm seit dem frühen Nachmittag kontinuierlich in die Magengrube boxte und noch weinerlicher machte?
 

Das war doch kein Zustand! Das war grausam und gemein...
 

Genauso grausam und gemein wie das, was er sich übers Wochenende überlegen sollte und für ihn ein weiteres unlösbares Problem darstellte, das er lieber verdrängte. Er würde diese Entscheidung, die Frau Brooke von ihm verlangte, nicht treffen. Niemals. Nicht heute, nicht morgen und auch an keinem anderen Tag seines Lebens...
 

„Alfred? Hey Alfred, bist du wach?“
 

Beim Klang den letzten Silben realisierte der Jugendliche, das vorangehende Klopfen überhört zu haben. Mit dem Gesicht zur Wandseite, lag er in seinem Bett; die Nase im Kissen vergraben und die Beine leicht angewinkelt. Etwas mit seinem Magen stimmte definitiv nicht, denn das penetrante Treten in der Magengrube war immer noch nicht verschwunden. Alfred wusste die Übelkeit nicht einzuordnen; er war weder überfressen noch hungrig. Seit dem Frühstück war es sogar mit seinem Kreislauf bergauf gegangen. Also woher rührten diese merkwürdigen Bauchschmerzen?
 

Die Krankenschwester mutwillig ignorierend, presste Alfred ermattet die Augenlider wieder zu und verlor ein unartikuliertes Murmeln.
 

„Ich bring dir dein Mittagsessen.“ Parallel zu ihren Worten stellte Schwester Elisabeta das Tablett auf den Nachttisch. Die Stimme viel zu energisch für Alfred, der sich wie so häufig nach Hause wünschte.
 

Wenn er jetzt Zuhause wäre...

...dann hätte er seine gottverdammte Ruhe; und dann hätte er sich nicht durch diese nervenaufreibende Therapiestunde quälen müssen; und vor allem hätte er dann nie und nimmer dieses erbärmliche „Ich kann nicht mehr“ gestanden. Ganz gleich, wie zutreffend es gerade auch sein mochte, es tat Alfred in Herz und Seele weh. Früher hatte er nie ans Aufgeben gedacht, sondern immer hoch hinaus gewollt.

Wenn man bei der Familie Jones die Haustür öffnete, trumpfte der Flur mit einer Fotovielfalt in schlanken, zur Tapete passenden Rahmen auf. Eine Dokumentation über einen kleinen Jungen, den die Jahre hatten groß werden lassen. Der sich einst auf Stühle und Tische gestellt hatte, um seine Duplo- und Legotürmchen so hoch zu bauen, dass er ihre Spitzen nicht ohne Hilfsmittel erreichte. Unter der Woche musste ein jedes Bauwerk bis zum Abend stehen bleiben und sobald Alfred das Auto in der Einfahrt hörte, war er zur Haustür geflitzt und hatte seinen Dad am Ärmel gepackt, um ihm mit vor Stolz geschwellter Brust das neue Meisterwerk zu präsentieren. Mal war es ein Fernsehturm, mal ein Hochhaus und mal eine Funkstation, auf dessen Dach die Außerirdischen mit ihren Untertassen landen durften.
 

Grüne Männchen mit lustigen Gesichtern prangten auch auf dem T-Shirt, das Alfred auf dem Foto anhatte, auf dem er als fast Fünfjähriger von seinem Dad getragen wurde. Im Hintergrund irgendein Wanderweg, an den sich Alfred nicht erinnerte, weil er zu klein gewesen war und den Großteil der Strecke verschlafen hatte. Das Ganze war ein Tagesausflug gewesen, organisiert von der Firma seines Vaters, und seine Mom hatte ihnen einen prächtigen Picknickkorb gepackt. Alfred wusste noch, dass an dem glühendheißen Sommertag unheimlich viele Kinder dabei gewesen waren und zwischen den lauen Sommerkleidern der Frauen und den luftigen Shorts der Männer herumgetollt waren. Doch die meisten waren einige Jahre älter gewesen als er oder alternativ dazu noch so winzig, dass sie Schnuller nuckelnd in ihren Kinderwagen ruhten.

Mitarbeitern war es frei gestellt gewesen, an der Wanderung teilzunehmen oder direkt mit dem Auto zum Treffpunkt zu fahren. Alfred hatte laufen wollen und er war gelaufen. Etliche Meilen, wie er in seiner kindlichen Überheblichkeit glaubte, wenngleich die Wahrheit ganz anders ausgesehen hatte und er alsbald Hand in Hand neben seinem Dad hergetrottet war. Vermutlich war er ab einem gewissen Zeitpunkt zu langsam geworden und deswegen hatte man ihn letzten Endes hoch gehoben. Seine Mom hatte sich zu ihm hinüber gebeugt, zunächst seine Wange geküsst und danach die Lippen seines Vaters. „Er ist noch zu klein für die ganze Strecke. Vielleicht hätten wir doch lieber das Auto nehmen sollen.“ „Ach, was. Er ist nicht zu klein. Er braucht nur ’ne Pause. Gleich ist er wieder putzmunter! Nicht wahr, Cowboy?“ Ein energisches Jaa! und ein süßes Apfelsafttrinkpäckchen später war Alfred eingenickt, und irgendwann zwischen seinen Eltern auf der Picknickdecke wieder erwacht. Auf der Nasenspitze ein Tupfen Sonnencreme und über ihm das verschwörerisch glückliche Flüstern zweier Erwachsener.
 

Alfred hatte damals nicht sagen müssen, dass er nicht mehr konnte; es war offensichtlich gewesen und er hatte ganz selbstverständlich nach der bedingungslos helfenden Hand gegriffen. Aber jetzt war er 16 und niemand würde ihn auch nur noch einen lausigen Meter weit tragen. Selber gehen oder zurückbleiben, das waren die Alternativen und Alfreds Kraftreserven plädierten für letzteres...
 

Hinter ihm muckte das Besteck klirrend auf, als das Tablett zurecht gerückt wurde. Anschließend wandte sich die Krankenschwester herum, um den Vorhang beiseite zu schieben und das Fenster auf kipp zu öffnen. Ein spürbarer Luftstrom platschte in den Raum und Alfred rutschte instinktiv tiefer unter die Decke. Ihm war nicht kalt; ihm war nur nicht nach leben und essen zumute.
 

„Mir is’ schlecht“, klagte er gedämpft, was der Schwester jedoch wenig imponierte. Mit einem strikten „Keine Ausreden, mein Freund!“ rollte sie sich den Schreibtischstuhl ans Bett und nahm Platz.
 

Alfred schnupperte daraufhin noch inniger an seinem Kissen und schob ein borniertes „Mir is’ wirklich schlecht“ hinterher, mit dem er ein Seufzen provozierte.

„Mag ja sein, aber du kennst die Regeln. Jetzt ist Mittagszeit und deswegen wird jetzt auch zu Mittag gegessen. Dir ist wahrscheinlich nur ein wenig übel von den Medikamenten.“
 

Dem Knistern von Stoff nach zu urteilen, hatte die Schwester soeben ein Bein über das andere geschlagen. Alfred verweigerte jegliche Reaktion und blieb einfach liegen, was dazu führte, dass keine Minute später Schwester Elisabetas unerwartet dünn ausfallender Geduldsfaden riss.

„Alfred, Essen. Jetzt!“
 

Das war gemein. So gemein! Alle Leute waren durch und durch verständnislos und gemein! Warum konnte Elisabeta ihn nicht einfach in Frieden lassen?! Als ob es für sie persönlich irgendeinen Unterschied machte, ob er aß oder nicht!

Die Hände zu Fäusten geballt, drehte sich der 16-Jährige schwerfällig herum und schleuderte der brünetten Frau einen Killerblick sondergleichen entgegen. Sie schien damit gerechnet zu haben, denn ihre grünen Augen blitzten feurig auf. Fast als spielten sie den Blick so problemlos wie einen Tennisball zurück. Nur Alfred hatte nicht die nötige Power, um jetzt dieses Spielchen zu spielen. Punkt für Elisabeta also, die genauestens zu wissen schien, wie man eine Schlacht gewann.
 

Alfred hasste sie dafür mehr als jeden anderen Menschen in der Klinik. Erst recht, als er sein Mittagessen inspizierte und sich sogleich wieder von der Übelkeit in die Magengrube getreten fühlte.
 

„Wir zwei haben noch eine lange Mittagszeit vor uns. Also runter damit.“ Mit einer unliebsamen Geste reichte ihm die Krankenschwester das blasse Tablettenbecherchen und den Wasserbecher. Offenbar hatte sie keine Lust, gleich 45 Minuten hier abzusitzen. Zumindest interpretierte Alfred ihre Aussage so und nahm ihr, kaum dass er sich weit genug aufgesetzt hatte, beide Becher ab. Die Tablette sah genau so aus wie die, die er vor wenigen Stunden in Frau Brookes Büro geschluckt hatte. Diese dämlichen Psychopillen! Die machten rein gar nichts besser!
 

„Runter damit.“ Die Wiederholung sorgte dafür, dass Alfred die Schwester erneut bitterböse anglimmte. Gestern erst hatte sie sein Esstempo bestimmt und jetzt war sie drauf und dran, ihn zu füttern! Was sollte der Scheiß eigentlich?! Ihn regte das maßlos auf! Wirsch spülte er die Tablette hinunter und knallte dann die beiden Becher so heftig aufs Tablett, dass das Besteck einen Satz in die Höhe machte.
 

„Sachte! Das Geschirr hat dir nichts getan!“, rügte ihn die Krankenschwester, woraufhin es Alfred endgültig zu bunt wurde. Die Frau ließ doch nur ihre Frustration an ihm aus!

„Sie können ruhig sagen, dass Sie mega angepisst sind, weil ich Sie gestern ausgetrickst hab und Sie deswegen ’nen fetten Anschiss kassiert haben!“
 

Sie hätte eben gestern Abend nicht so naiv sein dürfen, ihn unmittelbar nach dem Essen duschen gehen zu lassen! Wer hatte denn hier Erfahrung im Umgang mit essgestörten Patienten: er oder sie?!
 

Alfreds Aufmüpfigkeit siechte dahin, als ihm dämmerte, sich viel zu weit aus dem Fenster gelehnt zu haben. Die Anschuldigung hatten sich noch nicht richtig entfaltet, da waren Elisabetas Brauen bereits wie zwei Guillotinen hinab geschnellt. Die Augen laserscharf, verschränkte sie die Arme vor der Brust und hielt ihr wildes Temperament in Schach. Sie würde sich nicht auf das Niveau eines 16-Jährigen hinab lassen; dafür war sie eindeutig zu gut geschult.
 

„Du hast mich nicht ausgetrickst, Alfred. Du hast dich selbst in die Pfanne gehauen“, rückte sie die Dinge unverblümt ins rechte Licht. „Die 45 Minuten hat sich hier schon ein paar Tage länger niemand mehr so redlich verdient wie du. Und ich werde dir noch was sagen: da liegt ein Brief für dich im Schwesternzimm-“

„Ein Brief? Von Tony?!“

„Wer weiß. Aber so wie du dich benimmst, werde ich mich nachher erst mal mit der Oberschwester unterhalten. Es ist sicher besser, dir den Brief erst morgen zu geben, wenn du dich ein bisschen beruhigt hast.“

„Was?! Aber das ist total unfair! Das ist meine verdammte Post! Die dürfen Sie nich’ einfach-!“

„Der Ton macht die Musik. Das gilt für dich genauso wie für alle anderen.“ Auffordernd schob sie den Teller mit dem käselosen Gemüse-Couscous-Gericht ein Stückchen in Alfreds Richtung. Die Mundwinkel spitz und im Hinterkopf das unbeirrbare Wissen, am längeren Hebel zu sitzen.
 

Alfred erbleichte stockend, auf den Lippen ein sterbendes „A-aber...!“. Da war Post für ihn und statt dass man ihm einen einzigen Brief gönnte, wurde er quasi erpresst. Die Unverfrorenheit raubte ihm die Sprache...!

Elisabeta indes wirkte zufrieden über das Ausbleiben weiterer Schimpftiraden. Die Situation hatte Alfreds Zorn jeglichen Wind aus den Segeln genommen. Dem Gefühl nach zu urteilen, zerbröckelte ihm gerade das Herz in der Brust...
 

Mundtot gemacht verlagerte er seine Aufmerksamkeit auf das Essen. Couscous und Gemüse bildeten ein geschichtetes Rechteck, das an Lasagne erinnerte. Der grüne Salat in der Schale daneben strahlte knackig frisch und aus dem Nachtischschälchen winkte eine helle Creme mit Fruchtbällchen. Ganz normales Essen also – aber für Alfred gerade genauso indiskutabel wie gestern Abend. Zeit schindend kratzte er an einer Ecke das Gemüse von der Couscousschicht und bereute es sogleich, da die Portion auseinander klamüsert noch größer erschien. Diese Menge würde er niemals schaffen...

Verzweiflung begann in Alfreds Augenwinkel wie Pfeffer zu brennen, denn wenn er das hier nicht irgendwie gegessen bekam, würde man ihm Tonys Brief definitiv erst morgen aushändigen. Das war so gemein.
 

So furchtbar gemein...
 

Die erste Gabel Couscous mit Gemüse fand den Weg zwischen seine Lippen, wovon das Magendrücken alles andere als begeistert war. Entsprechend drehte die zweite Gabel der körnigen Masse etliche Runden mehr durch Alfreds Mundhöhle und wurde zunehmend unappetitlicher.

Warum konnte er sich das Zeug nicht einfach reinstopfen?! Normalerweise sollte das doch kein Problem sein, aber sein Hals schnürte sich zu, wann immer der Nahrungsbrei in seiner Mundhöhle nach hinten wanderte. Was war er nur für ein Versager, der sich ein Jahr lang bis zum Erbrechen voll fraß und jetzt seinen Teller nicht leer bekam?
 

Die Gabel nur mehr festhaltend, stierte er das Couscousgericht stumpf an und tat überhaupt nichts mehr. Als etwa zwei Minuten später ein „Iss weiter“ ertönte, schüttelte er verzagend den Kopf.
 

„So schlimm ist das Essen bei uns nun wirklich nicht.“
 

„Nein, aber..ich krieg’s nich’ runter. Mir is’ total schlecht. Das hab ich Ihnen doch eben schon gesagt!“
 

„Wie schlecht denn?“
 

„So komisch flau irgendwie...“ Als Zeichen dafür, es nicht genau erörtern zu können, zuckte Alfred mit den Schultern und legte die Gabel nieder. Obwohl seine Gesprächspartnerin ihm allmählich zu glauben schien und sich ihre Mimik dementsprechend glättete, hielt sie ihm die Gabel sogleich wieder hin.

„Wie gesagt, das kommt von den Antidepressiva. Dein Körper muss sich erst daran gewöhnen. Versuch einfach langsam zu essen. Dann klappt’s schon.“
 

Sie schien da sehr zuversichtlich. Alle waren immer so verflixt zuversichtlich...!

Alfred biss sich lediglich auf die spröde Unterlippe und starrte weiterhin den orangefarbenen Couscous an. Falls tatsächlich die Antidepressiva für die Übelkeit verantwortlich waren, dann war es ein gravierender Fehler gewesen, gerade eben die zweite Tablette zu schlucken. So wie es auch ein Fehler von ihm gewesen war, sich Zuhause beim Kotzen erwischen zu lassen. Wäre das doch nur nie passiert...
 

