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Eine Weihnachtsgeschichte
von

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Eins

Die klirrend kalte Luft brannte in seinen Lungen. Bei jedem Atemzug bildeten sich weiße Wölkchen vor ihm und verschwanden im Dunkel der Nacht. Dabei war es gar nicht mehr wirklich Nacht. Es war noch stockdunkel, doch heute war er später dran als sonst. Trotzdem war weitaus weniger los. Die Straßen jenseits der knorrigen Bäume, die den Rand des abgelegenen Parks säumten, waren noch leer. Nur ganz vereinzelt hörte er das gedämpfte Knirschen des Schnees, wenn ein Auto vorbei fuhr. Kein Wunder, schließlich war an diesem Tag der zweite Advent.

Kai machte sich nichts daraus. Er hatte nie gelernt was Weihnachten war, und als er dann nicht mehr in der Abtei gelebt hatte, war es ihm einfach egal. Irgendeinen Gott anzubeten, der ihm eh nicht half, hatte er nie für sinnvoll empfunden, also brauchte er auch keine dieser Bräuche zu beachten. Es war ihm daher auch egal, dass alle auf nett taten, Geld für unsinnige Geschenke und Stromrechnungen zum Fenster raus warfen, und dabei auch noch Spaß hatten. Das, was ihn störte war, dass die Menschen sich alle verrückt benahmen. "Der Weihnachtsvirus", hatte Ian mal aus Spaß gesagt, dabei war ihm Weihnachten ans Herz gewachsen. Ian liebte alles was damit zu tun hatte. Kai gönnte es ihm. Der Kleine war als letztes zu ihnen in die Abtei gekommen, und hatte nicht so lange gelitten wie die Übrigen. Er hatte sich noch etwas von seiner Lebensfreude bewahren können. Deshalb sah ihre Wohnung dementsprechend aus: Lichterketten im Wohnzimmer und Plätzchendosen in der Küche verrieten Ians Leidenschaft. Das waren die wenigen Zugeständnisse die Kai zuließ. Leider konnte man nicht sagen, dass Ians Backkünste ihn für den ganzen Kitsch entschädigen könnten. Schon gar nicht, wenn Bryan da so heimlich eine nicht ganz legale Zutaten beimischte, was allerdings nur selten vorkam. Das einzige Gute, was er an Weihnachten fand - und das gestand Kai sicher niemandem - war heißer Glühwein mit Wodka.

Wie jeden Morgen joggte er auch an diesem, um sich fit zu halten, und der Enge der Wohnung zu entkommen. Es bließ ihm auch den Kopf frei. Sein Blick schweifte ohne wirkliches Ziel durch den Park und blieb an den dicken Ästen hängen, die sich unter den Schneelasten bogen. Ab und an hingen Eiszapfen von ihnen herunter. Die vergangenen Tage waren ziemlich kalt geworden. Die Kälte konnte ihn allerdings nicht von seinen Läufen abhalten. Das Wetter spielte hierbei nämlich keine Rolle. Wie das gute Sprichwort sagte: Es gibt kein schlechtes Wetter. Nur unpassende Kleidung.

Ein leises Geräusch im Schnee ließ seinen Blick in die Richtung wandern. Es hätte eigentlich nur ein Tier sein können, oder ein Frühaufsteher. Natürlich war sich Kai dessen bewusst, doch er war mit Misstrauen und gewissen Reflexen groß geworden. Er konnte die Ursache des Geräusches nicht erkennen. Es machte ihn unruhig, deshalb verlangsamte er seine Schritte, sodass ihre gedämpften Töne nicht keine anderen überdeckten. Sein rythmischer Atmen passte sich seinem neuem Tempo an. Erneut vernahm er die Bewegung im Schnee und sah jetzt ein wenig entfernt etwas Dunkles hinter einem kleinen Schneehügel liegen. Erst wollte er einfach vorbei laufen, doch dann siegte ungewöhnlicherweise seine Neugier. Denn Gefahr schien nicht von dem Wesen auszugehen. Als er näher kam, erkannte er Stoff. Jemand lag dort eingerollt im tiefgefrorenen Schnee. Zu klein für einen Erwachsenen. Ein leichtes Zittern ging von der Gestalt aus. Das Kai seine Jacke über das frierende Kind gelegt hatte, registrierte er erst so richtig, als er selber fröstelte. Was musste das für ein unbewusster Impuls gewesen sein. Sonst gab er so etwas nie nach.

