Bora - Stein der Winde von Scarla ================================================================================ Prolog: Eine Gestalt in der Nacht --------------------------------- Es war Nacht. Obwohl der Himmel wolkenlos war, war es vollkommen dunkel. Es war nicht wie die Abwesenheit von Licht, es war vielmehr, als hätte es nie Licht gegeben. Der Mond, der blutrot am Himmel leuchtete, schien keinerlei Licht zu verbreiten und auch die Sterne schienen vergessen zu haben, dass es ihre Aufgabe war, am Himmel zu leuchten. Wenn die Leute später von dieser Nacht sprachen, so waren sie sich nicht einig, aus welchem Grund in dieser Nacht das Licht zu fehlen schien. Es gab unzählige Überlegungen, doch keiner kam der Wahrheit auch nur nahe. Doch es spielte auch keine Rolle, denn in einem waren sie sich einig. Darin, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Und darin hatten sie recht. In dieser rabenschwarzen Nacht wandelte ein Schatten durch die Straßen. Es war kein Wesen dieser Welt, jeder, der ihn bemerkt hätte, hätte das sofort gewusst. Doch niemand bemerkte ihn. Keiner der unzähligen Passanten, keines der Tiere, wenngleich sie wussten, dass er da war. Dieser Schatten, dieses gestaltlose Wesen lief durch die Straßen, als wüsste es genau, wohin es wollte. Es schien von etwas angezogen zu werden, wie Motten vom Licht. Ab und an schien es stehen zu bleiben, doch das ließ sich nur schwer sagen, denn sein Körper schien sich immerzu zu verändern, als hätte es keinen festen Körper, sondern bestünde nur aus Dunkelheit. Schließlich blieb es vor einem Haus stehen. Es schien angekommen zu sein, denn lange bewegte es sich nicht vom Fleck, nur die Schwärze waberte um ihn herum. Dann jedoch ging es weiter, es floss regelrecht durch die Tür ins Innere. Das Haus war nicht unbewohnt, im Wohnzimmer saß ein junges Paar beisammen, doch diese Menschen interessierten ihn nicht. Die junge Frau schien ihn auch gar nicht zu bemerken, doch der junge Mann hielt mitten im Satz inne. Er schaute durch die offene Tür in den dunklen Flur, doch er sah die Gestalt nicht. Doch er schien zu spüren, dass da etwas war. Er sagte etwas, doch die Gestalt hörte nicht zu. Sie ging weiter, die Treppe hinauf. Dort stand ein kleines Mädchen mit braunem Haar. Sie schaute ihn direkt an, sie bemerkte ihn. »Wer bist du?«, fragte sie leise. »Niemand, vor dem du dich zu fürchten brauchst«, sprach er und bediente sich dabei einer Sprache, die immer, überall und von jedem verstanden wurde. Das Mädchen war noch zu klein um es seltsam zu finden. Für sie war es ganz selbstverständlich, dass er in dieser Sprache redete. Sie schaute ihn furchtlos an, sie wusste, dass er ihr nichts tun würde. Weder heute noch an irgendeinem anderen Tag. »Ich möchte zu meinen Eltern, aber ich komme die Treppe nicht alleine runter. Da ist etwas in meinem Zimmer, davor habe ich angst«, erklärte sie und schaute unsicher in Richtung ihres Zimmers. »Geh ins Bett. Niemand wird dir etwas tun. Das verspreche ich dir«, sprach der Schatten. Das Mädchen zögerte noch einen Moment, doch sie glaubte ihm. Sie wusste, dass er nicht lügen würde, nicht lügen konnte und es auch nicht wollte. Sie wandte sich ab und ging zurück in ihr Zimmer. Sie lehnte die Tür an und das Wesen konnte weiterlaufen. Es fuhr durch die nächste Tür in ein anderes Kinderzimmer. Zwei Säuglinge, nur ein paar Wochen alt, lagen hier und schliefen. Die Gestalt betrachtete die Kinder und schien dann einen Arm auszustrecken. Er berührte das Kind nicht, dennoch schlug es seine Augen auf und schaute ihn aus türkisblauen Augen an. Auch das andere Kind erwachte. Seine Augen waren dunkler. Beide Säuglinge schauten die Gestalt an, als wüssten sie genau, wer sie war und auch, was sie hier wollte. »Nicht mehr lange«, sprach die Gestalt. »Nicht mehr lange.« Die Kinder schauten ihn an. Sie schienen genau zu wissen, wovon er sprach und sie schienen ihm zuzustimmen. Dann verschwand die Gestalt, als hätte es sie nie gegeben. Vielleicht hat es das auch nicht. Vielleicht war dies aber auch der erste Schritt, den die Kinder auf dem Weg getan hatten, dass das Schicksal ihnen vorbestimmt hatte. Kapitel 1: Game Over -------------------- »Ein letzter Schlag noch.« Justin atmete einmal ruhig mit geschlossenen Augen durch. Er bemühte sich, einen Augenblick lang zur Ruhe zu kommen, dann schaute er den Bildschirm wieder an. Dabei lag Entschlossenheit in seinem Blick und er fletschte die Zähne. Schließlich verließ er das Menü und spielte weiter. Er hackte dabei auf seinem Kontroller herum, als ginge es um sein Leben. Konzentriert analysierte er die Bewegungsmuster seines Feindes, wich aus, schlug Finten, nur um den Augenblick, auf den er die letzten Wochen hingearbeitet hatte, perfekt zu machen. Doch plötzlich schrie er auf. Eine kleine Unachtsamkeit und schon war es geschehen. Blutrot leuchteten die acht Buchstaben auf, die er mit Abstand am wenigsten sehen wollte. »Game Over… Nein! Das kann doch nicht sein! Ich hatte ihn doch schon fast besiegt!«, jammerte er und wirkte den Tränen nahe. Eine ganze Weile starrte er einfach nur fassungslos vor sich hin, dann klopfte es an der Tür. Ohne auf seine Antwort zu warten, öffnete eine junge Frau mit braunem Haar. Sie trat nicht ein, schaute stattdessen mit gerümpfter Nase über das Chaos, das er als sein Zimmer bezeichnete. »Mam lässt fragen, ob du heute nicht mehr zur Schule musst«, erklärte sie ihr eintreten. »Ja, nein, vielleicht. Spielt es denn überhaupt eine Rolle? Schließlich habe ich eben die Arbeit der letzten Stunde zunichtegemacht«, seufzte Justin und schaute die junge Frau an, als hätte er soeben einen tief bewegenden Schicksalsschlag erlitten. Doch sein Gegenüber schien das anders zu sehen. Sie schnaubte abfällig und musterte dann kritisch den Bildschirm. »Du hast auch nichts Besseres zu tun, als Videospiele zu spielen, oder?«, erkundigte sie sich und schüttelte voll Unverständnis den Kopf. »Das ist nicht nur ein Spiel, Helen, aber das verstehst du mit deinem beschränkten Denkvermögen eh nicht«, brummte er. »Jetzt werd’ mal nicht frech, Fuchsgesicht!«, fauchte Helen. »Ich verstehe immerhin, dass Videospiele Zeitverschwendung sind!« Justin wollte eben eine passende Antwort geben, als eine Frau mittleren Alters dazu kam. »Mam, Helen nervt!«, rief er sofort, kaum das er wusste, das sie in Hörweite war. »Das stimmt doch gar nicht!«, widersprach Helen entrüstet. »Justin, mich interessiert, wie immer nicht die Bohne was deine Schwester angeblich tut. Eigentlich seid ihr ja alt genug, dass ihr euch nicht ständig streiten müsst und trotzdem benehmt ihr euch noch immer wie Kinder!«, schimpfte Ginny, die Mutter der beiden. Daraufhin wagte keiner etwas zu antworten, doch die Blicke, die sie wechselten, machten deutlich, dass die Sache noch nicht erledigt war. »So und was ist jetzt mit dir? Musst du heute noch mal in die Schule oder ist der Unterricht für heute Nachmittag ausgefallen?«, wandte sich die Frau an ihren Sohn. »Nein, der findet statt, aber es ist doch erst-« Justins Blick war auf den Wecker gefallen, der auf seinem Schreibtisch stand und mit leuchtend roten Ziffern verkündete, dass die Stunde in fünf Minuten beginnen würde. »Jetzt an?«, beendete Helen den Satz schadenfroh und erntete dafür einen eisigen Blick ihres Bruders. »Na los, beeile dich«, meinte seine Mutter dazu, dann ging sie wieder zurück in den unteren Teil des Hauses und Justin stand auf, um sich fertigzumachen. »Na los, beeile dich, sonst kommst du zu spät«, bemerkte Helen mit einem gehässigen Grinsen. »Komme ich sowieso, da brauche ich mich jetzt auch nicht mehr beeilen«, fand ihr Bruder und ging, als hätte er alle Zeit der Welt, an ihr vorbei. Er lief gemächlich die Treppe hinunter und zog sich ruhig die Schuhe an. Dann nahm er seine Schultasche auf und verließ das Haus ganz so, als habe er keinerlei Zeitdruck. Doch kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, rannte er los, wie der Teufel. Vor seiner Schwester hatte er sich nicht die Blöße geben können zu zeigen, wie wenig er zu spät kommen wollte, doch jetzt, wo sie ihn nicht mehr sah, da konnte er loslegen. Justin war ein sportlicher junger Mann. Er wohnte nicht weit von der Schule entfernt, und wenn er sich richtig ins Zeug legte, konnte er sogar noch rechtzeitig da sein, das wusste er. Er hätte es tatsächlich noch geschafft, doch auf dem Brunnen vor dem Haupteingang saß sein Verderben. Sally, das Mädchen, das neben ihm wohnte, schien nur genau auf ihn gewartet zu haben. Kaum hatte sie ihn erspäht, sprang sie auf und rief schon von Weitem nach ihm. Dabei leuchteten ihre Augen und sie strahlte über das ganze Gesicht. »Hey, Juss! Na endlich, ich habe schon auf dich gewartet! Ich muss dir etwas erzählen, das glaubst du mir nie!« Justin hätte einfach an Sally vorbeilaufen können. Er hätte einfach weitersprinten können. Sally wäre niemals in der Lage gewesen, ihm zu folgen. Doch seine Mutter bestand darauf, dass er nett zu ihr war. Es war ja auch nicht gerade so, dass er Sally nicht mochte. Sie war ein paar Jahre jünger als er, aber dennoch verstanden sie sich ausgezeichnet. Nur in solchen Momenten wünschte er sich, sie nicht zu kennen, denn Sally war ein kleines Klatschweib. Und sie musste ihre neusten Geschichten immer sofort unter die Leute bringen. Leider machte sie bei Justin keine Ausnahme. Er hatte also die Wahl weiterzulaufen, rechtzeitig zu kommen und dafür den Unmut von Sally und seiner Mutter auf sich zu ziehen, oder er blieb stehen und bekam dafür ärger mit seiner Lehrerin. Er entschied, dass seine Lehrerin lange nicht so Furcht einflößend war, wie eine wütende Ginny und eine noch viel wütendere Sally. Mit einem Seufzen blieb er stehen. »Sally hör mal, ich muss in die Klasse, die Stunde beginnt gleich. Kannst du mir das nicht nachher erzählen?«, versuchte er an ihrer Vernunft zu appellieren, obwohl er es besser wusste. »Nur ganz schnell!«, antwortete Sally sofort. Und Justin seufzte, ergab sich einfach seinem Schicksal. Sogleich begann Sally ihm etwas zu erzählen, doch er hörte gar nicht zu. Die Schulglocke unterbrach das Mädchen schließlich. Sie wirkte irritiert, als hätte sie damit nicht gerechnet. »Oh, wir sind zu spät«, bemerkte sie. »Ach«, meinte er spitz, aber mit einem leichten Lächeln. »Okay, wir sehen uns dann nach dem Unterricht, ja?«, fragte sie gut gelaunt und lief davon, ohne auf seine Antwort zu warten. Justin lief ebenfalls ins Schulgebäude. Er kannte die Gänge, er durchwanderte sie schon seit Jahren. Jetzt beeilte er sich wirklich nicht mehr, denn für seine Lehrerin spielte es keine Rolle, ob er eine Minute zu spät kam, oder eine Stunde. Schließlich betrat er seine Klasse, ohne sich lange mit anklopfen aufzuhalten. »Bitte entschuldigen sie die Verspätung, Frau Chang. Ich bin aufgehalten worden«, erklärte er. »Oh, Herr Malek, wie schön, das sie trotz ihrer selbst definierten Unterrichtszeiten noch zu uns gestoßen sind«, antwortete seine Lehrerin. »Sally aus der Klasse von Herrn Rainer hat mich aufgehalten«, erklärte er kleinlaut, wohl wissend, dass es völlig egal war, was er jetzt sagte oder tat. »Hinsetzen, Mund halten«, erklärte seine Lehrerin auch sofort mit einem zuckersüßen Lächeln. Justin lächelte zurück und setzte sich auf seinem Platz. Sogleich fuhr seine Lehrerin mit der Stunde fort und für eine Weile folgten auch alle dem Unterricht, doch dann rutschte sein Tischnachbar Timo näher an ihn heran. »Hat sie dich abgefangen?«, fragte er leise und Justin wusste sofort, was er meinte. »Ja, auch. Ich wäre aber sowieso fast zu spät gekommen. Ich habe Dragons World gespielt. Und sogar beinahe den Endboss besiegt«, flüsterte er zurück. »Du bist schon beim Endboss?« Ein Junge aus der Reihe vor ihm kippelte mit dem Stuhl, sodass er mit der Lehne an seinem Tisch anlehnte und nicht umfallen konnte. »Ich bin halt schnell«, grinste Justin. »Aber er hat mich ausgeknockt, als ich für ein paar Sekunden unaufmerksam war.« »Dann kannst du mir garantiert weiterhelfen«, flüsterte ein Junge aus der Reihe hinter ihm. »Ich komme da nämlich bei dem Rätsel nicht weiter …« »Wie wäre es, wenn die Herren sich dem Rätsel widmen würden, das an der Tafel steht?«, erkundigte sich ihre Lehrerin spitz und stand plötzlich mitten unter ihnen. »Ja Frau Chang!«, ertönte es daraufhin wie aus einem Mund und alle machten sich wieder an die Aufgaben. Den Rest der Stunde herrschte Schweigen. Bis zum Ende dieses langen Schultages wagte es keiner mehr, sich mit ihrer Lehrerin anzulegen. Doch schließlich ertönte die Schulglocke und verkündete, das Ende eines anstrengenden Tages. Wie üblich ging Justin gemeinsam mit seinen Freunden nach Hause. Mit dabei waren nicht nur Timo und Sally, sondern auch Nadia und Charly, zwei seiner besten Freundinnen. »So Leute, wer hat lust auf einen Ausritt?«, erkundigte sich Nadia gut gelaunt und hielt ihr Gesicht in die Sonne, um sich an den letzten Sonnenstrahlen des Altweibersommers zu wärmen. »Ich kann nicht. Ich bin dann erst um elf zu Hause und mal ganz davon abgesehen, dass dann meine Eltern vermutlich ausrasten, habe ich noch zu tun«, erklärte Timo sogleich und man sah ihm deutlich an, dass er es wirklich bedauerte. »Ganz klar, falsche Eltern und eindeutig ungünstiger Wohnort«, kommentierte Charly gut gelaunt. »Kommst du denn mit?«, erkundigte sich Nadia sogleich bei ihr, doch das Mädchen verneinte. »Babysitten. Einer meiner Lieblingsjobs«, grinste sie. »Sally? Justin? Was ist mit euch?« Nadia wirkte nicht, als wenn sie ein Nein gelten lassen würde. Dennoch schüttelte Sally den Kopf. »Keine Lust«, meinte sie und auch Justin verneinte. »Keine Zeit«, antwortete er und lächelte milde. »Ach, ihr seid doch alle blöd«, brummte Nadia und schaute auf die Uhr. Sie waren bei der Bushaltestelle angekommen und wie üblich warteten sie gemeinsam, bis die Busse kamen, in denen Nadia und Timo nach Hause fuhren. »Heute ist nur eben der falsche Tag«, erklärte Justin sanft. »Morgen gerne, jeden anderen Tag gerne, aber donnerstags habe ich nie Zeit.« Darauf herrschte bedrücktes Schweigen. Sie alle wussten, warum Justin keine Zeit hatte und keiner von ihnen wusste, wie er mit diesem Thema umgehen sollte. Deswegen wichen sie auch immer aus. »Kommt dann vielleicht morgen jemand zu reiten?« Nadia fackelte nicht lange und wechselte sofort zu einem unbefangeneren Thema. Es herrschten wieder einige Sekunden Schweigen. »Wir sehen uns.« Justin hob unvermittelt die Hand zu einem Abschiedsgruß und verließ dann die Gruppe, um nach Hause zu gehen. Seine Freunde schauten ihm nach. »Meint ihr, er ist sauer?«, fragte Charly leise. »Möglich. Aber was sollen wir denn tun? Wir können doch schlecht ständig über einen Toten sprechen«, fand Timo. »Vielleicht will er auch gar nicht ständig darüber reden. Vielleicht will er sich nur einmal alles von der Seele sprechen und er kann es nicht, weil wir immer abblocken«, überlegte Charly. »Er wollte damals auch mit niemanden darüber sprechen, warum sollte er es jetzt tun?«, fand Sally. »Weil es jetzt zwei Jahre her ist. Manchmal braucht man eben erst etwas Zeit, bis man über ein Thema sprechen kann. Ging mir zumindest so, als meine Mutter starb. Und Justin hat weit mehr verloren als jeder andere von uns. Vielleicht ist er jetzt bereit dazu, darüber zu sprechen. Kann sein, dass du recht hast, Charly«, überlegte Nadia. In dem Moment kam ihr Bus, und bevor sie das Thema weiter ausführen konnten, musste sie einsteigen. Die anderen schauten ihr nach. Schließlich seufzte Timo. »Justin kriegt sich schon wieder ein«, meint er, wirkte aber besorgt. »Er ist anders seit damals«, fand Charly. »Und in letzter Zeit verändert er sich ebenfalls. Wisst ihr, was ich meine?« »Er sagte letztens, dass ihm etwas Wichtiges fehlt. Er hat etwas Wichtiges verloren, aber er weiß nicht mehr, was es gewesen ist. Und dann war er wieder normal. Egal was gerade mit ihm passiert, es ist nichts Alltägliches und es macht mir sorgen. Ich denke aber nicht, dass es mit Frederyc zu tun hat«, meinte Timo und sah, dass auch sein Bus kam. Er verabschiedete sich von Charly und Sally, wobei ihm auffiel, dass gerade letztere ungewöhnlich still gewesen war. Doch er dachte nicht weiter darüber nach. Er freute sich einfach nur noch auf sein zu Hause nach einem anstrengenden Schultag. (Falls jemandem ein Titel für das Kapitel einfällt, dann wäre ich dankbar, wenn er ihn mir mitteilt, mir fällt nichts ein xD) Kapitel 2: Blut --------------- Justin warf sich auf sein Bett. Er war frustriert und wütend zugleich. Er wollte nicht über Frederyc sprechen, weder mit seinen Freunden noch mit jemand anderem. Doch er wollte zumindest die Option haben, mit jemandem darüber reden zu können. Doch seine Freunde räumten ihn dieses Möglichkeit gar nicht erst ein. Sie blockten immer sofort ab. Das machte ihn wütend. Er wusste, dass sie nicht darüber reden wollten, doch war es nicht auch Bestandteil einer Freundschaft, das man manchmal Dinge tat, die man eigentlich nicht tun wollte? Es brachte nichts, sich über seine Freunde zu ärgern, er konnte sie schließlich verstehen, auch wenn es ihm nicht gefiel. So ließ er also seine Gedanken wandern und sie wanderten auf vertraute Pfade. Immer, wenn er allein war und sich nicht gut fühlte, dachte er an einen Tag vor zwei Jahren. Der Tag, der sein Leben so grundlegend geändert hat, wie es nur ging. Es war ein Donnerstag gewesen. Ihm geschah nie etwas Gutes an einem Donnerstag, dafür geschehen aber alle schrecklichen Dinge an diesem Wochentag. Das hatte er schon früh gemerkt. Erst waren es Kleinigkeiten gewesen, doch es waren immer schrecklichere Dinge geschehen. Sein Vater war an einem Donnerstag verschwunden. Er war damals noch jung gewesen und hatte eine ganze Weile gebraucht, um zu verstehen, was überhaupt vor sich ging, aber die Tatsache, dass sein Vater an einem Donnerstag verschwunden war, die blieb. Er war auch an einem Donnerstag für Tod erklärt worden, obwohl Justin nicht an seinem Tod glaubte, doch das war eine andere Geschichte. Denn das Ereignis, zu dem seine Gedanken letztlich wanderten, war der Tod seiner damals besten Freunde. Er hatte nicht immer so viele Freunde gehabt und er war auch nicht immer so sehr in die Gesellschaft integriert gewesen. Er war als Kind sehr schüchtern, fast schon ängstlich gewesen. Er war anderen Menschen aus dem Weg gegangen und war deswegen als seltsam bezeichnet worden. Bis schließlich die Leute ihn in Ruhe gelassen haben. So hat er sich immer mehr in sich zurückgezogen, bis er Frederyc und Rei getroffen hatte. Frederyc hatte damals beschlossen, sich mit ihm anzufreunden und ein Nein hatte er nie gelten lassen. Und so hatte sich Justin mit ihm angefreundet. Auch Marina, die die beiden Jungen nur liebevoll Rei gerufen hatten, war bald zu ihnen gestoßen. Sie waren seit dem Kindergarten unzertrennlich gewesen, sie hatte zusammen gelacht und geweint, sich jeden Tag gesehen. Und dann war Frederyc verschwunden. Vor zwei Jahren an, wie sollte es anders sein, einem Donnerstag. Zwei Wochen suchte man nach ihm, dann fand man eine Leiche, bis zur Unendlichkeit verbrannt. Man hatte ihn zwar nicht eindeutig identifizieren können, dennoch hatte es für die Verantwortlichen keinen Zweifel daran gegeben, dass es sich um Frederyc handelte. Eine Woche später, ebenfalls an einem Donnerstag, hatten Rei und er sich in der Eisdiele verabredet. Sie hatten nicht ein Wort gewechselt, obwohl sie zwei Stunden geblieben waren. Und als sie gegangen waren, hatte Justin gewusst, dass er auch Rei das letzte Mal lebend sehen würde. Er hatte es in ihren Augen gesehen. Er war ihr nachgegangen, aber erst als er sich sicher war, dass er es nicht mehr verhindern konnte. Er hatte bewusst so lange gewartet. Er hatte gesehen, wie der Lastwagen sie erfasst hatte und er hatte das trockene Knacken gehört, mit dem ihr Genick gebrochen war. Er war im Moment ihres Todes bei ihr gewesen. Es war ihm wichtiger gewesen, bei ihr zu sein, wenn sie starb, als es zu verhindern. Er wusste bis heute nicht, warum er es nicht getan hatte. Die Tatsache aber blieb. Er hätte ihren Tod verhindern können, doch er hatte es nicht getan. Irgendetwas hatte ihn daran gehindert. Und er hatte immer das Gefühl gehabt, das es richtig gewesen war, auch wenn ihn das Wissen, das ihr Blut an seinen Händen klebte, an manchen Tagen fast wahnsinnig machte. Der einzige Grund, warum er selbst noch lebte, war, weil er zu Feige gewesen war, danach den letzten Schritt zu tun. Er hatte später oft mit einem scharfen Küchenmesser dagestanden. Er hätte nur eine kleine Bewegung machen müssen, aber er hatte sich nicht getraut. Er hatte auch oft an einer Autobahn gestanden. Ein Schritt hätte genügt, es wäre so leicht gewesen. Es gab unzählige Möglichkeiten. Und dennoch lebte er noch. Mit einem Ruck setzte er sich auf und schüttelte heftig den Kopf. Er wollte vergessen, er wollte sich nie wieder daran erinnern. Aber er konnte nicht vergessen. Jedes Mal wenn er die Augen schloss, erinnerte er sich daran. Jede Nacht wachte er schweißgebadet auf und dachte daran. Vielleicht war dies auch nur ein grausamer Traum und in Wirklichkeit saß er in einer Zwangsjacke in irgendeiner Ecke, weil er wahnsinnig war. Wer wusste das schon genau? Und so schüttelte er weiter den Kopf, hoffte, dass endlich ein schönerer Gedanke kommen würde. Er sprang auf und rannte die Treppe runter. Er schlüpfte in die Schuhe und war aus dem Haus, bevor seine Mutter auch nur den Kopf aus der Küche strecken konnte. Er rannte los. Er lief die Straße hinab, so schnell er konnte. Manchmal half es, wenn er einfach nur lief, so schnell und so weit, wie ihn seine Beine tragen konnten. So lange, bis seine Lunge brannte und schier in seiner Brust zu zerspringen drohte, und seine Beine wie aus Blei waren. Er wusste nicht, wohin er lief. Es spielte für ihn auch keine Rolle. Als er schließlich stehen blieb, war er im Wald. Er wusste nicht genau, wo er war, aber das machte nichts, früher oder später kam er auf einen Weg, den er kannte, da war er sich sicher. Er ging noch ein paar Schritte, dann blieb er erschöpft stehen. Er glaubte, er könnte keinen Schritt mehr tun. Seine Lunge brannte und er hatte einen metallischen Geschmack im Mund. Er blieb einfach wo er war, schloss die Augen und atmete, den Kopf weit in den Nacken gelegt. Er dachte an nichts und das war für ihn so wohltuend, das der Moment für ihn hätte ewig dauern können. Doch er musste wieder zurück. Als er die Augen öffnete sah er, dass es langsam anfing zu dämmern. So ging er los, einfach den Weg weiter. Doch dann hörte er ein Geräusch hinter sich, wandte sich um und starrte mit großen Augen auf das, was hinter ihm vor sich ging. Denn er stand nicht mehr im Wald, sondern auf einem Schlachtfeld. Gepanzerte Reiter auf gepanzerten Pferden waren um ihn herum und versuchten einander vom Pferderücken zu stoßen. Damit das eigene Tier besser den Kopf des Feindes zertrümmern konnte. Der Boden war blutgetränkt und mit toten Körpern bedeckt. Von überall drang das Klagen und Wimmern von Verletzten und Sterbenden an sein Ohr. Er hörte Kampfschreie und das schrille Wiehern der Pferde und er roch Blut. Justin war verwirrt. Wie kam er auf einmal hierher? Und wo war er überhaupt? Was war das für ein Massenschlachten und wie sollte er nur jemals hier herauskommen? Doch dann sah er etwas, was allen anderen Gedanken fortblies, als hätte es sie nie gegeben. Er sah zwei Reiter. Einer war komplett gepanzert, ebenso sein Pferd. Der andere trug nur eine leichte Rüstung aus Leder und einen schwarzen Helm, sein schwarzer Hengst trug nicht einmal eine Decke. Doch das war es nicht, was ihn so fesselte und zugleich schockierte. Hätte er in diesem Moment einen klaren Gedanken fassen können, so hätte er keinen Pfifferling auf das Leben des Mannes in leichter Rüstung gegeben. Dennoch wusste er, dass der Reiter der Überlegenere sein würde. Doch das war es alles nicht. Das Pferd des Gepanzerten stieg und schlug dem Anderen den Helm vom Kopf. Justin war es, als blickte er in einen Spiegel. Die Gesichtszüge waren etwas härter, unerbittlicher, aber ganz eindeutig die seinen. Die Haare waren länger, zerzauster, hatten aber dieselbe feuerrote Farbe. Nur die Augen waren anders. Sie waren kalt und ohne Mitleid. Dennoch war es ihm, als wäre er selbst es, der auf dem schwarzen Hengst saß, ihn am Zügel herumriss und sein Schwert bis zum Heft im Körper des Gepanzerten versenkte. Justin spürte dabei, wie das Adrenalin durch seinen Blutkreislauf jagte, er spürte, wie das Schwert auf Blut und Knochen traf und hindurchfuhr, wie durch Butter. Er spürte, wie der Hengst unter ihm vor brachialer Freude über das Blutbad um ihn herum bebte. Und dann schaut sein dunkler Zwilling ihn an. Ihre Blicke trafen sich. Justin war sich sicher, dass sein Gegenüber ihn direkt anschaute, als wollte er ihm etwas mitteilen. Justin wusste, dass er ihm etwas sagen wollte, etwas, das es wichtig war. Doch dann war der Moment vorbei. Er stand wieder im Wald. Ihm war, als wäre eine Ewigkeit vergangen, doch die Sonne stand noch immer am Himmel. Er machte zwei hilflose Schritte, während seine Gedanken rasten. Dann erbrach er sich, den Geruch nach Blut noch immer in der Nase. Er sackte auf den Waldboden und zitterte am ganzen Körper, erbrach sich ein zweites Mal. Er wusste nicht, was das eben gewesen war. Er hatte wieder einmal das Gefühl, verrückt zu werden. Und er wurde den verdammten Geruch von Blut nicht mehr los. Es war schon fast dunkel, als er schließlich aufstand. Wie ein Schlafwandler bewegte er sich durch den nachtschwarzen Wald. Er wollte jetzt nur noch nach Hause. Kapitel 3: Die zweite Vision ---------------------------- Genervt stapfte Justin die Treppe hinab. Mit einem Ruck riss er die Haustür auf und blitzte die Person an, die vor der Tür steht. Nadia ihrerseits machte unwillkürlich einen Schritt zurück, während ihre Colliehündin in seine Richtung drängte. »Was?