Very Little Talks von Tricksy ================================================================================ Kapitel 2: 2 ------------ Das bestätigte sich mir irgendwie, als am nächsten Morgen in aller Frühe mein Handy klingelte. Ich saß sofort in meinem Bett, fuhr mir einmal durch Gesicht und Haare, ehe ich mit zusammengekniffenen Augen unter der Decke nach diesem Mistding wühlte. Meine Finger erwischten etwas Kühles, und ich zog es hervor. „Hallo?“, lallte ich wütend. „Du hast dein Handy mit ins Bett genommen.“ Ich starrte schläfrig auf meine Decke hinab, ehe ich mir mit einer Hand die Stirn massierte, um aufkommende Kopfschmerzen zurückzudrängen. „Yoshitaka, wenn du nichts Anderes vorhattest als mir zu sagen-“ „Ich mein ja nur“, unterbrach er mich schon viel wacher, als ich mich wohl an diesem Tag jemals fühlen würde. „Hätte es auf deinem Nachttisch gelegen, dann wärst du erstmal wie ein frisch auferstandener Zombie quer durch dein Bett gekrochen, an der einen Seite runter gefallen und hättest erst nach einer halben Ewigkeit abgenommen. Wie geht es dir?“ „Wie es mir geht?“, fragte ich, den Teil mit dem Zombie großzügig ignorierend. Vielleicht auch nur vor Müdigkeit. Ich senkte mein Handy kurz, um auf die Uhr zu schauen. „Alter, wir haben halb Sechs! Wie soll es mir da gehen?!“ „Ich bin schon seit einer halben Stunde auf den Beinen.“ „Schön für dich!“ Mit einer wütenden Bewegung warf ich meine Decke zur Seite und wankte in Richtung Badezimmer, um meinem Gesicht wenigstens einen Schub kalten Wassers zu gönnen. „Jetzt nenn mir den Grund dafür, nicht einfach aufzulegen und weiterzuschlafen.“ „Du bist doch eh schon aufgestanden“, entgegnete er gut gelaunt. „So, wie du da gerade durch deine Bude trampelst ist das auch schwer zu überhören.“ Ich atmete einmal tief durch und schluckte gerade noch eine fahrige Antwort hinunter. Statt mich über diesen Kommentar aufzuregen, legte ich einfach das Handy beiseite und schippte mir gefühlte 100 Liter Wasser ins Gesicht. „Hallo?“ hörte ich es neben mir aus dem Hörer kommen. „Haaallooo!“ Ich blickte grimmig auf das Gerät ab, während ich mich abtrocknete. Dann griff ich wieder danach. „Was hast du eigentlich genommen? Hat dir deine Frau Drogen unter dein Frühstück gemischt?“ Als meine Worte verklungen waren, bekam ich noch schlechtere Laune, torkelte zurück ins Schlafzimmer und ließ mich rücklings aufs Bett fallen. Mein Blick legte sich auf die Lampe direkt über mir. „Speed vom Feinsten“, flüsterte Karyu dann, und ich konnte ihn grinsen hören. „Aber Pscht.“ „Idiot.“ „Deine liebevolle Art kann so unglaublich sein.“ „Könnte ich jetzt bitte erfahren, wieso du mich zu so einer gottlosen Zeit anrufst?“ „So gottlos ist sie gar nicht.“ Es raschelte einmal am anderen Ende, und es klang so, als würde er eine Jalousie hochziehen. „Da ganz weit hinten sehe ich schon, wie der Himmel anfängt zu strahlen.“ „Du siehst bestimmt nur das Atomkraftwerk.“ „Ein Witz aus deinem Mund! Um diese Zeit!“ „Klärst du mich jetzt endlich auf?“ „Ich wollte mich einfach nett unterhalten. Außerdem habe ich doch gesagt, ich rufe dich an.“ Ich fuhr mir mit einer Hand übers Gesicht, das sich längst nicht mehr so wach anfühlte wie nach der Bearbeitung mit dem Wasser. „Und das konnte nicht noch warten?“ „Bis zum Abend haben wir sonst sowieso keine Zeit, denke ich.“ Ein bitteres Seufzen befreite sich aus meiner Kehle. Proben. Merchandise Design. Ein Interview, Planung, Planung, Planung. Das würde ein langer Tag werden. „Und um das zu feiern, hast du mich um eine gute Stunde wohlverdienten Schlafes gebracht.“ „Den kannst du nachholen.“ „Ich frage mich gerade, was ich da gestern losgetreten habe.