Loser Game von Mi-sa-ki (Sarumi) ================================================================================ ...? ---- Er würde nicht kommen. Ganz sicher nicht. Wieso auch?  Genervt von seinen eigenen Gedanken biss Yata sich auf die Unterlippe. Das klang ja beinahe, als würde er auf ihn warten, als würde er sich wünschen, dass er hier auftauchte. Aber dem war nicht so, er war bloß aus Neugierde hier. Falls Fushimi sich hier wirklich blicken lassen sollte, würde er selbst sofort wieder gehen. Und falls er nicht auftauchte, auch gut. So oder so hätte er seine Antwort. Doch was war überhaupt die Frage? Yata beugte sich etwas vor, blickte über das Geländer nach unten. Auf den Straßen war einiges los, doch die Gesprächsfetzen kamen hier oben bloß als dumpfe Geräuschkulisse an, die Menschen selbst schienen nicht mehr als Schatten zu sein. Vielleicht war auch er unter diesen Leuten? Beobachtete ihn von irgendwo dort unten, lachte in sich hinein, weil Yata auf jemanden wartete, der nicht vorhatte, aufzutauchen? Es war lächerlich, dass er überhaupt hier wartete. Selbst, wenn Fushimi ihn sehen wollte, woher sollte der denn wissen, dass er ausgerechnet hierher kommen sollte? Gut, sie hatten früher oft hier herum gehangen, noch vor ihrer Zeit bei HOMRA, aber das schien bereits eine Ewigkeit her, war im Vergleich zu allem, was sich danach ereignet hatte, bedeutungslos. Mit einem Ruck löste er sich vom Geländer. Er dachte viel zu viel nach! Das war überhaupt nicht sein Stil. Wie zur Bestätigung konnte er schon ein schwaches Pochen im Schädel spüren. Das hatte er davon, sich den Kopf zu zerbrechen. Oder war das der Schlafmangel? Schließlich war er in aller Frühe aufgestanden und hatte seine Wohnung noch vor den ersten Sonnenstrahlen verlassen. Wieder etwas, was untypisch für ihn war! Aber er hatte genau gewusst, dass man ihn nicht in Ruhe lassen würde, wenn er zuhause blieb, schließlich war heute ein besonderer Tag. Normalerweise liebte er diesen Tag, normalerweise hätte er den Besuch mit offenen Armen empfangen. Aber dieses Mal wollte er niemanden sehen, niemanden außer… „Ach, scheiße!“ Mit großen Schritten ging er zu seinem Skateboard, welches er in der Nähe des Geländers abgestellt hatte.  Als ob er auch nur eine weitere Minute hier verschwenden würde! Er würde zu HOMRA gehen, den ganzen Tag bei seinen Freunden abhängen, abends was trinken und endlich aufhören, an diesen Verräter zu denken! „Du willst schon gehen?“ Yata erstarrte beim Klang dieser Stimme. Langsam kamen Schritte in seinem Rücken näher. Mit einer Bewegung drehte er sich um, trat dabei auf die Nose seines Boards und ließ dieses so nach oben schnellen. Noch bevor er Fushimi richtig sehen konnte, hatte er das Brett so zwischen sich und ihn gebracht. Als Antwort darauf bekam er bloß ein höhnisches Grinsen. „Was denn? Du denkst doch nicht, dass ich vorhatte, dich von hinten anzugreifen? Dazu hätte ich eben genug Gelegenheiten gehabt, schließlich bin ich schon seit einer Weile hier.“ Er nickte kurz zum Dach des Nachbarhauses. Also hatte er ihn doch beobachtet! Und abgewartet, wie lange Yata hier herumlungern würde, bis er sich dazu entschied, dass es sinnlos war. War er sogar noch vor ihm hier gewesen? Ein leichter Rotschimmer legte sich auf seine Wangen, als ihm bewusst wurde, wie dämlich er gewirkt haben musste. Und dieser Bastard hatte daran garantiert auch noch seinen Spaß gehabt! „Was willst du hier, Saru?“ Der überraschte Ausdruck auf dem Gesicht des ehemaligen HOMRA Mitglieds war echt. „Wird dein Hang dazu, dumme Fragen zu stellen, je verschwinden? Was sollte ich denn schon wollen? Weswegen schleiche ich mich unmittelbar in Mikotos Revier herum, obwohl ich doch genau weiß, wie gastfreundlich seine Clansmen zu uns aus Scepter 4 sind?