«, fauchte er und ignorierte das Bellen des Hundes. »Dir auch guten Morgen«, meinte Nadia mit gerunzelter Stirn. »Hast du mich vergessen? Wir waren verabredet.« »Aber doch nicht so früh! Himmel, es ist Samstag! Da steht man nicht um acht Uhr bei jemanden auf der Matte und klingelt ihn aus dem Bett!« Justin wirkte, als wenn er ihr ins Gesicht springen wollte, und ignorierte die Hündin noch immer. »Wie kommst du auf acht? Es ist halb zehn und wir hatten uns um neun verabredet«, erklärte sie ruhig und sachlich und runzelte noch mehr die Stirn. »Weil seit acht Uhr morgens jemand hier Sturm klingelt«, knurrte der Rotschopf schlecht gelaunt und legte schließlich doch eine Hand auf den Kopf der jammernden Hündin. »Seit acht? Ich bin mir nicht sicher, was ich mehr bewundere. Deine Fähigkeit, eineinhalb Stunden Dauerklingeln zu ertragen oder den Klingler, weil er das eineinhalb Stunden durchgezogen hat. Wie dem auch sei, um acht war ich schon wach und munter und hab Maxi geputzt, ich war es also nicht.« Nadia musste lachen. Justins Blick verdüsterte sich noch mehr, doch er trat zur Seite und nickte ins Haus. »Komm rein, ich muss mich noch fertig machen. Immerhin hab ich bis eben noch geschlafen. Oder es wenigstens versucht«, brummte er und kniete sich hin, um den Hund jetzt richtig zu begrüßen und ordentlich durch das Fell zu wuscheln. Nadia setzte sich indes in die Küche und wartete geduldig. Nachdem Justin mit der Hündin fertig war, lief er wieder die Treppe hinauf, den Collie immer dicht auf den Versen. Das war schon immer so gewesen. Alle Tiere mochten ihn und wollten so nah bei ihm bleiben, wie es nur irgend ging. Er wusste nicht, woran das lag. Normalerweise gab es immer das eine oder andere Tier, das einen nicht mochte, doch nicht bei ihm. Er war noch nie von einem Hund auch nur angeknurrt oder einer Katze angefaucht worden. In der Zoohandlung kamen die Kleintiere sofort angelaufen und die wenigen Male, die er im Zoo gewesen war, hatten sich die großen Wildtiere benommen, als wenn ihr bester Freund heimgekehrt war. Auch auf Feld und Flur hatten die Tiere keine Angst. Rehe kamen angelaufen, Füchse ließen sich von ihm streicheln und Vögel setzten sich auf seine Schulter, wenn er es wollte. Und trotz dieser fantastischen Fähigkeiten hatte er nie ein Haustier besessen, denn seine Schwester Helen litt an einer heftigen Allergie gegen Fell und Feder jeder Art. Er lief in sein Zimmer und zog recht wahllos sauberer Kleidung aus seinem Schrank und schlüpfte hinein. »Wo sind eigentlich Helen und Ginny?«, rief Nadia von unten, während er sich noch schnell die langen Haare durchbürstete. »Ich weiß nicht, aber sie müssen schon länger weg sein, sonst wäre ja einer von ihnen an die Tür gegangen. Ich wüsste ja noch immer gerne, wer das gewesen ist«, antwortete er, während er in die Küche trat. »Vielleicht Sally. Sie kam mir entgegen. Sie ist mir fast ins Gesicht gesprungen, als ich sie gefragt habe, ob du da bist«, überlegte Nadia und beobachtete, wie sich ihre Hündin an Justins Beine schmiegte. Justin dachte einige Augenblicke über diese Option nach, während er geistesabwesend den Collie krauelte, dann nickte er langsam: »Ich würde es ihr zutrauen.« Nadia grinste kurz bei dem Gedanken an das Mädchen von nebenan, dann runzelte sie wieder die Stirn, als ihr Blick auf den Boden fiel. »Ich glaube, deine Mutter bringt dich um, wenn sie den Boden sieht«, überlegte sie laut und deutete auf die Spur von Fell, die ihre Hündin hinterlassen hatte. »Möglich, aber wenn Helen dafür die nächsten Wochen nur am Niesen ist, ist es mir das wert«, grinste Justin und nickte Richtung Tür. »Wollen wir?« Nadia stand auf und gemeinsam verließen sie das Haus. Justin schloss die Tür ab und sie liefen los. Sie sprachen über Gott und die Welt, während sie langsam zum See schlenderten. Der Collie lief dabei immer vor ihnen her, schnüffelte mal hier, mal dort, achtete aber immer darauf, in ihrer Nähe zu bleiben. Am See schwiegen sie und schauten auf das blaue Wasser hinaus. Die Sonne ließ es glitzern und eine leichte Briese kräuselte es sanft. Ein Angler saß nicht weit von ihnen und ein paar Kinder spielten auf dem Steg bei den Segelbooten. Ein paar Segler kreuzten und umschwirrten die kleine Insel, wie seltsame weiße Vögel. Es war ein ruhiger, friedlicher Anblick. Und trotzdem hatte Justin das Gefühl, er müsse sich gleich übergeben. Er starrte aus schreckensgeweiteten Augen auf das Wasser, war dabei weiß wie die sprichwörtliche Wand. »Nadia siehst du das auch? Bitte sag mir, dass du das ebenfalls siehst«, flüsterte er, heiser vor Angst, dass ihm ihre Antwort nicht gefallen könnte. »Meinst du die Kinder? Wenn die dort nicht bald verschwinden, dann fallen sie bestimmt noch ins Wasser«, fand diese, schien gar nicht zu bemerken, was mit ihrem Freund vor sich ging. »Nein, nicht die Kinder. Ich meine das, was bei der Insel im Wasser schwimmt«, hauchte er. Jetzt schaute Nadia ihn an, und als sie seinen Blick bemerkte, folgte sie diesem erschrocken. »Ich sehe nur ein paar Enten. Was meinst du? Geht es dir nicht gut?«, wollte sie wissen und wirkte ehrlich besorgt. »Du siehst es nicht? Wirklich nicht?« »Nein. Nichts Ungewöhnliches, alles wie immer. Justin, was ist denn?« Justin schloss die Augen und atmete einmal tief durch. Dann öffnete er mit einem Lächeln die Augen. »Reingelegt«, sagte er grinsend. Das war gelogen. Er sah dort wirklich etwas, das nicht sein konnte, doch er hatte ihr Angst gemacht und das wollte er nicht. Wenn er nun wirklich langsam den Verstand verlor, dann musste er das ja nicht sofort jedem überdeutlich zeigen und sie auch nicht da mit hineinziehen. Nadia wirkte auch prompt erleichterte, lächelte sogar sacht. »Du bist ein Blödmann«, fand sie. »Lass uns weitergehen.« Justin nickte, doch er musste noch einmal einen letzten Blick auf den See hinaus werfen. Die Meerjungfrauen, die er gesehen hatte, waren verschwunden. Alles war, wie es sein sollte. Das machte ihm fast noch mehr Angst, als ihre schlanken Körper, die durch das Wasser getobt waren. Noch einmal schloss er die Augen, und als er sie wieder öffnete, stand er nicht mehr am See. Er stand in einer großen Halle, gebaut aus einem Material, das er erst für Glas hielt, bis er merkte, dass es Eis war. Er schaute sich um, so gut es ging, denn das Eis brach das Sonnenlicht, das auf es schien, sodass er in einer gleißenden Helligkeit stand, die er kaum durchdringen konnte. Lediglich das Fenster, das ironischerweise dunkler wirkte, boten seinen Augen etwas Schutz vor dem Licht, das ihn zu blenden drohte. Es dauerte einige Momente bis Justin bemerkte, das vor dem Fenster eine Gestalt stand. Er vermochte nicht zu sagen, ob es sich um einen Jungen oder Mädchen, ein Kind oder ein Greis handelte. Überhaupt schien ihm, als wäre die Silhouette der Gestalt seltsam, als wäre etwas falsch an ihr. Er ging langsam auf das Fenster zu und je näher er kam, desto mehr erkannte er. Er begriff als Erstes, das die Gestalt so falsch wirkte, weil das Wesen, was es auch war, zwei große, weiße Schwingen auf dem Rücken trug. Sie schimmerten blau im Licht, das durch das Eis gebrochen wurde. Als er noch näher kam, erkannte er, dass es wohl eine junge Frau sein mochte, denn es trug lange Haare, die so dunkel waren, dass er für sie ein neues Wort brauchte, denn Schwarz war einfach nicht dunkel genug. Sie wurden von einem goldenen Reif zusammengehalten, ansonsten trug sie keinen Haarschmuck. Als er noch einen Schritt entfernt war, blieb er stehen. Obwohl er nichts sagte und auch sonst kein Geräusch machte, erschrak sie und fuhr herum. Es war wirklich eine junge Frau. Ihre Gesichtszüge wirkten, als wäre sie dem Kindesalter eben entwachsen, doch ihre Augen straften dem Lüge. Ihre Augen wirkten so alt wie die Welt und bodenlos wie das Nichts. Sie hielten ihn in ihren Bann, egal wie sehr er sich auch dagegen sträubte. Er wusste, dass er in diesen Augen ertrinken konnte, in einem Meer aus Tränen und enttäuschter Hoffnung. Sie wirkte traurig, verzweifelt und doch glomm ein Funke in ihrem Blick. Als wenn sein Anblick ihr die Hoffnung wieder gab. Sie wollte sprechen, sie wollte ihm etwas mitteilen, das wusste er, doch bevor ihr auch nur einen Laut über die Lippen kam, brachte ein Blinzeln ihn in seine eigene Welt zurück. Mit einem Zischen entließ er die Luft, die er unwillkürlich angehalten hatte, als er das Mädchen erblickte. Auch dieses Mal schien keine Zeit vergangen zu sein, den Nadia war nur einen Schritt von ihm entfernt und schaute schon fragend zu ihm zurück. »Kommst du?«, fragte sie. »Ja, klar«, antwortete er und versuchte ein Lächeln, merkte aber selbst, wie kläglich es misslang. Wie gut, das Nadia sich wieder abgewandt hatte. Er war mit einem schnellen Schritt an ihrer Seite, dann machte er noch einen Schritt, nur um wieder stehen zu bleiben, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen. Er drehte sich um und sah sofort den Mann. Trotz des warmen Tages trug er einen langen Mantel, einen Hut und eine Sonnenbrille. Auch wenn Justin die Augen nicht sehen konnte, wusste er genau, dass der Mann ihn beobachtet hatte. Ein paar Sekunden, die für ihn wie eine Ewigkeit wirkten, starrten sie einander nur an. Dann wandte der Fremde den Kopf und ging, während Nadia seinen Arm berührte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. »Geht es dir nicht gut?«, fragte sie besorgt. »Ich, nein. Doch. Mir geht es nicht gut, ich glaube, ich geh besser nach Hause und lege mich ins Bett«, log er und ging schon, bevor sie noch etwas sagen konnte. Er ging wirklich nach Hause, wo noch immer niemand da war. Er legte sich aufs Sofa und grübelte über seine neuerliche Vision nach. Was hatte das nur wieder zu bedeuten und wer war die junge Frau? Und warum hatte der fremde Mann ihn beobachtet? Justin war sich sicher, dass er nicht nur zufällig rüber gesehen hatte und er war sich auch sicher, dass sein Blick nicht Nadia gegolten hatte. Schließlich seufzte er und setzte sich wieder auf. Das Grübeln brachte nichts, er musste das mit jemanden besprechen und Nadia war da eindeutig die Falsche. Er ging zum Telefon und wählte. Er hörte es tuten, dann gab es ein Knacken, als die Verbindung zustande kam. »Timo Lux am Apparat, wer da?«, drang die vertraute Stimme seines besten Freundes an sein Ohr. »Hallo Timo, ich bin es, Justin. Hast du heute Zeit? Ich brauche jemanden zum Reden«, sprach Justin. »Hey, Juss. Bist du nicht mit Nadia verabredet?«, fragte sein Freund statt einer Antwort. »Ja, aber es sind merkwürdige Dinge passiert und … ich weiß nicht, ich finde, ich sollte ihr das nicht erzählen. Und dir will ich das nicht am Telefon erzählen, lass uns lieber treffen.« Am anderen Ende herrschte für eine Weile schweigen. Timo schien zu überlegen. Scheinbar hatte er Angst, dass es um das Thema gehen mochte, das er so sorgsam mied, doch die Neugierde war doch stärker. »Um drei in der Eisdiele in der Innenstadt, von da komm ich besser nach Hause«, sagte er schließlich. Erleichtert atmete Justin wieder aus. Abermals an diesem Tag hatte er unwillkürlich die Luft angehalten. »Okay, bis dann«, sagte er und legte auf. Erleichtert ließ er sich wieder auf das Sofa fallen. Er hatte das Gefühl, das alles besser werden würde, wenn er sich nur erst jemandem anvertraut hatte. Kapitel 4: In der Eisdiele -------------------------- Justin beobachtete die Menschen um sich herum. Das tat er gerne. Er fand es spannend sich zu überlegen, woher sie gerade gekommen waren und wohin sie gehen würden. Warum waren sie jetzt gerade hier? Auf wen warteten sie, mit wem sprachen sie oder warum stritten sie sich? Wohin würden sie gehen? Er stellte sich vor, dass die junge Frau dort in der Ecke ihre Freundin mit dem traurigen Blick gerade tröstete. Vielleicht hatte ihr Freund Schluss gemacht, vielleicht hatte sie Probleme mit ihren Eltern, vielleicht war ihr geliebtes Haustier verstorben. Und das junge Paar am Fenster könnte sich über ihre gemeinsame Zukunft unterhalten. Vielleicht wollten sie zusammenziehen, vielleicht planten sie gar ihre Hochzeit. Vielleicht sahen sie die Welt auch noch durch ihre rosaroten Brillen und in zwei Wochen würde er mit Freunden hier sitzen und sich das nächste Mädchen aussuchen, dem er das Herz brechen konnte, während sie zu Hause alleine in ein Kissen weinte. Oder es war anders herum und sie brach ihm das Herz, wer wusste es schon? Dann fiel sein Blick auf den alten Mann, der traurig auf den Tisch starrte und noch immer das Lachen seiner Frau sah, die vor einem Jahr plötzlich verstorben war. Justin kannte ihn, er wusste, dass er seit Jahren jeden Tag mit seiner Frau hergekommen war, seitdem die beiden vor vielen Jahren glücklich geheiratet hatten. Warum kam er noch immer jeden Tag? In Gedenken an die große Liebe, die er verloren hatte, oder einfach aus Gewohnheit? Hoffte er das sich jemand zu ihm setzte und mit ihm sprach, das er mit jemandem seinen Kummer teilen konnte, oder wollte er lieber still und leise ihrer gedenken? Und wer würde sich an ihn erinnern, wenn er einmal starb? Würde es jemandem auffallen? Dass der alte Herr nicht mehr hierher kam? Wieder einmal wurde Justin bewusst, wie vergänglich alles war. Er seufzte und löffelte weiter an seinem Eisbecher, als er durch das große Fenster sah, das Timo gleich hereinkommen würde. »Hey. Bin ich zu spät?«, grüßte ihn der Freund und setzte sich. »Nein, ich war zu früh hier, ich hab es zu Hause nicht mehr ausgehalten«, antwortete Justin und schob Timo die Eiskarte hin. »Okay. Was nehme ich denn …« Timo ging nicht weiter darauf ein. Die nächsten Minuten war der Dunkelhaarige völlig damit beschäftigt, die Karte zu studieren und Justin sagte in dieser Zeit nichts, beobachtete stattdessen weiter die Menschen um ihn herum. Dann bestellte Timo und für eine Weile schwiegen sie, bis der Dunkelhaarige schließlich seufzte. »Okay erzähl mal, was ist los«, fragte er schließlich. Justin antwortete nicht gleich. Er überlegte, wie er anfangen sollte und as erst etwas von seinem Eis, um Zeit zu schinden. »Du weißt ja, dass ich nicht ganz normal bin.« Er lächelte schief und auch Timo schnaubte zustimmend. »Na ja, von diesen seltsamen Gefühlen gelegentlich weißt du ja und auch von diesen Träumen ab und an.« »Ja und das ist nicht lustig. Das ist echt gruslig«, fand Timo misstrauisch. Er wusste, dass Justin ab und zu Träume hatte, in denen er Dinge erfuhr, die er nicht wissen konnte, weil sie Hunderte Kilometer entfernt geschahen oder erst noch geschehen würden. Niemand hatte eine Erklärung dafür, es wussten auch nicht viele davon. Nun fragte sich der Dunkelhaarige, worauf Justin nun eigentlich hinauswollte. Hatte er wieder so einen Traum gehabt? »Das Ganze geht jetzt weiter. Ich hatte in den letzten drei Tagen zwei … Visionen passt, denke ich, am besten um es zu beschreiben. Nicht im Schlaf, sondern während ich wach war. Und der Inhalt war mehr als fragwürdig«, fand Justin und starrte so intensiv auf seinen Eisbecher, als könnte er dort die Erklärung lesen. »Was hast du den gesehen?« Timo war noch immer misstrauisch, aber seine Neugierde war geweckt. »Ich sah mich selbst. Auf einem schwarzen Hengst. Er, ich war voller Blut, aber es war nicht mein eigenes. Es war von den Männern um mich herum, die ich mit meinem Schwert abgeschlachtet hatte, wie Vieh. Ohne Mitleid, voller Hass. Dort waren schreie von Sterbenden und es hat mich nicht gestört. Es war normal, Alltag, nichts was mich beunruhigt hat und ich wusste, dass mir nichts geschehen würde. Das ich jeden, der sich mir in den Weg stellte, töten könnte und auch töten würde. Und ich habe schon wieder diesen verdammten Geruch von Blut in der Nase.« Justin schüttelte heftig den Kopf, schloss dann die Augen, um sich selbst wieder zu beruhigen. »Das ist wirklich seltsam. Sicher, dass du es warst?« »Wer sollte es sonst sein? Er sah aus wie ich und ich habe gewusst, was er denkt, was er fühlt. Als wäre ich selbst es in diesem Moment. Und zugleich war er mir so fremd. Es ist schwierig zu erklären.« Timo schwieg nachdenklich, schien alle möglichen und auch alle unmöglichen Erklärungen durchzugehen und sie alle wieder zu verwerfen. »Was ist mit deiner zweiten Vision?«, fragte er schließlich. »Die hatte ich heute Morgen am See.« Justin as etwas von seinem Eis und schaute dann einige Momente den Löffel an, bevor er weitersprach. »Ich war mit Nadia und ihrem Hund spazieren, da habe ich Meerjungfrauen im See gesehen. Sie spielten da herum, als würden sie das täglich tun. Und dann, ganz plötzlich, stand ich in einer Halle aus Eis. Ich sah, dass jemand vor einem Fenster steht und ich ging darauf zu. Beim Näherkommen erkannte ich, dass es ein Engel war. Ein Mädchen mit großen, weißen Flügeln. Sie hat mich gehört, sie drehte sich um und wollte etwas sagen, aber da war ich schon wieder zurück.« »Ein Engel?« Jetzt war Timo ganz eindeutig nur neugierig. »Wie sah sie genau aus?« »Na ja, sie hatte spitze Ohren, wie eine Elfe. Die Flügel sahen aus wie Schwanenflügel. Ihre Haut war ganz hell und ihr Haar so schwarz wie, wie … ich kann es nicht beschreiben, ich habe so etwas noch nie gesehen. Und ihre Augen. Die schönsten Augen, die du dir vorstellen kannst.« Er seufzte voller Sehnsucht. Dann fiel ihm auf, dass Timo seltsam nachdenklich wirkte. »Ihr Name ist Anura«, flüsterte der Dunkelhaarige. »Anura? Woher weißt du das?«, fragte Justin. Timo sah ihn an und Justin konnte in seinen Augen lesen, dass sein Freund die Antwort selbst nicht wusste. Der Name war einfach da gewesen. »Ich weiß es nicht. Aber so heißt sie, da bin ich mir sicher«, antwortete der. Eine ganze Weile schauten sie einander schweigend an und versuchten zu begreifen, was hier eigentlich vor sich ging. Dann stand Timo auf und warf ein paar Geldstücke auf den Tisch. »Ich muss los. Ich muss noch … ich muss los«, murmelte der Dunkelhaarige schwach und ging. Justin schaute ihn noch lange nach während sein Kopf versuchte zu begreifen, was das alles bedeuten mochte. Und dann sah er ihn. Den Mann vom See. Wieder mit Sonnenbrille, einem langen Mantel und einem Hut. Er tat so, als hätte er den Fremden nicht bemerkt. Er zahlte sein Eis und verließ ebenfalls die Eisdiele. Er ging jedoch nicht nach Hause, sondern lief über die Straße und stellte sich so, dass er den Eingang beobachten konnte, ohne selbst sofort gesehen zu werden. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis der Fremde ebenfalls herauskam. Er blickte die Straße hinunter in die Richtung, in die Justin laufen musste, wenn er nach Hause wollte. Er schien einige Augenblicke zu überlegen, dann ging er in die entgegengesetzte Richtung los. Justin lächelte. Er würde die Herausforderung annehmen. Er folgte dem Fremden, ohne das dieser ihn bemerkte. Der lief eine ganze Weile recht ziellos einfach umher, blieb dann und wann stehen. Er nahm einige Dinge genauer in Augenschein, strich manchmal über eine Hauswand oder dergleichen. Sein Verhalten machte für Justin keinen Sinn, es wirkte auf ihn wie jemand, der an diesem Ort eine lange, glückliche Zeit verbracht hatte und nun nach langen Jahren endlich wieder zurückkehrte. Aber warum sollte er dann jemanden verfolgen und warum ausgerechnet ihn? Oder wurde er einfach nur langsam aber sicher paranoid? Der Fremde schien ihn aber nicht zu bemerken oder aber, er ließ sich nichts anmerken und spielte seinerseits ein Spielchen mit Justin. Doch plötzlich hielt der Fremde inne, er schaute eine ganze Weile auf eine Seitenstraße. Justin wusste, dass es eine Sackgasse war, der Fremde scheinbar nicht. Er ging hinein. Justin wartete eine ganze Weile darauf, dass er wieder herauskommen mochte, doch niemand kam zurück. Er wartete noch einige Augenblicke, dann ging er langsam zu der Gasse und blickte hinein. Sie war leer und das war eigentlich unmöglich. Er hatte sie die ganze Zeit im Blick gehabt, es war niemand herausgekommen, es gab keine Türen oder Fenster und die Mauer am Ende war zu hoch, als das man sie einfach so überklettern konnte. Und dennoch war sie leer. Justin seufzte. Ihm waren mittlerweile so verdammt viele Dinge untergekommen, die er bisher für unmöglich gehalten hatte, dass es ihn nicht einmal wirklich wunderte. Er ärgerte sich nur, dass der Fremde auch diese Runde für sich entschieden hatte. So knurrte er leise eine Verwünschung und machte sich dann auf den Weg nach Hause. Kapitel 5: Bora --------------- »Sei gegrüßt, Weltenretter«, erklang eine Stimme hinter Justin. Noch bevor er sich umgedreht hatte, wusste er, dass es sein Engel war. Anura. Und er hatte recht. Sie war so schön wie beim ersten Mal und sie wirkte genauso traurig. Doch schien es ihm, dass der kleine Funke Hoffnung größer geworden war. Ihre Stimme war wundervoll anzuhören, sie war genauso sanft und melodisch, wie Justin es erwartet hatte. Sie sprach in einer Sprache, die er nie zuvor gehört hatte, dessen war er sich sicher, und dennoch verstand er sie, als wäre er mit ihr aufgewachsen. Es klang wie ein zauberhaftes Lied, das von Geheimnis und Magie vergangener Zeitalter erzählte. »Wieso kann ich dich verstehen?