“ Darauf antwortete er erst einmal gar nicht. Ich konnte ihm eine ganze Weile dabei zuhören, wie er scheinbar in der Küche herumhantierte. Geschirr klapperte, im Hintergrund blubberte ein Wasserkocher, und als ich das Rascheln von Papier, Ryuutarous Maunzen und schließlich Karyus 'Autsch!' hörte, musste ich sogar einen Moment lang lächeln. „Das Mistvieh gibt mir meine Zeitung nicht“, beklagte er sich bei mir. „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.“ Wieder reagierte er nicht, und ich nutzte das Schweigen, um mich wieder aufzuraffen. Ich streckte mich einmal ausgiebig, bis meine Wirbel knackten. Perverser Weise liebte ich dieses Gefühl. Noch immer ein wenig wackelig auf den Beinen bahnte ich mir meinen Weg durch die Wohnung, schirmte in der Küche meine Augen ab, während ich mit dem Ellenbogen nach dem Lichtschalter suchte. Als es brannte blieb ich eine ganze Weile so stehen, um mich daran zu gewöhnen. „Wahrscheinlich was Gutes“, sagte Karyu. Ich machte ein verständnisloses Gesicht und schlurfte zu meiner Kaffeemaschine. „Was?“ „Das, was du losgetreten hast.“ „Oh.“ Ich riss ein wenig grobmotorisch eine Tasse aus einem Hängeschrank und stieß mir den Kopf an der Tür. „Was war das?“, fragte er. Ich rieb mir die Stirn und kniff die Augen zusammen. „Nichts.“ „Vielleicht brauchen wir das wirklich“, fuhr er fort. „Ja“, antwortete ich schlicht. Dann: „Wahrscheinlich hätte ichs sonst nicht gemacht.“ „Guter Junge.“ Ich schnaubte mit verzogenem Mund und hantierte einhändig an der Maschine herum. Auf der anderen Seite der Leitung versuchte Karyu erneut, die Zeitung für sich zu gewinnen. Anscheinend vergebens, wie ich aus seinem Seufzer schloss. „Ich hasse Katzen.“ „Wenn das so wäre, hättest du deine in dieser Kiste liegen lassen.“ „Sowas macht man doch nicht.“ Ich musste daran zurückdenken, wie ich ihn einmal besuchen wollte, und er mir auf einmal mit einem schwarzen Fellbüschel im Arm die Tür aufgemacht hatte. Während ich dabei gewesen war, nonstop auf das Tier zu glotzen, erklärte er mir, dass er mit einem Freund eine ganze Kiste Katzenwelpen gefunden und in einem Tierheim abgegeben hatte. Bis auf die eine. „Die Verehrung für dieses Ding geht zu weit“, erklärte Karyu und rührte klingelnd in einer Tasse herum. „Kenji hat es mit diesem einen Lied echt übertrieben.“ „Ich fands ganz witzig.“ Ich kniff die Augen zusammen, als die Kaffeemaschine mir mit einigen letzten und ziemlich nervtötenden Geräuschen mitteilte, dass sie ihre Arbeit verrichtet hatte. Zusammen mit der dampfenden Tasse setzte ich mich an den Tisch, auf dem noch meine Flasche von letzter Nacht stand. Blitzartig musste ich an Karyus Vertipper denken und wischte mir seufzend übers sich rötende Gesicht. „Was machst du so?“, fragte Karyu. „Du meinst, außer hundemüde zu sein?“ „Ja.“ „Kaffee trinken.“ „Dann haben wir ja was gemeinsam.“ „Wir sitzen echt morgens um kurz vor Sechs Kaffee trinkend herum und telefonieren.“ „Ein bisschen krank ist das schon, oder?“ „Du hast mich angerufen.“ Ich nahm einen Schluck aus der Tasse und biss mir auf die Zunge, als sie zu brennen anfing. „Solltest du nicht lieber deine ehelichen Pflichten erfüllen, statt dein Frühstück mit mir zu verbringen?“ „Was?“, hakte er ein wenig verdattert nach. „Du willst, dass ich jetzt-“ „Nicht so.“ In meinem Magen bildete sich ein Knoten. „Ich meine in puncto Gesellschaft leisten.“ Karyu schwieg und schien darüber nachzudenken, und ich konnte absolut nicht sagen, ob das jetzt gut oder schlecht war. Ich konnte nicht einmal sagen, wieso für mich überhaupt gut oder schlecht zur Debatte standen. „Ich habe die ganze Nacht neben ihr gelegen“, scherzte er schließlich trocken. „Das muss an Gesellschaft fürs Erste reichen.