Aus dem Augenwinkel guckte Alfred den winzigen Staubpartikel dabei zu, sich im lauen Sonnenlicht zu räkeln. Unbeschwert surften sie auf den leichten Wogen der feinen Brise, die durchs Fenster schlüpfte. Der Sommertag da draußen war hell und ansprechend, verlor aber all seinen Reiz, sobald er das Gebäude betrat. So als sei die Welt hier drinnen eine komplett andere als die dort draußen. Vor etwa einem Jahr hatte Alfred abends im klimatisierten Kino mit seinen Freunden gesessen und Nachos mit Salsasoße geknabbert. Zu seiner rechten Brad mit einem riesigen Becher M&Ms und zu seiner linken Chris, der einen Großteil des XXL Popcorneimers vertilgt hatte. Anschließend waren sie noch bei McDonald’s vorbei gelaufen und hatten sich alle einen McSundae gekauft, im Nacken die drückende Luft eines tief hängenden Augusttages. New York City war eine Stadt, die die Hitze förmlich zwischen ihren Gebäuden speicherte und die Straßen damit ausgoss, sodass die sengende Jahreszeit ewig zu währen schien. Diese Sommertage sollten wiederkommen. Hier und heute war das Licht nur mehr dreckig und farblos, ohne Perspektiven. Darin lebte nichts. Das hier war kein Sommer. Auch kein Leben. Es war Stillstand und Sterben.
 

Brad, Chris, Mike, Drake; Alfred würde seine Hand dafür ins Feuer legen, dass seine ehemaligen Freunde sich auch in diesen Ferien wieder prächtig amüsierten. Da im Laufe des letzten Jahres die meisten von ihnen 16 geworden waren und nun offiziell Auto fahren durften, hatten sich die Möglichkeiten für sie alle vervielfältigt. Gemeinschaftlich hatten sie einst den diesjährigen Sommer zu dem Sommer auserkoren, der etwas ganz Besonderes werden sollte. Quasi der Beginn einer neuen Ära. Ein Auto zu besitzen, bedeutete für sie die Welt, denn es hieß, für Mädchen interessant zu werden. Nicht für irgendwelche Mädchen natürlich, sondern für diese unverschämt gut gebauten Mädchen, die – den ungeschriebenen Gesetzen der Coolness folgend –, nur Typen dateten, die in ihren eigenen Autos zur Schule kamen oder sogar schon aufs College gingen. Ein Auto bedeutete freien Eintritt zu dieser Statussymbolspielhölle; und es bedeutete zugleich, alt genug zu sein für das Eine.
 

Mit Ende 14 und Anfang 15, noch bevor er Amelia zum ersten Mal getroffen hatte, hatte Alfred von einem Wagen geschwärmt, der ihn genau auf diese Straße lenken sollte. Dieser Wagen gehörte ihm mittlerweile. Sein Dad musste ihn ausgesucht haben; die PS-Zahl war zu hoch für den Geschmack seiner Mom. Doch es tat ohnehin nicht zur Sache. Das schöne Auto stand unbenutzt in der Garage und setzte Staub an, indessen Alfred hier saß, gefangen in einem Körper, für den er sich viel zu sehr schämte, um auch nur das T-Shirt auszuziehen. Amelia hatte ihn schon mit Normalgewicht nicht gewollt; doch nun, da er beinahe drei Kleidergrößen zugenommen hatte, war er eine einzige optische Zumutung. Essen würde es nur noch schlimmer machen...
 

Erneut knisterte Stoff, als Elisabeta ihre Sitzhaltung geringfügig änderte und ein weiteres Mal aufseufzte.

„Versuch es doch wenigstens.“
 

Der Satz löste in Alfred eine hochgradig allergische Reaktion aus und ließ ihn ein aggressives „Ich hab doch alles versucht!“ fauchen. Was wusste diese Krankenschwester denn bitteschön? Sie hatte doch nicht die geringste Ahnung! Keiner hatte irgendeine Ahnung davon, was Alfred alles getan hatte. Er brauchte keine Motivationsreden und keine Krankenschwestern, die ihm das Essen schön redeten. Er brauchte gar nichts von all dem! Der Sommer würde nie mehr zurückkommen! Nie mehr!
 

Nichts würde je wieder gut werden...
 

Alfreds verkrampfte Finger mit den weißen Knöcheln fingen an zu zitterten. Gleichzeitig fühlte er es direkt unter seinem linken Auge feucht werden. Wo zum Teufel kamen denn diese Tränen schon wieder her? Schleunigst wandte er das Gesicht ab und verbot sich mental das Weinen. Es wäre eindeutig besser gewesen, Frau Brooke zu bitten, ihm irgendwelche Zombiepillen zu verschreiben. Dann würde er jetzt nämlich nicht todtraurig auf seinem Bett hocken und unter größter Anstrengung die Tränen zurückstauen. Dann wäre ihm schlichtweg egal, was noch mit ihm passierte.
 

Dass seine Stimme eben durchs ganze Zimmer gedonnert war, wurde Alfred erst in der nachfolgenden Stille so richtig bewusst. Er wurde fortwährend unausstehlicher und Tonys Brief konnte er sich für heute getrost abschminken. Die Erkenntnis sog eine weitere Träne aus Alfreds Augenwinkel, die schnell auf seine Jeans hinabstürzte. Weil er sich schämte, verdeckte er den dunklen Fleck mit dem Unterarm und wappnete sich innerlich gegen die Standpauke, die gewiss jeden Moment losbrechen würde.
 

Elisabeta jedoch sagte gar nichts, während Alfred mithilfe tiefer Atemzüge seine Selbstbeherrschung reanimierte. Er war vollkommen verrückt... Ausrasten war eine Sache, aber das, was er hier veranstaltete, war eine einzige Lachnummer. Dass die Schwester die Servierte vom Tablett las und sie Alfred hinhielt, setzte der Peinlichkeit die Krone auf. Abweisend schüttelte er den Kopf und putzte sich schnell mit dem Ärmel über die Augenpartie.

„Hab nur was im Auge.“
 

„Na dann...“ Die Servierte wurde an ihren alten Platz zurück gelegt. „Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder du isst dein Essen ganz auf, oder du isst so weit du kommst und danach hol ich dir noch was zu trinken.“
 

„Wieder Kakao?“ Nicht, dass sich Alfred mit Kakao ködern ließ, aber etwas Flüssiges runter zu kriegen, erschien ihm einfacher als etwas Festes.
 

„Lass uns doch erst mal abwarten, wie weit du mit deinem Essen kommst. Falls die Übelkeit in den nächsten Tagen gar nicht besser oder sogar schlimmer wird, können wir dir immer noch etwas dagegen geben.“
 

Sie wollten ihm ein Medikament geben, damit er die verdammten Psychopillen besser vertrug? Na wenn das nicht ironisch war... Alfred wollte nicht noch mehr Pillen schlucken müssen. Er wollte nach Hause! Gerade war sein Zuhause aber absolut unerreichbar für ihn. Das einzige, was er erreichen konnte, lag im Schwesternzimmer und war mit einer Briefmarke versehen. Tony konnte sich nicht mal in seinen kühnsten Träumen ausmalen, wie schwer sich Alfred diesen Brief verdienen musste...
 


 

{  -  +  +  }
 

Es war nicht so, als müsste sich das Pflegepersonal haarklein durchlesen, was Alfred in seinen Protokollen notierte. Wichtig war nur, dass derjenige, der die Aufsicht übers Protokollieren führte, das Protokoll unten rechts abzeichnete. Damit das Personal dazu bereit war, musste allerdings etwas auf dem hämischen Papier stehen – und genau das war Alfreds Problem.
 

Schon allein dass er aufschreiben musste, was er gegessen hatte, fand er komplett hirnrissig! Immerhin könnte seine Therapeutin doch auch einfach eine Kopie seines Speiseplans anfordern. Aber die Frage nach dem was? war noch harmlos, ebenso wie die Frage nach dem wo?, mit wem? und wann?. Die Fragen, die Alfred wahre Schwierigkeiten bereiteten, kamen erst danach und gestalteten sich wie folgend:
 

Wie ging es mir vor dem Essen?
 

Gemessen auf einer Skala von 0 bis 7, wie hoch ist mein Hungergefühl vor der Mahlzeit gewesen?

0 bedeutet „nicht hungrig“, 7 bedeutet „sehr hungrig“
 

Wie lange habe ich für das Einnehmen der Mahlzeit gebraucht?
 

Habe ich während des Essens das Gefühl gehabt, die Kontrolle zu verlieren?
 

Habe ich Angst davor, zuzunehmen?
 

Wenn ja, wie groß ist diese Angst, gemessen auf einer Skala von 0-5?

0 bedeutet „keine Angst zuzunehmen“, 5 bedeutet „extreme Angst zuzunehmen“
 

Denke ich über das Ergreifen von Gegenmaßnahmen (z.B. Erbrechen, Sport) nach?
 

Wie sehen meine Gedanken und Gefühle nach dem Essen aus?
 

Alfred wollte gar nichts von all dem offen und ehrlich beantworten. Es erinnerte ihn an das lästige Aufgabenblatt, was er Anfang der Woche in seiner Therapiestunde bearbeiten musste und das seine Welt mit lauter hässlichen Wahrheiten auskleidete. Er war schlicht und ergreifend nicht der Typ, der Tagebuch führte oder seine Emotionen in Worte presste, die ihm die meiste Zeit nicht einfielen. Anscheinend konnte er sich einfach nicht gescheit ausdrücken...
 

Entsprechend schmierte er lediglich ein paar spärliche Worte auf sein Protokoll, während er primär damit beschäftigt war, die nachhaltig nicht von ihm ablassende Übelkeit zu ignorieren. Schwester Elisabeta hatte derweil Gefallen an einer von Felis Zeitschriften gefunden und schlug die Zeit tot, indem sie sich interessiert durch die fototrächtigen Artikel las. Alfred sah nicht hin, denn wie er eben festgestellt hatte, war es keine von Felicianos unzähligen Kochzeitschriften, sondern eine über Innenarchitektur; und die perfekten Kreationen von gemütlichen Schlaf- und Wohnzimmern, in denen glückliche Menschen hausten, konnte er noch weitaus schlechter ertragen als die Bilder von prächtigen Desserts und ausgeklügelten Parfaits.
 

„Fertig.“ Mit einem lauten Klicken ließ er die Mine des Kullis einfahren. „Können Sie mein Protokoll eben abzeichnen und mir dann Tonys Brief geben?“

Besagter Brief stand dort drüben auf dem Schreibtisch, neben dem halb ausgeweideten Modellbaukasten, und trumpfte mit Tonys pixeliger Handschrift auf. Schwester Elisabeta hatte ihn mitgebracht, nachdem sie Alfreds Tablett weggetragen hatte. Selbstverständlich war er in diesen drei Minuten von einer anderen Schwester beäugt worden, die in der Zimmertüre gestanden und ihn quasi mit dem Blick ans Bett gefesselt hatte.
 

Das Gewicht des Ordners verließ Alfreds Hand, aber die Schwester setzte leider nicht zur Unterschrift an, sondern reichte den Ordner unverzüglich zurück.
 

„Sie müssen das unterschreiben“, protestierter Alfred, woraufhin Elisabeta den Kopf schief legte.

„Das würde ich ja gerne, aber dein Protokoll ist so gut wie leer.“
 

Kein Protokoll? – Kein Brief! Die Gleichung war simpel.

Warum machte es ihm diese Schwester nur so schwer? Für Schwester Nancy war das fast nackte Protokoll vorhin kein Thema gewesen...
 

Betroffen schlug der Blonde die Augen nieder. Das mit ihm und dem Schreiben, das vertrug sich einfach nicht. Zwar waren da massenhaft Gedanken und Gefühle in ihm, aber er war nicht fähig, dieses überdimensionale Emotionsknäuel zu entwirren. Alfred wusste nur, dass er soverdammtmüde und soverdammttraurig und soverdammtkaputt und soverdammtvollerPanik war, dass er den Brief schon wieder in unerreichbare Ferne rücken sah. Da hatte er sich trotz Übelkeit dieses widerliche Mittagessen reingezwungen und jetzt scheiterte er am Protokoll? Das durfte doch alles nicht wahr sein...!
 

Von sich selbst über alle Maße enttäuscht, presste Alfred die Zunge hart gegen die Hinterseite der unteren Vorderzähne und schmiss den Ordner auf den Nachttisch. Er gab auf. Das hier funktionierte einfach nicht! Es funktionierte nicht, weil er nicht richtig funktionierte und auch nie mehr wieder richtig funktionieren würde...

Irgendwo aus seinem Erinnerungsvermögen hallte das erst wenige Wochen alte „Du schaffst das schon, Kumpel“ wider, bei dem ihm sein Dad die Schulter geklopft hatte. Alfred spürte regelrecht, wie das Gewicht durch seine Haut sickerte, das Gewebe passierte und seine Herzgefäße verstopfte.
 

Nein, er schaffte es nicht.

Er schaffte es einfach nicht.
 

Wenn er doch nur ansatzweise so stark wäre wie sein Vater...
 

„Ich glaub kaum, dass sich dein Protokoll von alleine ausfüllt.“
 

Der überflüssige Kommentar veranlasste Alfred dazu, stur auf seine Bettdecke zu starren. Im Mundwinkel ein schroffes „So what?“. Dieses Biest von Krankenschwester ging es einen feuchten Kehricht an, wie weh es ihm tat, sich nicht mal den Brief seines einzigen Freundes ‚verdienen’ zu können. Statt also frei heraus einzugestehen, dass er das mit dem blöden Protokoll nicht hinbekam, tat Alfred lieber so, als würde er sich keine Mühe geben wollen. Besser, man hielt ihn für starrköpfig, als für unfähig.
 

„Ich dachte, du willst den Brief unbedingt haben. Oder hast du’s dir anders überlegt?“ Die Zeitschrift auf Felicianos Nachttisch legend, drehte sich Elisabeta leicht seitlich und öffnete den schwarzen Protokollordner. Nachdem sie die wenigen Worte noch einmal fix in Augenschein genommen hatte, wechselte ihr fragender Blick zu Alfred hinüber, der anhaltend schwieg und litt.
 

„Schreib wenigstens zu jeder Frage eine kurze Antwort. Das ist doch nicht zu viel verlangt.“ Sie drängte wie jemand, der wusste, dass man mit Ausdauer zum Ziel kam; wie jemand, der wusste, dass sich kämpfen lohnte. Alfred wünschte, er hätte diese Einstellung auch noch und ihr Fehlen deprimierte ihn zutiefst. Tonys Brief verwandelte sich langsam aber sicher in ein verschwommenes Rechteck. Haben wollen oder nicht haben wollen, das war wahrlich keine Frage.
 

Halbblind schnappte sich Alfred den Kugelschreiber, der neben dem Ordner lag, und ballerte wüste Buchstabenkombinationen auf das Blatt, weil es ihm vor und nach dem Essen beschissen ging, weil ihm von den verfluchten Psychopillen, die er nicht nehmen wollte, total schlecht war und er vor lauter Heimweh einging wie eine Pflanze ohne Wasser und Licht. Er hatte keinen Hunger und ihn zum Essen zu zwingen, war saudämlich, da er sowieso schon viel zu fett war und unter gar keinen Umständen weiter zunehmen wollte. Erbrechen wäre wenigstens eine Möglichkeit, um selber Einfluss auf sein Befinden nehmen zu können und sich kurzweilig besser zu fühlen, anstatt ständig Heulen zu müssen. Und sein einziger Gedanke zu all dem war: Ich kann einfach nicht mehr! Ich hasse diese ganze abgefuckte Scheiße!!!
 