«, fragte er leise und stellte erstaunt fest, dass er sich ebenfalls dieser seltsamen Sprache bediente. »Es ist die Sprache der Unsterblichen. Einst kannte jedes Wesen aus jeder Welt sie. Viele vergaßen im Laufe der Jahrtausende, dass es sie gibt und so manches Volk hat gänzlich verlernt, sie zu sprechen. Doch verstehen kann sie jeder«, erklärte das Mädchen und raschelte leise mit ihren großen Schwanenflügeln. »Ich nehme an, gewöhnlich sprichst du nicht meine Sprache und bedienst dich deshalb dieser … Sprache der Unsterblichen?« Justin betrachtete fasziniert den sanften Schwung ihrer Lippen und die sanfte, fast unsichtbare Bewegung ihrer Brust, wenn sie atmete. Nie zuvor hatte er so ein Wesen gesehen. Es hätte der spitzen Ohren und der Schwingen nicht bedurft um ihn wissen zu lassen, dass sie einer gänzlich anderen Welt entstammte. »Ihr würdet mich genauso wenig verstehen«, lächelte sie. Justin nickte. »Da hast du wohl recht. Warum nennst du mich Weltenretter?« Er wollte die Hand ausstrecken und sich vergewissern, dass sie existierte. Wirklich, nicht nur in diesem seltsamen Traum. Doch er hatte Angst, dass er dann aufwachen würde. »Vor langer Zeit wurde uns ein Retter prophezeit. Ein junger Mann mit Flammenhaar, der das Böse endgültig aus meiner und jeder anderen Welt verbannen würde. Das seid Ihr.« Justin schwieg. Wie kam sie nur auf solch eine absonderliche Idee? Er konnte nicht einmal sein eigenes Leben ordnen, wie sollte er sich dann um ganze Welten kümmern? »Es gibt mehrere Welten?«, fragte er schließlich. Es war nicht so, dass er die Antwort gänzlich uninteressant fand, doch eigentlich stellte er die Frage nur, um Zeit zu gewinnen. »Ja. So viele, dass niemand jemals alle gesehen hat«, antwortete sie und schaute ihn an, als würde sie etwas von ihm erwarten. »Ich verstehe es trotzdem nicht. Wie kommst du darauf, dass ich euer Retter bin? So ungewöhnlich sind rote Haare auch wieder nicht und ich bin … Ich kann ja nicht einmal einen Toaster bedienen, ohne dass er anfängt zu brennen.« Er hielt inne und schüttelte langsam den Kopf. »Ich doch nicht.« »Ich weiß, dass irgendetwas mich zu Euch geführt hat. Ob Ihr nun der seid, für den ich Euch halte, oder ob Ihr es nicht seid, spielt letztlich keine Rolle. Letztlich zählt, dass das Schicksal uns zusammenführte. Das sollte Euch genügen.« Sie sprach in einem Tonfall, der keinerlei Widerspruch zuließ. Justin dachte für einige Augenblicke über ihre Worte nach und befand, dass sie richtig waren. Irgendetwas hatte ihn hierher geführt, nur das zählte. Zumal er das unbestimmte Gefühl hatte, das sein ganzes Leben, seine gesamte Existenz nur dem Zweck diente, das er an diesem Tag hier stand und mit diesem Mädchen sprach. »Gut, Anura«, sprach er schließlich und registrierte mit einer gewissen Befriedigung das Erstaunen in ihrem Blick, als er ihren Namen nannte. »Warum bin ich hier? Und wo genau ist hier?« »Anura. So hat mich schon lange niemand mehr genannt«, sprach sie leise und senkte den Blick. »Ich hatte nicht geglaubt, diesen Namen jemals wieder zu hören.« »Es ist dein Name. Spricht hier niemand mit dir oder was meinst du?« »Es war mein Name. In … einem früheren Leben.« Sie wirkte traurig, schüttelte dann langsam den Kopf. »Es gibt Wichtigeres, als über Namen zu sprechen. Wir sind hier in der Welt Läivia. Im Nordenreich, wenn du es noch genauer haben willst. In meinem Käfig aus Eis. Und du bist wahrlich nicht grundlos hier. Ich möchte dich um etwas bitten.« Justin hätte jeder Bitte von ihr zugestimmt. Selbst wenn sie wünschte, dass er die Sterne, den Mond und sogar die Sonne selbst vom Himmel holte, hätte er ihr Bitten nicht ausgeschlagen. Doch ihre Bitte sollte sich als unendlich einfach und zugleich unglaublich schwer herausstellen. »Unser Feind ist mächtig und seine Macht wächst mit jeder Minute. Sie haben es geschafft, zwei der Schwerter in ihren Besitz zu bringen. Keiner von uns weiß, wo die Verbliebenen zwei sind, doch es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis sie herausfinden, wo sie suchen müssen. Doch selbst wenn sie alle Schwerter haben, so fehlen ihnen noch die Steine. Korona wissen wir in Sicherheit, doch Bora ist bei mir nicht mehr sicher und so möchte ich euch darum bitten, ihn an Euch zu nehmen und mit Eurem Leben zu verteidigen.« »Das geht mir jetzt gerade etwas zu schnell. Was für Schwerter, wer oder was ist Korona und was ist Bora?« Das Mädchen lächelte. »Ich erkläre es Euch. Alles auf der Welt wird von den vier Elementen beeinflusst. Alles besteht aus ihnen. Pflanzen, Tiere, einfach alles. Diese Elemente sind Feuer, Wasser, Luft und Erde. Das ist bekannt. Vor Jahrmilliarden aber geschah etwas, an das sich kaum noch jemand erinnert. Eine Gruppe von Gesandten verschiedener Welten schlossen einen Pakt mit den Elementen. Keiner weiß mehr, worum es damals ging oder was genau geschah, doch diesem Pakt entstammt unser Erbe. Es wurden vier Schwerter geschmiedet, die die Macht der Elemente in sich trugen. Diese Schwerter waren Drachenwind, Phönixfeuer, Nixenwasser und Golemerde. Vier der Gesandten erhielten je eines der Schwerter und kehrten in ihre Welt zurück, um sie dort sicher zu verwahren. Doch hielt man es für zu unsicher, wenn alle Macht alleine in einem Schwert wohnte. Viel zu leicht konnte es in falsche Hände geraten. Und so schuf man die Steine. Diese waren Bora, Korona, Zoran und Ferrum. Nur die Steine und die Schwerter gemeinsam sollten die Macht nutzen können, die in ihnen schlief. Das Eine ohne das Andere war von jeher nutzlos. Auch diese Steine vergab man in verschiedene Welten. Bora erhielt der Gesandte aus Läivia und im Laufe der Jahrhunderte wurden die Herren des Nordenreiches die Wächter der Legende und Hüter des Steines.« »Aber eure Feinde, wer auch immer sie sein mögen, haben zwei der Schwerter und sie wissen, dass du Bora hast, habe ich das richtig verstanden?«, fragte Justin und das Mädchen nickte. »Es wäre nur noch eine Frage der Zeit, bis sie kommen und sich holen, was sie bei mir wissen. So gebe ich ihn in Eure Hände und bitte Euch inständig, Bora mit Eurem Leben zu schützen, denn Ihr seit das Einzige, das noch zwischen ihrer Herrschaft über den Wind steht.« »Wieso glaubst du, ich könnte Bora beschützen?«, wollte Justin wissen und dachte dabei, dass er ja nicht einmal in der Lage war, die Menschen zu beschützen, die ihm wichtig waren. »Weil Ihr der Weltenretter seid«, lächelte sie und Justin befand, dass das Gespräch anfing, sich im Kreis zu drehen, wenn er jetzt abermals widersprach. »Glaubst du nicht, wenn du die Möglichkeit hast, in einem Traum zu mir zu kommen, dass sie es dann auch können, wenn sie nur die richtige Person finden?« »Ich habe einen Helfer in Eurer Welt, den haben sie nicht«, lächelte das Mädchen. »Zudem bin ich der Magie mächtig. Unser Feind dagegen setzt auf körperliche Stärke. Ich glaube nicht, dass sie wissen, wohin ich Bora gebe.« »Du bist eine Zauberin?« »Ich bin eine Elbe, die das Pech hat, Magie wirken zu können«, widersprach sie traurig. »Wieso Pech?« Sie wirkte noch trauriger, schüttelte jedoch den Kopf, um deutlich zu machen, dass sie darauf nicht antworten würde. »Gut. Was geschieht mit dir, wenn sie merken, dass du den Stein nicht mehr hast? Können sie dich nicht zwingen, wieder im Traum zu mir zu kommen und ihn zurückzuholen? Dazu bräuchten sie keine Magie.« »Das wird nicht klappen, denn nicht ich bin es, die Euch aufsucht. Ihr seit der Traumseher, nicht ich.« »Traumseher?« Es war keine wirkliche Frage. Es war vielmehr eine Feststellung. Er hatte keine Ahnung, woher dieses Wissen kam, aber er wusste, was ein Traumseher war. Und es erklärte so vieles. Zumindest wenn man bereit war, an übernatürliche Geschehennisse zu glauben und nach allem, was geschehen war, war er mehr als bereit. Aber es erklärte nicht seine Visionen. Sie trat einige Schritte auf ihn zu, sodass sie nun direkt vor ihm stand. Sie roch angenehm, warm und beruhigend. Nach Wärme und Geborgenheit. »Werdet Ihr Bora an Euch nehmen?«, fragte sie leise. »Werden wir uns wieder sehen?« »Vielleicht.« Justin nickte. »Ich werde Bora mit meinem Leben verteidigen. So lange, bis du ihn wiederhaben willst.« Sie lächelte und wirkte erleichtert. Dann nahm sie seine Hand. Ihre Haut war warm und weich. Mehr ein warmer Sommerwind denn eine Hand, doch seine Augen konnten sich nicht von den ihren lösen. Sie waren nicht einfach nur dunkel, wie er bisher geglaubt hatte, sondern sie waren braun. Ein Schönes, Dunkles rotbraun. Schließlich spürte er den Stein in seiner Hand. Er hatte geglaubt, dass er sich kalt anfühlen würde, wie ein Kiesel, doch war es mehr, als hätte er einen kleinen Vogel in der Hand. »Ich lege unser Schicksal in deine Hände«, flüsterte sie und Justins Herz tat einen Satz, als er merkte, dass sie nicht mehr das förmliche Sie nutzte. »Wie nennt man dich in diesem Leben?«, fragte er leise. Sie öffnete den Mund, um ihm zu antworten. Mit einem Schrei erwachte er. Im ersten Augenblick wusste er nicht, wo er war. Sein Herz raste, doch er beruhigte sich schnell, als er merkte, dass seine Mutter ihn im Arm hielt. »Geht es wieder?«, fragte sie leise. »Ja, es geht«, antwortete er und versuchte sich zu entspannen. »Hattest du wieder einen Albtraum?« Es war nicht das erste Mal, das Justin im Schlaf schrie und es war auch nicht das erste Mal, das Ginny ihn im Arm hielt, bis es ihm wieder besser ging. Justin war ihr sehr dankbar dafür. Er wusste, dass es keine Selbstverständlichkeit war, das seine Mutter immer für ihn da war, wenn er sie brauchte. Lange schwiegen sie, während Ginny über sein Haar strich. »Willst du nicht langsam schlafen gehen? Du hast doch morgen Dienst«, bemerkte er schließlich. »Kann ich dich alleine lassen?«, fragte sie anstelle einer Antwort. Justin nickte und so stand sie auf und ging langsam aus seinem Zimmer. In der Tür blieb sie noch einmal stehen, schien etwas sagen zu wollen, schaute ihn dann aber nur noch einige Sekunden an, während das Mondlicht ihr trauriges Gesicht beschien. Dann ging sie. Justin schaute noch einige Sekunden lang die geschlossene Tür an. Er wusste, dass seine Mutter an seinen Vater gedacht hatte. Es gab unzählige Fotos von ihm, meistens gemeinsam mit Helen, Ginny oder ihm selbst. Es waren im Laufe der Jahre weniger geworden, sie waren Bildern von Helen und Justin gewichen, denn sie beide waren alles, was Ginny noch blieb, doch es gab noch genug Fotos, das Justin wusste, das er seinem Vater sehr ähnlich sah. Manchmal fragte er sich, ob Ginny ihn dafür hasste. Sie hatte seinen Vater sehr geliebt, es musste grausam für sie sein, ihn jedes Mal zu sehen, wenn sie Justin ansah und dabei doch zu wissen, dass sie ihn nie wieder treffen konnte. Andererseits hatte er nie das Gefühl gehabt, ungeliebt zu sein. Er wusste, dass sich seine Eltern nach Helen noch ein zweites Kind gewünscht hatten und dementsprechend hatte er im Großen und Ganzen eine sehr glückliche Kindheit gehabt mit zwei ganz wunderbaren Menschen, die sich liebevoll um ihn und auch um seine Schwester gekümmert hatten. Bis alles in die Brüche gegangen war. Justin blinzelte ein paar Mal, während er versuchte, seine Gedanken wieder in die Gegenwart zu lenken. Er betrachtete den Stein, der im hellen Mondlicht silbern leuchtete. Er konnte kaum glauben, dass er die Macht haben sollte, die Bäume entwurzelte, Brücken zum Einsturz brachte und jedes Jahr Menschenleben kostete. Wind konnte sehr mächtig und sehr zerstörerisch sein und er war unberechenbar. Doch fiel ihm kein Grund ein, warum das Mädchen aus seinem Traum lügen sollte. »Wie heißt du nur …?«, fragte er leise in die Stille seines Zimmers. Welchen Namen mochte sie haben? Sie, die so schön war wie der neue Morgen. Schließlich seufzte er nur. Er legte den Stein auf seinen Schreibtisch und legte sich dann ins Bett. Lange konnte er nicht einschlafen, denn seine Gedanken wirbelten umher, wie ein Sturm. Doch schließlich siegte die Müdigkeit und er sank in einen traumlosen Schlaf. Kapitel 6: Der fremde Mann -------------------------- »Sag mal, was ist denn heute mit dir los?« Justin ließ den Isländer, mit dem er ausritt, anhalten. »So nervös kenne ich dich ja gar nicht.« Das Pferd schnaubte und bockte und schien keine Lust zu haben, diesen Weg entlang zu laufen. Das war ungewöhnlich. Justin ritt mit dem Wallach oft diesen Weg und er hatte nie zuvor Probleme gehabt. Er hatte noch nie mit einem Tier überhaupt Probleme gehabt. Er hielt an und kletterte aus dem Sattel. Er trat vor den Wallach und strich ihm beruhigend über die Stirn und die Nüstern. Dabei sprach er leise mit dem Pferd und das Tier wurde sogar etwas ruhiger. »Du solltest jetzt auch ruhig bleiben«, sprach eine Stimme hinter ihm und kalter Stahl erschien an seinem Hals. Justin sog scharf die Luft ein, hielt sie aber erschrocken an, als der Stahl leicht seine Haut berührte. »Wenn du schreist, bist du tot«, erklärte die Stimme kalt. »Gut«, keuchte Justin. »Ich lass dich gleich los. Du wirst dich langsam umdrehen. Kein Schrei, keine hastigen Bewegungen. Bleib ganz normal. Solange du nichts Unüberlegtes tust, werde ich dir nichts tun«, versprach die fremde Stimme. Justin wagte nicht zu antworten, aber das schien dem Fremden zu reichen. Der Dolch verschwand von seinem Hals und er spürte, wie sich jemand einige Schritte entfernte. Langsam drehte er sich um und war nicht einmal wirklich erstaunt, als er den Mann erkannte, der ihn die letzten Tage verfolgt zu haben schien. Doch heute trug er keinen Mantel, kein Hut und auch keine Sonnenbrille, sondern Kleider aus Wolle und Leder, die gut in einem Mittelalterfilm hätten entstammen können. Rötliche Bartstoppeln verdunkelten sein Kinn, sein Haar war aber dunkel, was Justin ein wenig irritierte. Eine alte Narbe zog sich über die rechte Wange, die war Justin bisher nicht aufgefallen. Seine Augen waren von einem dunklen Blau, seinen Blick konnte Justin nicht deuten. Er war ein wenig wie der seines dunklen Zwillings in seiner ersten Vision. Kalt, mitleidlos, und doch voller wärme und einem tief versteckten Leid. Er war auf eine verquere Art und Weise widersprüchlich und doch vollkommen eindeutig. »Warum verfolgst du mich?«, fragte Justin und wich noch einen Schritt zurück, sodass er nun neben seinem Pferd stand. Der Isländer war seltsamerweise wieder völlig ruhig, als gäbe es nichts Bedrohliches in der Nähe. »Ich habe nicht viel Zeit. Ich nehme an, Melody hat mittlerweile mit dir gesprochen?«, fragte der Mann und schob seinen Dolch wieder zurück in seine ledernde Hülle. Justin registrierte das mit einem gewissen Erstaunen. Jetzt hatte sein Gegenüber kein Druckmittel mehr und Justin war sich sicher, dass er ihm ohne Weiteres entkommen konnte, wenn er es nur wirklich wollte. Als wenn der Dolch nur eine Art Requisit gewesen wäre, als wenn der Fremde damit etwas Bestimmtes erreichen wollte und jetzt, wo er es erreicht zu haben schien, nicht mehr brauchte. »Melody?«, fragte Justin und beobachtete den Fremden jetzt noch genauer. Irgendetwas war seltsam an ihm und irgendetwas war Justin vertraut. Wenn er nur darauf kam, was es war. »Die Elbe mit den Flügeln. Du hast in der Eisdiele mit deinem Freund über sie gesprochen«, antwortete der Mann, während sein Blick unstet umherwanderte. Er vermied Blickkontakt und er schien sich nicht besonders wohl zu fühlen. »Melody heißt sie also. Ja, ich habe mit ihr gesprochen, aber was hast du damit zu tun?«, wollte Justin wissen. Im selben Augenblick wurde es ihm klar. Natürlich, er war ihr Helfer in dieser Welt, den sie erwähnt hatte. »Das braucht dich nicht zu interessieren. Hat sie dir Bora gegeben?« Das machte Justin abermals misstrauisch. Wenn er ihr verbündete war, müsste er das wissen. »Vielleicht«, antwortete er deswegen ausweichend. Das schien nicht die Antwort zu sein, die sich der Fremde wünschte, sein Blick verdüsterte sich. »Nimm das vermaledeite Ding und schmeiß es in den tiefsten See, den du finden kannst. Es wird dir nur Unglück bringen«, knurrte er. »Du warst also nicht damit einverstanden, dass ich den Stein erhalte«, schloss Justin. »Ich bin nicht damit einverstanden, dass sie jemanden in Gefahr bringt, der mit dieser ganzen Sache nichts zu tun hat.« »Warum verfolgst du mich, wenn ich mit alledem nichts zu tun habe?« Für einen Augenblick wirkt der Fremde überrascht und er schien auch keine Antwort zu haben, denn lange antwortete er darauf nicht. »Ich verfolge dich nicht, Justin«, antwortete er schließlich mit sanfter Stimme. »Ich versuche nur, dem Feind einen Schritt voraus zu sein. Und Melody daran zu hindern, etwas zu tun, das unschuldige Leben zerstören könnte.« »Klingt nicht gerade überzeugend«, fand Justin. »Woher kennst du überhaupt meinen Namen?« Darauf lächelte der Fremde, doch es war kein wirkliches Lächeln, es war vielmehr ein Verziehen der Lippen, das all sein Leid ausdrückte. »Nicht jetzt, nicht hier. Irgendwann werde ich dir einmal mehr davon erzählen, aber die Zeit dafür ist noch nicht reif.« »Also werden wir uns wieder sehen?«, fragte Justin. »Wenn das Schicksal es so will, ja. Und ich hoffe inständig, dass sich bis dahin die Umstände grundlegend verändert haben.« In dem Moment sprang ein schwarzer Hengst aus dem Unterholz und trabte zu dem Fremden. Justin erkannte es sofort und plötzlich viel es ihm wie Schuppen von den Augen. Sein Gegenüber war der Mann aus seiner Vision, nur ein paar Jahre älter. »Ich hab dich früher schon einmal gesehen«, brach er aufgeregt hervor. Der Fremde lächelte traurig, während er die Zügel griff. »Ja, in einem früheren Leben«, antwortete er leise, dann schwang er sich auf den Pferderücken. Der temperamentvolle Hengst tänzelte, schien sofort losstürmen zu wollen, doch der Fremde hielt ihn zurück. »Versprich mir, dass du Bora loswirst. Das Schicksal von Läivia braucht dich nicht zu interessieren. Wenn du so klug bist, hältst du dich von dieser dreifach verdammten Welt fern und wirst so schnell wie möglich alles wieder los, was dich mit ihr verbindet«, erklärte er und griff hart in die Zügel. »Das war’s schon? Für diese paar Worte setzt du mir ein Messer an den Hals?« Irgendwie war Justin enttäuscht. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber ein paar wage Andeutungen und vermeintlich kluge Worte waren es ganz sicher nicht. »Glaub mir Justin, ich würde nichts lieber tun, als dir alles zu erklären. Ich wünschte mir, ich könnte dir auch nur die Hälfte von dem erzählen, was ich weiß und ich würde meine Seele an den Teufel verkaufen, wenn er mir nur mehr Zeit verschaffen könnte«, erklärte der fremde Mann und Justin glaubte ihm. Es war etwas in seinem Blick, das von tiefer Sehnsucht sprach und das flehende Zittern seiner Stimme tat ein Übriges. »Aber diese wenigen Augenblicke sind schon gefährlicher, als du es dir in deinen schrecklichsten Albträumen ausmalen kannst. Zeit ist ein kostbares Geschenk, von dem ich leider nicht besonders viel habe. Ich weiß nicht, wann wir uns wieder sehen werden, aber ich flehe alle Götter jeder mir bekannten Welt an, dass es erst sein wird, wenn sich die ganze Situation zum Guten gewendet hat. Ich kann dich nur noch einmal inständig darum bitten, diesen verdammten Stein so schnell wie möglich loszuwerden und diese ganze Sache zu vergessen, um deinetwillen. Bitte.« Justin wollte noch etwas sagen, doch der Fremde zwang seinen schwarzen Hengst in einen engen Zirkel, warf ihm noch einen letzten, flehenden Blick zu, setzte dann über den Graben, der den Weg vom Unterholz trennte, und war im Wald verschwunden. »Ich fühle mich gerade ein bisschen, wie bei der versteckten Kamera«, überlegte er laut an niemand bestimmten gerichtet. Der Wallach an seiner Seite schnaubte zustimmend. Doch auch wenn das alles wirkte, wir eine bewusste Inszenierung, um ihn in den kompletten Wahnsinn zu treiben, ahnte Justin, dass da etwas mehr hinter steckte. Alleine der Stein, der in seiner Hosentasche lag, bewies ihm, dass das alles kein Jux war und irgendwo eine Wahrheit lag, von der die meisten Menschen nicht einmal etwas ahnten. Und langsam reifte in ihm ein Entschluss. Er wusste nicht, wohin das alles letzten Endes führen würde, aber er ahnte, dass es an der Zeit war, aktiv in das Geschehen einzugreifen. Und das konnte er nicht hier. Es wurde an der Zeit, diese fremde Welt zu suchen. Er wusste, dass Bora ihn führen würde. Und so war es beschlossen. Er hatte keine Ahnung, wo er mit der Suche beginnen musste, doch auch das würde sich finden. Daran glaubte er fest. Er begann damit sich zu überlegen, was er alles für seine Reise benötigen würde und wie er am besten an diese Dinge herankam, während er wieder auf den Pferderücken kletterte und langsam des Weges ritt. Heim, nur um zu einem Abenteuer aufzubrechen, dessen Ausmaß er nicht kannte. Hätte er geahnt, was auf seinem weiteren Lebensweg geschehen würde und wie sein Ende aussehen sollte, so hätte er wohl den Rat des Fremden befolgt und Bora in den nächstbesten See versenkt. Doch er wusste es nicht und so machte er sich frohen Mutes auf zu seiner Reise, die alles verändern sollte.   Kapitel 7: Fort von Zuhause --------------------------- Justin schob den Brief in einen Umschlag und legte ihn auf sein Bett. Er öffnete das Fenster und schaute hinab. Im Wohnzimmer brannte kein Licht mehr, das war ein gutes Zeichen. Es hieß, dass seine Mutter ins Bett gegangen war. Er nahm seinen Rucksack und kletterte auf das Dach. Das tat er oft. Immer wenn er Zeit zum Nachdenken brauchte und niemanden sehen wollte. Schon als kleines Kind hatte er das getan. Seine Mutter und auch sein Vater, als er noch da gewesen war, hatten es ihm unzählige Male verboten, doch wann immer er niemand anderen hören und sehen wollte, kletterte er hier hinauf. Er war dabei geschickt wie eine Katze und auch Dunkelheit oder Regen beeinträchtigten ihn kaum. Das Dach war auch nicht so steil wie viele andere Satteldächer, ein falscher Tritt konnte dennoch einen schweren Sturz zur Folge haben. Deswegen balancierte er langsam zum Rand und ging langsam in die Knie, obwohl er das Bedürfnis hatte, sich zu beeilen. Er drehte sich um und setzte blind seinen ersten Fuß in das Gitter, das an der Wand des Hauses befestigt war. Hier sollten eigentlich nur die Rosen hinauf wachsen, doch Justin hatte es schon oft verwendet, um unbemerkt das Haus zu verlassen. Er wusste, dass das Gitter sein Gewicht tragen würde. Und so kletterte er geschickt hinab, sprang den letzten Meter ins Gras. Er kletterte über den Zaun, der den Garten vom Feld dahinter trennte, und trabte davon. Er musste ungesehen bis zur Bushaltestelle kommen, dann hatte er den wichtigsten Part schon geschafft. So lief er über die Felder, bis er zu einem kleinen Weg kam, der zurück zur Straße führte. Dem folgte er bis zur Hauptstraße, um dann dieser weiterzufolgen, bis er an der Bushaltestelle stand. Er musste nicht lange warten, der Bus, der ihn in die nächste große Stadt bringen würde, kam nur wenige Augenblicke später. Er bezahlte und setzte sich dann ganz nach hinten. Er fuhr etwa eine Stunde, in der Zeit betrachtete er eingehend die Karte, die er mitgenommen hatte. Als Erstes wollte er so weit weg wie möglich. Wie es dann weiterging, wusste er nicht. Er hatte keine Ahnung, wie man in eine fremde Welt kam, doch er vertraute darauf, dass Bora ihn den Weg weisen würde. Und er vertraute auf sein Bauchgefühl und das sagte ihm, dass er in den Süden fahren sollte. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam er an seinem Ziel an. Der Hauptbahnhof der Stadt, der größte Bahnhof in der Gegend. Von hier aus standen ihm alle Wege offen und es würde schwierig sein, ihn zu finden. Er kaufte eine Fahrkarte in den Süden. Der junge Mann wurde nicht einmal stutzig, obgleich Justin eigentlich zu jung war, um alleine um zwei Uhr morgens eine Fahrkarte zu einem Ort zu kaufen, der fünfhundert Kilometer entfernt war. Doch das kam Justin gerade sehr gelegen. Er wartete die zwanzig Minuten auf dem Bahnsteig, immer darauf bedacht, keinem Ordner oder Polizisten ins Auge zu fallen, dann stieg er in den Zug. Um diese Uhrzeit hatte er keine Schwierigkeiten, einen Sitzplatz zu finden. Und weil er einige Stunden unterwegs sein würde, machte er es sich bequem und war in wenigen Augenblicken eingeschlafen. »Die Fahrkarte bitte, junger Mann.« Ein Kontrolleur weckte ihn. »Was?«, fragte er schlaftrunken und schaute hoch. »Deine Fahrkarte bitte«, wiederholte der Mann, aber nicht unfreundlich. »Ja, ja, einen Augenblick«, antwortete Justin und wühlte in seiner Tasche herum. »Bist du alleine unterwegs?«, erkundigte sich der Kontrolleur ganz unvermittelt. »Wieso?« Sofort war Justin hellwach und auf der Hut. »Nun, heute ist Montag. Normalerweise ist man deinem Alter dann doch in der Schule, oder nicht?« Justin wusste, dass eine falsche Antwort ihm große Schwierigkeiten bringen konnte, doch er wurde von unerwarteter Seite gerettet. »Ach hier steckst du, kleiner Bruder«, bemerkte eine Stimme und ein Gesicht, das Justin durchaus kannte, grinste ihn mit blitzenden Augen an. »Entschuldige, du kennst Max ja, der hält einen immer ewig auf. Gibt es Probleme?« »Nur, dass Schüler für gewöhnlich nicht alleine um diese Uhrzeit Zug fahren«, bemerkte der Kontrolleur, während er Justins Fahrkarte abstempelte. »Ach so. Justin hat eine Sondergenehmigung von der Schule, unser Onkel heiratet nämlich und er ist unser letzter lebender Verwandte. Deswegen haben die das auch genehmigt, bei letzten lebenden Verwandten stellen die sich nicht so an«, log der junge Mann dreist weiter, doch dem Kontrolleur schien es einleuchtend. Er nickte, warf den beiden noch einen letzten, prüfenden Blick zu, dann ging er weiter. »Wissen Ginny und Helen, das du hier bist?« Kaum war der Kontrolleur außer Hörweite, wandte sich der junge Mann zu Justin um und wirkte gar nicht mehr gut gelaunt und erfreut. »Hey Falko.« Justin wusste, dass er jetzt ärger bekommen und er spätestens abends wieder zu Hause sitzen würde. Falko studierte gemeinsam mit Helen, die beiden waren gute Freunde und so war Falko öfter bei ihnen zu Hause. Er würde nicht zulassen, dass Justin unbehelligt von dannen zog. »Das ist keine Antwort auf meine Frage. Weiß Ginny das du hier bist?« »Nein«, murmelte Justin. Leugnen hatte keinen Zweck, ein Anruf bei ihm zu Hause und Falko wusste sowieso bescheid. »Warum bist du dann hier? »Nicht grundlos, aber die Geschichte würdest du mir sowieso nicht glauben«, antwortete der Rotschopf und drehte gedankenverloren den Stein in seinen Händen. Im ersten Licht des Morgens, das golden durch die Fenster floss, schien er ihm noch lebendiger. »Ich würde behaupten, es kommt auf einen Versuch an«, befand Falko und setzte sich ihm gegenüber. Justin betrachtete den Studenten misstrauisch, damit hatte er nicht gerechnet. Doch er sah, das Falko gar nicht ihn, sondern ebenfalls den Stein anblickte und dabei war etwas in seinen Augen, das Justin erst nicht deuten konnte, weil er sich weigerte, es zu glauben. Doch schließlich war er sich sicher. Es waren Ehrfurcht und Erkennen. Falko wusste, was das für ein Stein war und während er so da saß und das Morgenlicht sein ebenfalls rotes Haar in goldenes Feuer verwandelte, musste Justin abermals an den Reiter aus seiner ersten Vision denken. Jetzt war er sich nicht mehr so sicher, dass es der Mann auf dem schwarzen Hengst gewesen ist, wenngleich er glaubte, dass dessen dunkles Haar nur gefärbt war und er eigentlich ebenfalls rote Haare hatte. Rote Haare schienen in dieser Sache eine Art Garant zu sein, um eine Rolle zu spielen, so schien es ihm und er griff unbewusst in sein eigenes Feuerhaar, das im Morgenlicht wohl ebenso leuchten musste, wie das seines Gegenübers. »Gut, aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Es begann vor ein paar Tagen. Ich war in der Mittagspause zu Hause.« Justin erzählte alles. Er erzählte, wie er zu spät in die Stunde gekommen war, wie er mit seinen Freunden nach Hause lief und schließlich wütend und traurig von dannen zog. Er erzählte vom Wald, vom See und was in der Eisdiele vor sich ging. Wie er die einzelnen Visionen bekam und was ihm Melody und der fremde Mann erzählten und wie er sich dazu entschloss, dass es an der Zeit war, jetzt zu gehen. Falko hörte aufmerksam zu, unterbrach ihn kein einziges Mal. Als Justin geendet hatte, nickte er langsam. Er wirkte nachdenklich, während der Zugführer ansagte, an welchem Bahnhof sie als Nächstes halten würden. »Ich gebe dir jetzt ein paar Informationen, Justin. Nutze sie, frag mich aber nicht nach mehr, denn alles, was ich dir erzähle, dürfte ich dir nicht erzählen und ich neige dazu, Fragen zu beantworten. Frag also nicht nach, hör nur zu.« Falko rutschte unruhig auf seinem Sitz herum, schaute erst nach draußen, scheinbar um allen Mut zusammenzunehmen, dann begann er. »Läivia ist nicht irgendeine Welt. In Läivia wurde das Bündnis mit den Elementen geschlossen. Alles hat dort seinen Ursprung und deswegen muss es dort zu Ende gehen. Dieselbe Seele, die den Anfang machte, wird es auch beenden, so sagt die Prophezeiung und das wird ein Mensch mit Flammenhaar sein«, begann er langsam und zögernd. »Aber ich bin doch nicht die Einzige mit … Flammenhaar«, warf Justin ein, doch Falko unterbrach ihn mit einer barschen Bewegung. »Sei ruhig. Ich hab gesagt, du sollst mich nicht unterbrechen. Ich habe nebenbei bemerkt auch nicht behauptet, dass du es bist, sondern nur, was die Prophezeiung besagt. Wenn sie es sagen, nimm es einfach hin, diskutieren wird da nichts bringen. Worauf ich eigentlich hinaus will ist, dass diese Welt hier ebenfalls an dem Pakt beteiligt war. Wir waren die Wächter des Feuerschwertes, wir haben es aber vor Jahrhunderten verloren. Die Wächter gibt es noch immer und sie wissen auch noch um ihre Bestimmung, sollte das Schwert also seinen Weg zurückfinden, wird es hier Leute geben, die es beschützen werden. Das kannst du Anura, oder Melody wie sie ja jetzt heißt, gerne ausrichten.« »Woher der neue Name?«, erkundigte sich Justin und biss sich sogleich auf die Lippen. »Bei Elben ist es üblich, das sie einen neuen Namen bekommen, wenn sie im Kreis der Erwachsenen aufgenommen werden. Was deinen Weg in die andere Welt betrifft, da musst du durch ein Weltentor gehen. Du wirst es erkennen, wenn du es siehst, sie sind nicht gerade unauffällig. Sie sind überall verteilt. Wenn du sie finden willst, dann geh an einen Ort, wo selten Menschen zu finden sind, schließe deine Augen und lauf einfach geradeaus. Wenn du das Gefühl hast, angekommen zu sein, dann öffne sie wieder, im Idealfall wirst du es dann finden. Sie rufen die Menschen von sich aus, das macht sie gefährlich.« »Woher weißt du das?« Justin blinzelte erstaunt. »Ruhe jetzt, ich bin noch nicht fertig«, fauchte Falko. Justin hatte ihm angesehen, dass er einen Augenblick lang kurz davor war zu antworten, deswegen kam die Reaktion nicht unerwartet. »Wenn du durch das Tor gegangen bist, wirst du zwei Wege haben. Geh um nichts in der Welt den falschen Weg, du könntest sonst wo landen! Egal was du siehst, folge dem Weg, den der Stein dir weist. Verstehst du? Egal was das für ein Land ist, folge dem Stein. Das ist überlebenswichtig für dich«, erklärte Falko. »Ja, ich verstehe«, antwortete Justin etwas irritiert. Er war gespannt, was ihn wohl erwarten würde, wenn es Falko so wichtig war. »Gut. In Läivia musst du dir selbst helfen. Sobald du dort bist, musst du versuchen, dich alleine zu Melody durchzuschlagen. Vertrau niemandem, nur ihr. Du hast viele Feinde dort und die würden dich lieber heute als morgen tot sehen. Wenn Ginny jemals erfährt, das ich an deinem Tod schuld sein sollte, dann wird sie mich vermutlich auf die qualvollste aller Möglichkeiten langsam ermorden und da bin ich nicht scharf drauf. Oder um es ganz einfach zu machen: Komm lebend wieder.« »Ich werde mein bestes geben«, grinste Justin. »Gut. Ich muss gleich raus. Wenn du wieder hier bist und Hilfe brauchst, aber nicht zu Ginny und Helen kannst, dann komm hierher, in diese Stadt und frag nach mir. Man kennt mich, und auch wenn ich nicht hier bin, wird es hier Menschen geben, die dir helfen können und werden«, erklärte Falko weiter. »Gut. Aber beantwortest du mir noch eine letzte Frage?« Falko zögerte, doch während er aufstand, nickte er. »Aber nur eine.« »Die reicht mir. Woher weißt du das alles?« Da lächelte der Student, doch es war kein freudiges Lächeln. »Meine Familie gehört zu den Wächtern, die das Schwert beschützen sollten. Ich bin der aktuelle Erbe von Phönixfeuer.« Justin konnte dazu nichts mehr sagen, denn Falko hatte schon das Abteil verlassen, während der Zug zum Stehen kam, doch ihm hätten wohl sowieso die Worte gefehlt, denn damit hatte er nicht gerechnet. Doch es erklärte ihm einiges. So beschloss er, Falko zu vertrauen und das Tor auf jene Weise zu suchen, die er vorgeschlagen hatte. Doch vorher wollte er sich noch etwas ausruhen. Er beschloss, dass er bis in den Süden fahren würde, wie er ursprünglich geplant hatte. Doch die Fahrt musste er nicht wach verbringen, so machte er es sich bequem und war bald wieder eingeschlafen. Kapitel 8: Noch einmal Eisdiele ------------------------------- »Hey, Sally.« Timo hob schwach die Hand zum Gruß, als er das blonde Mädchen sah, das durch die Tür eintrat. »Hallo Timo.« Sie ließ sich auf dem Stuhl gegenüber fallen und an ihrem Gesicht erkannte er, dass es noch nichts Neues gab. »Er hat sich noch immer nicht gemeldet«, seufzte der Schwarzhaarige. Es war eine Feststellung, keine Frage. »Nein. Es ist, als wäre er wie vom Erdboden verschluckt. Wenn wir nur wüssten, was er vorhat? Er war die letzte Woche schon so seltsam, hat sich immer umgesehen. Ist dir das aufgefallen?« Sie schaute ihn erwartungsvoll an und Timo biss sich auf die Lippen. »Er hat dir gar nichts davon erzählt, was?«, fragte er und seufzte, als Sally erst den Kopf schüttelte und ihn dann erwartungsvoll anblickte. »Na ja, er hat mir den einen Samstag ein paar seltsame Sachen erzählt. Von einem Reiter auf einem schwarzen Pferd und einem Mädchen mit Flügeln«, antwortete Timo und erzählte Sally die ganze Geschichte. Die machte keinen Hehl daraus, das sie die Sache für frei erfunden hielt, das machte schon ihr Gesichtsausdruck deutlich. »Und du glaubst ihm das? Du weißt doch, dass er eine blühende Fantasie hat«, fand sie mit gerunzelter Stirn. »Du hast ihn an dem Tag nicht erlebt. Außerdem weiß ich, dass es Anura, also das Mädchen, das es sie gibt«, widersprach Timo. »Und woher? Hast du sie getroffen?« Die Blondine schnaubte abfällig und schüttelte entschieden den Kopf. »Ich lass mich von dir nicht reinlegen, Timo.« »Ich will dich nicht reinlegen, Sally. Ich weiß, wie sich das anhört. Ich habe ihm das auch nur geglaubt, weil ich einfach weiß, dass es stimmt. Ich kann es nicht erklären«, seufzte der Schwarzhaarige. »Gut, einmal angenommen, es stimmt, dieses Mädchen und den Reiter gibt es wirklich. Warum ist er dann verschwunden? Wenn der Reiter ihn entführt hätte, hätte er bestimmt keinen Abschiedsbrief dagelassen«, lenkte Sally ein. »Wenn ich das wüsste. Verdammt, ich wüsste doch auch gerne, was es damit auf sich hat. Ich hab nur das Gefühl, das die ganze Sache etwas mit seinem Verschwinden zu tun hat«, brummte Timo. Da setzte sich ein Gesicht zu ihnen, das sie beide kannten. »Hey Falko«, begrüßte ihn Sally. Da sie fast täglich bei Justin drüben war, kannte sie natürlich Helens Kommilitonen und auch Timo nickte grüßend, hatten sich die beiden doch das eine oder andere Mal getroffen. Doch Falko antwortete nicht, kritzelte etwas auf ein Blatt Papier und schob es ihnen hin. »Ich glaube, Justin könnte etwas Hilfe brauchen. Da ist er. Fahrt aber alleine und sagt keinem Bescheid, damit Ginny nicht enttäuscht ist, wenn ihr ihn doch nicht findet«, erklärte er, stand wieder auf und ging, bevor einer der beiden noch etwas sagen konnte. Mehr war aber auch nicht nötig. Timo und Sally lasen beiden, was auf dem Zettel stand, dann schauten sie sich an. »In zwei Stunden am Bahnhof«, erklärte sie und sofort sprangen beide auf, warfen ein paar Münzen auf den Tisch, Timo griff den Zettel, dann verließen sie eilig die Eisdiele. Kapitel 9: Die neue Welt ------------------------ Justin schaute in den Himmel. Schwere Regenwolken verdunkelten ihn und breiteten eine kühle Dämmerung über den Wald aus, obwohl es noch Stunden dauerte, bis es Abend werden würde. Justin hatte einen ganzen Tag gebraucht, um hierher zu kommen, die Nacht hatte er in seinem Schlafsack unter einem Baum verbracht. Jetzt suchte er schon seit Stunden dieses vermaledeite Tor von dem Falko erzählt hatte. Doch gleich, was er auch tat, er fand es nicht. Vielleicht war es nicht menschenleer genug, überlegte er und bis von seinem Brot ab. Er überlegte, ob er vielleicht zurückfahren sollte, um dort das Tor zu suchen. Irgendwoher musste der Mann auf seinem schwarzen Pferd ja hergekommen sein. Doch andererseits würde ihn dann Ginny auf Schritt und Tritt bewachen, dessen war er sich sicher. Und so seufzte er nur, verfluchte den Regen und knabberte weiter lustlos an seinem Brot herum. Da hörte er ein Geräusch. Er lauschte, hörte Schritte, wie jemand durch das Unterholz brach. Dann fluchte jemand lautstark und Justin stutzte. Diese Stimme kannte er, doch warum hörte er sie hier? Neugierig wandte er sich in die Richtung, aus der sie gekommen war, und lief los. Und er hatte sich nicht getäuscht, bald schon hörte er, dass sich zwei bekannte Stimmen miteinander unterhielten. Oder vielmehr alle erdenklichen Verwünschungen auf ihn äußerten. Er brauchte einen Moment um Timo und Sally zu finden, doch dann stolperte er zwischen zwei Bäumen hindurch und dort standen sie. Genauso nass wie er, müde und scheinbar stinksauer. Und das konnte er ihnen nicht einmal verdenken. »Wie kommt ihr zwei denn hierher?«, fragte er, wusste nicht, ob er erschrocken oder glücklich sein sollte. »Dich suchen, damit wir dir in den Allerwertesten treten können«, knurrte Timo und machte einen Schritt auf ihn zu, als wollte er seine Drohung gleich in die Tat umsetzen, doch Justin wich vor ihm zurück. »Ich gehe nicht nach Hause. Vorher muss ich noch wissen, was es mit dieser ganzen Geschichte auf sich hat, vorher habe ich keine ruhige Minute mehr«, erklärte er und wich noch weiter zurück. »Jetzt willst du mir auch noch erzählen, dass du an diesen Quatsch glaubst, oder wie?«, fauchte Sally. »Timo wollte mir das auch schon weiß machen. Engel, so ein Blödsinn!« Justin wusste, dass er sagen konnte, was er wollte, sie hätte ihm nicht geglaubt, so lächelte er nur und holte Bora aus der Tasche. Der Stein schien heftig zu flattern, etwas, das er sonst nicht tat. Er registrierte es mit einem Stirnrunzeln, ignorierte es aber, warf ihn stattdessen Timo zu. Der fing ihn zwar, ließ ihn aber sofort wieder erschrocken fallen. Er hatte scheinbar nicht mit diesem flatternden Gefühl gerechnet. »Was ist das?«, fragte der Schwarzhaarige und hob den Stein staunend wieder auf. »Bora. Melody, also Anura, sie hat ihn mir gegeben, ich soll für sie darauf aufpassen und der fremde Mann, der mich verfolgt hat, ist zwar ihr Verbündete, fand aber trotzdem, ich soll ihn in den tiefsten See schmeißen, den ich finden kann«, erzählte der Rothaarige. »Du hast die beiden getroffen und mir ihnen gesprochen?«, fragte Timo und drehte den Stein in den Händen. »Ja. Mit Melody in meinem Traum, mit dem Mann in Wirklichkeit. Ich traf ihm im Wald und er sagte eine Menge seltsamer Dinge, dann ging er wieder.« Timo schaute ihn mit gerunzelter Stirn an. »Wieso nennst du sie Melody?«, fragte er und gab den Stein an Sally weiter. Die zuckte im ersten Augenblick zurück, als sie das Leben spürte, das dem Stein innewohnte, doch dann nahm sie ihn staunend entgegen. »Scheinbar bekommen Elben einen neuen Namen, wenn sie erwachsen sind. Sie hieß lange Anura, jetzt heißt sie Melody. Ich will sie suchen und wissen, was immer sie mir erzählen kann.« »Was ist das für ein Stein«, fragte Sally, die ihn streichelte, als wäre es ein zahmes Tier. »Das ist Bora«, begann Justin und erklärte schnell, was es mit den Steinen und den Schwertern auf sich hatte. Daraufhin warf Sally ihm Bora wieder zu und der Rotschopf fing ihn geschickt. »Es klingt aber, als wenn es wirklich gefährlich wäre, Justin. Du weißt ja nicht einmal, wer die Feinde genau sind, wie willst du dich ihnen ausweichen? Gegen sie kämpfen kannst du nicht, du verlierst in jedem Fall«, fand Timo. »Ich weiß, aber ich muss einfach gehen. Kannst du es denn nicht verstehen?« »Nein verdammt, nein!«, antwortete Timo. »Ich kann nicht verstehen, warum du unbedingt allen Sorgen machen musst und dich wissentlich in Gefahr begibst! Ich verstehe es nicht! Also erkläre es mir!« »Das kann ich aber nicht! Kennst du nicht dieses Gefühl, dass das, was du tust, richtig ist? Ich weiß nicht, warum es richtig ist, aber es ist richtig. Ich muss in diese andere Welt und tun, was auch immer das Schicksal oder sonst wer mir auferlegt hat.« Timo starrte ihn schweigend an, hinter seiner Stirn arbeitete es sichtlich. Dann ging er zu Justin und der Rothaarige ließ es zu. Sie schauten einander lange in den Augen, dann gab Timo seinen Freund so eine schallende Ohrfeige, dass Justin einige Schritte zurücktaumelte. »Ich möchte gerne lebend aus dieser Sache wieder rauskommen«, knurrte er. »Wouh, wartet mal Jungs, was war das denn?«, mischte sich Sally erschrocken ein und kam zu ihnen gelaufen. »Warum schlägst du ihn?« »Ist schon okay, Sally.« Der Rothaarige lächelte sacht. »Die hab ich verdient.« »Völlig egal, man schlägt keine Leute«, fand sie und blitzte Timo wütend an. Justin schüttelte langsam den Kopf. »Sollen wir dich zurück zum Bahnhof bringen?«, fragte er das Mädchen. Sie runzelte vielsagend die Stirn. »Ich hoffe, du glaubst nicht wirklich, dass ich euch beiden alleine durch die Wildnis irren lasse. Du hast bis heute Abend Zeit deine seltsame Welt zu finden, wenn du es nicht schaffst, ruf ich Ginny an und erzähle ihr alles.« »Und wenn ich sie finde?« Justin schob sich das regennasse Haar aus dem Gesicht. »Dann komm ich selbstverständlich mit. Oder glaubst du, ich lasse mir einen Engel entgehen?« »Elbe«, korrigierte Timo. »Sie hat Flügel, oder? Also ist sie ein Engel«, antwortete das blonde Mädchen bissig. Justin wandte sich von seinen Freunden ab, die zankten, was Melody nun war. Er wusste, dass sie es taten, um ihre Anspannung zu überspielen. Er aber musste dieses Tor finden. Es war zum Verrücktwerden, er kam immer bei derselben Stelle an, aber er fand es nicht. Er ging wieder in die Richtung, lief zu der Felswand zurück und seine Freunde folgen ihm. Sie sagten irgendetwas, doch er hörte nicht zu. Schließlich standen sie vor dem fast senkrechten Felsen und er wusste, dass er da war, doch noch immer war nichts Spannendes zu erkennen. »Warum bleibst du stehen?«, fragte Timo. »Weil ich das Gefühl habe, das wir hier richtig sind, aber ich war heute schon dreimal hier, ich habe nichts gefunden. Ich habe gehofft, das wir jetzt zu dritt irgendwie … na ja, so eine Art Mechanismus auslösen, wie in einem Videospiel. Aber leider sind auch magische Welten keine Spiele«, seufzte Justin. »Hast du schon alles abgesucht?«, fragte Sally. »Vielleicht ist es ja im Felsen, dann kommst du da sowieso nicht dran«, überlegte Timo. »Ich fürchte, so etwas könnte es durchaus sein.« Justin wirkte nicht begeistert über diese Option. Doch irgendetwas störte ihn auch an dem Gedanken. Sally ging an die Felswand und kratze ein wenig an dem Stein herum, während Timo sich suchend umblickte. »Schon komisch, was bringt einem ein Tor, das nicht frei zugänglich ist?«, fragte das Mädchen. »Vielleicht war es vor Jahrhunderten frei zugänglich und vor Millionen von Jahren ist etwas passiert, das es verschlossen hat«, überlegte Justin und strich ebenfalls über den Stein. »Oder die Erde ist einfach ein ganzes Stück abgesackt«, meinte Timo. »Was meinst du?« Sally und Justin wandten sich um und schauten ihn an. Der Schwarzhaarige deutete nach oben, und als sie der Geste folgten, verschlug es ihnen die Sprache. Das Tor, das Justin schon seit Stunden suchte, schwebte einige Meter über ihnen mitten in der Luft. Der einzige Weg durch dieses Tor war ein Sprung von den Felsen, direkt hindurch. »Gut, was tun wir?«, wollte Sally wissen. »Lasst uns erst einmal einen Weg hinauf suchen«, fand Timo und Justin nickte zustimmend. So liefen sie die Wand entlang, die fast senkrecht neben ihnen hinaufragte, bis sie endlich an eine Stelle kamen, an der sie hinaufklettern konnten. Sie liefen die Strecke zurück, nun einen zehn Meter tiefen Abgrund neben sich, bis sie endlich auf der Höhe des Tores waren. »Was schätzt ihr, wie weit ist es?«, fragte Timo unruhig. »Zwei Meter? Ist schwierig zu schätzen«, fand Justin. Er betrachtete seine Freunde nachdenklich. Er war sich ziemlich sicher, den Sprung zu schaffen. Auch Timo traute er es zu, doch um Sally machte er sich sorgen. »Wollt ihr wirklich gehen?«, wollte die Blondine wissen. »Ich muss. Was werdet ihr tun?« Der Rotschopf schaute sie forschend an. Sally trat an den Abgrund heran, schaute zum Tor hinüber, kam dann zurück. »Glaubst du, dass ich es schaffe?«, fragte sie leise und schaute Justin ängstlich an. Der Rotschopf wusste, dass es keine Frage war. Sally tat das immer, wenn sie Angst vor etwas hatte. Sie stellte zwar eine Frage, aber eigentlich wollte sie bloß, dass ihr jemand Mut zusprach. Doch Justin war sich nicht sicher, ob er ihr den Sprung wirklich zutraute. Er konnte seine Freundin nicht in den Tod springen lassen, soviel stand fest. Doch dann sah er in ihre blauen Augen und er sah ihre Entschlossenheit. Da nickte er. »Ich springe als Erstes. Ich fang dich auf«, versprach er ihr und hoffe, dass er sein Versprechen würde halten können. »Justin, wir sollten das lassen. Fahren wir nach Hause und suchen uns dort ein einfacheres Tor, wenn es dir so wichtig ist. Das ist zu gefährlich.