“ „Du scheinst ein scheiß Ehemann zu sein“, scherzte ich mit, doch merkte wie sich der Knoten wieder löste. Ich wusste nicht wie, aber dieser Mann schaffte es, dass der einzige Moment, in dem ich an diesem Morgen nicht mit ihm kommunizierte, eine kurze Dusche war. Ich hatte nicht einmal wirklich mitbekommen, dass wir immer noch redeten, als ich mich längst auf dem Weg zur Arbeit befand – eingequetscht in der Yamanote. „Mist!“, hörte ich am anderen Ende. „Was?“ „Hier bewegt sich GAR nichts!“ Ich wich ein paar Leuten aus, die sich an mir vorbei drückten, um an der nächsten Haltestelle auszusteigen. „Du bist doch nicht etwa echt mit dem Auto unterwegs?“ Karyu antwortete nicht, doch als ich im Hintergrund Gehupe hörte, hatte sich eine Antwort ohnehin erübrigt. „Manchmal glaube ich, du bist erst vor ein paar Tagen nach Japan eingewandert.“ „Sehr witzig.“ Er kramte irgendwo herum, während ich beim Anfahren der Bahn mit einem Haufen anderer Leute herum geschmissen wurde. „Ich habe zu viel Zeug dabei.“ „Lass mich raten, du kannst dich nicht dazu erweichen, mal eine Gitarre in eurem Proberaum zu lassen?“ „Was?! Spinnst du? Doch nicht meine Gitarren!“ Ich rollte mit den Augen, sah dann schließlich an mir herunter und schob die Laptoptasche zurecht, die dank der Unmengen an Leuten, die an mir vorbei gingen, vor meinen Bauch gerutscht war. „Das ist gar nicht so dumm, wie es sich anhört“, sagte ich dann säuerlich. „Ich habe immer einen Ersatzbass vor Ort.“ „Du bist echt ökologisch, Michiya.“ Ich hörte seinen Motor röhren, als er anfuhr. „Manchmal.“ „Was hat das bitte mit ökologisch zu tun?“ „Ich meine, dass du mit dem Zug fährst.“ „Ich für meinen Teil möchte auch rechtzeitig da sein, wo ich hin will. Wetten, du bist in der bisherigen Zeit kaum von der Stelle gekommen? Und wieso telefonierst du überhaupt beim Fahren?“ „Du klingst wie meine Mutter.“ Gerade als ich mich ärgern wollte, wurde ich von einigen Leuten zur Seite geschoben, die mir so die Zeit dazu nahmen. „Du hättest längst auflegen können“, feixte Karyu. „Wenn das hier so ne Art Wettkampf wird, dann kannst du das vergessen.“ „Das ist dein Problem“, sagte er, schimpfte einmal kurz wüst herum und fügte dann hinzu: „Du lässt dich ziemlich leicht anstacheln.“ „Ich lasse mich nicht anstacheln!“, entgegnete ich wütend und erntete damit diverse Blicke. „Ohja, du hast mir eben wunderbar das Gegenteil bewiesen.“ „Dafür bist du besessen!“, hielt ich dagegen. Das war für ein Telefongespräch vielleicht das falsche Stichwort gewesen. „Von was bin ich bitte besessen?“, fragte er angespannt. Ich antwortete nicht, und er hakte auch nicht noch einmal nach. Das Einzige was ich hörte, war der tokyoter Verkehr. In mir rumorte es, und schließlich tastete ich mich zu einem frei gewordenen Platz durch und ließ mich fallen. „Weißt du was?“, sagte ich dann zerknirscht. „Falsche Location für das Thema.“ „Mhm“, machte er nur. Danach hatten wir aufgelegt. Und ich war mit einem ziemlich schlechten Gefühl in der Magengegend aus der Bahn gestiegen und in meinen viel zu langen Tag gestartet. „Und?“, fragte Karyu, als ich ihm öffnete und er an mir vorbei herein gestolpert kam. Ich glotzte ihn verständnislos an, schloss die Tür wieder und musterte ihn einmal von oben bis unten. Er sah aus, wie einmal frisch durchs Wasser gezogen. „Regnet es?“ „Nein es regnet nicht, ich habe nur eine Abkürzung durch das nächstbeste Schwimmbad genommen, NATÜRLICH regnet es! Würdest du nicht ständig über deinem Apple-Gedöns hängen, würdest du das wissen!“ „Guten Abend, übrigens“, merkte ich verstimmt an. Er starrte mich einen Moment lang an, winkte dann ab und schnaubte. Ich verstand die Welt nicht mehr. „Was zur Hölle ist jetzt wieder los? Und was Und?“ „Ich kann dir gern sagen, was los ist.