“ Fushimi setzte sich wieder in Bewegung, bis er unmittelbar vor Yata stand. Seine Augen funkelten bedrohlich. Seit wann taten sie das? Oder hatten sie immer schon so ausgesehen und Yata hatte es bloß nie gemerkt? „Wir haben uns fast einen ganzen Monat nicht gesehen. Ich bin nur wegen dir hier.“ „Halt die Fresse!“ Ihm war bewusst, dass sein automatisches Zurückweichen bei Fushimi nichts als Amüsement hervorrief. Aber das war immer noch besser, als ihn so dicht bei sich zu haben. „Und hör auf, so zu sprechen, als hättest du nie etwas mit HOMRA zu tun gehabt!“ Der Blick, mit dem Yata sein Gegenüber nun traktierte, zeigte deutlichen Widerwillen, sogar Abscheu. Eben war er zu erschrocken von seiner Anwesenheit gewesen, um das Gesamtbild wahrzunehmen, doch jetzt drängten sich die penetrante blaue Uniform und der Säbel dafür umso deutlicher in sein Blickfeld. Dieser Kerl sah aus, wie alle Untergebenen des Blue Kings aussahen. Alle gleich, eine einheitliche Masse, es kotzte ihn an. Ob Fushimi auch brav diesen albernen Spruch von sich gab, wenn er seine Waffe zog? Auf seine Beschwerde hin bekam Yata nur ein abweisendes Schulterzucken. Als sei es nicht wichtig, als hätte es überhaupt keine Bedeutung, dass sie einmal im selben Team gewesen waren. Ihre Zeit war vorbei, wieso also sollte man sich weiterhin davon beeinflussen lassen? Für einen Moment verspürte er tiefe Enttäuschung, die allerdings sofort in Wut umschlug. „Vergiss es einfach.“ Er wandte sich ab, wurde aber herumgerissen, bevor er überhaupt gespürt hatte, dass Fushimis Finger sich um sein Handgelenk geschlossen hatten. Das Skateboard entglitt seinem Griff und landete mit einem Scheppern auf dem Boden. „Ich sagte gerade, dass ich wegen dir hier bin. Es ist unhöflich, mir da einfach den Rücken zu kehren, Misaki.“ Erst war da etwas wie ein Knistern, dann erfolgte der Kurzschluss. Seine Faust streifte allerdings bloß Fushimis Haarspitzen, denn sein Gegenüber war schnell und er selbst hatte mit links zuschlagen müssen,  weil seine Rechte weiterhin festgehalten wurde. Vor allem aber traf er daneben, weil sich selbst vor dem Schlag vermutlich mehr erschreckt hatte als der Angegriffene. Er hatte nicht gezielt, sein Arm war einfach spontan nach vorne geschnellt. Fushimis vergnügter Ausdruck wich einen Moment, seine Augen weiteten sich fragend. Doch dieser Augenblick war so kurz, dass Yata sich gerade fragte, ob er sich nicht geirrt hatte, als auch schon ein Lachen aus Fushimis Kehle drang. Er bildete sich ein, einen erstaunten Unterton herauszuhören. „Du schlägt einfach so zu? Ich meine, das wäre ja nichts Neues, aber… mich? Du hast noch nie versucht, mich zu schlagen.  Jedenfalls nicht auf so eine Art, nicht, seitdem wir Freunde sind, Misaki.“ Ein leichtes Zucken ging durch den Körper des Skaters, dann riss er seine Hand los. „Wir sind aber keine Freunde mehr.“ „Ist es, weil ich dich so genannt habe? Hm? Misaki?“ Sein erster Impuls war es, ihm gleich noch einen Hieb zu verpassen. Aber darauf legte sein „Besucher“ es doch nur an. War er bloß deswegen hergekommen? „Fresse!“ „Das sagtest du bereits.“ Yatas Herz schlug unwillkürlich schneller, als Fushimis Gesicht sich ihm näherte. Seine Augen fixierten die seinen, als sei er ein Raubtier. Nein, diesen Blick hatte er nicht schon immer gehabt, nun war er sicher. Aber er war auch nicht erst da, seit sie verschiedene Wege gingen. Dieser Ausdruck hatte bereits begonnen, sich in Fushimis Augen zu schleichen, als die beiden ihre Kräfte bekommen hatten. Yata hatte bloß diesen Monat Abstand gebraucht, dieses erneute Aufeinandertreffen, damit es ihm bewusst wurde. War er die ganze Zeit über der einzige gewesen, der diese schleichende Gefahr die in seinem Freund lauerte nicht wahrgenommen hatte? Weil er sich so sehr darauf verlassen hatte, ihn zu kennen, zu wissen mit wem er es zu tun hatte? Er musste schlucken, als Fushimi leise kicherte. Er hasste diesen Laut! Diesen Laut, der ihn verfolgt hatte, seit er dabei gewesen war, als der Verräter sich sein Tattoo ausgebrannt hatte. Es