« Timo wirkte so gar nicht begeistert. Doch Justin ging nur ein paar Schritte in den Wald. Er versuchte sich zu beruhigen, redete sich ein, dass er es schaffen würde. Hinter dem Tor war es einfach nur weiß. Als wenn die Sonne auf Schnee schien, nur das es keine Schattierung gab. Er wusste nicht, ob das gut oder schlecht war, doch es spielte keine Rolle. Er nahm Anlauf und sprang. Es schien ihm, als hing er ewig in der Luft. Unter ihm war zehn Meter weit nichts und er wusste zu jeder Sekunde, dass ein Sturz aus dieser Höhe tödlich war. Sein Herz schien einfach auszusetzen und für den Bruchteil einer Sekunde war er sich sicher, dass er es nicht schaffen würde. Und dann landete er auf festen Untergrund. Er warf sich nach vorn, damit er nicht rückwärts wieder zurück und letztlich doch in den Abgrund fiel. Er stolperte ein paar Schritte und fiel hin, aber er war auf sicheren Boden gelandet. Für einige Sekunden blieb er einfach liegen und genoss das unbeschreibliche Gefühl, einfach nur zur atmen. Er hörte das Blut in den Ohren rauschen und sein Herz schlug hart gegen seine Brust, doch in diesen Sekunden genoss er das Gefühl, denn es sagte ihm, das er noch lebte. Doch schließlich rappelte er sich auf und schaute sich um. Um ihn herum war es einfach nur hell, bis auf die drei Risse, die in dreieckiger Anordnung um ihn herum waren. Von der anderen Seite war das Tor wirklich ein Tor gewesen, ein steinerner Rundbogen mit Runen verziert und von Efeu bewachsen, doch auf dieser Seite waren es einfach nur Risse in der Wirklichkeit. Auf dieser Seite stand er aber auch zwischen drei Welten. Er schaute zurück in die Welt, in der er geboren und aufgewachsen war. Timo und Sally standen da und schauten erleichtert zu ihm hinüber. Dann sprachen sie beide etwas miteinander, dann wandte sich Timo an ihn, doch kein Geräusch drang zu Justin. Er schüttelte den Kopf und deutete auf seine Ohren, um deutlich zu machen, dass er nichts hörte und Timo schien zu verstehen. Er runzelte die Stirn und sagte noch etwas zu Sally. Die wandte sich daraufhin ab und lief ebenfalls etwas vom Abgrund fort, um Anlauf zu nehmen. Justin trat etwas weiter vom Riss weg, damit sie auch Platz hatte, aber er noch die Möglichkeit besaß, sie zu erreichen, sollte es nötig sein. Dann lief Sally auf ihn zu und sprang, schloss dabei ihre Augen. Dann landete sie, taumelte etwas und sofort griff Justin zu und zog sie in seine Arme. Langsam schaute sie zu ihm auf, Tränen in den Augen, Angst und Erleichterung im Blick, während ihr der Regen aus den Haaren tropfte. Sie öffnete den Mund um etwas zu sagen, dann errötete sie und stieß ihn fort, machte ein paar Schritte an ihm vorbei. »Ich hätte das auch ganz alleine geschafft«, meinte sie. »Ich weiß«, antwortete er mit gerunzelter Stirn und fragte sich, was das eben gewesen war. Doch er hatte keine Zeit genauer darüber nachzudenken, denn auf Timo war schon bereit und lief auf ihm zu. Auch hier stellte sich Justin so, dass er im Notfall zugreifen konnte, wenngleich er glaubte, dass es nicht nötig sein würde. Timo gehörte in der Schule immer zu den Besten, wenn sie Weitsprung trainierten. Dieses Mal, getrieben von der Angst, sprang er sogar an Justin vorbei, sodass Justin sich nicht die Mühe machte zuzugreifen, als sein Freund ausrutschte und unsanft auf dem Hosenboden landete. Er war dennoch noch einen guten halben Meter vom Abgrund entfernt und somit nicht in Gefahr. Justin ließ auch Timo einige Augenblicke Zeit, sich zu erholen. Indes trat er in die Mitte und betrachtete die anderen beiden Risse. Jetzt verstand er nur zu gut, warum es Falko so wichtig war, dass er nicht blind einfach irgendeinen Weg wählte. Als er in die eine Welt blickte, erwartete ihn ein Wald, der golden von einer tief stehenden Herbstsonne erhellt wurde. Alles wirkte ruhig, friedlich, wie an einem schönen Frühherbstabend. In der anderen Welt erwartete ihn ein Fluss, dunkel vor Blut. Am Ufer lagen Leichen, Vögel und Ratten fraßen schon an ihnen und der Boden wirkte sumpfig, ob vor Blut oder Wasser war nicht auszumachen. Justin war dankbar, dass die Dämmerung die meisten Details verschluckte und er hoffte inständig, dass nicht genau das hinter dem Riss auf ihn wartete, was er jetzt sah. Denn er wusste sofort, dass sein Weg ihn auf das vermeintliche Schlachtfeld führen würde. »Der Weg ist glaub ich ziemlich eindeutig«, bemerkte Timo, der sich langsam von seinem Sprung erholt hatte. Justin nickte und war durch den Riss gegangen, bevor einer der anderen beiden reagieren konnte. Er wusste genau, dass sie ihm folgen würden, hätte er ihnen aber erst gesagt, wohin ihr Weg führen würde, hätte es nur wieder in endlosen Diskussionen geendet. So sparte er sich allen Wortwechsel. Seine Hoffnung wurde nicht enttäuscht, es erwartete ihn nicht der Fluss und die Leichen, sondern eine Waldlichtung, wie er sie aus seiner Welt kannte. Auch hier war es Abend, doch es regnete nicht. Nur Sekunden später kamen auch Timo und Sally durch das Tor und blitzten ihn böse an, doch bevor einer von ihnen ein Wort sagen konnte, machte Justin eine Geste, die alles um sich herum einschloss. »Wir sind in Läivia, wir sind zu Hause«, sprach er und wusste, dass es die Wahrheit war. Dies hier war seine wirkliche Heimat. Seine Freunde blickten sich um, und auch wenn Sally merklich unbeeindruckt wirkte, war etwas in Timos Blick der Justin sagte, dass es seinem Freund ebenso erging, wie ihm, wenngleich er nichts sagte. »Wohin wollen wir jetzt gehen?«, fragte er stattdessen leise, doch jemand anderes war schneller als Justin. »Zum Teufel mit euch«, fluchte jemand, und als sie sich umblickten, machte Justin unwillkürlich einen Schritt zurück. Niemand anderes als der fremde Mann persönlich stand da auf seinem schwarzen Pferd und starrte sie so fassungslos und zornig an, dass der Rotschopf unwillkürlich das Bedürfnis hatte, freiwillig noch einmal über den Abgrund in seine eigene Welt zurückzuspringen. »Nicht einmal eine Woche? Ist das dein ernst?«, fluchte der Fremde ganz unverhohlen weiter und schwang sich aus dem Sattel. »Und du wärst jetzt schon in der Luft zerrissen, wenn ich nicht zufällig hier gewesen wäre!« »Ich musste herkommen«, verteidigte sich Justin. »Du musst nichts! Verdammt noch mal, du hättest bleiben sollen, wo du warst!« fuhr der Mann ihn an und kam zu ihnen. »Dreht um, fahrt nach Hause und bleibt da! Ihr habt hier nichts verloren, alle drei nicht!« »Sie sind hier, Jason und der Weg zurück ist ihnen verwehrt«, warf daraufhin ein Mädchen ein. Justin hatte sie zuvor nicht bemerkt. Es war ein Kind, vielleicht acht oder neun Jahre alt. Sie saß auf einem Pony und wirkte eindeutig belustigt. Der Mann, Jason, fuhr herum und blitzte sie wütend an. »Janne, das ist nicht lustig«, knurrte er. »Ich weiß. Ich lache auch nicht über diese Situation, sondern über dich«, erklärte sie ruhig und ein Lächeln, das so gar nicht zu dem Alter des Mädchens passen mochte, umspielte ihre Lippen. »Wie meinst du das?«, fragte er misstrauisch, aber schon ruhiger als zuvor. »Du benimmst dich kindisch. Du solltest doch mit am besten wissen, dass sie nicht einfach so umkehren können. Sie sind jetzt Teil des Schicksals dieser Welt und daran wird alles Fluchen und Toben nichts ändern. Mal ganz davon abgesehen, dass es nie in deiner Macht lag, irgendetwas daran zu ändern.« Hinter Jasons Stirn arbeitete es, dann knurrte er leise, doch scheinbar hatte er eingesehen, dass das kleine Mädchen recht hatte. »Dann sollten wir sie auf dem schnellsten Weg irgendwohin bringen, wo sie in Sicherheit sind«, fand Jason und sie nickte zustimmend. »Wisst ihr, worüber sie sprechen?«, flüstere Sally leise den beiden Jungen zu. Erst jetzt viel Justin auf, das Jason und das Mädchen in einer fremden Sprache gesprochen hatten und es war nicht die Sprache der Unsterblichen gewesen. Dennoch hatte er jedes Wort verstanden. »Keine Ahnung. Aber er scheint sich zu beruhigen«, antwortete Timo, schaute dabei jedoch unverwandt das Mädchen an. »Gut«, wandte sich Jason jetzt wieder ihnen zu und musterte sie alles andere als erfreut. »Janne hat recht, ihr könnt nicht einfach wieder gehen. Ihr werdet zu Melody gebracht, die wird sich dann um euch kümmern. Und sie wird nicht gerade erfreut sein, das du ihr Bora so schnell wieder zurückbringst.« Der Blick des Mannes war mehr als finster, als er Justin anschaute, doch der zeigte sich denkbar unbeeindruckt. Er wusste, dass dieser Jason ihm nichts tun würde, in dem Moment, als er in der anderen Welt den Dolch weggesteckt hatte, hatte er es gewusst. »Damit wird sie leben müssen, denn mein Platz ist hier. Das war er schon immer.« »Das stimmt, aber manchmal ist es besser, wenn man nicht an seinem Platz verweilt. Man kann nur allzu leicht sterben, wenn man blind und nur seinem Bauch folgend durch die Welten irrt«, knurrte der Mann. »Wenn ich erfahren würde, was hier überhaupt vor sich geht, könnte uns das eventuell helfen, am Leben zu bleiben«, fand der Rotschopf. »Klugscheißer«, kommentierte Jason. »Ich find ihn sympathisch«, bemerkte Janne grinsend, erhielt daraufhin einen eisigen Blick von dem Mann. »Ich erzähle euch mehr, wenn wir uns bei Melody wiedertreffen.« »Kommst du nicht mit uns?« Damit hatte Justin nicht gerechnet und auch seine Freunde wirkten erstaunt. »Ich habe Besseres zu tun, als für drei Kinder den Babysitter zu machen. Aber ihr werdet in guten Händen sein«, knurrte Jason und wandte sich ab. »Janne, es wird Zeit, dass wir uns von unserem Meister verabschieden. Du hast das Kommando, bring die Männer so weit weg wie möglich. Faiver!« Der Mann schaute um sich, schien den, den er suchte, nicht zu entdecken. Auch Justin blickte sich um, doch außer Wald war nichts zu erkennen. Und dann trat es hervor. Keiner von ihnen hat je zuvor solch ein Wesen gesehen. Es lief aufrecht, aber das war wohl das Einzige, was es mit einem Menschen gemein hatte. Das Gesicht hatte etwas Hündisches, wenngleich die Schnauze eher einer großen Raubkatze glich. Es hatte Arme, die mehr an junge Bäume erinnerten und die Beine eines sehr großen, kräftigen Hundes oder Wolfes. Sein Schwanz war lang und buschig und auch die Ohren erinnerten an die eines Wolfes, wenngleich sie länger schienen. Der ganze Körper des Wesens war mit wuscheligen, orange, schwarz und weißem Fell bedeckt, dennoch konnte man darunter gut das Spiel der gewaltigen Muskeln erkennen. Was Justin jedoch am Meisten beunruhigte, waren andere Dinge. Die riesigen Pranken, die in scharfen, sehr gefährlich aussehenden Krallen endeten beispielsweise. Oder die beiden Säbelzähne, die in etwa so lang waren, wie die flache Hand eines erwachsenen Mannes. Justin wollte erst gar nicht wissen, was es damit alles tun konnte und schon gar nicht wollte er, dass er es am eigenen Leib erfahren musste. Er schluckte schwer und hoffte inständig, dass Jason genau wusste, was er tat. »Faiver, du musst die Drei zu Melody bringen. Sie bekommen Pferde, dann kommt ihr schneller voran. Es ist wichtig, dass ihr unentdeckt bleibt, vor allem Theo und seine Kreaturen dürfen nicht wissen, dass sie hier sind.« Jason schaute Janne auffordernd an, die nickte und verschwand. »Ihr werdet reiten müssen«, erklärte der Mann und auch dieses Mal viel Justin erst jetzt auf, das er zuvor in einer fremden Sprache seine Anweisungen gegeben hatte. »Warum verstehe ich ihn?«, fragte er so leise, dass nicht einmal seine Freunde ihn verstanden. »Wir können alle drei reiten«, antwortete Timo unsicher. »Seit ihr auch schon einmal einen ganzen Tag im Galopp über unwegsames Gelände geritten? Glaubt mir, morgen werdet ihr mich dafür hassen, aber das ist das schnellste Fortbewegungsmittel hier.« In dem Augenblick kam Janne wieder mit drei Pferden im Schlepptau. Sie gab die Zügel an Jason, während sie ganz bequem im Sattel sitzen blieb. Die zierliche Fuchsstute gab der wiederum an Sally, der Falbe ging an Timo und den Schimmel erhielt Justin. Doch keiner von ihnen machte Anstalten, aufzusitzen. »Wenn ihr auf eine Einladung wartet, die wird nicht kommen«, bemerkte Jason und saß auf seinem eigenen Pferd auf. »Ich habe Fragen. Eine Menge Fragen. Warum beantwortest du sie mir nicht hier und jetzt, Jason?«, erkundigte sich Justin. »Weil es durchaus möglich ist, das wir hier in absehbarer Zeit von einem Drachen geröstet werden. Ich hänge am Leben. Bei Melody werde ich euch eure Fragen beantworten, aber erst dort. Steigt auf und reitet mit oder lasst es bleiben, mir ist es gleich«, antwortete Jason schulterzuckend und ließ sein Pferd einen Zirkel laufen, da das Tier unruhig zu tänzeln begonnen hatte. Justin schaute den Mann nachdenklich an, dann schaute er auf das Mädchen, das noch immer auf ihrem Pony saß und die Szene neugierig beobachtete. Sie nickte sacht, fast nicht zu sehen, doch der Rotschopf verstand, was sie sagen wollte. Es brachte nichts, jetzt zu diskutieren. So prüfte er den Sitz des Sattels und schwang sich dann gekonnt auf den weißen Pferderücken. Sally und Timo taten es ihm nach einigem Zögern gleich. Dann ließ Jason sein Pferd vorschnellen und das schwarze Tier flog regelrecht davon. Faiver schaute die anderen drei an. Während Sally und Timo leicht verunsichert wirkten und erst einmal versuchten, sich mit ihren Pferden anzufreunden, spürte Justin sofort das unbändige Verlangen des Schimmels, dem Rappen zu folgen. Und der Rotschopf ließ den Hengst gewährend. Der Weiße stob davon, wie ein Pfeil von einer Bogensehne schnellte und die anderen beiden Pferde folgten, ohne dass ihre Reiter eine Wahl gehabt hätten. Faiver folgte zum Schluss. Sie hatten Jason schnell eingeholt und galoppierten schon bald in einer kleinen Gruppe erst durch Wald, dann über ein weites Hügelland. Hätte Justin je geglaubt, er kannte menschenleere, natürliche Umgebungen, so hätte er jetzt einsehen müssen, dass alles nur schein war, denn hier erst sah er, wie freie, ungebundene Natur, in die nie ein humanoides Wesen gesiedelt hatte, wirklich aussah. Sie waren schon einige Zeit unterwegs, die Dämmerung war feuerrot über sie hereingebrochen, als Jason sein schwarzes Pferd ganz nah an das Justins heranritt. »Ich werde euch nun verlassen. Ich habe noch andere Dinge zu erledigen«, erklärte er. »Ich hab mich schon gefragt, warum du noch immer da bist, immerhin hast du uns ja vorhin so schön erklärt, dass du gar keine Zeit zum Babysitten hast.« »Wir hatten nur zufällig denselben Weg. Für eine Weile. Wir sehen uns.« Damit ritt er eine Kurve und bog im rechten Winkel ab. Faiver schaute ihm noch kurz nach, grunzte dann vernehmlich und legte noch einmal an Tempo zu, was die Pferde dazu veranlasste, ebenfalls ihre Geschwindigkeit zu erhöhen. Darauf folgten ungezählte Stunden in einer sternenbeleuchteten Dunkelheit. Es war Neumond in Läivia und da es hier keine Städte zu geben schien, gab es auch keinerlei Beleuchtung, die den Himmel in einem schmutzigen Orange erstrahlen lassen konnte, wie es Justin von zu Hause gewohnt war. Hier gab es nur Sonne, Mond und Sterne. Es musste schon spät in der Nacht sein, die Drei waren schon kurz davor, in ihren Sätteln zu schlafen, als Faiver endlich langsamer wurde und schließlich anhielt. Abermals passten sich die Pferde seinem Tempo ohne das Zutun ihrer Reiter an, sodass sie bald in stockfinsterer Nacht standen. »Pause?«, krächzte Sally und man hörte die Müdigkeit in ihrer Stimme. Ihr Anführer grunzte darauf nur und Justin begann zu überlegen, ob Faiver vielleicht gar nicht sprechen konnte. Da gewahr er eine Bewegung in der Dunkelheit. Etwas an dieser Bewegung war ihm vertraut, das nahm ihm alle Angst. Doch erkannte er Jasone erst, als dieser sein schwarzes Pferd direkt vor ihnen schlitternd zum Stehen kommen ließ. »Da bin ich wieder«, erklärte der Mann und wirkte, als hätte er eben lange und gut geschlafen, obwohl auch er die ganze Nacht geritten sein musste. »Sehen wir. Dürfen wir schlafen?«, fragte Timo und legte sich auf den Pferdehals. »Wenn ihr aus den Sätteln kommt«, antwortete Jason grinsend und schwang sich scheinbar frisch und ausgeruht vom Pferderücken und begann damit, sein Pferd abzusatteln. »Wenn ihr reiten könnt, dann könnt ihr euch auch um euer Pferd kümmern, das erledigt Hier niemand für euch«, bemerkte er, während er den Sattel sorgsam auf dem Boden ausbreitete. Justin indes warf ihm einen bösen Blick zu, denn die Bemerkung zuvor, hatte Jason nicht grundlos gemacht. Er hatte wirklich Schwierigkeiten, seine verkrampften, wunden Beine davon zu überzeugen das zu tun, was sie tun sollten. Schließlich fiel er mehr hinab, als das er abstieg und auch Sally und Timo erging es nicht besser. Doch während Sally einfach liegen blieb, wo sie war und schon schlief, kümmerten sich die beiden Jungen ebenfalls noch darum, dass ihre Pferde nicht mit Sätteln und Zaumzeug ruhen mussten. »Laufen sie nicht weg?«, fragte Timo, doch eigentlich war es ihm schon egal. »Nein, keine Sorge«, antwortete Jason und hatte ein Einsehen. Er ließ Sally schlafen und kümmerte sich an ihrer statt um die Fuchsstute. »Sie sind darauf trainiert, dass sie bei Pfiff kommen.« Timo nickte, dann ließ er sich regelrecht zu Boden fallen und den Sattel als Kissen nutzend, war er ebenfalls binnen Augenblicken eingeschlafen. Justin zögerte als Einziger, schaute sich unsicher um. »Keine Sorge, Faiver und ich übernehmen die Wache. Schlaf ruhig, die Pause ist auch so schon nicht lang«, erklärte Jason, der seine Geste richtig verstand. Da nickte auch Justin, rollte sich auf dem nackten Boden zusammen und schlief. Jason betrachtete sie eine Weile, lächelte dabei. »Morgen hassen sie mich«, erklärte er dem Wesen, das an seiner Seite saß und aufmerksam in die Nacht spähte. »Das tun sie auch jetzt schon. Jetzt sind sie nur zu Müde, um es zu zeigen«, antwortete Faiver mit einer tiefen, fast schnurrenden Stimme. Jason zuckte mit den Schultern. »Von mir aus auch das. Die Tage werden nicht einfach mein Freund. Nicht für sie, nicht für uns.« Und Faiver nickte. Das wusste er. Seit Langem schon. Dann schauten sie beide in die Nacht und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Sorgenvoll und Düster und doch mit einem kleinen Lichtblick in Gestalt, drei einfacher junger Menschen. Kapitel 10: Der alte Mann und sein Drache ----------------------------------------- Sonnenschein weckte Justin. Sonnenschein und ein durchdringender Schmerz, der sogar Körperpartien durchzog, von denen er nicht einmal wusste, dass sie existierten. Stöhnen richtete er sich auf, sah, das seine Freunde noch schliefen. »Muskelkater?«, fragte jemand, und als Justin über die Schulter schaute, sah er Jason breit grinsend die Pferde striegeln. »Untertrieben«, gab er widerwillig zu. »Oh ja, ich weiß noch genau, wie es mir nach meinem ersten wirklich langen Ritt ging«, erklärte Jason feixend. »Aha«, machte Justin. »Wie lange hab ich geschlafen?« »Zu lange. Aber Faiver und mir kam etwas dazwischen, also sei froh über die verlängerte Pause. Wenn die Pferde gesattelt sind, geht es auch schon weiter.« Justin stöhnte laut auf bei dem Gedanken, noch einmal so lange im Sattel zu sitzen und diesmal sogar mit schmerzenden Knochen. »Wie haben die Pferde eigentlich den Ritt gestern durchgestanden? Ich kenne kein Pferd, das so lange galoppieren kann.« Jason wirkte im ersten Moment, als wüsste er nicht so recht, wie er das erklären konnte, doch dann lächelte er, während er weiter den Striegel über das Fell der Fuchsstute führte, bis es aussah wie Feuer. »Janne ist eine Art Zauberin. Nein, das ist das falsche Wort, Schamanin trifft es wohl besser. Ich weiß nicht, was sie genau gemacht hat, aber durch sie konnten wir das erste Stück deutlich schneller schaffen, als ich erwartet hatte. Doch ihr Zauber ist vorbei, heute werden wir wohl mit einem schnellen Trab vorlieb nehmen müssen.« »Sie ist nicht so jung, wie sie aussieht, oder?« Jason schaute ihn erstaunt an, dann lächelte er. »Kluger Junge. Nein, Janne ist kein Kind. Aber das gehört zu den Geheimnissen, die die verschiedenen Welten in sich bergen.« »Sie ist nicht aus dieser Welt?« Justin stand auf und trat an seinen Schimmel heran, während Jason sich an dem Falben zu schaffen machte. »Nein. Kaum einer von uns ist aus dieser Welt.« »Uns? Wer ist uns?« Jetzt war Justin wirklich neugierig. »Die, die das Nichts zum Beschützer der Wünscher auserwählt hat«, erklärte Jason. Justin stutze und schaute ihn mit gerunzelter Stirn an. »Was?«, fragte er. Jason lächelte. »Ich habe es anfangs auch nicht verstanden. Wir nennen ihn das Nichts, keiner weiß, was es genau ist. Aber es gewährt einem Lebewesen die Macht, seinen Herzenswunsch wahr werden zu lassen. Doch mit dem Herzenswunsch sind nicht immer alle einverstanden und deswegen braucht der Wünscher eine Art Leibwache. Die ihn beschützen und seine Befehle ausführen, damit er seinen Herzenswunsch erfüllen kann.« »Und das sind du und Janne?« »Ja, aber nicht nur. Ich erkläre es dir ein anderes Mal«, blockte Jason jede weitere Frage ab. »Nimm es erst einmal so hin.« Damit war Justin keineswegs einverstanden, doch Faiver trat über eine Hügelkuppe und grunzte laut. Der Rotschopf fragte sich abermals, ob das Tierwesen nicht sprechen konnte und kam zu dem Schluss, dass dem wohl so war, warum sollte er sonst grunzen? Doch es gab spannendere Dinge in seiner Umgebung. Jason zum Beispiel, der unruhig zu Faiver schaute und dann noch schneller weiterstriegelte. Justin konnte sich nicht helfen, etwas war an diesem Mann seltsam. Er wusste eine Menge, doch er gab so wenig Informationen, wie möglich preis. Doch warum? »Du vertraust uns nicht«, riet er ins Blaue hinein. »Was?« Jason ließ vor Überraschung fast seinen Striegel fallen. »Du verschweigst uns fast alles. Welchen Grund gäbe es dafür noch außer den, dass du uns nicht vertraust?« Jason wirkte einen Moment, als wenn er intensiv darüber nachdachte, ob Justin seine Aussage ernst meinte. Justin wusste nicht, zu welchem Ergebnis er letztlich kam, doch Jasons Reaktion als solche war so unerwartet, das er auch nicht weiter darüber nachdachte. Der Mann trat ganz dicht an Justin heran, sah ihn direkt in die Augen und hielt seinen Blick gefangen. Er sprach so leise, das Justin ihn fast nicht verstanden hätte, obwohl Jason so dicht vor ihm stand, wie es möglich war, ohne ihn zu berühren. »Ich würde dir ohne jedes Zögern mein Leben anvertrauen, Justin. Denn ich weiß mehr über dich als du selbst und ich kenne dich länger und besser, als du es jemals für möglich halten würdest. Ich weiß, das du nicht damit spielen würdest.« Einen Augenblick lang schaute Jason ihn noch an, dann wandte er sich ab und sattelte die Pferde während Justin ihn verwirrt beobachtete. Dann sah er aus dem Augenwinkel, dass Timo sich langsam aufsetzte. »Wir müssen bald weiter«, erklärte Justin zu ihm und hockte sich neben Sally, um sie sanft an der Schulter zu berühren, damit sie ebenfalls aufwachte. »Ich kann nicht reiten«, antwortete Timo und verzog schmerzhaft das Gesicht. Doch er hatte seine Rechnung ohne Faiver gemacht. Der Tiermann war mittlerweile zu ihnen gekommen. Jetzt griff er Timo grob am Arm und zog ihn einfach auf die Beine, während Justins Freund vor Schmerz schrie. »Was tust du?«, brüllte Justin und machte einen großen Schritt über Sally, doch da war Jason schon bei ihm und hielt ihn zurück. »Sag dem Vieh, das er das lassen soll!«, brüllte der Rothaarige den Mann an, doch Jason wirkte nicht beeindruckt. »Aufsitzen. Oder Faiver hilft dir«, antwortete der Mann ruhig. Justin überlegte einige Sekunden, ob er sich nicht einfach umdrehen und gehen sollte, da berührte ihn Sally am Hosenbein. »Ich kann nicht«, erklärte sie leise und ihre Stimme zitterte dabei. Sofort kam Faiver herbei und wollte sie ebenso unsanft auf die Füße stellen, wie zuvor Timo, doch Jason hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. Faiver wirkte ärgerlich, er grollte leise aus seiner Kehle, doch Jason schüttelte sacht den Kopf. »Sie ist ein Kind, ein Welpe«, erklärte er in jener fremden Sprache, in der er auch mit Janne zu sprechen pflegte. Für einen Moment sah es so aus, als wenn Faiver das einfach ignorieren wollte, dann blitzte er Justin und Timo so böse an, dass die beiden ohne weitere Aufforderung zu ihren gesattelten Pferden gingen. Dann lief er los. »Er läuft vor, wir holen ihn wieder ein«, erklärte Jason, wandte sich dann Sally zu, hockte sich neben sie. »Hör zu, Kleines. Wir müssen weiter. Es spielt leider keine Rolle, ob wir wollen oder können.