“ Er wischte sich einmal übers Gesicht und schüttelte seine Hand aus. Ich sah einige Wassertropfen auf meinem Boden landen. „Ich habe einen Zwölf-Stunden-Tag hinter mir, davon habe ich mir gute vier Stunden den Kopf über irgendwelche Lieder zerbrochen und bin sowas von NULL voran gekommen, und deine Anmerkung, dass ich angeblich von irgendwas besessen bin, hat mir die Konzentration natürlich enorm erleichtert! Und außerdem-!“ Er rang mit den Händen in der Luft. „Ich stinke total von der Probe!“ „Willst du duschen?“, fragte ich hilflos. Er deutete mit einer ausschweifenden Geste an sich herab und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Das habe ich schon!“ „Ich gehe stark davon aus, dass du nicht nackt hierher-...“ Ich stockte. „Du bist also direkt-“ „Sonst wäre ich ja in tausend Jahren noch nicht dagewesen!“ Ich starrte ihn ungläubig an und zuckte zusammen, als er sich auf einmal eine Hand vor die Stirn schlug. „Die Katze! Die Katze muss gefüttert werden!“ „Ich bin mir fast sicher, deine Frau hat das erledigt.“ „Oh. Ja. Wahrscheinlich.“ „Komm“, seufzte ich, schob ihn ins Wohnzimmer und zog ihm dabei die Jacke aus. „Du stinkst ja wirklich.“ „Danke für die Blumen.“ Ich zuckte mit den Schultern, musste ihn beinahe zwingen sich zu setzen und verschwand mit seiner triefenden Jacke im Bad, um sie ins Waschbecken zu legen. Als ich mich umdrehte um zurückzugehen, schrie ich einmal auf und machte einen Satz zurück, doch ehe ich in die Dusche stürzen konnte, hielt ich mich krampfhaft an den Türen fest. „Was zum Teufel machst du da?“, fragte Karyu mit verzogenem Mund. Er stand in der Badezimmertür, die er mit seiner Größe voll ausfüllte und sah wie ein verregneter Verbrecher aus. „Ich würde doch gerne duschen, denke ich“, fügte er dann höflicher hinzu. Ich nickte, atmete einmal durch und befreite mich aus meiner verwickelten Position. „Klar.“ „Hast du... hast du Sachen für mich?“ „Sicher.“ Während er hereinkam zog ich wahllos ein paar Handtücher aus einem Fach, legte sie ihm hin und verschwand, um irgendwas zum Anziehen zu suchen. Ich griff einfach in meinen Schrank hinein, nahm von jedem etwas und ging zurück zum Bad. „Ich habe keine Ahnung, ob dir das passt“, sagte ich, während ich die Tür öffnete. „Aber dir bleibt wohl nichts Anderes als es- Herrgott, was MACHST du da?!“ Ich schmiss ihm die Sachen hin und schlug mir beide Hände vor die Augen. Es rumpelte, er fluchte und schließlich landete irgendwas ziemlich laut auf meine Toilette. „Was ich mache?!“, fragte er erhitzt. „Ich zieh mich aus! Sowas macht man normalerweise, wenn man duscht! Und jetzt stell dich nicht so an, als hättest du noch nie meinen-“ Er brach ab und es herrschte eine ziemlich seltsame Stille. „Den Satz nicht zu ende führen?“ „Den Satz nicht zu ende führen“, bestätigte ich. „Okay. Du bist übrigens außer Gefahr.“ Ich traute mich vorsichtig, zwischen meinen Fingern hervor zu schielen und nahm meine Hände schließlich ganz herunter. Karyu saß oben ohne auf dem Toilettendeckel und hatte die Sachen, die ich ihm gebracht hatte, scheinbar aufgefangen und sich in den Schritt gepresst. Auf Höhe seiner Waden hing immer noch seine klitschnasse Hose, dank der er wohl herumgestolpert war. Auf seiner Nase und der Stirn hatte er rote Striemen, die wahrscheinlich Überbleibsel des Kampfes mit seinen Oberteilen waren. Seine Haare standen ihm halbtrocken und wüst vom Kopf ab. „Das...“, setzte ich langsam an und suchte nach Worten. „Das ist... ein Bild für die Götter.“ Er zeigte mir den Mittelfinger. „Wenn du jetzt mit deinem iPhone kommst, bist du tot.“ „Jaja.