"Hey!", sagte er laut und rüttelte den kleinen Körper. Unter der schwarzen Jacke, die das Kind vorher getragen hatte, kamen kurze dunkle Haare hervor. Irgendwas ließ Kai stutzen. Er konnte erst nur seinen Hinterkopf sehen, denn der Junge hatte sich so eng gegen die Kälte zusammengerollt, dass sein Gesicht unter einem Arm halb verborgen lag. Die Frage war: Was tun? Viele Möglichkeiten hatte Kai nicht. Er wusste ganz genau, wie gefährlich es war, im Schnee zu erfrieren. Ihm war es damals selber fast passiert. Er hoffte, dass es nicht schon zu spät war. Da der Junge nicht reagierte, schob Kai einen Arm unter seinen Oberkörper und den anderen unter die kleinen Kniekehlen und hob ihn hoch. Er war leicht. Er musste zwischen acht und neun Jahre alt sein. Um ihn nicht noch mehr auszukühlen hielt er ihn nah an seiner Brust und versuchte ihn nicht zu viel zu bewegen. Ich muss ihn in ein Krankenhaus bringen, dachte er. So lief er mit schnellen Schritten los, um den Park zu verlassen. Er beeilte sich, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren. Die Uhr tickte. Kai blickte auf den Jungen herab. Nun da er sein Gesicht sah, schlugen die Erinnerungen an damals auf ihn ein. Er fühlte sich so sehr an sich selber erinnert, dass er sich fragte, ob er nicht genauso ausgesehen haben musste. Hätte Tala ihn damals nicht gefunden, dann wäre er im Schnee erfroren. Er schluckte und schloss ganz kurz die Augen. Schloss die Erinnerungen weg. Der Junge sah erschöpft aus und seufzte angestrengt. Dann öffnete er die Augen und sah Kai an. Sein Blick war trüb und müde. Das dunkle Rot seiner Iris irritierte Kai. Genau diese Farbe hatten seine eigenen Augen. "Nicht...bitte nicht ins... ins Krankenhaus", bat er schwach. Er sprach so leise, dass Kai dachte, er hätte sich das nur eingebildet. Doch dieser Blick, so erschöpft er auch war, dieser Blick war so unglaublich eindringlich. Kai zog die Nase kraus. Verstehen konnte er den Kleinen. Das hieß aber nicht, dass im das gefiel. Wahrscheinlich trug die ungewöhnliche Augenfarbe des Jungen dazu bei, dass er auf ihn hörte.
 

Als es an der Tür klingelte, hatte Tala keine Lust zu öffnen. Er wollte seine Ruhe haben und niemanden sehen. Und Kai konnte es ja wohl nicht sein. Wenn der mal seinen Schlüssel vergessen hätte, dann wäre das echt ein Wunder. So blieb Tala einfach auf der Couch liegen. Er hatte schlechte Laune, da Ian die halbe Nacht mit einem dudenlden Plüschweihnachtsmann durch die Wohnung gelaufen war. Und dieses penetrante "Ho! Ho! Ho!" war bis in jedes Zimmer zu hören gewesen. Als Kai dann in aller Frühe aus dem Haus gegangen war, konnte Tala auch nicht mehr schlafen. Mürrisch hatte er dann auch noch feststellen müssen, dass der Kaffe alle war und er verdammt noch mal nicht wusste, wo er Sonntagsmorgens vor sieben Uhr neuen kaufen sollte. Abermals klingelte es. Diesmal zwei mal hintereinander. Und fünf Sekunden später noch einmal. Genervt stand Tala auf und drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage. "Haben Sie mal auf die Uhr gesehen?", blaffte er.