Alfred hätte glatt noch mehr Ausrufezeichen gesetzt, allerdings drückte beim dritten Punkt die Mine durchs Papier, was seinem Schreibfluss ein jähes Ende bereitete.
 

Was um alles in der Welt machte er hier eigentlich?
 

Über sich selbst erschrocken, wollte er den Ordner sofort wieder schließen, jedoch funkte ihm Schwester Elisabeta dazwischen, indem sie den Ordner um geschätzte 45 Grad in ihre Richtung drehte. Bevor sich der 16-Jährige versah, hatte das Blatt die gewünschte Unterschrift erhalten und die Krankenschwester lächelte ihn obendrein gönnerhaft an.

„Schwere Geburt. So kann man eine Dreiviertelstunde natürlich auch füllen...“
 

Ungläubig schnellte Alfreds Augenmerk zu seiner Armbanduhr hinüber, die ihr Dasein neben dem Brillenetui auf dem Nachttisch fristete. Laut seiner inneren Uhr, hatte er sich den ganzen vermaledeiten Tag lang durch das unzumutbare Protokoll gequält, doch es waren nur 45 Minuten gewesen. Nur! Er war so alle, er könnte auf der Stelle in Tiefschlaf fallen – wäre da nicht der Brief, den Schwester Elisabeta wie versprochen vom Schreibtisch pflückte und Alfred belohnend hinhielt wie einem Hund das Leckerchen. Die Demut darüber biss Alfred die Wangen rot und ließ ihn etwas Verdrießliches grummeln, als sich die Krankenschwester kurz darauf mit einem „Ich lass dich dann mal alleine“ verabschiedete.
 

Das Postgut an die Brust gepresst, sank Alfred ins Kissen zurück und spürte sein Herz hektisch gegen seine Rippen hämmern. Tastend erkundeten seine leicht schwitzigen Fingerspitzen die akkuraten Kanten des Umschlags. Die Schrift ließ wahrlich keinen Zweifel am Absender. Bis vor wenigen Sekunden war Alfred der felsenfesten Überzeugung gewesen, den Brief unverzüglich aufzureißen, sobald sich ihm die Gelegenheit bot. Doch nun lag er hier und das Papier verströmte geruchlose Zweifel:

Was, wenn es keine gute Idee gewesen war, Tony zu berichten, dass man aus dem Baseballteam gegrault worden war? Was, wenn Tony dadurch begriffen hatte, was für ein gestörter Mensch Alfred eigentlich war?
 

Bei der Aussicht ging der rebellische Nahrungsklumpen in Alfreds Bauch auf die Barrikaden. Sich nervös aufsetzend, klopfte Alfred sein Kissen einhändig zurecht, ehe er es gegens Kopfstück des Bettes presste und sich anlehnte. In ihm tosendscharfe Angst, die auf seine Magenwände eindrosch. Vorhin hatte er gegenüber seiner Therapeutin geleugnet, permanent in Panik zu verfallen, aber die Wahrheit gestaltete sich ganz anders.

Die Wahrheit war, dass Alfred plötzlich riesige Angst davor hatte, diesen Umschlag aufzumachen. Schließlich war Tony kein Idiot. Der Junge merkte doch, mit was für einem Wrack er es zu tun hatte! Und wenn es eines gab, was Alfred definitiv nicht auch noch ertragen konnte, so war es der Verlust seines allerletzten Freundes.
 

Den Brief abwägend herumdrehend, glitt Alfreds rastloser Blick über den Umschlag hinweg zum Schreibtisch hinüber. Keine Beutel, keine Taschen, kein Mülleimer und auch sonst keine Möglichkeit. Aber Alfred war so entsetzlich unruhig...! Der egozentrische Drang krabbelte ihm durch Zehen und Finger und wollte um jeden Preis beachtet werden! Es war zum Haare raufen! Damit seine Finger nicht noch auf dumme Ideen kamen, nötigte Alfred sie dazu, den Brief aufzureißen und die mit blassblauer Tinte beschriebenen Karoblätter hinaus zu ziehen.
 

Hey dude!
 

Jup, it's me – again! :-)

Wie geht's dir mittlerweile? Hoffentlich schon besser??

Ich bin echt so was froh, dass du mir zurückgeschrieben hast. Aber woah! Deinen Brief hab ich jetzt ca. 15 mal gelesen und Jesus fucking Christ!!!

Sorry, aber genau so sahen meine Gedanken beim Lesen aus! Seriously! Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll!!!

Ok, ich versuch mal alles, was du so geschrieben hast, irgendwie auf die Kette zu kriegen.

Also: du hast diese scheiß Essstörung schon ein ganzes Jahr lang und hast das aber keinem gesagt, weil das mit "Sachen" bei dir Zuhause zu tun hat, über die du mit niemandem reden kannst?!

Alfred, was sind denn das für "Sachen"? :-/ Ich schätz mal, dass das was ziemlich Krasses ist, wenn du da so ein riesen Geheimnis draus machst. Ich schwör dir, ich behalt's für mich, falls du’s mir sagen willst! Ehrlich!!!

In meiner Stufe ist auch so ein Typ, der hat immer irgendwelche blauen Flecken und dem kauf ich auch nicht ab, dass er sich ständig mit seinem Skateboard hinlegt. Geht das bei dir Zuhause in dieselbe Richtung? Aber du hast mir immer erzählt, dass deine Mom voll lieb ist und dein Dad ziemlich cool drauf ist und ihr euch super versteht...

Oder hast du das nur so gesagt, genau wie mit dem Baseballtraining? :-(

Weißt du, ich hab ein mega schlechtes Gewissen. Einerseits, weil ich null mitbekommen hab, wie's dir wirklich geht. Andererseits, weil ich mich zwar manchmal schon gewundert hab, dass du plötzlich zu Zeiten on warst, zu denen du früher nie on warst, aber ich hab dich nicht gefragt, warum? Tut mir echt leid!!! Wenn ich das doch nur mal gemacht hätte..! >__< I'm a fucking idiot!!!

Aber du hast immer gesagt, bei dir ist alles fresh und so... :-(

Und dann schreibst du mir hier, dass einer deiner besten Kumpels spitz gekriegt hast, dass du krank bist und der das bei euch im Team rumerzählt hat und du dann ausgetreten bist, weil da "immer so Sprüche kamen". Ich kenn dich zwar nicht im RL, aber ich weiß genau, dass so ein paar blöde Sprüche nicht reichen, damit du Baseball hinschmeißt! Fuck, Al! Die müssen dich derbe fertig gemacht haben! Erzähl mir doch keinen Scheiß hier!!! Was auch immer die da mit dir abgezogen haben, muss unter aller Sau gewesen sein! Hab ich Recht?!

Ich bin jetzt auch nicht super beliebt in der Schule und krieg auch ab und zu mal nen Spruch geprellt. Ich weiß also, wie sich das anfühlt. Aber da kann man drüber stehen, wenn einem die Leute sonst wo vorbei gehen und man weiß, die labern eh nur Müll. Aber Mann, bei dir ist das ne ganz andere Nummer! Du hast ne ernst zu nehmende Krankheit und die Idioten haben's nicht mal gerafft!!! >:(

Wenn du mir damals doch nur was gesagt hättest, dann... Idk! Aber wir hätten uns vielleicht irgendwas überlegen können? Ich hätt mich auch bestimmt nicht über dich lustig gemacht. Mach ich ja jetzt auch nicht. Don't worry! Ich weiß gar nicht, wie ich mich an deiner Stelle verhalten hätte. Aber nach der Nummer im Team leuchtet mir ein, weshalb du nix gesagt hast...

Was ich aber mal so gar nicht checke: warum hast du die ganze Zeit geglaubt, bei euch Zuhause wird's noch schlimmer, wenn deine Eltern das mit deiner Bulimie rauskriegen? Die wissen das doch jetzt und haben dich extra in die Klinik geschickt. Und die wissen doch auch, was bei euch schief läuft?? Oder sind diese "Sachen" so Sachen, über die ihr nicht redet und über die du auch mit niemandem sonst reden sollst? :-(

Sorry, wenn ich total daneben liege, aber ich versuch mir nur irgendwie nen Reim auf deinen Brief zu machen...

Das was du so von der Klinik berichtest, klingt echt übelst nach Knast! =_= Ich würd auch nicht drauf stehen, abends um 10 ins Bettchen zu müssen oder vor ner völlig fremden Spießerin mein ganzes Leben auszubreiten. Aber du musst deine Therapeutin ja nicht heiraten. Die Frau soll dir beim Gesundwerden helfen. Kannst du ihr nicht vielleicht von den "Sachen" erzählen? Da muss sich doch auf jeden Fall was ändern, wenn dich das so kaputt macht! Und sag jetzt nicht wieder, dass du keine Hilfe brauchst. Nach dem, was ich so im Inet gelesen hab, wird man ne Essstörung nicht mal eben so von alleine wieder los! Du hast den shit doch auch schon ein ganzes Jahr lang! Das sind 12 Monate!! Sagt dir das denn gar nix?!

Ich hab so den Verdacht, du hängst da viel tiefer drin als du zugibst?! Klar beruhigt's mich, dass du nicht irgendwelche Diätpillen oder Abführmittel schluckst. Aber im Chat hast du mir gesagt, du wärst gar nicht so krank. Deine Eltern würden voll überreagieren und du hättest das mit dem Kotzen nur ein paar Mal gemacht – und dann les ich in deinem Brief, dass du in letzter Zeit schon "was öfter" gekotzt hast. Was heißt denn das genau?! Und jetzt komm mir nicht wieder mit "das ist no big deal"! Ist dir deine Gesundheit denn so egal??! :-(

Oder ist dir das einfach nur unangenehm, wenn wir darüber reden? Hab so den Eindruck... :-/

Wenn du auf Fragen keinen Bock hast, weil sie dir in der Klinik eh alle damit auf den Zeiger gehen, ist das ok. Wir können auch über was anderes reden. Hauptsache ich kann was tun, damit's dir besser geht :-) Aber ich wollte jetzt auch nicht einfach von irgendwas anfangen. Nachher denkste nur: Der blöde Sack kann sich schön vorm PC die Eier schaukeln und ich hab nicht mal Inet in dem Knast.

Aber ich leg dir auf jeden Fall ne fette Playlist auf youtube an für wenn du wieder aus der Klinik raus bist. Hab so ein paar Vids gesehen, bei denen lachst du dich schlapp! Jede Wette!! ;-)
 

Wow, irgendwie ist mein Brief jetzt länger geworden als ich gedacht hätte O_o Hoffentlich kannste meine Schrift überhaupt lesen. Wenn nicht, sag Bescheid. Dann schreib ich den nächsten Brief am PC. Auf die Idee hätt ich Superhirn ja auch was früher kommen können. Ich glaub, die Hitze hier hat mir den Verstand weggeschmort -_- Draußen sind's schon wieder über 30°C und wir haben keine Klimaanlage!!! Kannst dir sicher vorstellen, wie scheiße heiß das dann in meiner Bude ist, wenn der PC den ganzen Tag (und die halbe Nacht xD) läuft.
 

Anyway, halt die Ohren steif und werd schnell wieder gesund! Du packst das!!!
 

Liebe Grüße

Tony 8-)
 

Dieser Brief war in der Tat länger als Tony – und auch Alfred – erwartet hatte. Letzterer starrte die eigenwilligen Buchstaben an, die ihn an der einen oder anderen Stelle zugegebenermaßen hatten stolpern lassen. Dennoch, Tony brauchte nicht extra am PC schreiben. Das ging schon so in Ordnung. Alles war in Ordnung, solange sie noch Freunde waren.
 

Das Papier wieder in den Umschlag schiebend, kam sich Alfred emotional durchgefroren und zum Trocknen in die Mikrowelle gequetscht vor. Wenn Tonys Zeilen eines bewiesen, dann dass Alfreds Brief ein Paradebeispiel für sein Kommunikationsproblem war. Denn obwohl er am Montagabend so lang an den Sätzen für seinen Freund gebastelt hatte, hatte er die klaren Fakten ebenso gewissenhaft umschifft wie seine wahren Emotionen.

Tony mitzuteilen, dass es im Hause Jones bestimmte „Sachen“ gab, die Alfred verstörten und über die er nicht reden konnte, war so schwammig, dass Tony sogar an Gewalt dachte! Alfred wusste gar nicht, was er davon halten sollte. Er wurde nicht verprügelt; Gott bewahre! Seine Mom und sein Dad hatten ihn noch nie geschlagen. Wenn er Unsinn angestellt hatte, hatten sie ihm zwar immer eine gehörige Standpauke gehalten, aber ihm war nie ein Haar gekrümmt worden. Nicht mal in der Familientherapiestunde am Mittwoch, als sein Dad zunächst wütend und anschließend fassungslos geworden war, hatte Alfred befürchtet, eine Ohrfeige zu kassieren. Dass Tony so was vermutete, bereitete Alfred ein enorm schlechtes Gewissen. Wegen ihm wirkten seine Eltern wie Unmenschen. Nicht nur Tony hatte jetzt ein falsches Bild von ihnen, sondern auch Frau Brooke, wie Alfred plötzlich schwante. Denn in seiner Einzeltherapie hatte sie ihm bereits vor einigen Tage nahe gelegt, dass es keine verbotenen Gedanken gab. Wie hatte sie das noch gleich ausgedrückt?

„Schreib auf, was immer dir einfällt. Selbst wenn irgendjemand dir mal gesagt haben sollte, du sollst nicht darüber schreiben oder reden. Du darfst das. Du darfst hier bei mir über alles reden.“
 

Wahrscheinlich hatte sie pauschal in sämtliche Richtungen ermittelt. Alfred konnte es ihr nicht mal verübeln. Wenn jemand hartnäckig den Mund nicht aufbekam, musste das ja Vermutungen in die Köpfe anderer Menschen pflanzen...
 

Ein unguter Verdacht überkam Alfred: Was, wenn Frau Brooke nachhaltig davon ausging, dass er ihr willentlich etwas verschwieg? Das tat sie doch nicht – oder? Nein, nein, er hatte ihr gestern maßlos das Herz ausgeschüttet und unzählige male betont, zurück nach Hause zu wollen. Andererseits hatte Frau Brooke dadurch auch gemerkt, wie viel er eigentlich für sich behielt. Wie konnte sie also sicher sein, dass da nicht noch mehr im Busch war?
 

Und wie konnte sich Alfred sicher sein, dass seine Therapeutin keine Vorwürfe an seine Eltern richtete? Frei nach dem Motto: ‚Ihr Sohn ist nicht besonders redselig. Erklären Sie mir das!’

Gingen Therapeuten so vor? Bitte nicht! Bitte, bitte nicht! Alfred würde sich am liebsten links und rechts ohrfeigen, als ihm klar wurde, seinen Eltern ein Problem nach dem anderen zu bereiten: angefangen bei den Kosten für die Klinik, bis hin zu seinem ungeschickten Verhalten. Die beiden hatten so viele gute Gründe, ihn nicht mehr zurück zu wollen, und alles, was ihm einfiel, war schniefend nach seinem Tagebuch zu langen und eine der hinteren Seiten hinaus zu reißen, um fahrig eine Nachricht für seine Therapeutin zu verfassen.
 

Ich werd Zuhause nicht verprügelt oder so. Meine Eltern haben mir nie irgendwas getan! Ehrlich nicht!

Ich will nur, dass Sie das wissen und nicht irgendwas Falsches denken oder meinen Eltern komische Fragen stellen. Mir geht’s gut Zuhause!
 