“ Ich erwiderte die Geste und verschwand. Während ich nur einige Meter weiter die Dusche penetrant prasseln hörte, saß ich einfach auf der Couch und starrte die Wand an. Und bestimmt nicht weniger erfolgreich als am vorigen Abend. Das war auch genau der Moment, in dem mir wieder einfiel, dass ich mir ja die Zeit damit vertreiben könnte, mir den Kopf zu zerbrechen. Über Karyu. Über mich. Über das, was aus uns geworden war, und vor Allem wieso. Darüber, wieso ich mir über diesen ganzen Scheiß überhaupt den Kopf zerbrechen musste. Ich holte tief Luft und stieß sie langsam wieder hervor, rollte dabei die Bierflasche in meinen Händen hin und her und hielt sie ins Lampenlicht, um sie zu betrachten. War ich vielleicht ein totales Weichei? War ich der einzige Mensch auf dieser Erde, der sich dachte, es muss irgendwas geklärt werden, obwohl es auf den ersten Blick nichts zu klären gab? Wieso versuchte ich überhaupt, in irgendwas herumzugraben? Ich führte die Flasche näher an mein Gesicht und schielte auf das grüne, durchleuchtete Glas. Wahrscheinlich war das nur diese absolut beschissene Stimmung am Vorabend gewesen. Man hätte ja beinahe glauben können, irgendjemand wäre gestorben. Ich entfernte die Flasche wieder ganz langsam von meinem Gesicht, wandte aber meinen Blick nicht ab. Dann ließ ich sie wieder näher kommen. Karyu und ich sahen scheiße aus, weil Umstellungen nicht innerhalb eines Jahres zu bewältigen sind. Wir sahen scheiße aus, weil wir viel Stress hatten, weil wir uns erst an die neuen Umstände gewöhnen mussten, weil das alles eine völlig andere Welt war als die vor dem Disbanding. Es musste schließlich weiter gehen. Ich übertrieb es einfach nur. „Sag mal, was wird das, wenns fertig ist?“ Mein Blick schreckte hoch und ich stellte die Flasche auf dem Tisch ab. Karyu hatte eine Augenbraue gehoben und sah zwischen ihr und mir hin und her. „Was?“ „Du wolltest gerade dein Bier hypnotisieren.“ Ich schloss einmal die Augen und rieb mir übers Gesicht. „Wie lange bist du schon hier?“ „Lange genug, ums eigenartig zu finden.“ Er ließ sich neben mich fallen und verschränkte die Hände im Schoss. Die Ärmel des Pullovers, den ich ihm gegeben hatte, hörten weit über den Handgelenken auf, als er sich vorbeugte, um nach seiner Flasche zu greifen, wurde sein halber Rücken entblößt. Mein Blick wanderte zu seinen Beinen – die Hose hörte irgendwo auf der Hälfte der Schienbeine auf. „Du siehst toll aus“, sagte ich, um meinen Ernst bemüht. „Ja, oder?“ Er zupfte an seinen Sachen herum und warf sich in ein paar lächerliche Posen. „Ich wollte dich sowieso fragen, ob ich alles behalten darf.“ Er grinste kurz und ich ließ mich anstecken, doch dann musterte er mich durchdringend. „Also“, setzte er schließlich gefasst an und nahm einen Schluck Bier. „Von was bin ich besessen?“ Ich schluckte unmerklich und tastete blind nach meiner Flasche. Über diese Badezimmer-Episode hatte ich vergessen, mit was für einer Laune er mir die Tür eingerannt hatte, an der ich scheinbar nicht wenig Mitschuld trug. Seine Augen flogen abwartend über mein Gesicht, und er machte irgendwie einen entrüsteten Eindruck. Einen verständnislosen. Ich hatte es doch nicht übertrieben. „Du musst immer der Erste sein“, fing ich leise an und klammerte mich an mein Getränk. „Du musst immer alles selbst machen. In deinem Leben hast du noch nie Arbeit an andere abgegeben.“ Ich hatte damit gerechnet, dass er mir vielleicht seine Flasche über den Kopf zog oder wenigstens wütend wurde. Stattdessen saß er einfach nur da und musterte mich. „Ich glaube, ich weiß wieso“, redete ich mutig weiter. „Du willst nicht, dass man vergessen könnte, dass etwas von dir ist. Hab ich recht? Jeder soll wissen, was du geschafft hast.“ „Früher hat es dich nicht gestört. Es hat euch alle nicht gestört.