"Mach die verdammte Tür auf, Tala!"

Das war doch Kais Stimme. Er klang mehr als gereizt.

"Du hast doch einen Schlüssel", sagte er, drückte aber trotzdem auf den Öffner. Zwei Minuten später hörte er Kai die Treppe rauf hechten. Täuschte sich Tala, oder klangen sein Schritte schwerer? Meist ließ ihn sein Gehör nicht im Stich. Auch dieses Mal hatte er recht. Verwirrt schaute er seinen Freund an, als er auf dem Absatz ankam, und eilig an ihm vorbei in die Wohnung schritt. Ein dunkles Bündel lag in seinen Armen.

"Was...?!", begann er doch Kai brachte ihn mit einem schnellen Blick zum Schweigen. Er legte das Kind auf die weiße Couch. Schnell verschwand er im Bad und riss die Schränke auf. Als er gefunden hatte, was er suchte, warf er Tala die alte dunkelblaue Wärmflasche zu. "Heiß machen!", befahl er und riss Talas Zimmertür auf. Unter dessen Bett holte er die Ersatzdecke hervor und kam ins Wohnzimmer zurück. Das alles dauerte keine drei Minuten. Immer noch perplex stand Tala im Zimmer, die Wärmflasche in der Hand und keine Ahnung was hier vor sich ging. Aber Kai war so ernst, dass er lieber tat was er sagte. Er ging in die Küche und stellte den Wasserkocher an. Dann siegte seine Neugier und er betrachtete den Jungen auf der Couch. Kai hatte inzwischen zwei Jacken auf den Boden geworfen. Die eine gehörte Kai und aus ihrer Tasche ragte auch sein Schlüsselbund. Das erklärte natürlich, warum er selber nicht die Tür aufschließen konnte. Die andere war viel kleiner, aber immer noch zu groß für das Kind, welches jetzt unter der Decke aus Talas Zimmer lag. Zusammengerollt und zitternd sah er wirklich Mitleid erregend aus. "Kannst du mir jetzt mal erklären, was genau hier los ist? Wer ist das?", fragte Tala etwas gereizt, als er versuchte das heiße Wasser in die Wärmflasche zu gießen, ohne sich zu verbrennen.

"Ich hab ihn im Schnee gefunden", war alles was Kai dazu sagte.

Tala hasste es, ihm alles aus der Nase ziehen zu müssen. "Du weißt schon, dass das Krankenhaus näher und einfacher gewesen wäre?"

"Er wollte nicht", antwortete Kai und erinnerte sich an die schwache Stimme. Er nahm Tala die Wärmflasche aus der Hand, und schob sie unter die Decke.

"Ach, und nur weil ein halb erfrorenes Kind dir etwas sagt, hörst du direkt auf ihn?", bemerkte Tala unfreundlich. Als Kai nicht antwortete fügte er hinzu: "Was willst du machen wenn er aufwacht?"

"Das entscheide ich dann."
 

Dreieinhalb Stunden lang schlief der Junge auf der Couch. Nach einer Weile hatte das unkontrollierte Zittern nachgelassen, bis es schließlich ganz aufhörte. Kai hatte am Fenster gesessen und der Stadt beim erwachen zugesehen. Die Dämmerung war langsam und kriechend gekommen und jetzt tauchte die fahle Wintersonne die Dächer der Stadt in silbergoldenes Licht. Immer mehr Menschen waren auf den Straßen auszumachen und alle von ihnen waren in dicke Mäntel und Jacken gehüllt. Kai hatte selber gefroren, als er zurück zur Wohnung gelaufen war. Aber der Kleine hatte die Jacke mehr gebraucht als er.