Alfred
 

P.S.: Die Protokolle sind total useless und von den scheiß Pillen ist mir sau schlecht! Wenn ich heute noch kotzen muss, ist das echt nicht meine schuld :-(
 

Wenn ihm nachher jemand den Nachmittagsimbiss brachte, würde Alfred den Pfleger oder die Schwester bitten, den klein gefalteten Zettel mit Frau Brookes Namen drauf weiterzureichen. Aufstehen und die Botschaft selber zum Schwesternzimmer zu bringen, war gerade keine Option für ihn. Er würde sich nicht die Blöße geben, mit Tränen in den Augen auf den Flur hinaus zu treten.
 


 

{  -  -  +  }
 

Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich fehlte mittlerweile ein Teil...
 

Den Deckel gegen die Wand gelehnt, glich der Modellbaukasten einer Keimzelle an Unordnung. Die Anleitung mit der Gesamtübersicht aller Teile zu seiner rechten, bereute Alfred bereits, sich überhaupt an den Schreibtisch gesetzt zu haben. Für ihn sah heute ein Teil aus wie das andere. Zudem schien es, als habe jemand den falschen Inhalt in den Karton gepackt. Das, was hier lag, würde nie und nimmer die Gestalt einer Boeing 747 SCA annehmen. Völlig unmöglich.
 

Dann und wann schob Alfred ein Teil beiseite, weil es eventuell zum rechten oder linken Flügel oder dem Bauch der Maschine gehören könnte. So hatten sich im Laufe der letzten halben Stunde immerhin drei kleine Häufchen gebildet, allerdings kamen sie ihm allesamt falsch vor. Alfred wünschte, er könnte sich wenigstens ansatzweise konzentrieren, doch er verlor ständig den Faden. Die abgestandene Luft im Zimmer und die langen Schatten der tief stehenden Abendsonne beeinträchtigten seine Sehschärfe und drehten am Lautstärkeregler seiner düsteren Gedanken, sodass der zähe Strom aus Selbsthass seine Hirnhälften überschwemmte – bis die Gegenwart mit dem Finger schnipste und Alfred realisierte, minutenlang Löcher in die Luft gestarrt zu haben. Die Essstörung und die depressive Phase hatten ihm nicht nur die Familie, die Freunde, die Lebensfreude, die Gesundheit und das Wohlbefinden im eigenen Körper geraubt, sondern auch noch den Verstand.
 

Er war zu doof, um Teilchen zu sortieren...
 

So wie er auch zu doof war, um Tony einen Antwortbrief zu schreiben. Zwar wollte Alfred unbedingt, doch weder Erschöpfung noch Panik ließen ihn gewähren.
 

Trübsinnig lugte er zu dem Zettel hinüber, der zusammengefaltet auf dem unausgepackten Buch lag, was er von seinen Eltern geschenkt bekommen hatte. Nebst dem pastellwarmen Kliniklogo, aalten sich fabelhaft geschwungene Buchstaben auf der beschrifteten Innenseite des DinA6 Blattes. Die gleichmäßige Schönheit der Schrift war Alfred vorhin sofort ins Auge gesprungen, als ihm ein Pfleger nach dem Abendessen den Zettel überreicht hatte. Dabei hatte Alfred gar nicht mit einer Antwort auf sein Geschmiere gerechnet und entsprechend überrascht das Papier auseinander geklappt.
 

Lieber Alfred,
 

Danke für Deine Nachricht und Dein Vertrauen. Beides ist wohlbehalten bei mir angekommen.

Mach Dir bitte keine Sorgen. Wir zwei können uns gerne am Montag ausführlich über den Anlass Deiner Nachricht unterhalten. Ich bin mir sicher, ihr liegen weitreichende Gedanken zugrunde. Vielleicht möchtest Du bis dahin etwas in Dein Tagebuch schreiben und zu unserer nächsten Stunde mitbringen? Versuch es doch erst mal mit Stichpunkten. Das gilt auch für die Protokolle. Du kannst das. Du konntest auch dein Arbeitsblatt prima alleine ausfüllen.
 

Übelkeit zählt leider zu den häufigsten Nebenwirkungen von Antidepressiva. Ich hab gerade veranlasst, dass Du ab morgen etwas gegen die Übelkeit bekommst. Falls es tatsächlich heute noch so schlimm wird, dass Du befürchtest, dich übergeben zu müssen, sag bitte jemandem vom Pflegepersonal Bescheid. Nur wenn Du etwas sagst, können wir Dir auch helfen.
 

Herzliche Grüße und bis Montag! Ich freu mich auf unsere Stunde :-)

Claire Brooke
 

P.S.: Du möchtest vermutlich nicht zur Gruppentherapie gehen, aber falls Du am Wochenende gerne mit jemandem reden möchtest, stehen Dir meine Kollegen auch für ein Gespräch unter vier Augen zur Verfügung.
 

Vertrauen. Seine Therapeutin wertete seine Sätze also als ein Zeichen von Vertrauen, für das sie sich sogar bedankte. Alfred schämte sich glatt, dass er in dem Brief, den er Anfang der Woche an Tony geschickt hatte, so furchtbar gegen Frau Brooke gewettert hatte. Aber zu Beginn seiner Behandlung war sie ihm stets mit dieser impertinenten Neutralität entgegen getreten und hatte ihn und sein gefaktes Lächeln komplett auflaufen lassen. Aber nie, um ihn zu demütigen, sondern immer, damit er aus der Haut fuhr und sie beide letztlich ein Schrittchen vorwärts kamen. So viel hatte er in der Zwischenzeit begriffen.

Und wäre von seiner Seite aus nicht wenigstens etwas Vertrauen vorhanden, hätte er weder den Zettel geschrieben noch die Tabletten geschluckt. Er hätte auch nicht die voll gekotzten Beutel im Kleiderschrank gebeichtet oder sich während seiner Familientherapie gewünscht, im Vorfeld mehr Worte für das ganze Desaster übrig gehabt zu haben. Alfreds Inneres zerging vor Sehnsucht nach Verständnis und Geborgenheit; sein Verstand hingegen hielt an einer eisernen Logik fest, die ihm einbläute, dass niemand fette Heulsusen mochte, die sich in der Dusche übergaben.
 

Das war widerlich.

Das war er.
 

Oder war es die Fusion aus seinem Charakter und der Krankheit?
 

Was auch immer zutreffen mochte, Fakt war, dass seine Therapeutin nicht fies davor war, Alfred zu berühren. Während er am Vormittag Verurteilung erwartet hatte, hatte Frau Brooke nicht mal Anklage erhoben.

Aber was war nun mit seinen Eltern? Es machte den Anschein, als habe Frau Brooke ihre ganz eigene Meinung zu dem Thema. So im Nachhinein kam Alfred das Mit geht’s gut Zuhause! extrem unklug gewählt vor, denn wirklich gut ging es ihm dort schon eine Ewigkeit nicht mehr. Das wusste er und das wusste auch Frau Brooke...
 

Bekümmert atmete der 16-Jährige aus und ließ die Hände langsam durchs Haar fahren, bis sie in seinem Nacken anlangten. Kein Teilchensortieren mehr für heute. Es wäre wohl das Beste, ins Bett zu gehen und die Übelkeit weg zu schlafen. Wenn das nicht ein grandioser Plan war...

Alfred war im Inbegriff aufzustehen, da hörte er es: das Klopfen an seiner Zimmertüre. Zwei Mal schnell und präzise hallte es zu ihm hinüber. Essen wurde zu dieser vorgerückten Stunde jedoch keines mehr serviert, aber wer, wenn nicht jemand vom Personal, sollte jetzt noch etwas von ihm wollen?

{ 25. | Verständnis }

Das Echo des Klopfens sprengte einen Graben in Alfreds Bewusstsein und ließ ihn benommen aufstehen. Die rechte Hand auf der Rückenlehne des Schreibtischstuhls, fiel ihm keine angemessene Erwiderung auf das unerklärliche Geräusch ein. Stattdessen betrachtete er entrückt das schiefe Lichtrechteck, was von der durchs Fenster fallenden Abendsonne stammte und bis knapp zur Türmitte reichte. Es sah vergilbt und tot aus.
 

Da war gar kein Klopfen gewesen, nicht wahr?
 

Niedergeschlagen sog Alfred die Unterlippe zwischen die Spitzen seiner Vorderzähne und war dermaßen über sich selbst bestürzt, dass er lachend weinen wollte. Er naiver Idiot! Selbstverständlich hatte es kein Klopfen gegeben, denn niemand in dieser Klinik mochte ihn und Besucher waren zu dieser Tageszeit ohnehin ausgeschlossen. Klinikpersonal hätte längst die Türe geöffnet und–

Tock! Tock!

Da war es wieder! Zwei Mal hintereinander; hart, schnell und präzise. Das Klopfen existierte!

Alfred verstand noch weniger als vor rund einer Minute, schluckte und schaffte es, seinem Mund ein „Herein“ abzuluchsen. Das Wort schien allerdings nicht über die akustische Kraft zu verfügen, um den Weg bis zur Türe zurückzulegen. Die Furcht, einer Sinnestäuschung zu unterliegen, riss es erbarmungslos zu Boden.
 

Nichtsdestotrotz senkte sich die Türklinke langsam herab. Ob des veränderten Winkels wurde ein Teil des Sonnenrechtecks von der Klinke zur Zimmerdecke umgeleitet, wo sich ein klobiger Lichttupfen bildete. Dieser stand in einem krassen Unterschied zu dem messerscharfen Kunstlichtstreifen, der durch den Türspalt ins Zimmer schnitt und Arthurs Silhouette gleißend hell umrandete.

Alfred hörte kein „Darf ich reinkommen“ und entdeckte auch keinen fragenden Blick, der um Einlass bat. Arthur öffnete die Türe, betrat den Raum und schloss sie wieder hinter sich. Ganz so als habe er ein Recht, hier zu sein. Sein Gesichtsausdruck brachte dies zum Ausdruck, obwohl Alfred in keiner Weise nachvollziehen konnte, woher Arthur dieses Recht zu besitzen meinte.
 

„Uh..hey?“ Den Kopf dezent schief legend, verfrachtete Alfred die Hände in seine Hosentaschen und zog dabei unbewusst die Schultern hoch. Aus Gründen der Unbehaglichkeit verzichtete er auf einen ausgiebigen Blickkontakt; er sah nicht gut aus und das wusste er. In ihm flammte die fälschliche Annahme eines Kindes auf, das von sich auf andere schloss und glaubte, wenn es selbst etwas nicht sah, so sahen andere es auch nicht. Dummerweise war Alfred kein Kind mehr und ihm wurde bewusst, dass er den neugierigen Blicken noch so angestrengt ausweichen konnte. Arthur sah Alfred trotzdem klar und deutlich. Ebenso wie es auch alle anderen Patienten beim gestrigen Abendessen und heutigen Frühstück getan hatten.
 

Wie erniedrigend...
 

Alfred hatte das Gefühl, die personifizierte Niederlage zu sein und dies kummervoll auszustrahlen. Überdies war er noch nie sonderlich schlau aus dem Jungendlichen geworden, der dort bei der Türe stand, das Gesicht verdrossen und die Augenbrauen tiefhängend wie trächtige Regenwolken.
 

„Was gibt’s?“ Den kurzen Stillemoment nicht länger ertragend, machte Alfreds Stimme einen Sprung in aufgesetzt amüsierte Höhen und klang nach splitterndem Glas.
 

„Ich hab’s gemacht.“ Arthurs Mund bewegte sich, der Rest seiner Miene allerdings nicht. Alfred fand es so gruselig, dass er affektiv einen Schritt zurückwich und mit der linken Wade gegen sein Bett stieß.

„Was?“ Er konnte nicht folgen.
 

Voller zorniger Hingabe strich sich sein Gegenüber mit der rechten Hand den linken Hemdärmel hinab und zugleich Falten hinaus, die seines Erachtens nicht da zu sein hatten, obwohl Stoff und Schwerkraft sie naturgemäß gebaren.

„Was wohl?“, blaffte Arthur dabei. „Das, worum du mich gebeten hast natürlich!“
 

Gebeten? Er hatte Arthur um etwas gebeten?
 

Alfred klappte der verspannte Unterkiefer hinunter, während er sich zu erinnern versuchte. Die letzten Tage waren so voller alles verschlingender Dunkelheit, dass er nicht wusste, wo er mit der Suche beginnen sollte. Wann hatte er sich überhaupt zuletzt mit Arthur unterhalten? Sie beide waren ja nun nicht gerade die dicksten Freunde; eigentlich sogar alles andere als das. Wobei es zu Anfang der Woche noch den Anschein gemacht hatte, als würde Arthur umgänglicher werden. Alfred fiel der späte Nachmittag ein, als er gemeinsam mit Feliciano ins Zimmer gekommen war und Arthur dort auf sie gewartet hatte, um sich für das Keksbombardement zu entschuldigen. Seine Laune wie ein welkes Blatt. Seine Aussagen irritierend, resignierend, eigenartig; in jedem Falle nicht nachvollziehbar für Alfred, der zurzeit so viel in seinem eigenen Kopf unterwegs war, dass er auch gar nicht die Muße hatte, viele Gedanken an Arthur oder einen anderen Patienten zu verschwenden.

Die nächste Erinnerung, die Alfred vom Boden seines Gedächtnis fischte, betraf den Mittwoch und drehte sich um das schaurige Drama im Kunsttherapieraum. Die Wangen von einer erschrockenen Blässe erobert, hatte Arthur nicht gewagt, seinen eigenen Pullover anzufassen. Irgendetwas an Felis Zusammenbruch hatte ihn tief erschüttert. Doch das hatte nicht lange angehalten. Arthur war komplett aus der Haut gefahren, als Alfred Mittwochabend nach Francis’ Telefonnummer gefragt hatte, um–
 

Alfreds Augen wurden weit, als sich hinter dem Schleier seiner Bedrücktheit Logik und Vergangenes die Hände reichten.

„Du hast endlich Francis angerufen!?“
 

Kein Lächeln, kein Ja, kein Nein, kein gar nichts.
 

Alfred befürchtete schon, sich zu täuschen, bis ihm Arthurs grobmotorisches Zähneknirschen auffiel. Von purer Verachtung angetrieben, grollte es durch den ganzen Raum.

„Endlich?! Pah! Das wird mir garantiert noch leid tun! Ich weiß es doch jetzt schon! Na jedenfalls, das Wort, was dir gerade nicht einfällt und mit dem man normalerweise jemandem seinen Dank ausspricht, heißt danke!“ Der kalte Killerblick fiel von Alfred herab wie ein Parasit, der das Blut seines Wirtes verabscheute, und kraxelte durch den Raum: über das seit Mittwoch nicht mehr benutzte Bett von Feliciano, weiter zu dem auf Felis Schreibtischstuhl hängenden bunten Poncho, hinüber zu den Türmen an Zeitschriften, bis hin zu der kleinen Postkiste auf Felicianos Schreibtisch. Arthurs Profil verlor dabei an stählernem Hass. Ein Schlucken zog ihm die Verdrießlichkeit aus den fest aufeinander gepressten Lippen und ließ seinen Adamsapfel wie eine willenlose Marionette tanzen.
 

Irgendwas an all dem passte hinten und vorne nicht zusammen. Arthur wirkte betroffen, so als stünde er inmitten von Grabbeigaben und schaue sich nach dem nicht vorhandenen Sarkophag um. Dabei hatte er – die Sache mit dem Pullover ausgeklammert – bisher den Eindruck erweckt, als sei ihm das Schicksal des Italiener vollkommen egal. All das Sträuben und all die fadenscheinigen Ausreden, die er an den Tag gelegt hatte, um Feliciano Francis’ Gesellschaft zu verwehren, zeugten nicht gerade von Fürsorge. Dass er Francis nun doch kontaktiert hatte, war eine Sache. Die andere war, dass Arthur hier stand und von ‚Das wird mir garantiert noch leid tun’ sprach.
 