“ Es dauerte einen Moment, bis ich mir darüber bewusst wurde, dass er mir gar nicht widersprach. War ich gerade dabei, diesen Mann zu knacken? „Du zelebrierst diese Eigenschaft viel exzessiver als früher. Abgesehen von unserer Anfangszeit, aber auch die übersteigst du.“ Er fixierte mich, senkte dann seinen Blick auf das Bier und nahm einen Schluck. „Irgendwie muss man schließlich Fuß fassen.“ „Fuß fassen?“ Ich schnaubte und schüttelte Augen verdrehend den Kopf. „Bei Angelo musst du nicht Fuß fassen Du bist ein Schwergewicht in der Musikbranche hier, und sie haben dich ausgesucht. Wenn sich irgendwer irgendwo einen Namen machen muss, dann eher sie bei dir.“ Ich redete Scheiße. Absolute Scheiße. Das alles klang ja beinahe so, als hätten sie ihn von der Straße weggefangen und gezwungen bei ihnen mitzumachen. Er tat es freiwillig. „Yoshitaka“, setzte ich an, nur um irgendwas zu sagen. Ich wusste im Augenblick nicht weiter. Er musterte mich noch immer und wog dabei die Bierflasche in den Händen hin und her. Es begann mich mit einem Mal unheimlich aufzuregen, dass er gar nichts sagte. Könnte er mich nicht wenigstens anpöbeln? Mir auf seine eigene nicht selten eher derbere Weise mitteilen, dass ich wahrscheinlich total abdrehte? Ich atmete einmal tief durch und schloss für einen Moment die Augen. „Du-“ „Ich bin nicht besessen.“ Ich stutzte und sah ihn verdattert an. Seine Augen lagen auf der Flasche, die er immer noch hin und her schwang, schließlich mehrere große Züge nahm. Erst dann sah er wieder auf. „Du hingegen schon.“ „Ich-“, setzte ich an. „Ich-... was?!“ „Eine Tatsache.“ „Und von was bitte?“ „Von Apple, zum Beispiel“, kam es postwendend. Ich hob meine Hände, um wild zu gestikulieren, doch mir fiel nichts ein, das ich dabei sagen könnte. „Von Alkohol“, fuhr er ruhig fort. „Von Alkohol?“ „Manchmal habe ich hier das Gefühl, dass du die Nächte damit verbringst, Bars auszurauben.“ „Das sind doch nur-“ „Hundert Flaschen? Neunundneunzig?“ Ich könnte mich nur mit Mühe davon abhalten, im Kopf nachzuzählen. „Achtundneunzig?“, fragte er weiter. „Weit drunter!“ Er prostete mir zu und nahm einen weiteren Schluck Bier, während ich meine eigene Flasche lustlos viel zu laut auf dem Tisch abstellte. „Ich würde mich ja liebend gerne darüber aufregen“, erklärte ich schließlich so ruhig wie möglich, „aber erstens lasse ich mich ja bekanntlich nicht anstacheln und zweitens hätte ich Besseres erwartet, wenn du schon von der eigentlichen Sache ablenken willst.“ „Ablenken?“, wiederholte er unschuldig, und ich merkte wie ich meine Zähne zusammenbiss. „Warum?“ Als er erneut die Flasche ansetzen wollte, hielt er inne und betrachtete sie nur. Es wirkte auf einmal so, als wäre es ihm unangenehm mich anzusehen, und das bekräftige mich in meiner Meinung, dass ich anscheinend auf dem richtigen Weg war. Er wusste genau, wovon ich redete. „Ich dachte, das wäre gestern geklärt worden. War das nicht eine Art Abmachung, dass wir darüber-“ „Nein.“ Ich sah dabei zu wie er seine Flasche neben die meine knallte und mich angespannt anfunkelte. Mein Mund öffnete und schloss sich einige Male. „Es gab nie eine Abmachung. Es ist auch nie etwas geklärt worden. Weißt du was wir gestern gemacht haben?“ Er stand so rasant auf, dass ich leicht zusammenzuckte und ihm verwirrt mit meinen Blicken folgte. Er ging einmal um das Sofa herum und stellte sich direkt vor die Tür, die in den Flur führte. In den viel zu kurzen Sachen und mit den Schatten, die er warf, sah er aus wie ein surreales, verzogenes Abbild von Slenderman, der gerade seinen Anzug in der Reinigung hatte. „Hier haben wir gestanden“, sagte er und drehte sich zu mir um. „Genau hier. Wir haben uns gestritten, dabei gegenseitig unterbrochen, dann habe ich mich unglaublich scheiße gefühlt, du dich auch und dann-...