Als Kai zu ihm rüber schaute, sah er grade, wie der Junge die Augen öffnete und sich umsah. Ihre Blicke trafen sich nach einer Weile und der Kleine schaute ihn unverwandt an.

"Wie heißt du, Kleiner?"

Der Junge richtete sich auf. Es dauerte etwas, bis er eine bequeme Position gefunden hatte. Strähnen dunkler Haare hingen ihm ins Gesicht, und er wischte sie langsam beiseite. "Ilija", antwortete er. "Bist du Kai?"

Kai stutzte, behielt aber seine neutrale Miene bei. Woher kannte der Kleine seinen Namen?

Tala streckte in dem Moment den Kopf aus der Küche ins Zimmer. Als er sah, dass der Kleine wach war, trat er herein und musterte ihn. Nach drei Sekunden schaute er zu Kai und zurück zu Illja. "Der sieht genauso aus wie du!", entfuhr es ihm. "Er hat zwar dunklere Haare als du, aber die Augen... und die Form eurer Gesichter..." Tala ließ den Satz in der Luft hängen und ein amüsierte Ausdruck trat auf sein Gesicht. Wusste gar nicht, dass du schon Kinder hast. Gibt es da noch mehr von denen du mir erzählen möchtest, Kai?"

Kai schnaubte nur. Er sah Illja an. "Was hast du allein im Schnee gemacht?", fragte er analytisch.

"Na ich hab dich gesucht." Er wich Kais verwirrtem Blick nicht aus.

"Mich?"

"Ja. Ich hab mich aus dem blöden Waisenhaus raus geschlichen um dich zu suchen. Ich will einfach nicht mehr da sein und immer weiter gereicht werden. Ich hab das satt!"

"Aber wieso suchst du ihn, Kleiner?", wollte nun Tala wissen.

"Ich heiße nicht 'Kleiner'", beschwerte er sich. "Mein Name ist Illja. Illja Alexander Hiwatari. Und Kai ist mein Großer Bruder."
 

FORTSETZUNG FOLGT :D

Zwei

Illja war noch immer schwach. Er ließ sich zurück auf das Kissen sinken, da keiner antwortete. "Kann... kann ich was zu trinken haben?"

"Ich habe keinen Bruder." Kais Stimme klang tonlos.

"Warte kurz", sagte Tala und packte Kai am Arm. Er zog ihn in die Küche und schloss die Tür. Einen Augenblick sahen sie einander an und schwiegen. Kai wandte sich ab, und da er auch nicht den Anfang machte, tat Tala es. "Er sieht dir ähnlich." Als Kai immer noch schwieg, redete er einfach weiter. "Ich könnte mir vorstellen, dass er die Wahrheit sagt und das würde bedeuten, dass deine Eltern..."

"...dass sie nicht tot sind? Willst du dass sagen? Das Einzige was sicher ist, ist dass sie vor zehn Jahren noch gelebt haben. Was meinst du, warum der Junge da im Waisenhaus war?" Er hatte sichtliche Mühe sich zu beherrschen. Die übliche Kontrolle war ins Wanken geraten und er fühlte sich, als würde auch seine Welt wanken. Was immer eine unausweichliche Tatsache gewesen war, wurde jetzt in Frage gestellt. Es zerrte an ihm. Natürlich konnte er die Ähnlichkeiten nicht wirklich abstreiten, aber er konnte den Jungen im Wohnzimmer nicht als 'Bruder' bezeichnen. Der Einzige, der für ihn wie ein Bruder war, war Tala. Und der war nicht nur geschätzte zehn Jahre alt. Als Kai das Kind im Schnee gesehen hatte, was ihm jetzt vorkam, als wäre es schon viel länger her, als nur ein paar Stunden, hatte er sich an seine eigene Kindheit erinnert gefühlt. Eine Kindheit, die kalt und trostlos gewesen war. Wie konnte es sein, dass ausgerechnet das Kind, dem er hatte helfen wollen, sein Bruder war? Das war wirklich nicht das erste Mal, dass das Schicksal ihm einen Streich spielte. War es tatsächlich möglich, dass es noch Familie von ihn gab, die er nicht abgrundtief hasste? Lebten seine Eltern wohl doch noch? Wo waren sie? Schon allein die Fragen irritierten ihn. Sie drängten sich ihm auf und es war schwer sie zuzulassen. Denn er hatte sich selber immer verboten an sie zu denken. Familie war eh so ein Begriff, den er nie ganz verstanden hatte. Dieses Wort umfasste so vieles. Obwohl Voltaire sein Großvater war, war er niemals Familie. Das waren die Menschen, die ihn sein Leben lang begleitet hatten. Tala, Ian, Spencer, Bryan. Durch ihr Leben in der Abtei waren sie zu einer Familie verbunden worden. Was sollte er jetzt tun?