Alfred hegte den Verdacht, etwas ungeheuer Wichtiges nicht mitbekommen zu haben, da er geschlafen, geweint und in seinem Zimmer bei lebendigem Leibe von unersättlicher Verzweiflung verspeist worden war, indessen da draußen die Uhr des Lebens munter weiter in Richtung Zukunft lief. Was passierte hier? Und warum hatte er den Anschluss zu den Geschehnissen seiner Umwelt komplett verloren?
 

Fassungslos holte Alfred tief Luft, um einen aufkommenden Magenkrampf abzuwehren. Er sollte die Entwicklungen positiv sehen. Schließlich musste Feliciano ab jetzt nicht mehr alleine sein. Das war gut. Wirklich gut. Alfred wusste es, fühlte es allerdings nur bedingt, da ihn die momentane Situation zu sehr verwirrte. Außerdem war er lebensmüde und in eine zähe Schlacht gegen die Übelkeit verstrickt.

Die Hände im Stoff seiner Hosentaschen verkeilend, setzte Alfred zu einem durchaus aufrichtigen „Danke“ an, wurde aber sogleich mit einem schroffen „Nein, spar’s dir!“ zum Schweigen gebracht. Arthurs Augen waren dabei zu Alfred zurückgekehrt, klein, eng und so viel bewegter als vor rund einer Minute noch.
 

Alfred wünschte, man würde ihn nicht überfordern und ihn vor allem nicht anstarren. Ihm nicht im Blickduell das hauchdünne, unsichere Lächeln von den Lippen schälen und ihn auch nicht betrachten, als sei er nicht mal gut genug, um von Ungeziefer gefressen zu werden. Heute konnte er damit einfach nicht umgehen...
 

„Lass dir nur eins gesagt sein: Wenn die Sache schief läuft, dann mach ich dich persönlich dafür verantwortlich und-!“ Arthur stoppte so unvermittelt, als habe man ihm die Stimmbänder durchtrennt. Das hörbare Lufteinziehen, was an die Stelle der ärgerbesetzten Worte trat, blähte seinen Oberkörper auf und versetzte seine gesamte Miene in helle Aufruhr.

„Bloody hell! Was in aller Welt ist das denn für ein Chaos?!“
 

Die Schritte weit und zielorientiert, stapfte er geradewegs auf Alfred zu, dem dabei in höchstem Maße unwohl zumute wurde. Nicht dass er Angst vor Arthur hätte; was die körperlichen Kräfte betraf, war er ihm weit überlegen. Doch Arthur strahlte diese imposante Stärke aus, die an einen durchdrehenden Stier erinnerte und Alfred sicherheitshalber beiseite treten ließ. Sein Hirn meldete Entwarnung, als sich herausstellte, dass Arthur das heillose Teilchenchaos ansteuerte.
 

„Wie zum Henker hast du Genie das denn hingekriegt?!“ In Sekundenschnelle fegte Arthurs Augenmerk über den Tisch hinweg und schoss Alfred danach genau ins Gesicht. „So kann man doch nicht arbeiten!“
 

Sich wie ein Schwerverbrecher vorkommend, fühlte sich Alfred dazu genötigt, dabei zuzuschauen, wie Arthur die Anleitung zur Hand nahm, harsch blätterte, die Teilchen inspizierte, weiterblätterte und schnaufte. Das Gesicht eine einzige angewiderte Grimasse. Die Unordnung schien ihm in etwa so viel Unwohlsein zu bereiten wie Alfred es ob der momentanen Situation empfand. Immerhin hatte er sehr wohl probiert, die Teilchen zu sortieren, war dabei jedoch bravourös gescheitert. So wie er auch im Vorfeld daran gescheitert war, die Beutel ihren eigentlichen Zweck erfüllen zu lassen. Genau genommen war dieses Chaos auf der Tischplatte also das Resultat Alfreds kranker Seele, und Arthur kam her und schlug verbal noch mal drauf. Davon sowohl verletzt als auch gekränkt, würgte Alfred eine viel zu große Menge Spucke hinunter.

„Is’ ja wohl meine Sache, wie ich arbeite!“ Es sollte aggressiv, rechthaberisch und selbstüberzeugt rüberkommen, hörte sich stattdessen aber nach all dem an, was Alfred tatsächlich empfand. Und das waren Verzweiflung und Demut.
 

Den Blick beschämt abwendend, trat Alfred den Rückzug auf sein Bett an. Die Streifen der aprikosenfarbenen Klinikbettwäsche mit dem Blick zerhäckselnd, harrte er im Schneidersitz aus und verteufelte sich sowie die ihn plagende Übelkeit.

„Ja, grandiose Taktik!“ Drang ihm unterdessen gegrunzter Spott in die Ohren und wurde von dem seichten Klirren, das entstand, als Arthurs Finger durch die Teilchen fuhren, begleitet.
 

„Dude, ich kann das alleine sortieren! War bis gerade dabei!“
 

„Mhm...! Und wie lang sortierst du dieses Chaos schon? Seit du letzten Donnerstag hier eingewiesen wurdest?!“
 

„Nein, seit..eben halt!“ Alfred schluckte abermals Spucke hinunter; auf dem Gesicht ein deutlicher Anflug von Wut und Schande. Das da auf dem Tisch, das war sein Modellflugzeug! Er hatte es von seinen Eltern geschenkt bekommen! Warum ließ Arthur nicht einfach die Finger davon? Warum mischte sich in dieser Klinik jeder in Alfreds Angelegenheiten ein? Und warum war ihm nach Weinen zumute, als er heimlich aus dem Augenwinkel verfolgte, mit welch spielerischer Leichtigkeit Arthur die Teile systematisch auf der Tischplatte anordnete? Haufen um Haufen ergänzte und längst zwei Neue geschaffen hatte. Die Gesichtszüge nicht mal mehr von Ekel dominiert, sondern von fein geschliffener Konzentration.

„Aha, seit eben also. In der Anleitung steht was von Beutel A, Beutel B–!“
 

„Ja und?!“ Die Erwähnung der Beutel färbte Alfreds Nasenspitze hochrot ein.
 

Sein Tun kurzweilig unterbrechend, schaute Arthur unter hochgezogenen Augenbrauen zum Bett. Etwas witternd, das er nicht wittern sollte.

„Ich frag mich nur gerade, warum jemand so dumm sein sollte, den Inhalt aller Beuteln zusammen zu kippen?“
 

„Na weil–als kleine Challenge eben! Just for fun, you know?! Is’ ja nich’ gerade viel los hier drin!“ In der Sekunde, als Alfreds schiefschräges Lachen aufwallte, rutschten Arthurs Augenbrauen in ihre Ausgangsposition zurück. Jedoch ohne sein Gesicht harsch wirken zu lassen. Nicht mal einer seiner Mundwinkel kräuselte sich hämisch, als er kalkuliert fortfuhr.

„Kleine Challenge. Aber sicher doch.“ Sarkasmus. „Gib mir die Beutel. Dann pack ich dir die Teile wieder ein.“ Kein Sarkasmus.
 

Alfred merkte, wie sich die Schande in ihm zuspitzte und sich mit der Wucht eines heißen Eisens überführend durch seine Gesichtshaut brannte.

„Die..Beutel?“, wiederholte er scheinbar begriffsstutzig. Sie wussten doch beide ganz genau, wo die Beutel waren...
 

„Ja, die Beutel.“
 

„Also, die ähm...diehabichnich’mehr.“ Alfreds Zehen zuckten nervös, derweil er seine rechte Hand an seinen Hinterkopf legte und erneut mechanisch auflachte. Diese Situation, in der er sich gerade befand, war eine einzige Blamage. Wieso musste er sich in seinem eigenen Zimmer bloßstellen lassen? Alfred war oft genug vor versammelter Mannschaft runtergeputzt worden. Arthur sollte gefälligst verschwinden! Das Quietschen des Schreibtischstuhls wies allerdings daraufhin, dass der Blonde ihn zu sich heranzog, um darauf Platz zu nehmen. Alfred indes war das Lachen längst vergangen und die vielen Stückchen, in die sein Grinsen zerbrochen war, regneten auf sein Herz nieder und explodierten säurehaltig in seinem Bauch.
 

„Du hast die Beutel also nicht mehr“, fasste Arthur zusammen; die Tonlage nüchtern, beinahe verständnisvoll. Dunstig hinter Zauberwaldnebel. „Ich nehme an, man hat sie dir weggenommen.“
 

Alfred zuckte lediglich mit den Schultern und guckte eisern die Gardine an, die schattendunkle und abendsonnenfarbene Wellen schlug. Er wollte die Decke über den Kopf ziehen und nie wieder mit irgendeinem der anderen Patienten reden. Sicherlich wussten alle längst, dass er erbrochen hatte und Arthur war nur hier, um einen zu erniedrigen. So viel zum Thema ‚sich nicht schämen müssen’ und ‚sie alle saßen im gleichen Boot’. Das war doch totaler Bullshit! Fakt war: Alfred war fetter als die meisten Patienten und alle lästerten über ihn, weil sie weder ihn noch seine Attitüde verstanden. Und jemand wie Arthur – jemand, der sich quasi selbst das Kotzen abgewöhnt hatte –, war gewiss der Letzte, der ein gutes Haar an Alfred ließ. Alfred würde morden, um zu erfahren, wie Arthur es geschafft hatte, dem Erbrechen abzudanken. Aber ihn danach zu fragen und somit indirekt die eigene Verzweiflung einzugestehen, war vollkommen ausgeschlossen!
 

Nicht nur der Stolz versperrte Alfred den Weg, auch der sich nun zu voller Größe aufrichtende Magenkrampf. Der durchdringende Schmerz ließ Alfred glatt ein Stück nach vorne kippen, die Lippen von einem lautlosen Stöhnen gespalten. Zwar war es ihm im Laufe des Tages dann und wann besser gegangen, doch sein Körper schien gewaltig etwas gegen die Antidepressiva zu haben und trotzte ihnen mit immer neuen Übelkeitswogen. Was für eine abartige Qual...!

Zudem kam es dem 16-Jährigen so vor, als habe sich das Essen seit dem Vormittag in seinem Bauch aufgestaut und gerate erst jetzt allmählich in Bewegung. Vielleicht sollte ihn diese kleine Magenträgheit nicht wundern. Immerhin hatte seine Verdauung beinahe drei Tage lang nichts zu tun gehabt. Jetzt den Dienst wieder aufnehmen zu müssen, tat trotzdem ungeheuer weh und trieb Alfred den Schweiß auf die Stirn. Ihm war schlecht. So schlecht, dass er sich lieber hinlegte, auch wenn das seinem Besucher nicht verborgen blieb.

„Was soll das denn jetzt werd-?“

„Nix, ich bin nur müde. Dieses scheiß frühe Aufstehen um sechs Uhr!“, blockte Alfred mit dem erstbesten Vorwand ab und schlang die Decke um sich. Zwei Handgriffe später hatte er seine Brille auf dem Nachttisch deponiert und war gänzlich unter der Decke verschwunden. Im gluckernden Bauch ein wilder Übelkeitsstrudel.
 

Was seine Mom jetzt wohl machte? Und sein Dad?

Ob Feli schon Besuch von Francis bekommen hatte?

Ob Tony spätestens übermorgen einen Brief erwartete?
 

Die Ungewissheit taute Alfred an der Matratze fest; es war wahrlich unklug von ihm gewesen, sich auf den Bauch zu rollen, aber so konnte er wenigstens das Gesicht im Kissen vergraben und sich vor einer ausgiebigen Inspektion schützen.
 

Eine Welle Heimweh wurde aus seinem Herzen gespült und fand auf anatomisch nicht nachvollziehbare Weise den Weg in seinen Bauch. Alfred wollte nicht hier liegen, sich hundeelend fühlen und Heimweh haben. Nicht mit jemandem wie Arthur in der Nähe, der so was garantiert für Kinderkram hielt – und damit auch noch Recht hatte! Das war das Schlimmste überhaupt. Dieses Heimweh war etwas für Kinder und Alfred wollte kein vor Heimweh krankes Kind mehr sein.

Die Hände tiefer unters Kopfkissen schiebend, konzentrierte er sich darauf, sein Abendessen bei sich zu behalten. Das zunehmend heftigere, saure Aufstoßen löste in Alfred den sehnlichen Wunsch nach einem Eimer und viel Ruhe aus. Das war leider ein enorm kontraproduktiv wirkender Wunsch, wie Alfred schnell feststellte und die Kiefer schmerzhaft aufeinander presste, damit sein Mageninhalt gar nicht erst auf dumme Ideen kam. Er konnte nicht kotzen. Nicht mit Arthur im Zimmer! Unglücklicherweise war Alfreds Verstand der festen Überzeugung, sich durch Erbrechen Linderung verschaffen zu können. Mittlerweile war ihm nicht mehr nur flau, sondern wirklich speiübel. Das würde nicht mehr lange gut gehen...
 

Unerwartet stolperte ein auffällig lautes Räuspern durch den Raum.

„...ich hab gesagt, ich bin fertig!“
 

War er? Alfred hatte gerade nicht das Bedürfnis, das zu überprüfen. Entsprechend verlor er ein schlichtes „’kay“ und zuckte zusammen, als er ein leichtes Gewicht ortete. Auf Höhe seiner Unterschenkel drückte es von oben auf die Bettdecke. Nicht schnell und präzise wie das Anklopfen, sondern unbeholfen, aber dafür einen unbestimmten Moment lang andauernd.
 

Alfred begriff, dass es sich um Arthurs Hand handelte. Doch sowohl die Erkenntnis als auch die Übelkeit vereitelten, dass er aufsah. Was sollte die Geste? Wollte Arthur etwa, dass man sich artig bei ihm bedankte? Nie und nimmer! Sich für Feliciano zu bedanken, war eine Sache. Wenn Arthur dieses Danke – aus welchem Grund auch immer! – nicht akzeptierte, sollte das Arthurs Problem sein. Aber Alfred würde nicht zu Kreuze kriechen, weil sich Arthur in Eigeninitiative der Teile angenommen hatte. Für jemanden, der ständig alles richtete und zurecht rückte, war das doch keine Herausforderung! Garantiert hatte Arthur das nur getan, weil er den Gedanken an dieses heillose Durcheinander nicht ertrug. Mit Freundlichkeit hatte das nicht das Geringste zu tun!
 

Alfred war heilfroh, dass seine Gedanken nicht öffentlich einsehbar waren. Andernfalls hätte man wohl auch in ihm alles wieder an den rechten Platz gerückt. Wobei, wahrscheinlich war sein inneres Chaos dermaßen gewaltig, dass selbst der Ordnungszwang eines Arthur Kirkland daran scheiterte...
 

Die Augenlider fest zupressend, schluckte Alfred gegen die Säure an, die ihm in der Kehle brannte. Ein vergebliches Unterfangen, doch das Gewicht auf seinem Unterschenkel verschwand.
 

„Well... Ich sag Bescheid.“
 

Alfred verstand nicht. Die Stirn kraus ziehend, hörte er den anderen Jungen das Zimmer verlassen und war dann mit den Magenschmerzen, der Übelkeit und dem zermalmendem Gedankenwirrwarr alleine. Seine Armbanduhr tickte knapp 120 Sekunden hinweg, dann klopfte es abermals an der Türe und ein Pfleger trat ein. Alfred konnte den Mann nicht recht erkennen; er war ein weißes Phantom, das ihn besänftigend ansprach und sich erkundigte, ob er etwas gegen die Übelkeit haben wollte.
 