« »Ich habe schmerzen. Und wovor laufen wir überhaupt weg?«, wollte sie mit zitternder Stimme wissen. »Vor unserem Tod«, antwortete Jason sanft. »Ich fürchte, er ist näher dran, als ich hoffen kann. Ich würde das nicht von euch verlangen, wenn ich es nicht müsste.« Sally zögerte noch einen Augenblick, dann schaute sie zu Justin und Timo rüber, die sich noch nicht aufraffen konnte, aufzusitzen, und wieder zurück zu Jason. Sie sagte leise etwas zu ihm. Justin konnte sie nicht verstehen und er sah auch nicht, wie Jason darauf reagierte, aber etwas in Sallys Blick, änderte sich. Sie wirkte entschlossener und ließ sich aufhelfen. Tapfer und mit zusammengebissenen Zähnen ließ sie sich von Jason zu ihrem Pferd bringen und hinauf helfen. Sie gab keinen Schmerzenslaut von sich, doch Justin sah, wie sehr sie dabei litt. Dann wandte sich Jason ihm und Timo zu. Sein Blick war noch immer mitfühlend, doch die Geste, mit der er ihnen das Aufsitzen befahl, ließ keinerlei Widerspruch zu. So quälten sich die beiden auf den Rücken ihrer Reittiere und ließen die Pferde langsam antraben. Bei jedem Schritt seines Schimmels war es Justin, als jagte jemand glühende Glassplitter durch seinen Körper und er wusste, dass er das nicht lange durchhalten konnte. Wie es Sally gehen mochte, wagte er gar nicht zu überlegen, doch er wusste, dass Jason keine weitere Verzögerung mehr gelten lassen würde. Es sollte sich herausstellen, das sie auch so schon zu lange gebraucht hatten. Die Landschaft änderte sich jetzt zusehends, sie wurde felsiger und immer wieder mussten die Pferde Anhöhen hinauflaufen, sodass sie bald schweißbedeckt waren. »Lange können wir nicht mehr so weitermachen«, rief Justin irgendwann Jason zu, der auf seinem Rappen einige Meter vor ihm ritt. Der ignorierte ihn so lange, bis er auf dem Kamm des Hügels ankam. Dann wandte er sein Pferd und schaute erleichtert und mit einem Lächeln zu ihnen zurück, Faiver an seiner Seite »Wir sind fast in Sicherheit«, rief er zu ihnen zurück. »Dann können wir es langsamer angehen.« »Woher weiß er das?«, fragte Timo mit gerunzelter Stirn und wie auf ein stummes Kommando hin, ließen sie ihre Pferde schneller laufen, sodass sie nach kurzer Zeit ebenfalls auf dem Hügelkamm standen. Vor Staunen blieben ihnen die Münder offen stehen. Unter ihnen erhob sich eine Mauer aus Eis. Sie schimmerte in einem kalten Blau in der Nachmittagssonne und sie erstreckte sich so weit nach rechts und links, dass ihr Ende nicht zu sehen war. »Was ist das?«, fragte Timo leise. »Die Grenze zum Nordenreich. Sobald wir sie hinter uns gelassen haben, sind wir erst einmal in Sicherheit. Oder zumindest sicherer, als hier. Das Reich wird nämlich von Melodys Magie geschützt, da kommen sie nicht so schnell durch«, erklärte Jason und genoss sichtlich den Anblick des Schutzwalls aus Eis. »Wie kommen wir da rüber?«, wollte Justin wissen. »Gar nicht. Wir gehen durch. Es gibt ein Tor einige Kilometer östlich.« Der Mann betrachtete die Mauer fast liebevoll. »Warum schmilzt sie nicht?«, erkundigte sich Sally und jetzt viel auch Justin der Fehler bei diesem Anblick auf. Es war noch lange nicht kalt genug, als das so ein Gebilde hätte existieren können, es hätte über den Sommer schmelzen müssen. »Das gehört zur Magie des Reiches. Melody kann das besser erklären«, fand Jason und schien beschlossen zu haben, dass sie nun weiter mussten. Doch da schaute Faiver in den Himmel und erregte so seine Aufmerksamkeit. Sogleich folgten die Menschen seinen Blick. Über ihnen flog ein geflügelter Wolf dahin und landete nur ein paar Meter entfernt. Auf seinem Rücken saß Janne. »Er ist unterwegs!«, rief sie in der Sprache der Unsterblichen. Jason fluchte laut, dann wendete er sein Pferd und ritt einmal um Justin und seine Freunde herum, um sie zur Eile anzutreiben, nur um mit seinem Rappen zu folgen. In einem wahnwitzigen Tempo jagten sie den Hang hinab, Faiver neben und Janne über ihnen. »Wo?«, rief Jason ihr zur. »Zu nah. Wenn kein Wunder geschieht, kriegt er euch«, rief sie zurück. Dabei waren sie abermals in die fremde Sprache gewechselt, die außer Justin keiner der Drei zu verstehen schien. Abermals fluchte Jason laut und so rüde, dass Justin rote Ohren bekam. Dann jagten sie dahin. Es konnten nur Minuten vergangen sein, doch für den Rotschopf zog es sich, dass es ihm wie Stunden vorkam. Der Schatten von etwas wirklich Großem senkte sich über sie. Justin schaute nach oben und sah, dass es ein weißer Drache war, der einige Meter vor ihnen landete. Jason hielt an und auch die anderen Pferde stoppten und scheuten. Sie mochten den Drachen nicht gerade, was Justin ihnen nicht einmal verübeln konnte. Es war nicht die nette Sorte von Drache wie Fuchur aus der unendlichen Geschichte, es war vielmehr die böse Sorte. Die, die Jungfrauen entführte und sie in ihren Turm gefangen hielt oder riesige Schätze anhäufte und sie hütete, wie ihren eigenen Augapfel. Die weißen Schuppen leuchteten im Licht der Nachmittagssonne, die eisblaue Mauer ließ kalte Schatten über die Schuppen wandern. Die Augen waren pupillenlos und leuchteten rot wie Blut. Er war so groß, das er bequem die Pferde hätte wegschleppen und fressen können. Da viel der alte Mann auf seinem Rücken kaum auf. Doch eben diesen Mann starrte Jason an, Angst lag in seinem Blick und Justin begriff, dass er den Alten mehr fürchtete, als den Drachen. Faiver, noch immer an ihrer Seite, begann laut zu knurren. »Wohin des Weges, Feuerreiter?«, fragte der Alte mit süßer Stimme. Justin konnte ihn schon jetzt nicht leiden. »Lass uns passieren«, forderte Jason. Justin hörte, dass seine Stimme ganz sacht zitterte. Der schlimmste aller denkbaren Fälle war für ihn scheinbar eingetroffen. »Nein, ich glaube nicht«, antwortete der Alte grinsend. »Aber bevor ich euch töte, sag mir, warum du uns verrätst, Feuerreiter.« »Ich habe meine Gründe. Du würdest sie nicht verstehen«, antwortete Jason kalt. »Und die deinen sind dir dabei völlig gleich?« Scheinbar hatte der alte Mann einen wunden Punkt getroffen. Jason antwortete nicht, aber er zitterte. Er schien riesige Angst zu haben, doch Justin bewunderte seinen Mut. Jason lief nicht weg und wandte sich nicht ab. Stolz und so ruhig, wie er konnte, erwiderte er den kalten Blick des Mannes. »Lass uns passieren«, forderte er ein weiteres Mal, diesmal mit einem deutlichen Zittern in der Stimme. »Nein. Dein Verrat wird ihm nicht gefallen. Ich hoffe, dass ich es bin, der sie töten darf«, grinste der Mann und ließ seinen Blick über die kleine Gruppe schweifen. »Was meint er?«, fragte Justin leise, doch Jason antwortete ihm nicht. Das wunderte den Rotschopf nicht wirklich. Ein Blick in das Gesicht des Mannes sagte ihm, das der gerade mit gänzlich anderen Dingen beschäftigt war, als seinen Fragen. »Woher hast du den Chito!«, riss der Fremde sie beide jäh aus ihren Gedanken. Der Mann auf dem Drachen schaute sie nicht an, sondern blickte auf etwas direkt hinter Justin. Als er sich umwandte, standen dort Sally und Timo, die ängstlich und misstrauisch zu dem Drachen hinüberblickten. »Chito«, murmelte Jason an Justins Seite. Er schien damit durchaus etwas anfangen zu können und als Justin seinem Blick folgte erkannte er, dass er Timo ansah. Warum Timo? Doch er kam nicht dazu, den Gedanken weiter zu verfolgen. Der fremde Mann rutschte vom Rücken des Drachen. Im selben Augenblick stürzten sich Faiver und Janne auf ihrem geflügelten Wolf auf ihn, während Jason seinen Rappen herumriss, die Zügel von Sallys und Timos Pferden an sich nahm und lospreschte. Im ersten Augenblick war Justin so überrumpelt, dass er selbst gar nicht reagierte, dafür aber sein Schimmel, der mit einem gewaltigen Satz ebenfalls losstürzte. Doch sie hatten nie eine wirkliche Chance. Der Drache fegte mit dem einen Flügel Janne und ihren Wolf aus der Luft, wischte Faiver weg wie eine Fliege und den anderen schob er in die Laufrichtung der Pferde, sodass sie scheuten und ausbrachen. »So nicht!«, brüllte der alte Mann und kam mit gezücktem Schwert auf sie zu. Auch Jason zog sein Schwert und sprang aus dem Sattel, bereit, seinen Kontrahenten entgegen zu treten. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Plötzlich war da eine Gestalt neben Justin. Er bemerkte sie, aber er war sich nicht sicher, ob sie nicht schon die ganze Zeit über dort gestanden hatte. Er zögerte, wandte sich dann zu dieser Gestalt um, als er merkte, dass sich niemand in seiner Umgebung mehr rührte, nicht einmal der Schimmel, auf dem er saß. Scheinbar hatte dieses Etwas, was auch immer es war, die Zeit angehalten. »Wer bist du?«, fragte Justin leise und betrachtete die wabbernde Dunkelheit. »Zu früh«, antwortete es. Seine Stimme klang vertraut und beruhigend. Wie ein Schlaflied, das die Mutter für ihr Kind sang und das das Kind nach Jahren wieder hörte. »Hast du die Zeit angehalten?«, wollte Justin weiter wissen. Nach allem, was ihm passiert war, wunderte ihn nicht einmal, dass so etwas möglich war. »Nur die Zeit hat die Macht über die Zeit. Du bist zu früh, jetzt kannst du ihn noch nicht retten.« »Wen?« Das Wesen deutete auf Jason, dann auf Timo und auf Sally. Und dann deutete es in die Ferne, als wäre dort etwas. Etwas, das wichtig war. »Die, die dir dein Leben gegeben haben, ihnen, denen du dein Herz geschenkt hast. Die, für die du sterben wirst. Und dein Glück, dein Verderben. Es ist zu früh.« »Was? Ich verstehe nicht, was meinst du?« »Du wirst es verstehen. Wenn dein Leben beendet ist, dann wirst du alles verstanden haben.« »Heißt das, das ich bald sterben werde?« Seltsam, der Gedanke machte ihm keine Angst. Es war, als hätte er schon immer gewusst, dass er nicht lange leben würde. »Nein. Es heißt, dass du sterben wirst, wenn es an der Zeit ist. Wenn deine Aufgabe erfüllt ist. Wie jeder andere sterbliche auch. Willst du wissen, wie dein Leben zu Ende geht?« Justin war für einige Augenblicke versucht, ja zu sagen. Doch eine kleine böse Stimme in seinem Kopf fragte ihn, ob er das wirklich wollte. Und er entschied, dass er es eigentlich nicht wissen wollte. »Nein. Hättest du es mir wirklich verraten?« »Nein.« Justin lächelte. Genau diese Antwort hatte er erwartet. »Du musst jetzt an einen anderen Ort.« »Und wohin?« »Dorthin, wo du bleiben kannst. Bis die Zeit gekommen ist, ihn zu retten.« »Ich nehme an, du wirst mir nicht verraten, wo das sein wird?« Das Wesen antwortete nicht. Stattdessen bewegte es sich langsam vorwärts, zu Timo hinüber. Der Schwarzhaarige war ebenso erstarrt, wie die anderen auch, dennoch wirkte es, als wenn er das Wesen aus großen Augen direkt ansah. Es berührte ihn nicht, dennoch merkte Justin, dass irgendetwas anders war. Er spürte die Magie in der Luft. Er fragte sich noch immer, was es mit dem Begriff Chito auf sich hatte. »Es wird Zeit, dass er seine wirkliche Gestalt wiedererhält. Jetzt muss er sich nicht mehr tarnen.« Justin sparte sich die Frage, die ihm auf der Zunge lag. Er hätte sie auch nur noch der Luft stellen können, denn das Wesen war verschwunden und die Zeit lief weiter, als wäre nie etwas geschehen. Der alte Mann und Jason umkreisten einander wieder, Sally wimmerte leise. Dann hüllte ein helles Licht sie ein. Als es verblasste, saß er noch immer im Sattel des Schimmels, doch das Pferd stand nicht mehr auf freiem Feld, sondern in einer Halle aus Eis. »Wo sind wir hier?«, fragte Sally, dann schrie sie laut auf, denn ihr Blick war auf Timo gefallen. Der Schwarzhaarige hatte sich verändert. Er besaß nun Katzenohren und Fledermausflügel zierten seinen Rücken, doch schien ihm selbst die Veränderung noch nicht aufgefallen zu sein, denn er schaute sich suchend um, verstand nicht, dass Sally wegen ihm geschrien hatte. Justin setzte gerade dazu an, es ihm zu erklären, da begann schon jemand anderes, zu sprechen. »Herzlich willkommen in der Elbenfeste, willkommen im Nordenreich.« Als er sich umwandte, stand sie dort und sie war noch tausendmal schöner als in seinem Traum. »Melody.« Kapitel 11: In der Elbenfeste ----------------------------- »Melody, Janne, war das einer von euch?«, fragte Jason und schaute nachdenklich durch die große Halle aus Eis. »Du weißt, dass ich mich anderer Magie bediene«, antwortete Janne darauf und rutschte vom Rücken ihres geflügelten Wolfes. Der legte die Ohren an, lief unruhig hin und her, bis sie ihn mit einer Handbewegung entließ. Sofort flog er durch eines der offenen Fenster, während Janne Melody misstrauisch musterte. »Auch ich wasche meine Finger in Unschuld, ich dachte ihr …« Sie wirkte nicht erfreut, doch fing sie sich schnell wieder. »Was es auch war, es hat uns geholfen«, fand Jason. Dabei wechselte er in die Sprache der Unsterblichen und ließ seinen Blick über die Sally, Justin und Timo schweifen. An Letzterem blieb er hängen. »Und es hat den Zauber aufgehoben.« »Welchen Zauber, was ist hier los?«, wollte Timo mit scharfer Stimme wissen. »Ich denke, wir haben eine Menge zu besprechen«, fand Melody kalt und bediente sich nun ebenfalls jener Sprache. »Warum du sie mit hierher gebracht hast, zum Beispiel.« »Oh nein, Mylady, den Schuh lass ich mir nicht anziehen. Aber erst einmal sollten wir vielleicht die Pferde hinunterbringen. Ich bezweifle, dass du dich über Pferdeäpfel in diesen Hallen besonders freuen wirst, von deinen Dienern ganz zu schweigen«, fand Jason und stieg aus dem Sattel. Erst jetzt wurde Justin bewusst, dass er noch immer auf seinem Schimmel saß. Er stieg ebenfalls ab, ebenso wie seine Freunde. Faiver, der sich bisher Abseits gehalten hatte, nahm ihnen ihre Pferde ab und verließ mit ihnen den Saal. Er schien nicht das erste Mal hier zu sein. »Es reicht, wenn du Summer fütterst und tränkst, ich kümmere mich gleich selbst um den Rest«, rief Jason dem Wesen noch nach, dann wandte er sich an Timo. »Fangen wir mit dir an.« »Ein Spiegel«, fand Justin. »Der wäre hilfreich.« »Was ist mit ihm passiert? Wer hat ihn so verzaubert und warum?«, fragte Sally derweil ängstlich und kam zu Justin, machte dabei einen großen Bogen um Timo. Der wirkte verletzt und verwirrt, er begriff nicht, worüber sie sprachen und was sie meinten. »Niemand hat ihn verzaubert. Das ist seine wahre Gestalt. Irgendjemand hat einen Bannzauber auf ihn gelegt, damit er unter den Menschen nicht auffällt«, erklärte Jason an sie gewandt, dann trat er direkt auf Timo zu. Er nahm die Hand des Schwarzhaarigen und führte sie zu seinen pelzigen Ohren. Timos Augen weiteten sich vor Schreck, als er das Fell fühlte. Er strich darüber, griff sein Ohr und zog einmal fest daran, doch außer, dass es ihm selbst Schmerzen bereitete, geschah nichts. »Was ist mit mir passiert?«, flüsterte er leise. »Du stammst ursprünglich aus Läivia. Vor Tausenden Jahren wurde diese Welt von Wesen bevölkert, die man Chitos nannte. Sie verschwanden im Laufe der Zeit fast vollständig und machten damit den Elben platz, die in diesem Zeitalter den größten Teil der Bevölkerung stellen. Ich dachte, dass sie ausgestorben seien, aber du bist der lebende Beweis, dass dem nicht so ist«, erklärte Jason leise und ruhig. »Sie sind nicht ausgestorben, aber sie werden immer weniger und ihr Blut immer dünner. Die letzten reinen Blutlinien waren die der Königsfamilie, die Schattenwächter und der Glutlords. Die Königsfamilie starb, als ich noch klein war, Susi und Theo haben die komplette Familie ausgelöscht. Ich weiß, dass es noch eine Lady der Glutlords gibt, doch sie verschwand vor einigen Jahren in den westlichen Wäldern, niemand weiß, ob sie lebt oder nicht. Von den Schattenwächtern lebt noch ein Sohn, Rain, aber er ist zu jung.« »Es spielt keine Rolle«, fand Jason an Melody gewandt, sprach dann leise mit Timo in der Menschensprache, mit der Justin aufgewachsen war. »Du bist jetzt hier und du bist, was du bist. Und die, die dich zu dem gemacht haben, die kennst du. Alle anderen spielen keine Rolle.« Langsam nickte Timo. Er wirkte, als wenn er unter Schock stand, doch Jasons Worte schienen ihm geholfen zu haben. Zumindest für den Moment. Justin vermutete, dass er es einfach verdrängte, doch Jason hatte recht. Sie waren jetzt hier und alles andere war für diesen Moment unwichtig. »Erzählst du uns jetzt, was du uns bisher vorenthalten hast?«, fragte er und wählte dabei bewusst die Sprache der Unsterblichen aus. »Oder warum sie hier sind?«, warf Melody spitz ein. »Alles zu seiner Zeit«, antwortete Jason dem Rotschopf und wandte sich erst an die schwarzhaarige Elbe, sprach in ihrer Sprache weiter. Seine Stimme war dabei scharf und kalt wie Eis. »Es war nicht abgesprochen, das du ausgerechnet ihm den Stein gibst. Du hast mich als erstes betrogen. Als er von selbst kam, sagte ich ihm erst, dass er den verdammten Stein wegschmeißen soll, in irgendeinen See. Stattdessen kam er in diese Welt. Was hätte ich also tun sollen? Ihn dem Drachen zum fraß vorwerfen?« »Du hättest ihn zurückbringen können«, antwortete Melody ebenso kalt. »Glaubst du, das hätte ihn vor Theo beschützt? Der einzige Grund, warum Theo ihn nicht schon vor Jahren getötet hat ist der, das der Unsterbliche genau wusste, das er mich damit ebenfalls verloren hätte und weiß der Teufel oder weiß er’s nicht, Tatsache ist, das ich für ihn wichtig war. Mit dem Todesgott verhält es sich ähnlich, nur er und sein Wort standen jemals zwischen ihm und seinem Tod. Theo sucht schon seit Jahren nach beweisen, das ich ihnen und ihrer Sache nicht treu bin, jetzt hat er ihn auf dem Silbertablett präsentiert bekommen. In der Menschenwelt ist sein Leben keinen Pfifferling mehr wert. Deinetwegen übrigens, mein Herzchen. Beschwere dich also nicht, wenn ich also in die einzige Bastion bringe, die noch gegen den Todesgott besteht«, fauchte Jason und war dabei sichtlich wütend. Melody war der Ärger ebenso ins Gesicht geschrieben und sie wirkte, als wollte sie etwas nicht besonders Damenhaftes erwidern, als sich Janne einschalt. »Er hat recht, Lady Melody. Theo suchte schon lange nach einem Grund, um Jason und die seinen zu töten. Durch Euer unüberlegtes Handeln habt ihr ihn dazu gezwungen, ihm diesen Grund zu liefern. Ihr habt soeben Jasons Familie umgebracht.« Sie sprach ruhig und sachlich, doch sie hätte Melody und auch Jason genauso gut eine Ohrfeige verpassen können, es lief auf dasselbe hinaus. Die Elbe starrte sie einige Sekunden lang voller Hass an, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ den Saal, ohne auch nur ein einziges weiteres Wort zu verlieren, während Jason Janne anschaute. Dabei wirkten seine Augen ebenso gebrochen und leer, wie die von Timo. »Du hättest es nicht aussprechen müssen«, flüsterte er. »Es bringt nichts, wenn du dir eine Lüge einredest. Räche sie lieber«, meinte Janne kalt. In diesem Augenblick fand Justin sie herzlos. Jason starrte sie einige Augenblicke lang an, dann wandte er sich ebenfalls ab und ging. »Ich muss mich um Summer kümmern«, erklärte er an der Tür, war in seinen Gedanken bereits weit weg. »Wohin geht er? Ich dachte, er wollte uns erklären, was hier los ist«, fragte Sally leise, denn sie verstand diese seltsame Sprache nach wie vor nicht. Justin überlegte kurz, ob er offenbaren sollte, dass er alles verstanden hatte, dann beschloss er, dass er keinen Grund hatte, es geheim zu halten. Doch statt Sally direkt zu antworten, wandte er sich Janne zu. »Was habe ich mit Jasons Familie zu tun?«, wollte er in der Sprache der Unsterblichen wissen. Janne starrte ihn an, als wären ihm plötzlich Hasenohren gewachsen. »Du verstehst elbisch?«, fragte sie und ihre Stimme klang dabei seltsam schrill. »Das ist elbisch?« Bis eben hatte er nicht gewusst, was es für eine Sprache war. »Du verstehst diese seltsame Sprache?«, fragte auch Sally erstaunt. »Ja. Ich weiß nicht wieso, aber ja. Ich hab von Anfang an alles verstanden.« Das Mädchen wirkte gar nicht begeistert, doch schließlich seufzte sie. »Ich erzähle dir alles, was du wissen musst. Ich weiß nicht, wie viel Jason dir anvertrauen wollte und ich werde nicht mehr als das erzählen, was offensichtlich ist und jedermann weiß«, erklärte Janne. »Du misstraust mir.« »Ich misstraue jedem, der mir nicht bewiesen hat, dass er mein Vertrauen wert wäre.« Justin nickte, schüttelte sogleich den Kopf. »Das reicht mir für den Anfang. Erzähl.« Janne nickte und deutete auf ein paar Stühle, die so einsam und verlassen irgendwo in einer Ecke der großen Halle standen, dass Justin sich sicher war, er hätte Tausende Male an ihnen vorbeilaufen können, ohne sie zu bemerken. »Im Sitzen spricht es sich besser und es wird eine Weile dauern.« Justin nickte und er und seine Freunde gingen hinüber. Justin beobachtete dabei Timo, der sich langsam wieder zu fangen schien. Er war noch nicht wieder der Alte, doch begann er langsam wieder Interesse an seiner Umgebung zu zeigen. »Wo fange ich an?«, überlegte Janne, kaum das sie sich gesetzt hatten. Dann nickte sie, als wäre sie zu einem Entschluss gekommen. »Beim Nichts. Wir kennen seinen Namen nicht, ich bin mir nicht einmal sicher, ob irgendjemand es jemals getroffen hat. Wir wissen, dass es Macht hat. Vielleicht das mächtigste Wesen überhaupt. Und es ist uralt. Ab und an gewährt es einem Lebewesen die Macht, seinen Herzenswunsch wahr werden zu lassen.« »Die Wünscher. Das hat Jason mir schon erzählt. Und ihr seit seine Beschützer, seine Leibwache.« »Waren wir«, bestätigte Janne. »Das Nichts brachte uns, als der Unsterbliche noch lebte.« »Der Unsterbliche?«, fragte Sally und runzelte die Stirn. »Warum unsterblich, wenn er jetzt tot zu sein scheint?« »Weil das sein Herzenswunsch war. Er wollte das ewige Leben erringen. Er hat zu lange gebraucht, also wurde er ersetzt, durch den Todesgott.« »Warum Todesgott?« »Weil es ihn nach der Macht über den Tod verlangt.« »Wer sind die anderen Beschützer des Todesgottes?« »Außer Jason und mir? Theo, den Drachenfresser habt ihr ja bereits kennengelernt«, antwortete Janne und wirkte gar nicht erfreut über dieses Treffen. »Er befehligt ein Heer aus Drachen.« »Warum Drachenfresser?«, wollte Timo leise wissen. »Jeder von uns hat einen Namen, der Angst und Schrecken verbreiten soll. Manche bekamen sie von anderen, solche wie Theo gaben sie sich selbst.« »Wir lauten eure Namen?«, fragte Sally. »Wölfin und Feuerreiter.« »Warum?« Justin war sehr auf die Erklärung gespannt, doch er erkannte an Jannes Lächeln, dass das nicht zu den Dingen gehörte, die sie erzählen würde. So fuhr sie also fort, ohne darauf einzugehen. »Dann gibt es noch Faiver, der Herr über ein Heer aus Tieren und Bestien. Jason befehligt ein Heer von Menschen und Elben, ich bin ihm unterstellt. Dann gibt es noch einige andere, die alle nicht besonders wichtig sind. Wir haben nur ein, zweimal mit ihnen zu tun. Sie werden einfach verschwinden, wenn sie die Chance dazubekommen, das wissen wir. Und der Letzte ist der Falkenlord.« Etwas regte sich in Justin. Es lag ihm regelrecht auf der Zunge. Der Falkenlord war kein unbekannter Begriff für ihn, er wusste mehr darüber, doch er bekam diesen Gedanken, diese Erinnerung einfach nicht zu fassen. »Auf welcher Seite steht dieser Falkenlord?