Tala öffnete den Schrank und hole ein Flasche mit Wasser heraus. Den Blick, den er Kai zuwarf, war vorwurfsvoll und mitfühlend zugleich. Ohne etwas zu sagen, verließ er den Raum. Die Tür blieb offen, und Kai hörte ihn sagen: "Du kannst alles austrinken. Hast du auch Hunger?"

Anscheinend hatte der Kleine genickt, denn Tala kam zurück in die Küche. Mit gedämpfter Stimme sagte er: "Du kannst nicht einfach nichts tun, Kai. Er ist noch ein Kind, und braucht jemanden, bei dem er sich zu hause fühlen kann."

Diese Worte aus Talas Mund zu hören, ließ Kai schlucken. Er wusste, dass es stimmte. Höchstwahrscheinlich war der Kleine - war Illja - Kais Bruder und er hatte niemanden. War es dann nicht wirklich seine Aufgabe, sich um ihn zu kümmern? Aber über die Zukunft konnte Kai noch nicht nachdenken. Er hatte sich noch nicht mal mit der Gegenwart abgefunden. Etwas in ihm wollte das alles nicht akzeptieren.

"Kai?", hörte er Illjas Stimme recht leise aus dem Wohnzimmer.

Er zögerte.

"Nun geh schon. Ich mache was zum Frühstück", sagte Tala bestimmt.

Langsam betrat Kai wieder das Wohnzimmer. Er setzte sich wieder auf den Stuhl am Fenster. Illja hatte sich zum Trinken aufgesetzt. Noch immer war die Decke um ihn geschlungen und er sah sehr blass aus. Für einen Jungen war sein Gesichtsausdruck viel zu ernst. Und wieder fühlte Kai sich an sich selber erinnert. In diesem Moment war es, als könnte er sich selber als eine jüngere Version sehen. Aber die Vorstellung verflog.

Diesmal schaute Illja ihm nicht in die Augen als er sprach. "Ich möchte dir etwas zeigen. Es ist das Einzige, was ich noch von Mama und Papa habe." Er zog etwas unter der Decke hervor und Kai konnte einen leicht vergilbten, zerknitterten Briefumschlag erkennen. Unwillkürlich hatte er die Luft angehalten. Er selber besaß keinen einzigen Gegenstand von seinen Eltern.

Illja hielt ihm den Umschlag hin. "Ich kann es nicht lesen. Es ist eine andere Sprache."

Kai stand auf und nahm ihn vorsichtig. Er sah von Nahen abgegriffen aus, so als wäre er schon oft angesehen worden. Als er fast noch vorsichtiger das Papier aus dem unbeschrifteten Umschlag zog, wurde er nervös. Normalerweise passierte ihm das nicht so oft. Aber wahrscheinlich würde er gleich geschriebene Wörter von seiner Mutter oder seinem Vater sehen. Er faltete das alte Papier auseinander. Illja hatte recht. Es war kein Russisch und auch kein Englisch. Die japanischen Schriftzeichen, die sich so schwarz von dem hellen Untergrund abhoben sahen so aus, als hätte eine Frau sie geschrieben. Kai wusste, dass sein Eltern japanische Vorfahren gehabt hatten. Und nach dem er selber bei Tyson gewohnt hatte, konnte er die engen kleinen Kanji und auch ihre einfachen Gefährten, Hiraganas und Katakanas, verstehen. Doch bevor er die Worte las, setzte er sich zu Illja auf die Couch. Er sah ihn an. "Hast du dir das von jemandem übersetzen lassen?"