“ Er ging einen Schritt weiter. „Dann haben wir uns genau hier heulend in den Armen gelegen, weil uns das Leben so heftig in den Arsch getreten hat, dass wir beide jetzt aussehen wie wandelnde Leichen. Das ist die traurige Wahrheit darüber, was sich gestern hier geklärt hat. Nicht mehr, und nicht weniger. Im Grunde also nichts.“ Ich starrte ihn an und er starrte zurück. Aus irgendeinem Grund pumpte sich Adrenalin in so einer Geschwindigkeit durch meinen Körper, dass ich dachte, ich würde mich auf einem Lauf um mein Leben befinden. „Und heute morgen fandest du meine Idee komischerweise noch ziemlich gut.“ „Morgens ist alles besser!“ „Also lassen wirs?“ Sein Blick driftete ins Verwirrte, als er realisiert hatte, was ich damit sagte. „Sollen wir es lassen?“, fragte ich nochmal, während ich mich ebenfalls erhob. „Das scheinst du ja zu wollen.“ Er hob die Hände und ließ sie wieder sinken. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust. „Von mir aus können wir so weiter machen, wie bisher“, log ich und kam ihm entgegen. „Wir können herum sitzen, uns irgendetwas in die Taschen lügen und dabei trinken ohne Ende. Und – oh! - ich bekomme gerade ein Déja Vue!“ Mit einem fahrigen Nicken deutete ich zwischen uns und ahmte seine Haltung nach. „Das ist die beste Ausgangsposition überhaupt! Vorausgesetzt, wir wollen wieder streiten und irgendetwas nicht klären, weil du ja offensichtlich zu nichts Anderem in der Lage bist!“ Die Hand kam schneller auf mich zugeflogen, als ich reagieren konnte. Wie angewurzelt blieb ich an Ort und stelle stehen, sah dabei zu, wie Karyu einen Satz auf mich zumachte und zum Schlag ausholte. Direkt vor meinem Gesicht stoppte er ab und ich wurde bleich. Wunder Punkt. „Das“, setzte ich an, konnte aber nicht verhindern, dass mir die Stimme versagte. „Wäre sowas von unter deinem Niveau gewesen.“ Karyu antwortete nicht. Selbst blass geworden, ließ er seine Hand wieder sinken, während seine Augen über mein Gesicht flogen. „Ist es das?“, fragte ich schließlich bitter und versuchte mir meinen Schock nicht ansehen zu lassen. „Das Einzige, was du nicht kannst?“ „Wer sagt, dass ich so etwas nicht kann?“, fragte er leise. „Du tust es nie. Haben wir das nicht schon gestern-“ „HERRGOTT, wieso interessiert dich das alles so sehr?! Hast du nichts Anderes zu tun, als mir zu sagen, dass ich reden muss, dass ich besessen bin oder nicht über mich reden kann?! „ „Weil ich dir helfen will!“ „Wieso willst du mir helfen?!“ „Weil ich dich liebe, du beknackter Vollidiot!“, brüllte ich ihm entrüstet ins Gesicht, und merkte, wie der Boden unter meinen Füßen verschwand. „Du bist so ziemlich das dämlichste, das sturste, das-“ Ich gestikulierte und suchte nach Worten, während ich vor Scham und Wut hochrot im Gesicht wurde. „Das undankbarste Stück... japanischer, genialer Scheiße, das ich je kennengelernt habe, aber ich LIEBE dich!“ Er starrte mich an und Schweigen breitete sich aus. Vielleicht würde er die Ohrfeige ja noch nachholen. „DAS“, sagte er dann und hob dabei einen Arm, sodass ich zusammenzuckte und mich vorsichtshalber von ihm weg lehnte. „Das war-“ Er begann wie ich zu gestikulieren. „Die lausigste Liebeserklärung, die ich je bekommen habe! Scheiße!“ Beim letzten Wort stampfte er so kräftig auf den Boden, dass sogar ich die Vibration spüren konnte. Doch eigentlich war mir das egal. Mir war gerade alles egal. Ich Idiot hatte ihm gerade aus einer gefühlten Ein-Millimeter-Entfernung ins Gesicht geschrien, dass ich ihm nicht ganz abgeneigt war. Hatte ich dabei gespuckt? Hatte er dabei auf meiner Haut irgendwo einen Pickel entdeckt, der ihn erst zu diesem Scheiße-Ausruf verleitet hatte? Ich wollte nichts lieber, als die Zeit zurückdrehen zu können. Am besten genau zu dem Moment, bevor ich meine Klappe aufgerissen hatte. „Und außerdem!