Ja, wollte er. Und er war in seinem gesamten 16-jährigen Leben noch nie so dankbar für bittere Tropfen und ein staubtrockenes Stück Zwieback gewesen wie an diesem Abend.
 


 

{  -  -  }
 

Der Samstag zog die bleierne Müdigkeit aus dem Hut wie der Zauberer das Kaninchen.

Alfred frustrierte es insofern, als dass er am vorigen Abend zwar todmüde gewesen war, der Schlaf ihn aber vergessen hatte. Stattdessen hatte sich die Stille vom Flur aus unter der Türe hindurch ins Zimmer geschlängelt und dort mit dem Geist eines italienischen Lachens so viel Lärm veranstaltet, dass sämtliche Sorgen in Alfreds Kopf wild zur unhörbaren Musik getanzt hatten.
 

Dann war da nichts gewesen.
 

Und dann das unerwartete Wecken durch eine Krankenschwester, die nicht nur das Licht angeknipst, sondern auch gleich eine neue Portion Tropfen mitgebracht hatte. Alfred war das im Halbschlaf ganz recht gewesen, denn das Medikament hatten am Vorabend, etwa eine halbe Stunde nach Einnahme, eine deutliche Verbesserung bewirkt. Sodbrennen und Übelkeit waren in den Hintergrund gerückt und Alfred hatte bereut, im Vorfeld viel zu stolz gewesen zu sein, um das Personal um Hilfe zu bitten. Er musste dringend lernen, endlich für sich und seine Bedürfnisse Worte zu finden; so konnte das einfach nicht mehr weitergehen! Er brauchte doch keinen Babysitter, der, so wie Arthur es gestern getan hatte, für ihn am Schwesternzimmer Alarm schlug, damit Hilfe anrückte. Alfred musste diesen Schritt selbst zu machen lernen.
 

Davon ganz abgesehen, erschloss sich Alfred Arthurs Motivation nicht. Aber für Alfred machte es auch keinen Sinn, dass er an diesem Samstag überhaupt planmäßig hatte aufstehen müssen. Immerhin war er quasi krank geschrieben, also weshalb sollte er dann schon wieder in aller Herrgottsfrühe und nach einer derartig unerholsamen Nacht den neuen Tag beginnen? Die in seinem Hinterkopf aufziehenden Proteste hatte er sich allerdings in weiser Voraussicht gespart; Diskussion über die Klinikregeln waren für ihn nicht zu gewinnen, wie ihn die Erfahrung gelehrt hatte.
 

Das anschließende Wiegen war in narkotischer Gedankenabwesenheit an Alfred vorbei gezogen. Falls Cleopatra einen Kommentar vom Stapel gelassen hatte, so war er Alfreds Auffassungsgabe durch die Lappen gegangen. Was ihm hingegen nicht entging, war das kontinuierliche Mustern, das vor allem durch die Tatsache, von einem Pfleger in den Waschraum begleitet zu werden, noch zunahm. Alfred hatte es geahnt: alle starrten ihn an und alle konnten eins und eins zusammenzählen und wussten von seinem Rückfall! Das war einfach nur schrecklich. In seiner ersten Gruppentherapiestunde hatte er sich als der Junge vorgestellt, der nur deshalb in der Klinik gelandet war, weil er ein paar Pfund abnehmen musste. Aber ganz so simpel war die Sachlage nicht. Jeder hatte längst herausgefunden, dass Alfreds Probleme weitreichender und tiefgehender waren. Nur er wollte das nicht zugeben...
 

Während der Tropfenregen auf Alfreds Haar prasselte, ließ er unter der Dusche den Kopf hängen. Seine trägen Finger verteilten Schaum auf seiner Haut, strichen, rieben und kniffen irgendwann, einem unbeherrschten Impuls folgend, fest zu. Kreierten eine Reihe roter Halbmonde im weichen Bauchfett, das gar nicht mehr hässlicher werden konnte. Sogar seine Mom fand ihn fett. Seine Erscheinung brachte optisch zum Ausdruck, was für eine Enttäuschung Alfred doch war; sowohl für andere als auch sich selbst. Zwischen Alfreds Fingernägeln brannten die Male des Selbsthasses auf der einst straffen Haut und trieben ihm Tränen in die Augen. Das hier, das würde doch auch nie wieder gut werden! Er bekam weder das Essen noch das Erbrechen in den Griff, und der Duft seines Duschgels rief zu allem Überfluss auch noch die Erinnerung an den bestialischen Gestank von drei Tage alter Kotze in ihm wach.
 

Alfred mied sein Spiegelbild, als er kurz darauf die Duschkabine verließ und sich eilig an einem der Waschbecken die Haare kämmte und die Zähne putzte. Tino, der zwei Becken weiter stand, hatte ein Gesicht gemacht, als habe Alfred ihnen Flöhe oder Läuse eingeschleppt. Etwas gesagt hatte er jedoch nicht. Erst ab dem Frühstück waren erste richtige Gespräche zwischen den Patienten zu vernehmen. Zwar konnte Alfred die geflüsterten Bemerkungen am Mitteltisch nicht verstehen, doch er tippte darauf, dass sie ihm galten. Wem auch sonst?! Alle lachten und alle lästerten; und er durchrührte sein Müsli in Slow Motion und schämte sich für den schwarzen Ordner, den er auf den freien Stuhl neben sich gelegt hatte. Lili hatte aufgrund dessen fragend dreingeschaut, aber Alfred hatte es absichtlich ignoriert und ihr lediglich ein gedämpftes Guten Morgen zugemurmelt. Ihm fiel nicht ein, wie er sein Versagertum kaschieren oder rechtfertigen sollte. Entsprechend hatte er auch nichts weiter gesagt.
 

Als Lili ihn ein paar Minuten später um das Salz bat, schob er den Plastikstreuer wortlos in ihre Richtung und guckte sie erst an, als die Krankenschwester kurz darauf den Salzstreuer konfiszierte. Lili reagierte mit einem kiecksenden Protestlaut. Ihre Schultern in dem pastellrosanen Jäckchen mit den aufgenähten Schleifchen fielen machtlos nach vorne und ihre Hand, die den Löffel im längst versalzenen Sahnejoghurt mit Knusperflakes festhielt, bebte.

„A-aber ich brauche noch mehr Salz!“
 

„Nein, ich denke, du hast schon mehr als genug Salz.“ Die Finger der Schwester zeigten keine Bereitschaft, den Streuer wieder auf die Tischplatte zurückzustellen. Alfred linste zwischen der Frau in weißer Montur und der Stille, zu der Lili verkommen war, hin und her. Der Nebentisch untermalte die Szene mit dem verhaltenen Klappern von Besteck, was Alfred daran erinnerte, noch immer Müsli, Tee und andere Dinge, die für ihn normalerweise kein Frühstück charakterisierten, vor sich stehen zu haben.
 

Die Akustik vom Mitteltisch wurde zu einer Nebensächlich degradiert, als Lili unerwartet wieder das Wort ergriff.

„Warum versteht keiner, was ich brauche?“ Ihre gepresste Tonlage ließ Tränen vermuten, doch ihre wütenden Augen funkelten wie frisch geschliffene Edelsteine.

„Lili, wir verstehen di-“

„Nein, Sie verstehen gar nichts! Hören Sie?! Gar nichts!“, fuhr sie der Schwester fauchend über den Mund. „Woher wollen Sie denn wissen, wie es mir geht oder was ich durchmache?! Sie kennen mich doch überhaupt nicht! Außerdem versteht so was eh nur jemand, der selber eine Essstörung hat! Sonst keiner!“
 

Es war nicht Lilis Lautstärke, die sich Gehör verschaffte, sondern ihr selbstgerechtes Urteil. An Gegenstimmen oder einem Meinungsaustausch hatte sie definitiv kein Interesse; stattdessen fand ihr überfüllter Joghurtlöffel schnell den Weg in ihren Mund. Verdrossen löffelte sie sich durch die süße Speise.
 

Alfred für seinen Teil tastete die soeben vernommenen Worte gedanklich ab und kaute nebenbei abwägend auf seinem Müsli herum. Vermutlich hatte er noch nie zuvor im Leben bewusst einen Löffel Müsli gegessen. Die Haferflocken zerbissen und die Weizenpops knistern hören. Die vereinzelten Nussstücke zwischen seine Zahnzwischenräume fliehen spüren und die Milch eine breiige Fusion mit Speichel eingehen fühlen. Das war gänzlich neu für ihn. Rosinen und Körner besaßen Geschmäcker, für die ihm keine Beschreibungen einfielen.

Dafür kam er zu dem Ergebnis, dass Lili wohl oder übel Recht hatte. Gesunde Menschen konnten wahrscheinlich in keiner Weise nachvollziehen, wie man eine solch krankhafte Beziehung zum Essen entwickeln konnte. Wieso man es vermied und versalzte, wieso man aus einer Mahlzeit eine Tagesaufgabe oder ein reines Fressspektakel machte. Wie man sich mit etwas Alltäglichem so ausgiebig und in so krankhafter Weise beschäftigen konnte. Irgendwas geschah da zwischen dem Selbst und dem Essen. Irgendwas, das die alten Gewohnheiten aus den Angeln hob und die persönlichen Einstellungen neu definierte. Befremdliche Akzente setzte und so Emotionen lostrat, die alles fortwährend komplizierter machten.
 

Dieser Prozess war auch dafür verantwortlich, dass wenn Alfreds Mom jetzt hier wäre und ihm seine Lieblingscookies gebacken hätte, er sie nicht anrühren könnte. Nicht solange seine Mom ihn erwartungsvoll ansah und ihm mitteilte, dass er die handtellergroßen Kekse mit den dicken Schokotropfen doch Zeit seines Lebens vergöttert hatte. Bei der bloßen Vorstellung wurde dem Blonden ganz mulmig zumute, was aber keineswegs an den Cookies lag. Wirklich, es hatte nichts mit den Keksen zu tun! Und doch hatte es alles Erdenkliche mit den gottverdammten Keksen zu tun. Die Cookies waren schließlich mit der gleichen Hingabe gebacken worden, mit der ihn seine Mom von Kindesbeinen an belogen hatte. Immer und immer wieder! Wie viele Lügen sollte Alfred denn bitte noch schlucken? Wenn er die Cookies tatsächlich aß, dann alle auf einmal, und das würde ihn emotional dermaßen vergiften, dass er sich hinterher übergeben musste. Alfred wusste es aus Erfahrung. Seine Mom hatte vor Weihnachten pflichtbewusst ein Wochenende geopfert, um haufenweise Kekse zu backen. Er hatte eine der Dosen tags drauf komplett geleert, dazu eine Flasche Kakao getrunken und danach Eis in sich reingeschaufelt, bis nichts mehr ging. Als er die durchweichte Menge wenig später erbrochen hatte, hatte er seine Mom dafür gehasst.

Wie konnte sie ihm so was antun?
 

Wie konnte sie ihn absichtlich vergiften?
 

Und wie konnte er es wagen, seine Mom – wenn auch nur für einen klitzekleinen Augenblick – zu hassen? Er war doch derjenige, der ein verwerfliches Benehmen an den Tag legte. Der nicht nur maßlos fraß und kotzte, sondern genauso dreist log, indem er seiner Mom abends engelsgleich zugesichert hatte, ihre Cookies hätten so genial wie eh und je geschmeckt. Es waren doch gar keine Cookies gewesen! Es waren unendliche Trauer und pechschwarzes Misstrauen gewesen. Auf allen Tellern im Speisesaal lagen keine Brote und keine Brötchen, und es gab weder Tee noch Saft. Es gab nur Trauer, Wut und Sehnsucht, Misstrauen, Enttäuschung und Lügen. Es gab glänzende Fassaden und kaschierende Lächeln, und es gab Hass, Vorwürfe und Schuldzuweisungen, für die aber niemand die Verantwortung übernehmen wollte und die irgendwann in Form einer Krankheit den Körper als Geisel genommen hatten. Lili wusste das, so wie es auch der Rest der Patienten wusste. Alfred konnte sie alle Zorn zerkauen und Leid hinunter würgen sehen, weil sie es tun mussten. Die nach Desinfektionsmittel riechende Genesung zog den Gefühlen die Kostüme von stinknormalen Nahrungsmitteln an und drapierte sie auf weißen Plastiktellern, um das Auge der Normalsterblichen erfolgreich hinters Licht zu führen. Was für eine miese Kostümparty!
 

Alfred fühlte sich an Halloween und unzählige klebrige Bonbons erinnert, dann an Thanksgiving und das buttrige Püree zum traditionellen Truthahn, und dann an Weihnachten und die Cookies, die er gerade unbedingt haben musste.

Er brauchte Cookies.

Selbst gebackene Cookies von seiner Mom, die im Inneren noch weich waren und einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Cookies und Vanillemilchshake. Es musste einfach Vanillemilchshake sein, den man praktischerweise im 1,5l Kanister kaufen und mit Sprühsahne garnieren konnte. Eine Dose Cookies und 1,5l Vanillemilchshake mit Sahne. Danach Eis. Am besten Karamel Sutra von Ben & Jerry’s. Und damit der Magen nicht zu kühl wurde, vorab ein ausgiebiger Abstecher zum nächsten McDonald’s. Eine große Pommes, ein Big Mac, ein Western Beef Burger, ein Cheeseburger, ein McRib und eine Cola.
 

Ein Höhenflug aus herzhaft und süß.
 

Eine Bruchlandung in bitter und sauer.
 

Alfred würde eine gute halbe Stunde brauchen, um all das restlos wieder auszukotzen. Das warme Essen wäre optimal milchig-sahnig eingeweicht und würde ihm keinen unnötigen Ärger bereiten. Allein dass er das so genau wusste, war ihm unbeschreiblich peinlich. Seine Eltern durften das niemals erfahren. Wirklich niemals! Wie krank war das bitte? Was ging nur in Alfreds Kopf vor? Woher rührte diese plötzliche Gier auf Cookies?
 

Angestrengt würgte Alfred den nächsten Löffel Müsli hinunter, im Nacken eine monströse Angst. So als habe hinter ihm der übermächtige Hunger den Raum betreten und schaue sich wie ein Beute suchender Velociraptor um. Keine Regung wagend, hielt der Blonde die Luft an und betete, verschont zu bleiben. Er war nicht da, er war kein potentielles Ziel. Er mochte zwar Essen, aber er wollte nicht wieder in dieser tückischen Fressfalle landen.

Die Mundhöhle vor lauter Furcht trocken gelegt, ließ Alfred sein Augenmerk zu Lili hinübergleiten. Jene musste gerade eine essenstechnische Erziehungsmaßnahme über sich ergehen lassen: mit dem netten Vermerk „Schön langsam, junge Dame!“ zog die Schwester ihr das Joghurtschälchen unter der Nase weg.
 

„Aber ich ess doch langsam!“
 

Nein, tat sie nicht. Sie schlang. Alfred fühlte sich eine Art Zeitschleife passieren, die ihn dazu zwang, sein eigenes Fehlverhalten an einem anderen Menschen zu beobachten: die sture Uneinsichtigkeit, das empörte Blinzeln, der wie aus der Pistole geschossene Widerspruch. Das war so er. Wie konnte das zugleich Lili sein?
 