Betrübt schüttelte der Junge den Kopf. "Kannst du es?", fragte er. Seine Stimme klang traurig, da er wohl nicht davon ausging, dass Kai es wirklich konnte.

Nicht sicher, ob es klug war, nickte Kai. Sofort hellte sich Illjas Miene auf und seine Augen leuchteten wie Ians an Weihnachten. Es war bald Weihnachten, oder? Der Kleine hatte ein Geschenk verdient. Doch Kai hatte kein Gutes Gefühl. Wer weiß, was in diesem Brief drin stand? Wahrscheinlich warf er mehr Fragen auf, als er beantwortete.

"Schnell! Ich warte schon seit ich klein war darauf."

"Illja..." Kai sprach den Namen langsam aus, als ob er erstmal testen müsste, wie er klang. "Es kann sein", begann er, ohne genau zu wissen, wie er es erklären sollte. "Es kann sein, dass nicht drin steht, was du erwartest. Es kann gut sein, dass es dir nicht gefallen wird."

"Egal. Ich will es endlich wissen."

Kai atmete ein mal tief ein. Er wollte ihm erklären, dass manchmal der Glaube an etwas besser war, als das Wissen. Glaube schenkt einem Hoffnung. Wissen nimmt sie.

Doch er selber hatte nie an dieses Stück Hoffnung geglaubt, also nahm das Wissen ihm auch nichts. So begann er zu lesen:
 


 

Mein Sohn,
 

du wirst diese Worte noch nicht verstehen. Ich möchte, dass du sie eines Tages verstehen kannst, und ich weiß, du wirst einen Weg finden, wenn du alt genug dafür bist. Zuerst lasse mich dich wissen, dass dein Vater und ich dich über alles lieben. Dich und deinen Bruder Kai. Wir hoffen, dass ihr einander findet und früher oder später gemeinsam an uns denken könnt. Zeige ihm dies, damit auch er von uns hören kann. Wir können nicht für euch da sein, und das bricht uns die Herzen. Auch können wir euch nicht auf eurem weiteren Lebensweg helfen. Das Wenige was wir tun können, ist euch unseren Rat mitzugeben. Euch werden viele Dinge geschehen, die euch missfallen werden. Verliert nie die Hoffnung und überlasst niemandem eure Zukunft, dem ihr nicht voll und ganz vertraut. Ihr seid eure eigenen Herren und könnt euer Leben selber gestalten. Verschwendet nicht zu viel Zeit auf unwichtige Dinge. Was ich gelernt habe ist, dass weder Reichtum, noch Ruhm, noch Macht auf lange Sicht glücklich machen, denn ohne jemanden mit dem man etwas teilen kann wird man sehr bald einsam. Doch bitte versteht mich nicht falsch. Ich sage nicht, das Reichtum und Ruhm nur schlecht sind. Falls ihr dazu kommt, geht bescheiden damit um, und kümmert euch immer als erstes um eure Freunde und eure Familie. Ich möchte euch bitten, einander nicht im Stich zu lassen. Ihr seid vielleicht alles, was ihr vorerst an echter Familie habt. Ich bitte euch auch, euch nicht von eurem Großvater beeinflussen zu lassen. Er ist ein naiver und einfältiger Mensch, wenn er denkt andere kontrollieren zu können. Irgendwann wir auch er begreifen, dass jedes Handeln Konsequenzen haben wird und man aufpassen sollte, wen man sich zum Feind macht.