“, fuhr ich einfach fort, um ihm gar nicht erst die Möglichkeit zu geben, richtig auf Gehörtes zu reagieren. „Außerdem! Du- DU! Du treibst mich in den Wahnsinn mit deinem kryptischen Gehabe, WANN in deinem Leben hast du jemals-“ „Cut!“ „- irgendwem WIRKLICH einmal die ganze Wahrheit-“ „CUT!“ „-gesagt?! Hast du noch nie davon gehört, dass es auch mal ganz gut tut, sich jemandem-“ „MICHIYA! CUT, CUT, CUT!“ Ich wollte weiter reden, doch er presste mir eine Hand auf den Mund, die ich wütend versuchte wieder loszuwerden. Mit einem schrillen, dumpfen Geräusch machte ich meinem Unmut darüber Luft. „Könnten wir bitte ein wenig zurück rudern? Zum Beispiel zu der Stelle, wo du eindeutig so etwas wie Ich liebe dich gesagt hast?“ Ich musste ihn anstarren. Das, was ich sah, gefiel mir überhaupt nicht. Er war blass. Er war versteift. Er konnte und wollte wahrscheinlich gar nicht glauben, in was das eskaliert war. „Nein!“, rief ich, als er mich endlich losließ. „Können wir nicht! Vergiss es einfach, okay? Das ist mir so rausgerutscht!“ „Ich finde wirklich, wir sollten-“ „WIESO kannst du diese Tatsache nicht einfach hinnehmen und es einfach gut sein lassen?!“ „Kennst du irgendeine Person, die so etwas könnte?!“, fragte er laut und ballte die Hände zu Fäusten. Er wurde immer blasser. „Und außerdem – der Teil mit der japanischen Scheiße macht mir schon verdammte Sorgen!“ „Ich verstehe einfach nicht, wieso man über so etwas reden muss!“ „Du hättest es nicht sagen müssen!“ „Du hättest mich ja davon abhalten können! Du hättest darauf vorbereitet sein können!“ „Wie zur Hölle DAS denn?!“ „Heilige Scheiße, Yoshitaka, war das wirklich SO unoffensichtlich?!“ Karyu öffnete seinen Mund, schloss ihn aber sofort wieder. Sein verdatterter Blick scannte mich von oben bis unten ab, und ich kam mir unheimlich nackt vor. „Hast du es die ganzen Jahre echt nicht geschnallt?“, fragte ich erhitzt weiter. „Und dann wunderst du dich noch, dass ich dich ein Stück dämlicher-“ „Könnten wir diese Bezeichnung bitte überspringen?!“ „Hast du dich nie gewundert, wieso deine Frau mich wie die Pest meidet?!“ Ich griff mir wüst in die Haare und zog unterbewusst an ihnen, wahrscheinlich um irgendwie wieder zur Besinnung zu kommen. Dann traf es mich wie ein Schlag. Ich hatte quasi das Stichwort gegeben. Im Augenwinkel konnte ich sehen, dass Karyu sich rührte, vermied es aber ihn anzusehen. „Ich bin verheiratet“, sagte er schließlich mit einer erschreckend festen Stimme. Sie nahm mir sofort die Kraft dazu so etwas wie Oh, das wusste ich nicht! zu entgegnen. Schließlich traute ich mich ihm ins Gesicht zu blicken. Und da bekam ich Angst. „Warum?“, fragte ich leise, als ich mir zutraute unter seinem distanziertem Blick überhaupt etwas zu sagen. Er reagierte darauf nicht. Stattdessen warf er einen vagen Blick in Richtung Badezimmer, in dem er seine Jacke wusste. Übelkeit stieg in mir auf. Es dauerte einen Moment, bis ich realisierte, dass Karyu sie längst holen gegangen war. Hinter mir raschelte es im Bad, dann kam er angezogen wieder heraus und stellte sich an die gleiche Stelle wie zuvor. „Ich gehe jetzt“, sagte er. „Warum?“, fragte ich wieder wie von selbst. Er schaute mich hilflos an. „Weil ich eben besser-“ „Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Warum? Weil du es nicht willst oder weil du es nicht packst?“ Ich betrachtete ihn mit verzogenen Mund und wartete vergeblich auf eine Antwort. Und als er mit einem leisen „Man sieht sich.“ durch die Tür verschwand, hatte ich das unheimliche Bedürfnis, mir die Kugel zu geben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)