Die Ellbogen auf die Tischplatte knallend, presste sich Lili die Finger gegen die Stirn, sodass ihr Gesicht hinter ihren Händen verschwand. Auf ihren blassen Handrücken verliefen die Adern wie schmale Flüsschen, die ihr Dasein hinter Pergamentpapier fristeten. Das Zucken ihrer spröden Fingerknöchel erweckte den Anschein, als versuche sie sich eine zweite Haut vom Gesicht zu kratzen, während ihre Stimme den entrüsteten Ton gegen den eines gebrochenen Herzens eintauschte.

„Warum tun Sie das? Sie verstehen einfach gar nichts...! Es ist doch egal, ob ich schnell oder langsam esse! Niemand will mit mir an einem Tisch sitzen und keiner will mit mir reden oder-oder...“
 

Gesagtes und Ungesagtes klatschten Alfred mit der Kälte zweier arktischer Riesenwellen ins Gesicht und schmeckten derart charakteristisch nach Einsamkeit, dass es ihm die Sprache verschlug. Den Löffel im Müsli stehen lassend, wollte er über den Tisch langen und die Worte einsammeln, weil sie ihm gehörten – nicht Lili. Er war doch derjenige, den hier niemand leiden konnte! Hatte sich denn gestern keiner zu ihr gesellt? Konnte sich denn hier niemand einen Ruck geben und mal für einen einzigen Tag an einem anderen Tisch essen? Das konnte doch nicht wahr sein!
 

Ein Funken Wut schlug in Alfreds Brust auf und erlosch sogleich wieder, denn wie konnte ausgerechnet er, der sich nicht mal freiwillig aus seinem Zimmer raus bewegte, anderen einen Vorwurf machen, wenn sie an ihr eigenes Wohl dachten und lieber auf ihrem gewohnten Sitzplatz blieben? Vielleicht waren sie ja allesamt Ertrinkende, die in einem Stuhl ein ideales Treibgut gefunden hatten, um sich über Wasser zu halten. Vielleicht waren sie auch nur alle elendige Egoisten. War es das, wozu die Essstörung sie erzogen hatte? Hatten sie sich alle so lange selbst vernachlässigt, bis die Essstörungsfalle zugeschnappt und sie in ihrer eigenen Welt eingesperrt hatte? Alfred hatte ein Jahr lang keinen Ton gesagt – immer mit dem Ziel, seine Familie zu retten. War das eine Aufopferung für drei? Oder der egoistische Wunsch eines Kindes, das Mom und Dad nicht loslassen konnte?
 

Und glaubte Lili ernsthaft, Alfreds Schweigsamkeit liege an ihr? Das war doch lächerlich! Er hatte nicht das geringste Problem mit ihr; er kannte sie doch kaum und hatte demnach auch nicht den Hauch einer Ahnung, was der Auslöser für ihre Worte sein mochte. Trotzdem fühlte er sich dazu berufen, Einwand zu erheben. Den Atem für das durchaus gut gemeinte „Hey, das stimmt doch gar nicht“ hätte er sich allerdings sparen können. Es wirkte wie schlecht gelogen und Alfred fühlte sich rot anlaufen, als ihm schlagartig bewusst wurde, wie sein Dad zu klingen. Fehlte nur noch, dass er Lili kumpelhaft die Schulter klopfte...
 

Lilis Knöchel zuckten erneut. In Alfred keimte die Befürchtung auf, das Mädchen endgültig zum Weinen gebracht zu haben. Just als die Krankenschwester den Mund öffnete, um sich in das verfahrene Tischgespräch einzuklinken, stand Anya plötzlich neben ihnen. Die Kuppen ihres rechten Zeige- und Mittelfinger schoben sich unverzüglich unter Lilis Kinn und richteten ihr Gesicht auf. Vor Schreck riss Lili die Hände vom Gesicht und stierte mit geröteten Augen zu der anderen Blondine hinauf.
 

Anyas Bäckchen hatten trotz der frühen Stunde etwas Apfelfrisches an sich. Ihre beiden Fingerspitzen hielten Lili in Pose; die Kraft in der Geste zeigte sich an der Kuhle in der Haut. Lili schien Probleme beim Schlucken zu haben, doch da sie nicht wusste, wie ihr geschah, tat sie nichts weiter als Anya anhaltend anzustarren. Jene wirkte ob des Blickkontakts sogleich um einiges zufriedener mit der Gesamtsituation.

„So früh morgens kann ich wirklich noch keine Tränen ertragen, liebe Lili.“ Ihre Aufmerksamkeit schwenkte kalkuliert zu Alfred hinüber, der keine Sekunde später ebenfalls zwei stechende Finger unterm Kinn spürte. „Und dass er nicht mit dir redet, liegt nicht an dir, sondern an ihm.“
 

„Anya, setz dich zurück auf deinen Platz und lass Lili und Alfred zu Ende frühstücken.“
 

Obgleich das Lächeln auf Anyas Lippen unverändert blieb und sich fast schon verständnisvoll zeigte, schien ihr die Aufforderung der Schwester zu missfallen. Alfred spürte, wie die säuberlich gefeilten Fingernägel tiefer in seine Haut stachen und ihn erschauern ließen. Was war nur in Anya gefahren? Sie war in all den Tagen nie aufgestanden, um Feliciano zurecht zu weisen, aber Lilis Benehmen tolerierte sie nicht? Woran lag das?

Und woran lag es, dass sie sich die Freiheit herausnahm, bei Alfred genau dasselbe zu tun? Neulich erst hatte Anya ihm ein Glas Wasser ins Gesicht geschüttet, um ihn zur Besinnung zu bringen; und nun kam sie her und richtete ihn auf? Bei seiner Ankunft hatte Anya eher einen eingeschüchterten Eindruck erweckt und ihre Gesichtszüge hielten eben dieses schüchterne Mädchen auch weiterhin am Leben. Doch etwas an Anya hatte sich eindeutig verändert und wie das geschehen konnte – Zeit? Heilung? Die Freilegung eines wahren Ichs? – blieb Alfred ein Rätsel. Für ihn war ein Mitpatient undurchschaubarer als der nächste.
 

Arthur starrte ausdruckslos vom Fenstertisch hinüber. Lili hatte vergessen, dass es so etwas wie Tränen überhaupt gab und was auch immer am Mitteltisch vor sich ging, schien sich in Stille zu hüllen. Ein Bild der dort Sitzenden konnte Alfred sich gerade nicht machen, denn dazu müsste er sich umdrehen; die Finger jedoch diktierten ihm eine gerade Haltung auf, über die sich seine Rückenmuskulatur beschwerte. Liegen, sitzen und sich zusammenkauern, das hatte sie sich in den letzten Tagen angewöhnt. Infolge dessen spürte Alfred jeden Knochen in sich zetern. Es tat weh. Anya schien das vollkommen gleichgültig zu sein. Ein letztes Mal Lilis Erscheinungsbild studierend, nickte sie und wandte sich dann ab. Nicht ohne der Krankenschwester zum Abschied ein merkwürdig vorwurfsvolles Lächeln mit dezent gehobenem, rechten Mundwinkel zu servieren. Die Regung war minimalst und nur aus nächster Nähe zu erkennen. Alfred war das unheimlich.
 

Lilis Blick rutschte Anyas Rückseite hinab, glitt über das taupefarbene Kleid mit dem weißen Blusenshirt darunter und kletterte dann an Alfred empor. So als suche Lili etwas. Oder ihn. Und er wusste nicht, was er tun oder sagen sollte – außer die Wahrheit.

„Sorry, ich..ich bin einfach ziemlich alle im Moment...“ Seine Lippen machten irgendwas, das sich nach einem implodierenden Grinsen anfühlte und sein Schweigen entschuldigen sollte.
 

Von der anderen Tischseite aus erreichte ihn zaghafte Zustimmung.

„Ja, ich auch...“ Gleich mit beiden Händen umschloss Lili ihre Teetasse und nahm zwei kleine Schlückchen hintereinander. Sie machte nicht den Eindruck, böse oder gar beleidigt zu sein. Am Mitteltisch kochten indes die gedämpften Unterhaltungen wieder auf. Lilis Blick fiel in ihre Teetasse hinab, bevor er auf dem schwarzen Ordner landete, der auf dem Stuhl lag, auf dem einst Feliciano gesessen hatte.
 

Alfred fühlte sich genötigt, eine Erklärung abzuliefern.

„Essprotokolle“, nuschelte er und kratzte den Rest seines Müslis zusammen, ehe dieses gänzlich unappetitlich wurde. „Muss jetzt immer so eins ausfüllen nach’m Essen...“
 

Sanft fielen Lilis Augenlider zu. Ihre Stupsnase kräuselte sich, dann seufzte sie. Teils schwer, teils leicht. Alfred hatte nie zuvor jemanden so seufzen hören. Fragen blieben aus. Die Selbstverständlichkeit, mit der Lili den Protokollen begegnete, wies auf eine gewisse Bekanntschaft hin.
 


 

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Es ging einfach nicht! Aufgebracht riss Alfred das Blatt mit dem mittlerweile fünften Versuch eines Briefauftakts vom Block und knüllte es zusammen. Gleich darauf gewann die knisternde Papierkugel einen Freiflug vom Bett auf den Schreibtisch, wo ihre Artgenossen bereits auf sie warteten.
 

Es war Nachmittag geworden an diesem Samstag, an dem Alfred lediglich für die Mahlzeiten und den Toilettengang das Zimmer verließ. In ihm hauste ein undefinierbares Gemisch aus Müdigkeit, gedämpfter Übelkeit und unbändiger Frustration. Darüber hing ein Schleier dichtgewobener Trauer. Jetzt schrieb er seit gestern regelmäßig diese verdammten Essprotokolle und trotzdem konnte er noch immer nicht die passenden Worte für Tonys Brief finden. Alfred konnte die Wahrheit einfach nicht beschreiben. Sie war irgendwas Unförmiges, irgendwas Unbekanntes, Außerirdisches. Jede schriftliche Annäherung kam ihm falsch vor, ließ ihn erröten und nach spätestens drei Sätzen Fuck! No! denken. Er konnte Tony nicht diesen Wahrheitsblock transkribieren. Das war nicht machbar. Gestern nicht, heute nicht und morgen sicherlich auch nicht. Alfred ging es nicht gut dabei, gedanklich alles abzutasten und danach in Schriftform darlegen zu wollen. Dadurch wurde er nur fortwährend ängstlicher.
 

Vielleicht sollte er probieren, Tony genau das mitzuteilen? Aber heute schien dafür nicht der richtige Tag zu sein. Auch mit den übrigen Patienten hatte Alfred keine großartigen Konversation geführt. Lili hatte das Taktgefühl besessen, ihr Frühstück verhältnismäßig zügig zu beenden und ihn dann mit dem Protokollordner und der observierenden Krankenschwester allein zu lassen. Er hätte auch nichts in seinem Protokoll notieren wollen, solange ein anderer Patient ihn beobachtete. Diese Protokolle gingen keinen etwas an – nur ihn und seine Therapeutin. Das war Alfred wahrlich genug Publikum. Was er so auf die Blätter krakelte, war dumm. Zumindest empfand er sich als dumm, wenn er schrieb, Angst davor zu haben, noch fetter zu werden. Oder wenn er, trotz des Übergewichts, plötzlich wieder unter aufdringlichen Fressphantasien litt. Das war peinlich... Alfred vermied es deswegen tunlichst, sich seine alten Protokolle ein zweites Mal durchzulesen. Für ihn war das aktuellste immer schon die größte Herausforderung. In seinem Kopf herrschte einfach zu viel Trubel...
 

Block und Kugelschreiber auf den Nachttisch legend, gab Alfred das Projekt namens Brief vorerst auf. Tony hatte ihm bislang zwei Briefe geschickt; sie waren Freunde. Und obwohl Alfred immer noch befürchtete, Tony als Freund verlieren zu können, plädierte eine innere Stimme dafür, dass ein richtiger Freund Verständnis dafür haben würde, wenn der Antwortbrief einen oder zwei Tage länger auf sich warten ließe. Trotzdem, einen Brief zu verfassen, sollte einen nicht so viele Nerven kosten! Alfred war irrational traurig darüber, schon wieder etwas nicht sofort und auf der Stelle geschafft zu bekommen. Er war es nicht gewöhnt, Dinge auf die lange Bahn zu schieben. Früher hatte er sie einfach beim Schopfe gepackt und sich so lange festgebissen, bis alles zu seiner Zufriedenheit erledigt war. Davon konnte er jetzt nur träumen...
 

Untätig sah er sich in dem kleinen Klinikzimmer um, das so entsetzlich wenig mit seinem eigenen Zimmer gemeinsam hatte. Wahrscheinlich wäre es besser für ihn und seine Panik, nicht ständig jede Ecke und jeden Winkel miteinander zu vergleichen. Sein Gehirn hielt jedoch nicht viel von dieser Auflage, sondern machte, was es wollte.
 

Blinzelnd nahm sich Alfred sein neues Kissen und presste es auf seinen Bauch. Den Rücken an die Wand gelehnt, hatte er die Beine von sich gestreckt und saß still auf seinem Bett. Der Tag zog sich wie Kaugummi, war deprimierend, langweilig und anstrengend. Alles war anstrengend, selbst wenn man im Grunde nichts machte. Alfred hatte die Option seiner Krankschreibung genutzt und wusste nicht, wie er Frau Brooke am Montag beibringen sollte, dass sie ihn noch länger freistellen musste, weil er sich für nichts fit genug fühlte. Alfred hatte ja nicht mal Lust, sein Modellflugzeug zusammen zu bauen. Mit einem Abstecher in den Aufenthaltsraum oder sonstigen Aktivitäten brauchte man ihm gar nicht erst kommen! Er konnte sich zu nichts aufraffen – außer dem, was sein Autopilot ihm aufdiktierte und das war Gedankenwälzen oder der Versuch zu schlafen. Aber beides endete meist mit Tränen. Es war etwa 16 Uhr und Alfred hatte schon aufgehört zu zählen, wie oft er an diesem Tag feuchte Augen bekommen hatte. Was letztlich auszehrender war – Weinen oder sich das Weinen verbieten – hatte Alfred auch noch nicht herausgefunden. Beides saugte ihm den letzten Rest Energie ab und er wollte diesbezüglich niemanden vom Personal ansprechen. Er wollte das nicht mal seiner Therapeutin beichten, aber wenn es schon unbedingt jemand erfahren musste, dann sie, damit sie ihm andere Pillen verschreiben konnte, die dem ganzen Spuk ein Ende bereiteten. Das ging doch sicher, oder?
 

Aber was, wenn er keine anderen Medikamente bekam, weil er nicht die gewünschte Entscheidung getroffen hatte? Verzagend fuhr sich Alfred durchs Haar und rieb im Anschluss mit der Handfläche über sein rechtes Auge. Er sollte sich beim Schwesternzimmer melden und um Tropfen bitten, aber noch hielt sich die Übelkeit in Grenzen. Das Verlangen nach Cookies war ironischerweise gerade weitaus mächtiger. Alfred hatte Hunger.
 

Nein, das stimmte nicht: er war unglücklich und wünschte sich, daheim seinen Bettkasten aufziehen zu können.
 

Er hoffte inständig, seine Eltern kämen nicht auf die Idee, genau das zu tun...
 

Ein Klopfgeräusch lotste Alfreds Aufmerksamkeit zur Türe hinüber. Das Geräusch war anders als am vorigen Abend. Feiner und leiser – aber keine Einbildung, wie der Blonde sogleich wusste.
 