Natürlich brennt in euch die Frage, warum wir nicht bei euch sein können. Die Antwort wird frustrierend sein, und es wahrscheinlich nicht besser machen. Wir selber haben uns unabsichtlich Feinde gemacht, die zu mächtig sind, um gegen sie anzukommen. Wir standen vor der schwierigsten Entscheidung, die Eltern überhaupt treffen können. Uns war euer Leben wichtiger, als unser Wunsch beieinander zu bleiben. Unser Leben ist gefährlich und unberechenbar und wir können euch Nichts versprechen. Nichtsdestotrotz ist es uns weitestgehend gelungen, euch aus dem Gröbsten herauszuhalten. Uns ist bewusst, dass ihr uns als herzlos ansehen werdet, weil wir euch weggeben mussten. Wir hoffen nicht, dass ihr uns verzeiht, sondern dass ihr uns irgendwann versteht.
 

Illja. Strebe nicht danach einen Weg zu finden, der einfach ist. Strebe danach, den richtigen für dich zu finden. Es wird nicht immer leicht sein und nur du kannst es schaffen. Du brauchst dabei nicht alleine zu sein, aber du musst für dich allein entscheiden.

Sei nicht zu hart mit deinem großen Bruder, denn er hat sicher lange nicht von dir gewusst. Lass ihn sich etwas an dich gewöhnen, dann wird er dir sicher bei all deinen Problemen zur Seite stehen. Er wird dir da helfen, wo wir es nicht können. Du wirst für immer in unseren Herzen sein.
 

Kai. Wir entschuldigen uns dafür, dich zuerst zurücklassen zu müssen. Wir haben versucht alles zu tun, damit dein Großvater nicht dein Leben bestimmt. Wir wissen, dass es uns nicht gelungen ist und müssen uns auch hierfür entschuldigen. Worte können deinen Schmerz bestimmt nur ansatzweise lindern, doch sei dir sicher, das kein Tag vergangen ist, an dem wir nicht an dich gedacht haben. Bitte lass deinen Hass und deine Wut nicht die Kontrolle über all deine Gefühle haben. Bitte lass deine Enttäuschung nicht dein Handeln beeinflussen. Auch wenn es vielleicht sehr viel verlangt ist, möchte ich, dass du dich um Illja kümmerst. Wir haben dich immer geliebt.
 

Nie werden wir euch vergessen und für immer lieben. Lebt euer Leben für euch und hängt nicht an der Vergangenheit, denn die Zukunft könnt ihr gestalten.
 

Eure euch ewig liebenden und vermissenden Eltern
 


 

Illjas Blick ließ nicht eine Sekunde von Kais Gesicht ab, weil er hoffte, eine Reaktion zu sehen. Doch wenn man Kai kannte, dann wusste man, dass er seine Mimik zu jeder Zeit unter Kontrolle hatte.

Als er fertig war, las er den Brief noch ein mal, nur um sicher zugehen, dass er nichts vergessen hatte. Er schwieg und starrte unfokussiert auf die dunkle Tinte. Das alles zu begreifen war für einen Morgen viel zu viel.

"Übersetzt du es für mich? Bitte?", fragte Illja leise, als hätte er verstanden, das Kai sich noch damit auseinander setzen musste.

In dem Bewusstsein, dass die Tür zur Küche immer noch offen war und Tala zuhören konnte, begann er kommentarlos zu übersetzten. Er konnte den Worten seiner Mutter, was noch nicht richtig zu ihm durchgedrungen war, nicht gerecht werden, denn Japanisch und Russisch waren so verschieden. Doch er versuchte es so gut er konnte. Es dauerte länger, als er gebraucht hatte um den Brief zu leise zu lesen, denn manchmal war es schwer entsprechende Formulierungen zu finden. Illja saß ruhig da und lauschte. Irgendwann liefen ihm Tränen über die Wangen und Kai konnte seine Traurigkeit verstehen. Er selbst jedoch zeigte keinen emotionale Regung. Er hatte immer eingebläut bekommen, dass alle Gefühle außer Hass schlecht waren. Viele Fragen gingen ihm durch den Kopf.