«, wollte Timo wissen und auch er wirkte, als wenn er krampfhaft versuchte, sich an etwas Wichtiges zu erinnern. »Wir wissen es nicht. Wir wissen nicht einmal, ob es ihn gibt, oder ob er bloß eine Legende ist. Niemand hat ihn je gesehen, nie hat jemand mit ihm gesprochen. Man sagt, er befehligt ein Heer aus Dämonen und er reitet ein Einhorn, so schwarz wie die Nacht, mit einem Horn, das rot vom Blut seiner Feinde ist. Er gehört zu den Beschützern der Wünscher, aber eigentlich ist er der wichtigste Lakai des Nichts. Ohne Mitleid, ohne Angst, bereit alles zu tun und mächtig wie ein Gott. Manche behaupten, er hätte der nächste Wünscher sein sollen, deswegen wird er den Todesgott bei erster Gelegenheit verraten, andere schwören, das Nichts hätte ihn nur zu dem Zweck geschaffen, jene zu schützen. Keiner weiß, was stimmt und was nur Geschichten sind. In einem sind sich aber alle einig. Das einzige Wesen, dem seine Treue und seine Liebe gehört, ist das Nichts. Er folgt einem anderen, doch eine Geste reicht und er würde sie alle verraten, nur um dem Nichts zu gefallen.« »Klingt nicht gerade nach jemandem, mit dem wir gemeinsame Sache machen wollen«, überlegte Justin. »Könnten wir auch gar nicht. Ich sagte es ja bereits, keiner weiß, wer er ist und genauso wenig ist es uns möglich, ihm eine Nachricht zukommen zu lassen. Wir können nur hoffen, dass er nicht unser Feind ist.« Justin nickte und kam schließlich zurück zu der Unterhaltung zwischen Melody und Jason. »Und was hab ich jetzt mit Jasons Familie zu tun?« »Jason stammt eigentlich aus eurer Welt. Er wollte zurück, doch der Unsterbliche drohte damit, seine Familie zu töten, also blieb er und tat, was man ihm sagte und schmiedete nebenher seine Pläne. Und der sah erst einmal vor, dich so lange aus der Sache rauszuhalten, bis du kein Kind mehr bist«, erklärte Janne. »Das sagt hier die Richtige«, fand Justin. Er hatte es schon immer gehasst, als Kind bezeichnet zu werden. Doch sein Gegenüber lächelte nur wissend. »Du hättest das Morden und Brandschatzen lernen sollen, ohne dass irgendjemand davon erfuhr und wenn es an der Zeit war, hättest du erst den Todesgott und dann das Nichts töten sollen. Dann wären wir alle frei gewesen.« »Justin würde niemals jemanden töten!«, ereiferte sich Sally sofort. »Bist du dir da so sicher?« Sally wirkte verwirrt. Janne lächelte sie nur an, doch das verunsicherte sie so sehr, dass sie letztlich schwieg und Justin mit einem stummen Blick um Verzeihung bat, dass sie ihn nicht weiter verteidigte. »Wie kommt ihr nur darauf, dass ich die Macht habe, etwas zu vernichten, das uralt ist und mächtig wie ein Gott? Das hast du selbst über das Nichts gesagt«, wollte Justin stattdessen wissen. »Weil du der Weltenretter bist.« Janne stand auf und ging Richtung Saaltür davon. Justin überlegte kurz, ob er auch dieses Mal widersprechen sollte, doch da war noch etwas, was ihn weit mehr interessierte. »Warum vertraust du Jason?«, wollte er wissen. Janne blieb in der Tür stehen und schaute ihn lange an, bevor sie antwortete. »Weil seine Männer ihm nicht aus Angst folgen. Ich denke, es ist an der Zeit, das ihr euch hier einrichtet«, fand sie und verließ den Saal, doch sie schloss die Tür nicht und sogleich trat jemand ein, der so unverkennbar ein Elb war, als hätte man es ihm in Leuchtbuchstaben auf die Stirn geschrieben. »Mylords und Mylady«, grüßte er und verbeugte sich. »Wenn ich euch in eure Zimmer geleiten darf.« Justin, noch ein wenig über Jannes letzte Worte überrascht, stand auf und seine Freunde ebenso. »Wer bist du?«, fragte Sally neugierig und gemeinsam traten sie an den Elben heran. »Jack ist mein Name. Ich bin hier, um der Lady Melody zu dienen und solange Ihr ihre Gäste seid, werde ich mich auch um Euer wohl sorgen«, erklärte der Elb und deutete ihnen, ihm zu folgen. Jack führte sie durch Gänge aus Eis, die für das ungeübte Auge alle gleich aussahen. Schließlich blieb er stehen und öffnete eine einfache Holztür, die mit Eisen beschlagen war. »Heißes Wasser für ein Bad und neue Gewänder werdet ihr im Nebenraum finden. Sollte Euch noch etwas fehlen, zögert nicht, bescheid zu geben. Eine Magd wird euch zum Essen abholen«, erklärte Jack und Justin konnte einen Blick in den Raum werfen. Auch dieses Zimmer war aus Eis, doch wirkte es nicht ungemütlich und es mündete in einen Balkon, der fast ebenso groß war, wie das ganze Zimmer selbst. »Danke«, antwortete Timo und trat unsicher ein. Jack schloss die Tür und führte sie weiter. Sie mussten nicht weit laufen, da hielten sie vor einer Tür aus Holz, die kunstvoll mit Schnitzereien verziert war. »Auch Ihr werdet heißes Wasser vorfinden und einige Kleider. Wir wussten nicht, welchen Stil Ihr bevorzugen würdet, also werdet ihr Elbenkleider und Menschenkleider vorfinden. Sollten sie euch nicht zusagen oder solltet ihr noch etwas anderes benötigen, so zögert nicht, uns Eure Wünsche mitzuteilen.« Jack öffnete auch diese Tür und Justin konnte abermals in den Raum dahinter blicken. Er war weitaus prunkvoller eingerichtet. Die Wände waren mit bunten Tüchern verhangen, der Raum war hell und gemütlich eingerichtet, überall gab es kleine Verzierungen. Auch hier gab es einen Balkon, doch war er deutlich kleiner. Dann schloss Jack auch diese Tür und deutete ihm, weiter mitzukommen. Sie liefen weiter durch Eisgänge, doch Justin bemerkte, dass sie sich änderten. Und plötzlich standen sie in einem Gang aus Stein. »Das Schloss besteht gar nicht nur aus Eis?«, fragte er erstaunt und strich über den Stein. »Sein Herz ist steinern. Einst war es nur ein Turm, die Eishallen kamen später. Euch hat die Lady ein ganz besonderes Zimmer zugedacht, im Herzen der Burg«, erklärte Jack und stieg eine steile Wendeltreppe hinauf. Justin hatte erwartet, dass sie nur kurz sein würde, wie all die anderen Treppen auch, die sie zuvor genommen hatten, doch es waren gewiss hundert Stufen, bis sie oben angelangt waren. Hier erwartete ihn eine einfache Holztür, die Jack öffnete. Justin trat ein und war im ersten Augenblick enttäuscht. Lediglich ein einfaches Bett standen hier, ein einfaches Regal, ein Schrank und ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen vor einem kleinen Kamin. Es war ein kleiner, dunkler, trostloser Raum. »Oben findet ihr ebenfalls Wasser um euch zu waschen und neue Kleider. Ich schicke jemanden, um euch zum Essen zu holen«, erklärte Jack und schloss die Tür, bevor Justin etwas erwidern konnte. Er fragte sich gerade, ob das Melodys Art war, ihm mitzuteilen, das er etwas getan hatte, was ihr nicht zusagte, und was Jack mit oben gemeint hatte, als er die einfache Treppe aus Holz bemerkte. Er ging hinauf und blieb oben mit offenem Mund stehen. Auch dieser Raum war nicht größer als der untere, doch war um ihn herum nur Glas, sodass er größer wirkte und eindeutig heller war. Der Stein der Wände ging noch etwa brusthoch, danach bildete Glas eine hohe Kuppel, die man durch einen Mechanismus vollständig öffnen konnte. Er schaute sich um, sein Blick reichte über eine meilenweite Schneelandschaft und über ihn leuchteten Lichter über den Himmel, die er für Polarlichter gehalten hätte, wäre es nicht helllichter Tag gewesen. Eine warme, sanfte Briese umwehte ihn und hier fand er auch, was Jack verkündet hatte. Ein hölzerner Waschzuber, gefüllt mit dampfendem Wasser und auf einer gemütlich wirkenden, gepolsterten Bank lagen Kleider. Er stellte sich erst an die steinernen Wände und überblickte das Land, dann entledigte er sich seiner Kleider und ließ sich unter freiem Himmel in das heiße Wasser gleiten. Es war eine Wohltat für seinen verkrampften und geschundenen Körper. Er spürte, wie sich die Krämpfe lösten und die Wärme bis in sein tiefstes Innerstes zog. Er wusste nicht, wie viel Zeit ihm blieb, also begann er schon bald damit, sich mit Seife und einer weichen Bürste abzuschrubben, dann stieg er aus dem Wasser. Er trocknete sich gründlich ab und legte die neuen Kleider an. Sie waren aus wärmender Wolle und passten, wie für ihn gemacht. Neugierig betrachtete er das Wappen, das darauf gestickt war. Es war ein gelb, rot und orangefarbenes Pferd auf schwarzem Grund. Es gefiel ihm und er musste sogleich daran denken, wie Theo Jason genannt hatte. Der Feuerreiter. Er vermutete, dass es Jasons Wappen war. Nicht lange, nachdem er sich angekleidet hatte, hörte er, wie sich unten die Tür öffnete. Er nahm an, dass es die Person sein würde, die ihn zum gemeinsamen Essen bringen würde, doch er täuschte sich. Es war Melody, die die Treppe hinaufstieg. »Ich sehe, du bist fertig«, bemerkte sie. Er nickte und tat ein paar Schritte zurück. »Ich hoffe, dein Zimmer gefällt dir?«, fragte sie und trat an die steinerne Mauer heran und schaute in die Ferne. »Ja. Es ist atemberaubend. Aber was sind das für Lichter am Himmel?« »Das Nordlicht. Im Nordenreich scheint es Tag und Nacht, immerzu. Nur wenn Wolken über den Himmel ziehen, sieht man es nicht«, antwortete sie und streckte ihre Flügel. Sie waren größer, als Justin vermutet hätte, doch sie mussten auch das Gewicht eines Menschen tragen, daher war es nicht erstaunlich. Und dafür wirkten sie sogar fast zu klein. »Warum bist du hergekommen?«, wollte er wissen. »Um dir genau dieselbe Frage zu stellen«, antwortete sie und lächelte schief. »Ihr wollt mich benutzen. Ich werde nicht gerne benutzt und schon gar nicht, ohne das man mir sagt, wozu eigentlich«, antwortete er. Sie schaute ihn an und er erwiderte ihren Blick für eine Weile. Dann ging er zu seinen alten Kleidern und zog Bora aus der Tasche. »Ich denke, du willst ihn wiederhaben«, bemerkte er und hielt ihr den Windstein hin. »Nein. Bewahre ihn für mich auf«, wehrte sie ab. »Das essen ist fertig. Komm mit.« Justin wusste, dass damit das Gespräch beendet war. So folgte er ihr schweigend und fragte sich die ganze Zeit über, was sie wohl denken mochte. Kapitel 12: Rise ---------------- Ein sanftes, seidiges Zischen erklang, als Sally die Bogensehne losließ. Der Pfeil traf die Mitte der Zielscheibe, während das Mädchen schon weiterging und den nächsten Pfeil von der Bogensehne schnellen ließ. Insgesamt fünf Pfeile schoss sie so ab und jeder traf sicher ins Schwarze. »Zielsicher wie eine Elbe«, kommentierte Jack. Dann wandte er sich Justin zu, er wirkte dabei, als hätte er heftige Zahnschmerzen. »Du bist dran.« Der Rotschopf seufzte, legte den Pfeil an und spannte die Sehne. Er zielte und ließ los, wusste dabei schon, dass er auch dieses Mal das Ziel nicht treffen würde. Und er behielt recht. Er war einfach kein Schütze. »Du triffst auf zehn Meter kein Scheunentor«, kommentierte Sally mit einem grinsen. »Ich habe andere Talente«, fand Justin und wusste, dass es stimmte. Bisher hatte er keine Sprache dieser Welt gehört, die er nicht verstanden hätte. Niemand wusste, woran das lag, aber es gefiel ihm. In dem Augenblick landeten Melody und Timo an ihrer Seite. Die Elbe elegant und sanft, der Chito hart und unbeholfen. Natürlich, Timo wusste noch lange nicht so gut mit seinen Flügeln umzugehen, wie die Herrin des Nordenreiches es vermochte, doch er lernte und er lernte schnell. »Wir bekommen Besuch«, erklärte Melody und trat gemessenen Schrittes an ihnen vorbei zu Jack. »Gib in der Küche bescheid und lass die Zimmer vorbereiten.« »Jawohl, Herrin«, antwortete der Elb und ging. Justin schaute ihm nach, war erleichtert, dass das Bogenschießen für diesen Tag beendet war, doch seine Neugierde war groß. »Wer kommt?«, wollte er wissen. »Ich weiß es nicht. Es waren mehrere Reiter und ihr Anführer ritt ein schwarzes Pferd.« »Meinst du, es könnte Jason sein?«, wollte Sally wissen. »Möglich, aber dann kommt er nicht alleine. Und ein Kind habe ich nicht bei ihnen gesehen, also wird Janne wohl nicht bei ihnen sein.« »Melody? Wer sind die Reiter?«, wandte sich Justin direkt der Elbe zu. Die wirkte so unbeteiligt und emotionslos wie immer. Zwei Wochen waren sie jetzt hier und Justin hatte sie, abgesehen von ihrem ersten Abend, in der Zeit weder lächeln noch weinen sehen. Sie stellte immer dieselbe nichtssagende Mimik zur Schau, wirkte unbeteiligt, desinteressiert, ja fast gelangweilt. Anfangs hatte es ihn irritiert, beunruhigt, er hatte sich gefragt, ob alle Elben so waren, denn auch Jack ließ selten durchblicken, was er dachte, oder was er fühlte. Doch so leer ihm die Feste im ersten Augenblick erschien, so voller Leben war sie doch in Wirklichkeit und all die Diener, Dienstmägde, Köche, Zofen und was sonst noch alles herumlief, war zwar eindeutig elbischer Herkunft, doch sie lachten und tanzten und lebten. Melody dagegen wirkte, als wäre sie gefangen in einem Traum. Doch Justin hatte bemerkt, dass er in ihren Augen lesen konnte, wie in einem offenen Buch. Ihre Augen verrieten sie immer. Sie verrieten ihre Wut, ihre Angst, und manchmal, ganz selten nur, verrieten sie auch ihre Freude. Jetzt konnte ihren Unwillen lesen, als sie antwortete. »Wir werden sehen«, sprach sie und ging weiter. »Ist es Jason? Oder sollten wir uns sorgen machen?« Justin lief ihr nach, er wollte eine Antwort haben, doch sie ignorierte ihn einfach. Sie ging gemessenen Schrittes in eine weitere Halle aus Eis, während der Rotschopf und seine Freunde ihr nachliefen. Diese Halle schien so etwas wie der Thronsaal zu sein, denn hier stand ein großer Thron aus Eis auf einem Podest. Die Herrin des Nordenreiches setzte sich, drapierte ihr Kleid und ihre Flügel und starrte dann die große Flügeltür an. Sie wirkte wie eine Puppe, eine Marionette, die so perfekt wie möglich aussehen sollte. Justin verstand nicht, warum sie das mit sich machen ließ, aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, um sie zu fragen. Stattdessen setzte er sich auf eine der Stufen und wartete. Timo stellte sich schräg hinter ihm auf, er konnte das Rascheln der Lederflügel hören, während es sich Sally unterhalb der Stufen bequem machte. Es dauerte noch einige Augenblicke und Justin begann sich zu fragen, ob die Reiter vielleicht gar nicht hierher unterwegs gewesen waren, da traten vier Personen ein. Einer von ihnen war Jason, er trug dieses Mal schwarze Kleider mit dem Pferd in den Farben des Feuers. Außerdem war da noch ein Elb mit silbernen Haar und lila Augen, gekleidet in der typischen Kleidung der Elben. Sie waren grün, als Wappen trug er einen silbernen Baum. Zudem war da noch eine Frau mit dunkler Haut, schwarzen Augen und blauen, fremdartige Kleider. Auch ihre Lippen waren blau und Justin fragte sich, ob es Lippenstift war oder die natürliche Farbe. Der Letzte war ebenfalls ein Mann, Justin schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Sein Auge war von einem so stechenden Blau, das die Farbe auch auf die Entfernung gut zu erkennen war, das andere war blind, es war milchig trüb. Seine Kleider waren in einem dunkeln Blau gehalten und ein kupferroter Falke war als Wappen darauf gestickt. Das Gesicht zierten einige große Narben und, wie sollte es anders sein, sein Haar war feuerrot. Justin wusste sofort, dass er noch öfter mit diesem Mann zu tun haben würde und dazu hätte es seiner Reaktion nicht bedurft. Als der Mann nämlich in ihre Richtung schaute, blieb er stehen und starrte ihn verwirrt und entsetzt an. »Was tut er hier?«, fragte er Jason scharf, mit einem leichten Zittern in der Stimme und in einer bisher unbekannten Sprache, doch auch diese verstand Justin. »Was meinst du?« Jason wirkte verwirrt. »Jason hat erzählt, dass der Junge hier sein würde, erinnerst du dich nicht?«, mischte sich die Frau in Blau mit starkem Akzent ein. »Du sagtest aber nicht, dass er es sein würde!«, widersprach der Fremde heftig und starrte Justin an, als wäre er der leibhaftige Dämon. »Er versteht uns übrigens«, bemerkte Jason, verstand offensichtlich das Entsetzen des anderen Mannes nicht. Justin hätte sich in dem Moment auf die Zunge beißen mögen. Hätte er Janne gegenüber nur den Mund gehalten, vielleicht hätte er jetzt endlich einmal mehr erfahren können. »Er ist es!« Der Andere ignorierte die Worte des jüngeren Mannes einfach und jetzt verstand scheinbar auch Jason. Seine Augen weiteten sich und er starrte Justin an, sein Blick war dabei nicht zu deuten. Er machte eine Bewegung, als wollte er wieder hinauseilen, doch der Elb griff nach ihm, ohne ihn zur berühren. »Jetzt ist der falsche Zeitpunkt, um sich darüber zu unterhalten. Wir sind nicht grundlos hier und es zeugt nicht gerade von Höflichkeit, unsere Gastgeber ungegrüßt zu lassen«, fand er. »Gut. Du sagst nichts, bis wir das besprochen haben, bitte«, bat Jason und wandte sich schweren Herzens den vier jungen Erwachsenen zu. Er kam gemessenen Schrittes bis an die Treppe heran, warf noch einen schnellen, nicht deutbaren Blick auf Justin, dann verneigte er sich tief vor Melody. »Ich sehe den Baum des Silberwaldes, eine Lady aus den Feuerlanden und ein Gesicht, das mir gänzlich unbekannt ist. Ich grüße euch«, sprach die. Justin derweil hielt Blickkontakt mit dem fremden Rothaarigen, der scheinbar eine weitere Person war, die mehr über ihn wusste, als er selbst. »Das sind meine Freunde und Begleiter. Die Lady Esperanza, wie Ihr richtig erkannt habt, von den Feuerinseln stammt. Sie ist die Gesandte des Lord Cetus. Der Elb Silvan aus dem Silberwald als Gesandter der Elben und mein Mentor, Rise.« »Ich grüße Euch in meinem Haus, Verbündete. Zimmer für euch sind vorbereitet und auch ein Mahl wird nicht mehr lange auf sich warten lassen«, erklärte Melody, ganz wie es das Protokoll verlangte, doch Jason schüttelte den Kopf. »Es gibt Wichtiges zu besprechen, Melody. Wir sind nämlich nicht grundlos hier.« Jason bot ihr die Hand an. Sie legte ihre hinein und ließ sich von ihm dorthin führen, wo auch immer er sie haben wollte. Justin und seine Freunde folgten hinter Jasons Verbündeten, wobei Justin etwas zurückblieb, um seine Gedanken zu sortieren. »Was haben sie besprochen?«, wollte Timo leise wissen, der ebenfalls langsamer ging, genauso wie Sally. »Wenn ich das wüsste. Scheinbar kennt mich Rise, ich weiß aber nicht, woher. Ich denke zumindest, dass ich mich an diese Narben erinnern würde, hätte ich ihn schon mal gesehen. Wobei ich das Gefühl habe, das er kein Unbekannter sein soll. Ein bisschen wie bei Jason, nur … anders. Ich weiß es nicht«, antwortete Justin. »Egal was er zu Jason gesagt hat, danach sah er aus, als hätte er einen Geist gesehen«, fand Sally. »Ja, das ist mir auch aufgefallen«, stimmte Timo leise zu. »Es passt aber nicht zu dem, was sie davor sagten. Rise meinte, das Jason zwar sagte, dass jemand hier sein würde, aber nicht, dass ich es bin und dann hat er noch mal darauf beharrt, dass ich es bin. Und dann wollte Jason gehen.« »Seltsame Geschichte«, fand Timo mit gerunzelter Stirn. Dann schauten sie wieder nach vorn und sahen, das sie beobachtet worden. Während Jason leise mit Melody sprach, sahen seine Begleiter immer wieder zu ihnen zurück. »Er hat deine Augen«, fand Timo plötzlich. »Was? Wer?«, fragte Justin verwirrt. »Nicht du. Sally, der Elb, er hat deine Augen. Die Farbe ist etwas anders, aber ansonsten sind sie wie deine«, antwortete Timo. »Vielleicht bin ich ja in Wirklichkeit auch aus dieser Welt. Eine Elbe zu sein ist bestimmt toll«, überlegte Sally. »Dafür fehlen dir die langen spitzen Ohren und einen Elben mit so dunklen Haaren hab ich auch noch nicht getroffen«, fand Justin. »Ich weiß, das war auch nur ein Scherz. Wer will auch schon weiße Haare haben. Ich mag mein blond«, grinste sie. Justin grinste zurück, doch insgeheim musste er Timo recht geben. Die Augen des Elben und die von Sally waren sich sehr ähnlich und er kannte nur wenige Menschen, die so treffsicher waren, wie seine Freundin. Es war nicht auszuschließen, dass sie elbische Vorfahren hatte. Doch Rise beschäftigte ihn nach wie vor viel mehr. Rise blickte abermals über die Schulter zurück und Justin fühlte sich seltsam unbehaglich unter diesem Blick. Als wenn da etwas war, was er wissen müsste und Rise wartete nur darauf, dass er es aussprach. Er wich dem Blick aus und schaute den restlichen Weg stur den Boden an. Jason führte sie in einem Raum, den Justin bisher nicht kannte. Er lag unweit von seinem Turmzimmer im steinernen Teil der Feste. Hier wartete auch Janne, sie stand auf einem Stuhl und verteilte hölzerne Figuren auf einer Karte. Melody schien zu ahnen, worauf sie hinaus wollten, denn ihr Blick verdüsterte sich, doch sie sagte nichts, stellte sich stattdessen an den Tisch. Janne und Justin, sowie seine Freunde nickten sich grüßend zu, dann gruppierten sie sich ebenfalls um die Karte. Justin konnte mit der wiederum nichts anfangen, doch die Figuren und ihre Verteilung ließen ihn ebenfalls den Grund erahnen. »Ich hoffe, es ist nicht das, was ich denke«, begann Melody, doch Justin brauchte nur Jason ansehen, um zu wissen, dass es genau das war. »Ich fürchte doch. Wir wollen Theo das Schwert abnehmen«, erklärte der. »Damit dem Feind zumindest der Wind komplett verschlossen bleibt«, fügte Esperanza hinzu. »Ihr habt keine Chance gegen die Drachen«, antwortete Melody kühl. »Ein weiser Herrscher hört erst und urteilt dann«, bemerkte Silvan. »Ein weiser Herrscher beschützt sein Volk und wirft ihn nicht den Drachen zum Fraß vor«, antwortete Melody kalt. »Wir benötigen Euer Einverständnis nicht, Mylady«, mischte sich Rise ein. »Die Sache ist bereits beschlossen. Es ist mehr gedacht, Euch darüber in Kenntnis zu setzen. Und den, der das Schwert besitzen soll.« Justin horchte auf. Wen genau meinte Rise damit? Er schaute zwischen dem narbengesichtigen Mann und Jason hin und her, doch die schauten Melody an und ließen nicht durchblicken, was sie dachten oder sagen wollten. Der Elbe dagegen war anzusehen, wie sie nachdachte. Sie raschelte leise mit den Flügeln, dann senkte sie den Blick. »Ich höre zu.« Darauf erläuterte Rise einen Plan, den Justin nicht so ganz verstand, dafür fehlten ihm einfach zu viele Informationen über die örtlichen Begebenheiten und vor allem über die Denkweise der Drachen und Theo. Melody jedoch schien zu verstehen und wirkte interessiert und positiv überrascht. Rise endete damit, dass man sich wieder in der Elbenfeste treffen würde. Melody nickte bedächtig. »Es kann dabei eine Menge schief gehen.« »Sollte es dazu kommen, werden wir sofort umdrehen. Wir werden kein unnötiges Risiko eingehen.« »Ich nehme an, es ist schon beschlossene Sache, wer der Schwertträger sein soll?« Jason nickte und wandte sich an Justin. »Der Wächter von Bora.« »Nein«, antwortete Justin sogleich. »Ich mach da nicht mit.« »Erläutere uns deine Gründe«, bat der Elb Silvan. »Zuerst einmal wäre es sehr nett gewesen, mich vorher zu fragen. Wisst ihr, ich wäre eindeutig kooperativer, wenn ihr einfach mal fragen würdet«, begann er bissig. »Außerdem wäre es sehr nett, wenn ich endlich auch mal ein paar Informationen bekommen würde. Wer gewisse Leute hier so sind zum Beispiel. Immerhin ist ein Kampf immer gefährlich und ich werde nicht mein Leben für ein paar Leute riskieren, die nicht einmal dazu bereit sind, mir ein paar einfache Fragen zu beantworten. Außerdem gehört der Stein nicht mir, sondern Melody. Sie hat ihn mir nur zur Aufbewahrung gegeben.« »Elben tragen keine Schwerter«, hatte Silvan dazu zu sagen. »Ich denke, es geht nur darum, das Schwert und den Stein zu besitzen, nicht darum, es einzusetzen«, bemerkte Sally dazu spitz. »Hört auf zu streiten. Justin, das Schwert muss in deinen Besitz gehen«, sagte Jason in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ, doch so leicht ließ sich Justin nicht kleinkriegen. »Nein«, antwortete er stur. »Willst du es wirklich Melody in die Hand drücken?«, erkundigte sich Jason. »Nein, aber euch. Dort würde ich es eindeutig lieber sehen, als in meinen Händen«, fauchte der Rotschopf zur Antwort. »Aber du hast den Stein.