„Ja?“ Sich aufsetzend beobachtete Alfred, wie sich die Tür gemächlich öffnete. Nur einen Spalt breit, durch den gleich darauf Anya ins Zimmer lugte. Unter den Apfelbäckchen noch dasselbe Lächeln wie heute früh. Die langen, blonden Haare fielen über ihre Schulter und rahmten den Gesichtsausdruck ein, den Alfred schon einmal gesehen hatte: nämlich in der Kunsttherapiestunde, als Anya verschworen mit dem Pinsel zwischen ihnen hin- und hergedeutet hatte. So als hätten sie ein geheimes Abkommen unterzeichnet, an das Alfred sich partout nicht erinnerte.
 

„Ah...“, schob sich das Mädchen halb durch den Türspalt und betrachtete ihn mit einem mysteriösen Gemisch aus Zurückhaltung und Kalkulation.

„Du bist wach.“
 

„Yeah, sure.“
 

„Das ist gut. Sehr gut sogar!“ Ihre Augen schlossen sich beim Kichern. Gleichzeitig schubste sie die Tür ein Stückchen weiter auf, sodass auch ihre andere Körperhälfte zum Vorschein kam. Mit spielerischem Triumph hob sich Anyas bis gerade verborgene Hand und präsentierte einen Gegenstand, den Alfred schon mal gesehen hatte. Nur dass es damals Antonio gewesen war, der die Polaroidkamera gezückt hatte.
 

Alfred musste so schwer schlucken, dass sämtliche Cookievisionen von aufstoßender Magensäure verätzt wurden.

„Ich hab schon ’n Foto!“ Und keine zehn Pferde konnten ihn dazu bringen, noch mal so einen hässlichen Schnappschuss von sich anfertigen zu lassen!
 

„Ach ja, richtig...“ Gutmütig öffnete Anya die Augen und ließ den Blick einmal zwischen Alfred und der Kamera wechseln. Ihre Schulter lehnte am Türrahmen, während ihre Wangen mit ihren niedlichen Hello Kitty Ohrsteckern um die Wette leuchteten.

„Du meinst wahrscheinlich das Foto, das du geschwärzt hast und auf dem man dich gar nicht mehr erkennen kann. Antonio und ich sind übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen, dass das genau genommen gar kein Foto mehr von dir ist. Deswegen hab ich gesagt, ich mach ein neues von dir. Von der Idee ist er ganz begeistert – und wir auch, nicht wahr?!“
 

Alfred blieben jegliche Einwände im Halse stecken. Er war alles, nur nicht begeistert! So scheußlich wie er zurzeit aussah, konnte er nicht auch noch Fotos von sich ertragen! Anyas melodisch-freundlich gesonnene Stimme war allerdings fest entschlossen; und als Alfred abwehrend den Kopf schüttelte, hatte das viel zu nett lächelnde Mädchen nur noch eine Antwort für ihn übrig: „Doch. Es ist alles nur eine Frage des richtigen Make-ups!“


Nachwort zu diesem Kapitel:
1: Das Buch Nothing, geschrieben von Robin Friedman, gibt es tatsächlich (meines Wissens aber nicht auf Deutsch). Und nein, die darin erzählte Geschichte weist keine sonderliche Ähnlichkeit mit Alfreds Geschichte auf. Wer sich allerdings für die Thematik an sich interessiert, kann durchaus mal rein schauen. Es liest sich schön und schnell und beleuchtet das Leben eines bulimiekranken Jungen und seiner Schwester, in etwa bis zu dem Zeitpunkt, wo seine Bulimie aufgedeckt wird.


Hm, keine Ahnung, ob ihr Arthur verstehen könnt. Aber irgendwann werdet ihr es sicherlich. Für unseren armen Alfred ist gerade jedenfalls alles zu viel. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wenn Verdrängtes sich irgendwann doch einen Weg nach draußen bahnt, kann das schon mal so enden...
Ziel dieser Story ist es übrigens immer noch, unseren Alfred wieder aufzubauen und gesund werden zu lassen. Ich sag’s nur, falls das gerade jemand anzweifeln sollte und weil ich auf dem Weg dorthin auch auf das Zusammenspiel von Essstörungen und Depressionen näher eingehen möchte. Letztere stehen ja nicht umsonst mit in den Warnings. Aber was red ich. Ihr werdet’s ja sehen bzw. lesen, sofern ihr dran bleibt.

Tot ziens! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ein paar Anmerkungen:

Unser Alfred muss nicht sofort und auf der Stelle von Kopf bis Fuß medizinisch durchgecheckt werden. Das ist nicht nötig, denn (die meisten von euch wissen/ahnen es): er hatte keinen Herzinfarkt. Andernfalls hätte ich ihn nicht so selig im Bettchen liegen lassen.
Ich wollte das nur kurz klarstellen, damit niemand denkt, in der Klinik geht man leichtfertig mit seiner Gesundheit um. All jene unter euch, die den Grund für Herzrasen & Co. genauso wenig kennen wie er, werden im nächsten Kapitel schlauer.

Es ist natürlich kein Kakao.

Ja, noch hat niemand die Beutel im Schrank bemerkt. Aber das ist natürlich kein Zustand.

Ich weiß nicht, inwiefern es euch krass erscheint, dass sich Alfred diese neuen Wege zum Erbrechen sucht?
Das Erbrechen in Tüten/Beutel, Gläser, Kisten, Duschen und was weiß ich nicht alles ist leider keine Seltenheit. Wenn die Situation es erfordert, können die Hemmungen rapide sinken. Wer sich übergeben will, findet selbst in solchen Einrichtungen wie dieser Klinik einen Weg. Das Personal ist bemüht, kann aber nicht jeden Patienten 24 Stunden am Tag observieren und Essstörungen machen einen traurigerweise ungeheuer kreativ. Stichwort: Suchterkrankung. Diese Krankheiten sind mitunter deswegen so unglaublich schwer zu kurieren, weil sie in direkter Wechselwirkung mit Hormonhaushalt, Stoffwechselprozessen und den Botenstoffen im Gehirn stehen, die allesamt maßgeblich am menschlichen Verhalten, Denken und Befinden beteiligt sind.

Gestörtes Essverhalten ist sehr wandlungsfähig und passt sich auch gerne mal den äußeren Umständen an. Deswegen erleben wir gerade bei Alfred das Erbrechen kleinerer Mengen; Erbrechen ist und bleibt sein (momentan einziges) Mittel zur Stress-/Angstbewältigung.

Das Erbrechen fällt nicht allen Betroffenen mit der Zeit leichter. Viele beklagen auch einen Verlust des Würgereflex.

Falls sich jemand für diese Liste der möglichen Folgeerscheinung interessiert, die sich Alfred in Kapitel 17 angesehen hat: http://s7.directupload.net/file/d/3405/q39zyhnj_jpg.htm

...das sollte jetzt hier gar nicht so lang werden... ^^;
Manchmal möchte ich nur gerne etwas sagen, was mir die Erzählperspektive (noch) nicht gestattet, aber für euch vielleicht interessant zu wissen ist? *Idk* Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ja, Alfreds Mutter ist seine leibliche Mutter. Jetzt seid ihr alle vermutlich noch verwirrter als vorher ^^; I’m so sorry.

Es gibt unterschiedliche Formen von Depressionen, sowie es auch unterschiedliche Auslöser gibt. Deswegen sind sich viele Betroffene ihrer Depression nicht bewusst.

Antidepressiva haben, neben einer stimmungsaufhellenden Wirkung, auch andere (Neben)Wirkungen. Bei unserem Sonnenschein hab ich ein Antidepressiva mit angstlösender Wirkung als recht passend empfunden.
Um mit einem Menschen therapeutisch arbeiten zu können, bedarf es einer ansatzweise ‚ruhigen Grundlage’. Alfred ist leider durch sämtliche schlechten Erfahrungen/Gedanken und Gefühle dermaßen blockiert, dass er kaum den Mund aufkriegt und wenn doch, endet das in Angst und Panik. Keinem Patienten ist zumutbar, im Rahmen seiner Therapie von einer Panikattacke in die nächste zu schlittern. Wer schon mal eine Panikattacke erlebt hat, weiß, dass man die auslösenden Situationen anschließend wie die Pest meidet. Also falls jemand denkt, es ist ein bisschen lächerlich von Alfred, sich unter der Decke zu verstecken – nein, ich denke nicht. Angst vor der Angst zu entwickeln, ist klassisch.

Ohne all zu weit auszuholen: Antidepressiva wirken im Gehirn. Ich hab im letzten Nachwort erwähnt, dass Essstörung auch deswegen ein so hartnäckiges Übel sind, weil sie mitunter in Wechselwirkung mit den Botenstoffen im Gehirn stehen. Medikamente und Krankheit bewegen sich also auf dem gleichen Terrain, sozusagen.
Studien zufolge, schlagen Antidepressiva bei Bulimie-Patienten erstaunlich gut an und reduzieren insbesondere die Essanfälle samt anschließendem Erbrechen. Interessanterweise wirken Antidepressiva auch bei Bulimie-Patienten ohne depressive Symptome und erzielen eine nachweisliche Verbesserung. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass Betroffene ausschließlich mit Antidepressiva behandelt und kuriert werden sollten/können.

Es gibt ein psychologisches Konzept namens Erlernte Hilflosigkeit, dem Alfred ob der Erfahrungen/Lebensumstände im Laufe seines letzten Jahres immer mehr verfallen ist und was seine depressive Phase geschürt hat. Wikipedia ist zwar keine Vorzeigequelle, fasst aber recht gut zusammen, was Betroffene verinnerlichen:
-persönlich: Sie sehen in sich selbst das Problem und nicht in den äußeren Umständen.
-generell: Sie sehen das Problem als allgegenwärtig und nicht auf bestimmte Situationen begrenzt.
-permanent: Sie sehen das Problem als unveränderlich und nicht als vorübergehend.

Ein sehr effektives Rezept zum Unglücklichsein. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Tonys Brief wirkt vermutlich etwas eigenartig aufgebaut. Aber ich musste ihn so schreiben, damit man rekonstruieren kann, was Alfred Anfang der Woche geschrieben hat. Ich hoffe, es hat geklappt? :S

Ja, so ganz ohne Konsequenzen ist Alfreds Erbrechen dann doch nicht geblieben. Ess-/Ernährungsprotokolle sind etwas sehr Beliebtes bei der Therapie von Essstörungen. Eben weil sie nicht einfach nur listen, was man isst, sondern auch helfen, die momentane Lebenslage und die daran geknüpften Gefühle zu dokumentieren. Und für Alfred ist’s immer noch sehr wichtig, mal so langsam Worte für sich zu entdecken. Auch wenn abgefuckt universell einsetzbar ist, etwas genauer sollte es schon sein... Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (16)
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Von:  Angel_ER
2013-11-21T19:13:32+00:00 21.11.2013 20:13
Oh Gott! Dieses Kapitel. Dieses Kapitel. Ich musste auch fast anfangen zu heulen. Q_Q Gott! Ich will unseren armen Alfred einfach nur noch in den Arm nehmen und ganz feste knuddeln.
Von:  Angel_ER
2013-10-04T18:43:34+00:00 04.10.2013 20:43
Gott bin ich langsam mit lesen. Egal. Wieder klasse Kapi. Und verdammt ich will auch wissen was mit Feli is.
So mal schaun ob ich mich durch das nächste Kapitel lesen kann, bevor du wieder ein neues hochlädst.

Bis dahin
LG Angel
Von:  Angel_ER
2013-09-11T17:13:18+00:00 11.09.2013 19:13
Oi! Wieder ein ganz tolles Kapitel. Gott hab ich lang gebraucht, bis ich fertig war. Egal. Schön jetzt auch mal Alfred´s Eltern kennengelernt zu haben. Goah! Ich muss das andere Kapi auch endlich lesen, will wissen was passiert ist. Obwohl ich mir schon was denken kann.

Ach ja noch was:

>Konnte er bitte weg und raus und von irgendjemandem nicht entgeistert angestarrt, sondern einfach nur umarmt werden?<

Ohh...komm her Alfie und lass dich knuddeln. *ihn mal richtig durchknuddel*

Also, bis denne!
Von:  Angel_ER
2013-08-02T19:01:40+00:00 02.08.2013 21:01
Wieder ein tolles Kapitel^^ Und am Ende hab ich jetzt irgendwie das Bedürfnis Feli und Arthur zu knuddeln.
Freu mich schon auf´s nächste Kapi.

LG Angel
Von:  Angel_ER
2013-06-30T17:34:24+00:00 30.06.2013 19:34
Wieder ein echt schönes Kapitel. Ich freu mich echt, dass es Alfred immer ein bisschen besser zu gehen scheint.
Also dann, bis zum nächsten Kapi!!

LG Angel
Von:  Sternenschwester
2013-05-21T08:50:27+00:00 21.05.2013 10:50
wirklich super wie du Tony eingebracht hast. Aber auch in der Wortwahl finde ich hast du dich schon verbessert (oder das war mein Eindruck als ich begonnen habe das Kapi zu lesen).
lg, Sternenschwester
Von:  Angel_ER
2013-05-20T19:35:55+00:00 20.05.2013 21:35
Wieder ein echt tolles Kapitel!
Schön, dass Alfred von Tony einen Brief bekommen hat. Aber eine Frage hab ich dann doch: is Tony in der Story hier eigentlich auch ein Alien wie im Original? Und wenn ja, frag ich mich wie Al wohl reagieren würde, wenn er das herausfinden würde.

Wie auch immer, freu mich schon auf das nächste Kapi
LG Angel
Von:  Angel_ER
2013-04-21T17:20:15+00:00 21.04.2013 19:20
Wieder ein echt tolles Kapi.
Und ich finde es auch schön, dass Alfred sich immer mehr zu öffnen scheint.
So, dann sehen wir mal ob seine Eltern zur Familientherapie kommen und was dann noch alles passiert.

Freu mich schon auf´s nächste Kapitel.
LG Angel
Von:  Angel_ER
2013-04-07T17:00:13+00:00 07.04.2013 19:00
Wieder ein geiles Kapi.
Die Idee von Franchis mit den ungenießbaren Gebäcken war eigentlich ganz gut. Aber irgendwie tut Arthie mir doch ein wenig Leid.

Ich hoffe es renkt sich alles wieder ein.

Freu mich schon aufs nächste Kapi.

Lg Angel
Von:  Niekas
2013-03-21T22:59:39+00:00 21.03.2013 23:59
Ich habe das Kapitel gelesen. Mir war übel.
Später am Abend war ich chinesisch essen, musste ohne Zusammenhang an diese Geschichte denken, und mir ist wieder übel geworden.
Nimm all das einfach als Kompliment, denn was du schreibst, geht mir ernsthaft an die Nieren.

Ich mag es, dass du Francis die Rolle als der fürsorgliche/hilflose Freund zugedacht hast, das passt unglaublich gut zu ihm. Ich gebe zu, das mit Arthurs Missbrauch (denn so, wie ich das gelesen habe, hat er einen erlebt) war mir ein bisschen zu... abgenutzt? Ein bisschen zu "schon zu oft gelesen", was an sich natürlich nicht deine Schuld ist. Nur, was mich anfangs an Arthur ernsthaft schockiert hat, war, dass es bei ihm gar keinen Grund für seine Essprobleme zu geben schien. Aber anscheinend gab es doch einen Grund. Was die Sache nicht weniger schlimm macht, aber zumindest etwas greifbarer, wenn du verstehst, wie ich das meine.
Anders ausgedrückt: Ein "Ich habe keine Ahnung, woran es liegt, aber ich bin eben so" hätte mich wirklich, wirklich verstört. Aber ich weiß nicht, ob es so etwas gibt. Wie gesagt... ich kenne mich nicht aus.
Bevor ich noch mehr wirres Zeug schreibe, Daumen hoch und viel Erfolg noch.
Beste Grüße


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