Als er fertig war, sah er den Kleinen an. Er sah ihn an und hatte keine Probleme mehr, ihn 'Bruder' zu nennen.

"Ich hoffe, du bist nicht so unordentlich wie Ian, kleiner Bruder. Denn hier wird keinem hinterhergeräumt, der hier wohnt." Er sagte es mit einem leichten Lächeln, dass Illja genauso erwiderte.

"Danke, großer Bruder."
 

Ich wünsche euch allen eine wunderschöne Adventszeit in der ihr auch kleine Wunder erleben könnt.

Und natürlich: Frohe Weihnachten!



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Kommentare zu dieser Fanfic (5)

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Von:  Kitten92
2012-12-27T14:44:26+00:00 27.12.2012 15:44
Da ist Tala ja wirklich die gute Seele und der Vernünftige gewesen.
Obwohl er selbst nicht wirklich wusste was Familie ist konnte er Kai überzeugen für den kleinen Fechdachs zu sorgen.
Der Brief...
Dieser Brief!
Als ich den las war es echt hart die Tränen zurück zu halten
du hast es wirklich sehr gut den Schmerz der Eltern zu vermitteln.
Und auch deine Wortwahl fande ich sehr schön, und vor allem sehr gut gewählt.

Und ich konnte mir richtig gut vorstellen wie Kai mit dem kleinen auf der Couch saß und ihm dem Brief übersetzt hat.
Und auch das Kai wirklich verdammte Schwierigkeiten hat sich mit der ganzen Sache anzufreunden, wer hätte das nicht.
Aber ich denke der Brief hat so manches in ihm dann geändert.

Und zu guter letzt kommt nach diesem herzzerreißendem Brief eine Kleinigkeit die einem wieder zum schmunzeln bringt.

Alles in allem ist es eine schöne Geschichte die sehr gut zur Weihnachtszeit passt ^^
Von:  Kitten92
2012-12-27T14:36:40+00:00 27.12.2012 15:36
Oh je wo soll ich hier nur Anfangen.
Ich hatte Bauchschmerzen vor lachen xD
Ich mag es das du es schaffst jeden einen runden und kompletten Charakter an zu dichten ohne das sie Oc wäre oder zu ähnlich ^^

Aber Kai hat gute Instinkte ich meine stellt euch mal vor er hätte ihn einfach da liegen lassen, nicht bemerkt oder wäre mit ihm ins Krankenhaus gefahren.
Dann wäre da vieles sicher anders gelaufen xD
Und immer schön denken am Weihnachts(virus)abend passieren doch noch Wunder XD
Von:  Lucianah
2012-12-15T14:01:32+00:00 15.12.2012 15:01
Happy End. ^-^
Ooooh... *seufz* Kai ist ja fast handzahm. ^^ Aber das Tala ihm einbläuen musste, was Familie ist und Kai dem Jungen helfen soll, ist auch ungewöhnlich.

Der Brief ist traurig und schön zu gleich. Leben sie jetzt noch oder nicht? Hmm...
Aber du hast es wieder geschafft, dass man von einer traurigen Geschichte zum Ende hin wieder lachen muss. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Ian unordentlich ist. ~.^
Von:  Lucianah
2012-12-15T13:47:03+00:00 15.12.2012 14:47
Süß. ^^ Also der erste Teil ist echt niedlich. Kaum zu glauben, dass Kai sich so "nett" um jeden kummern kann.

Und irgendwie passt Joggen im tiefsten Winter zu Kai. ^^ Was soll er auch sonst machen?

Und so viele witzige Stellen! ^o^
- Glühwein mit Wodka
- Ian im Weihnachtsfieber
- Bryan verteilt illegale Zutaten in den Keksen
- Gibt es noch mehr Kinder? ^^
Von: abgemeldet
2012-12-05T12:41:33+00:00 05.12.2012 13:41
glühwein mit wodka.... ich komm einfach nicht drüber weg > <


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