« Justin zog die Kette, an die der Stein befestigt war, hervor und zerriss die dünnen Kettenglieder. Er warf den Stein auf den Tisch und wandte sich um. »Bitte. Ich will ihn nicht und das Schwert auch nicht«, knurrte er, verließ den Raum und ging mit ausgreifenden Schritten in sein Zimmer. Er war wütend, dass man ihm schon wieder keine Wahl ließ, doch er war fest entschlossen, dass er es diesmal nicht mit sich machen ließ. Er stürzte in den oberen Teil seines Zimmers und schmiss sich dort auf die gepolsterte Bank, wälzte sich auf den Rücken und betrachtete die Lichter über sich. Eine ganze Weile lag er so da, schwieg und hasste für diesen Augenblick einfach alles, vermisste seine alten Freunde so sehr. Sie hätte ihn verstanden, sie hätten geholfen und sich für ihn eingesetzt, statt einfach nur still danebenzustehen, wie Sally und Timo es taten. Doch nachdem sein erster Zorn verraucht war, verstand er, dass er den beiden unrecht tat. Sie konnten schließlich nichts dafür, dass Jason einfach nicht mit der Sprache rausrücken wollte. Außerdem war das ja nicht einmal der wahre Grund gewesen, aus dem er nicht mitmachen wollte, wie er sich jetzt eingestehen musste. Lange lag er da und dachte nach, fragte sich schlussendlich, ob er vielleicht sogar überreagiert hatte, ob die Sache doch vielleicht ganz anders lag und ob es doch einen guten Grund gab, warum sie ihn das Schwert geben wollten, statt es selbst zu nutzen. Schließlich wurden die, die zu viel Macht besessen, oft genug wahnsinnig, während die, die die Macht gar nicht wollten und sie dennoch bekamen, meist besser dabei wegkamen. Irgendwann hörte er, wie unten die Tür aufging und er erwartet fast, Timo oder Jason zu sehen, wie sie die Treppe hinaufliefen und schon stieg wieder der alte Zorn in ihm auf, doch es war Rise und das erstaunte ihn. »Meine Antwort lautet noch immer nein«, erklärte er dem Mann kühl. »Deswegen bin ich gar nicht hier«, knurrte der mit einem freudlosen Lächeln. »Sondern?« »Um dir etwas zu geben, das dir gehört«, antwortete Rise und hielt die Kette mit dem vermaledeiten Stein empor. »Und wenn ich das Ding auch nicht will?« »Dann ist das nicht mein Problem. Ich weiß nur, das es dir gehört.« »Tut es doch gar nicht. Bora gehört Melody.« »Die Wächter bewachen den Stein, ja, aber ihren Träger suchen sie sich selbst aus. Und der Wind hat dich ausgesucht, weiß der Teufel warum.« Rise legte den Stein auf dem Tisch ab. Justin schaute den Mann misstrauisch an. Warum versuchte der nicht, ihn zu überreden? War das nur ein Trick? »Wer bist du?«, fragte er. »Ich? Ich bin ein armer alter Mann, der sein Wissen weitergeben will, bevor er dahinscheidet.« »Das beantwortet meine Frage nicht.« »Sollte sie auch gar nicht.« Rise stellte sich an die Brüstung und schaute über das weite, weiße Feld. »Ja, wie immer«, knurrte Justin frustriert. Einige Augenblicke schwiegen sie. Justin wartete darauf, dass Rise zu dem eigentlichen Grund seines Hierseins kam. »Ich habe einen Sohn, er ist in deinem Alter. Ein mutiger, aber auch starrköpfiger junger Mann. Du erinnerst mich ein wenig an ihn, er hat auch rote Haare und blaue Augen und lässt sich genauso ungern Befehle erteilen, wie du«, begann Rise schließlich. »Mein Vater ist tot«, antwortete Justin leise. »Ich weiß. Moritz war ein guter Mann, aber zu freundlich. Wie schade, dass er sterben musste«, seufzte Rise. Jetzt horchte Justin auf. »Du kanntest meinen Vater?« »Ja. Hast du etwa geglaubt, er wäre freiwillig gegangen?« Rise lachte freudlos. »Er hat dich und deine Schwester geliebt. Mehr als du dir vorstellen kannst. Er war nicht bereit euch aufzugeben, zu keiner Sekunde. Das hat ihn letztlich das Leben gekostet.« Ein seltsames Gefühl der Leere breitete sich in Justin aus. Es war eine Sache, wenn man glaubte, etwas zu wissen, jedoch etwas ganz anderes, wenn man es letztlich wirklich wusste und er hatte keinen Grund, an den Worten des narbegesichtigen Mannes zu zweifeln. »Als ich dich gesehen habe, wusste ich sofort, dass du sein Sohn bist. Jason sagte, dass du aus seiner Welt stammst, aber er sagte nicht, wer genau du sein würdest«, sprach Rise unbeirrt weiter. »Wer hat meinen Vater getötet?«, wollte Justin leise wissen. »Spielt es jetzt noch eine Rolle? Sein Leben ist zu Ende und du solltest dich nicht in einen Rachefeldzug flüchten. Es reicht, wenn Jason das tut und dabei völlig vergisst, wer er ist.« »Ich will es nur wissen. Sagen wir, aus Interesse.« »Ja, natürlich«, grinste Rise freudlos. »Und ich bin ein Elb.« »Du wirst es mir also nicht verraten?« »Damit dein Vater umsonst gestorben ist, weil du unbedacht dein Leben aufs Spiel setzt? Gewiss nicht. Ich bin lediglich froh, dass du dich unserer Sache nicht angeschlossen hast, das erspart es mir, es dir wieder auszureden.« »Und wenn ich es doch tun will?« »Dann benimmst du dich nicht viel anders, als ein kleines Kind. Glaubst du wirklich, dass du einen Menschen töten könntest? Dass du damit leben könntest?« Rise lachte. »Der Tod bringt zwar das Schwert und Drachenwind wird noch dazu einen schnellen Tod bringen, aber dennoch wärst du es, der es führt und du bist kein Mörder. Das ist die Aufgabe anderer.« »Jason würde behaupten, dass ich mich vorher kindisch benommen habe.« »Jason weiß nicht, was er sagt und tut. Er hat mir einen Krieger versprochen und das bist du nicht.« »Ihr kennt mich doch gar nicht«, warf Justin ein. »Weder du noch Jason.« »Ich weiß, dass du Angst vor einem Schwert hast. Das verrät mir mehr über dich, als du glaubst.« »Ich habe keine Angst vor einem Schwert.« »Du hältst weiter daran fest, dass du dich verweigerst, weil keiner mit dir spricht?« Rise lachte. »Gut, dann ist es eben so.« Justin blitzte ihn wütend an, musste sich aber eingestehen, dass Rise recht hatte. Er hatte Angst vor dem Schwert. Er konnte spüren, welche Kraft Bora innewohnte und er konnte auch spüren, dass die Steine immer den positiven, lebensnotwendigen Teil eines Elementes symbolisierten, während die Schwerter dazu da waren, zu vernichten. »Ich denke, ich sollte jetzt gehen. Ich würde mich gerne noch etwas länger mit dir unterhalten, aber ich fürchte, die Höflichkeit gebietet es, das ich jetzt mit der Herrin des Hauses speise. Doch es würde mich freuen, wenn wir morgen einen gemeinsamen Ausritt oder dergleichen unternehmen würden.« Rise ging zur Treppe, schaute ihn jedoch noch einmal fragend an. »Wenn ihr mir da mehr über meinen Vater erzählen wollt, gerne«, antwortete Justin. »Selbstverständlich«, antwortete Rise und ging, ließ Justin alleine mit seinen Gedanken und Erinnerungen. Kapitel 13: Der Kristallwald ---------------------------- Justin saß auf dem Rücken einer zierlichen gelben Stute und beobachtete, wie Jason seinen Rappen sattelte, während Rise alles andere als glücklich darüber wirkte, dass der Mann sie begleiten wollte. Doch als Jason beim Frühstück von ihrem geplanten Ritt gehört hatte, hatte er darauf bestanden sie zu begleiten und nach einer kurzen Diskussion hatte Rise entnervt gesagt, er solle machen, was er wolle. Und so warteten sie darauf, dass Jason fertig wurde und sich ebenfalls in den Sattel schwang. Doch Jason stellte sich beim Satteln erstaunlich ungeschickt an, als Justin Rise jedoch nach dem Grund fragen wollte, schüttelte der unmerklich den Kopf. Schließlich saß aber auch Jason oben und der narbengesichtige Mann deutete die Richtung, in der sie sich bewegen würden. »Zum Kristallwald?«, fragte Jason erstaunt. »Ja. Ich denke nicht, dass Justin den schon mal gesehen hat und wenn man im Nordenreich ist, ist es praktisch eine Pflicht, ihn einmal zu sehen«, antwortete Rise und ritt neben dem Rotschopf her. »Gut, mir soll’s recht sein«, antwortete Jason und ritt hinter ihnen her. »Was ist der Kristallwald?«, wollte Justin dagegen neugierig wissen. »Du wirst es sehen. Und du wirst es niemals in deinem Leben vergessen«, antwortete Rise mit einem Lächeln. »Das klingt, als wenn du schon mal im Nordenreich warst, allerdings dann vor Melodys Zeit, oder?«, erkundigte sich der Rotschopf munter weiter. »Die zumindest sagte, dass sie dich nicht kennt, als ich sie gefragt habe.« »Das stimmt. Sie war damals noch ein kleines Kind und das war zu einer Zeit, die sie wohl lieber vergessen möchte«, überlegte Rise nachdenklich. »Wieso das?« »Weil damals hier Krieg herrschte. Das Nordenreich war nicht immer diese weiße Schönheit, die du hier und heute sehen kannst. Als Catchy noch die Herrin des Reiches war, die Vorgängerin von Melody, da war eines der südlichen Länder der Meinung, das Nordenreich hätte zu viel Macht. Die Elbenarmeen der Geflügelten waren groß und ihre Magie ist legendär, wenngleich das Meiste hoffnungslos übertrieben ist. Und so erklärte der Süden ihnen den Krieg aus Angst, dass der Norden sie sonst überrollen könnte. Ihre Forderungen waren himmelschreiender Unsinn und so zog auch Catchy in einen Krieg, den sie nicht wollte.« »Krieg …?« Justin dachte nach. Mochte dies der Grund sein, aus dem Melody war, wie sie war …? »Ja. Anfangs sah es gut für den Norden aus, doch letzten Endes fielen die Truppen, Catchy wurde gefangen genommen und das Reich war rot vor Blut, der in den Schnee gesickert war. Melody war damals noch sehr klein, vier oder fünf wohl.« »Was … passierte mit Catchy?« »Sie wurde öffentlich hingerichtet. Melody musste dabei zusehen, als Warnung, dass sie sich niemals gegen den Süden wenden sollte, als versprechen, was mir ihr geschehen würde, sollte sie es dennoch tun«, mischte sich Jason ein. Justin starrte die beiden Männer entsetzt an. »Was?«, fragte er ungläubig. »Mach einem Kind genügend Angst und hoffe, dass es niemals vergessen wird, dann kannst du dich in Sicherheit wiegen«, erklärte Rise. »Und seinen Willen bekam er. Ein Kind, ein kleines Mädchen saß fortan auf dem Thron, das Angst hatte vor den Männern, die die Frau mordete, die einer Mutter wohl am Nächsten kam. Seitdem hat der Norden keinen Schutz mehr, keine Armeen, die Bora schützen, nur ein kleines, ängstliches Mädchen, das des Nachts schreiend erwacht, weil es noch immer von Alben heimgesucht wird.« Justin schüttelte fassungslos den Kopf. Das war grausam, wie konnte man das nur irgendjemanden antun? »Was tun sie dann wohl, wenn sich das Schwert hier befindet?«, fragte er leise. »Nichts. Solange es nicht Melody ist, die es führt«, antwortete Jason. »Sie fürchten die Elbe, nicht jene um sie herum. Sie fürchten, ihre Magie und das sie aus Machtgier ihr Reich vergrößern wollte.« Der Rotschopf schaute ihn an, dachte eine Weile nach, beschloss dann, dass es Zeit war, das Thema zu wechseln. »Rise, du wolltest mir von Moritz erzählen. Du wolltest mir seinen Mörder verraten.« Der narbengesichtige Mann lachte laut auf. »Von Moritz ja, von seinem Mörder nein.« »Fürs Erste soll mir das reichen. Warum war er hier?« Rise antwortete nicht sofort, sondern tauschte einen langen Blick mit Jason. Dabei führten sie ein stummes Gespräch, das Rise letztlich zu seinen Gunsten entschied. Jason senkte den Blick und ließ sich auf Summer etwas zurückfallen. »Die Heeresführer um den Wünscher sind nicht nur aus einer Welt. Jeder von ihnen vertritt eine andere Welt. Warum weiß ich nicht, es spielt wohl auch keine Rolle. Jedenfalls war Eduard, der Vorgänger von Moritz, kurz zuvor gestorben und das Nichts wählte Moritz als seinen Nachfolger. Theo holte ihn in diese Welt, doch ich sollte ihn ausbilden. Moritz hätte es weit bringen können, doch er wollte die Notwendigkeit nicht sehen.« »Welche Notwendigkeit?« »Je gefügiger du dich zeigst, desto mehr Freiheiten hast du. Oder glaubst du, dass ich in die andere Welt gehen konnte, wenn sie mir misstraut hätten?«, mischte sich Jason ein. »Aber Moritz hat sich geweigert«, warf Rise dazwischen, bevor Justin dazu etwas sagen konnte. »Er wollte nur wieder zurück.« »Warum durfte er nicht? Warum habt ihr ihn nicht einfach gehen lassen?« Justins Stimme zitterte leicht. »Weil es nicht so einfach ist. Er wusste zu viel und er stand dir zu nahe. Und das wusste er«, erklärte Rise. Eine Weile schwieg Justin dazu. Dann sprach er langsam weiter. »Du standest ihm nahe, nicht wahr? Du hast mich sofort erkannt.« »Ich war einer seiner wenigen Vertrauten, ja. Weil er wusste, dass ich meine eigenen Entscheidungen treffe und nicht die Marionette eines anderen bin. Und auch aus anderen Gründen. Ja, ich habe dich erkannt. Du bist sein jüngeres Ebenbild. Er hat mich schwören lassen, dass ich dich beschütze, sollte ihm etwas geschehen. Ich hatte nicht erwartet, dass es je so weit kommen würde, aber ich bin froh, dass du es mir so leicht machst.« Rise spielte mit einem zufriedenen Lächeln auf den vergangen Abend an, das wusste Justin. Und er musste nicht einmal über die Schulter schauen, um zu wissen, dass sich Jasons Gesicht bei diesen Worten verdüsterte. »Und du warst sein Nachfolger, Jason?« Justin wandte sich um und sah noch, dass der Mann zusammengezuckt war. »Nein. Als klar war, dass sich Moritz nicht zur Marionette machen lassen würde, holte er mich. Als Ersatz. Ich habe Moritz ebenfalls noch kennengelernt, seine letzten Tage erlebt. Auch mir nahm er das Versprechen ab, dich und die deinen zu schützen, doch im Gegensatz zu meinem Mentor bin ich der Meinung, dass du mit einem Schwert in der Hand besser dran bist, als waffenlos. Vor allem, wenn das Schwert Drachenwind ist und so mächtig, wie kaum ein anderes.« »Gib einem Mann ein Schwert, aber halt den Knaben davon weg. Er schneidet sich höchstens selbst ein paar Finger ab«, sagte Rise dazu. »Drachenwind wendet sich nicht gegen den, den er als Träger erwählt, das weißt du ebenso gut, wie ich«, antwortete Jason. »Und was macht dich so sicher, das er ihn erwählen wird? Die Erde ist das Feuerreich. Phönixfeuer wäre das richtige Schwert, nicht Drachenwind«, widersprach Jason. »Er hat Wind im Blut, nicht Feuer«, fand der narbengesichtige Mann. »Hallo, ich bin hier. Würdet ihr bitte aufhören euch so zu unterhalten, als wäre ich nicht da?«, mischte sich Justin ein. »Entschuldige«, antwortete Rise und rutschte im Sattel herum, um eine bequemere Position zu finden. Danach schwiegen die Drei. Justin überlegte, was er noch fragen könnte, hoffend, dass Rise es ihm beantwortete, obwohl Jason es nicht tat, doch da fiel sein Blick auf Jasons Rappen und die Frage, die er sich schon stellte, seitdem er ihren Namen kannte, drängte sich auf. »Warum heißt deine Stute eigentlich Summer? Zu meiner würde es hervorragend passen, aber mir will kein Grund einfallen, warum man ein schwarzes Pferd als Sommer bezeichnet.« Jason wirkte einen Moment lang erstaunt über die Frage, dann schaute er in den lichtergefluteten Himmel und beobachtete eine Weile das farbige Wogen, bevor er antwortete. »Weil sie mich irgendwann zu den schönen Sommertagen zurückbringen soll«, sprach er leise. »Wie meinst du das?« »Na ja, einige Zeit, bevor Theo mich holte, habe ich mit meiner Familie einen Ausflug gemacht. Es war ein traumhafter Sommer und wir sind ins Grüne gefahren. Meine Kinder spielten auf einer Pferdeweide, auf der eine schwarze Stute stand. Sie ritten auf ihr, ohne Sattel und Zaumzeug, doch das Pferd war lammfromm und ließ alles mit sich machen. Das war der letzte schöne Tag, den ich mit ihnen verbracht habe und als ich mit Rise das erste Mal in den Stall ging, um mir ein Pferd auszusuchen, da hab ich diese Stute entdeckt. Sie war jung und wild, doch sie muss gespürt haben, dass sie es mit einem Anfänger zu tun hatte und sie war bei mir ebenso lammfromm wie die schwarze Stute auf der Weide, an die sie mich so sehr erinnerte. Da hab ich sie eben Summer genannt.« Justin war erstaunt, dass Jason so offen war und soviel von sich preisgab. Er fand, dass es ein sehr schöner Gedanke war, den der Mann da aussprach und er hoffte, dass ihn der Rappe irgendwann zu diesen schönen Sommertagen zurückbringen würde, wenngleich ein Teil von ihm wusste, dass nichts die vergangene Zeit zurückbringen würde. Er wusste nicht, wie lange Jason schon hier war, aber es würden schon einige Jahre sein. Seine Kinder waren älter geworden und solche Tage auf einer Pferdeweide würde es nicht mehr geben. Und doch, andere schöne Tage schon. Wenn man Jason nur die Möglichkeit gab, zurückzukehren, ohne, dass Theo oder ein anderer ihn dafür büßen, ließ. »Rise?«, fragte er nach einer Weile. »Ja?« »Würdest du mir beibringen, wie man sich mit einem Schwert verteidigt?«, bat er. »Was? Wieso?«, wollte der unwillig wissen. »Jason hat recht, es ist nicht immer jemand da, der für mich in die Bresche springen kann. Ich will nicht kämpfen, ich will mich nur verteidigen können.« Rise wirkte gar nicht begeistert, sein Blick verdüsterte sich. »Du meinst, du willst dich mit Drachenwind verteidigen, nicht wahr?«, fragte er knurrend. »Es wäre zumindest eine Option«, erwiderte Justin. Rise schwieg dazu eine Weile. Stumm vor sich hin brütend, starrte er vor sich hin, während Jason taktvoll genug war, so zu tun, als wäre er nicht da. »Jason könnte es dir ebenfalls beibringen«, antwortete er schließlich. »Aber du hast mehr Erfahrung. Ich weiß nicht, wie lange du schon hier bist und auch nicht, woher du eigentlich kommst, aber ich weiß, dass du schon sehr lange hier leben musst, wenn du schon hier warst, als mein Vater hierher kam. Länger als Jason. Somit hast du mehr Erfahrung und manchmal ist die Erfahrung der bessere Lehrer.« »Weise gesprochen«, bemerkte Jason dazu. »Du weißt nicht, worauf du dich einlassen würdest, Justin. Wenn du einmal anfängst, das Spiel um die Steine zu spielen, kannst du erst wieder aufhören, wenn du tot bist. Oder wenn du sie alle bekommen hast, doch das hat seit Jahrtausenden keiner mehr geschafft und mit dem Wünscher hättest du einen Mächtigen Gegner«, antwortete Rise unwillig und warf Jason einen wütenden Blick zu. Justin schwieg lange. Er dachte an die dunkle Gestalt und er fragte sich plötzlich, wofür es zu früh gewesen war. War jetzt aber die Zeit dafür gekommen? In diesem Augenblick wünschte er sich jemanden, der ihm sagte, was er tun sollte. Jemanden, dem er vertrauen konnte, der mehr Erfahrung hatte und es gut mit ihm meinte. Irgendwer. Dann sah er das erste Mal den Falken. Es war, als wenn irgendetwas seinen Blick lenkte. Er schaute auf, direkt auf diesen schneeverkrusteten Baum, auf dem der rostrote Vogel saß und ihn direkt ansah. Justin ließ seine Stute anhalten, starrte den Turmfalken an und wieder hatte er das Gefühl, das da etwas war, was er wusste, aber nicht fassen konnte. Es lag ihm auf der Zunge, doch er konnte diesen Gedanken einfach nicht greifen und so starrte er den Falken an, während das drängende Gefühl, das er etwas vergessen hatte, ihn schier wahnsinnig machte. Der Rotschopf spürte, wie auch Rise und Jason stehen blieben und er sah aus dem Augenwinkel, wie Jason an seiner Seite einen Pfeil auf seinen Bogen legte und zielte. Rise ritt zwischen den Falken und den beiden anderen, verhinderte so, das Jason seinen Pfeil abschießen konnte. »Lass ihn leben«, sagte er ruhig. »Ein roter Falke in dieser Gegend kann nur vom Falkenlord geschickt worden sein, Rise. Und wir wissen noch immer nicht, auf welcher Seite er letztlich stehen wird«, widersprach Jason. Dabei klang seine Stimme gepresst, als belastete ihn dieser Umstand sehr. »Es ist besser, wenn er also nichts von unserem Aufenthalt erfährt.« »Denn kennt er sowieso. Ich bin mir sicher, dass das Nichts genau weiß, wo wir sind und er wird seinem Diener dies mitgeteilt haben. Zumindest wenn es für ihn von Belang ist. Lass ihn leben«, antwortete Rise. Jason dachte noch nach, als der Falke selbst entschied, dass es Zeit war, dass er verschwand. Er öffnete die Flügel und flog los, direkt über Justins Kopf hinweg und für einen Augenblick war ihm, als sprach der Falke zu ihm, als rief der Vogel ihm etwas zu. »Hol dir den Wind!«, schien das Tier zu rufen. Justin starrte dem Falken nach, blinzelte verwirrt. Hatte er das wirklich gehört, oder hatte er sich das nur eingebildet? Er verstand humanoide Sprachen, aber konnte er wirklich die Tiersprache verstehen? Und woher sollte der Falke von seinem Problem wissen? Nein, das musste er sich eingebildet haben. Und doch, es war der Wink, den er gebraucht hatte, um eine Entscheidung zu treffen. »Wir sind fast beim Kristallwald«, bemerkte Rise und trieb seinen Schecken wieder an, riss Justin damit aus seinen Gedanken. Er folgte dem narbengesichtigen Mann und überlegte, wie er dabei am besten das Thema ansprach, doch nachdem sie über eine Schneewehe geritten waren, war der Gedanke wie weggeblasen, denn hier nun sah er das erste Mal den Kristallwald. Und er trug diesen Namen zu Recht, denn es schien, als wäre es ein ganzer Wald, gemacht aus Eis und Kristall, dass das Licht in Milliarden Farben aufspaltete. Es verschlug ihm die Sprache, er starrte dieses glitzernde und funkelnde Wunder einfach nur an, dann galoppierte er los, um es sich vom Nahem zu betrachten. »Das ist … atemberaubend«, erklärte er, als er ganz nah an einen Baum heran ritt und über die Oberfläche strich. »Nicht wahr? Keiner weiß, wie er entstanden ist, aber eine Legende besagt, dass der erste geflügelte Elb ihn erschaffen hat, um seine Macht zu beweisen und sich selbst unvergesslich zu machen. Noch heute werden alle Geflügelten hier zum Herrn des Nordenreiches gekrönt«, erklärte Rise. »Hier? Zwischen all den Bäumen?« Justin schaute sich um und fand, dass Zuschauer es schwer haben würden, etwas zu sehen, so dicht standen die Bäume. »Nein. Im Herzen gibt es eine Art Altar, dort findet die Zeremonie statt«, erklärte Jason und deutete tiefer in den Wald. »Wir können dort ebenfalls hinreiten, wenn du willst.« »Ein andermal. Was passiert, wenn man versucht, einen Zweig oder ein Blatt abzubrechen?«, wollte Justin wissen und betrachtete die filigranen Blätter aus Kristall. »Es geht nicht. Versuch es ruhig, aber du wirst es nicht schaffen. Es sieht zerbrechlich aus, aber ich hab damals ein gutes Schwert ruiniert bei dem Versuch, einen Zweig mitnehmen zu wollen«, antwortete Rise. Justin schaute ihn kurz an, dann griff er nach einem Zweig und versuchte es, doch Rise hatte recht. Es war, als wollte er einen massiven Eisenstab zerbrechen. Eine Weile blieben sie noch beim Wald, dann machten sie sich auf dem Rückweg. Jetzt, nicht mehr von unbändiger Pracht umgeben, überlegte Justin auch wieder, wie er das Gesprächsthema in die richtigen Bahnen lenken konnte, doch ihm fiel nichts ein und so wählte er den direkten Weg. Während Rise und Jason noch irgendwelchen Klatsch austauschten, der eine gewisse Ähnlichkeit mit den Gesprächen hatte, die seine Mutter mit Sallys Mutter im Bezug auf die Leute aus dem Dorf führten, unterbrach er sie einfach. »Rise, Jason, ich hab nachgedacht«, begann er. »Drachenwind?«, riet Rise sofort und seufzte. »Bitte nicht«, fügte er hinzu, als wüsste er, was Justin sagen wollte. »Doch«, grinste der schief. »Ich habe nachgedacht und ich denke, wir sollten das Schwert doch holen.« Jason schwieg eine Weile, bevor er fragte: »Woher der Sinneswandel?« »Sagen wir, ein Vögelchen hat mir gezwitschert, das es eine gute Idee wäre«, antwortete Justin ausweichend. »Gut. Mir soll es recht sein. Dann sollten wir uns an die Vorbereitungen machen«, fand Jason und grinste Rise triumphierend an. »Dann ist das so. Hoffen wir das Beste«, antwortete der und wirkte dabei alles andere als glücklich. »Hoffen wir das Beste.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)