war das erste Mal gewesen, dass Fushimis Lachen ihm Angst gemacht hatte. Nicht auf die Art, auf die man sich vor einem wilden Tier fürchten könnte oder vor einem Gegner, der einem die Knochen zerschmettern wollte. Diese Angst war tiefgreifender gewesen, die Angst davor, dass jemand sich unwiderruflich von einem entfernte, dass man urplötzlich an einem Punkt angelangt war, an welchem man begann, verschiedene Sprachen zu sprechen und den anderen nicht mehr verstehen konnte. Oder wollte. „Du hast diesen Namen nie für dich selbst benutzt, das weiß ich. Das weiß jeder. Und trotzdem habe ich dich immer so genannt, manchmal hatte ich sogar das Gefühl, dass es dir in Wahrheit weitaus weniger ausmachte als du behauptet hast. Mochtest du es am Ende sogar, wenn ich dich so genannt habe? Weil es sonst niemand gewagt hat, dich so anzusprechen?“ Er wehrte sich nicht, als Fushimi langsam mit einer Hand über seine Wange strich. Es war eine unangenehme Berührung, seine Finger waren viel zu kühl und trotz der körperlichen Nähe schien diese Bewegung nur dazu zu dienen, ihre Distanz noch zu vergrößern. „Reagierst du nur deswegen so stark auf diesen Namen? Flippst du deswegen total aus?“ Fushimis Blick senkte sich, schien am Arm des Kleineren zu verharren. Sein Grinsen wurde breiter. Dann näherten seine Lippen sich seinem Ohr. „Hast du deswegen schon Gänsehaut? Mi~sa~ki~?“ Er wusste nicht, ob er tatsächlich eine Gänsehaut gehabt hatte, aber wenn sie eben noch nicht da gewesen war, dann nun ganz sicher. Was er da aussprach, klang nicht mehr bloß nach seinem Namen. Früher hatte es triezend gewirkt, wenn er ihn so genannt hatte, als wollte er ihn ärgern. Doch nun beinhaltete dieses Wort nichts weiter außer Hohn. Mit aller Kraft stieß er beide Hände gegen die Brust des Anderen, welcher daraufhin ins Stolpern kam. Er war ein Kämpfer, jedem anderen hätte er jetzt schon die Zähne ausgeschlagen. Aber er wusste, dass er zu durcheinander war, um es mit diesem Gegner aufzunehmen, zumindest jetzt. Er mochte nicht der Intelligenteste sein, aber blöd war er auch nicht. Krähen wussten, wann es besser war, zu verschwinden. Er schnappte sich sein Board und lief zum Ende des Daches, ohne sich umzusehen. Jedenfalls bis er erneut gerufen wurde. „Hey, willst du denn gar nicht wissen, welches Geschenk ich für dich habe?“ Er blieb abrupt stehen. Geschenk? Was für ein Geschenk? Dieser Penner war doch nur hier, um ihm zu beweisen, wie kaputt alles inzwischen war, dass er in dem einen Monat seit er HOMRA verlassen hatte nicht eine Sekunde daran gedacht hatte, zurückzukehren. Nicht, dass ihn überhaupt noch einer von Mikotos Leuten bei sich hätte haben wollen, ihn selbst natürlich eingeschlossen. Und dennoch war seine Neugier größer. Sie war immer größer als seine Vorsicht und das wusste sein ehemals bester Freund nur zu gut, das nutzte er aus. Misstrauisch blickte er über die Schulter zurück. „Wieso solltest du mir etwas mitgebracht haben?“ Das Schmunzeln in Fushimis Gesicht versetzte ihm einen Stich. Es sah so… vertraut aus. Wie früher, wenn Yata Fragen gestellt hatte, deren Antworten offensichtlich gewesen waren. „Du verkloppst mich doch sicher, wenn ich dir nichts zum Geburtstag schenke. Auch wenn das, was du dir wünschst, immer nur irgendwelcher Blödsinn ist… Dinge, die du eh nicht brauchst und dann weiter verschenkst oder verlierst. Und wieso? Weil du dich einfach nicht traust, zu sagen, was du wirklich willst. Aber ich weiß, was das ist  und ich nutze diese Chance, es dir zu geben, bevor wir so weit sind, dass endgültig alles vergessen ist, was zwischen uns war.“ Was ich mir wirklich wünsche? Die Skepsis in seinem Blick nahm zu. Was wusste der schon von seinen Wünschen? Und selbst wenn, niemand wäre je in der Lage gewesen, ihm seinen Wunsch zu erfüllen, Fushimi schon gar nicht. Und dennoch sagte ihm eine Stimme, dass immerhin eine winzige Möglichkeit bestand, dass er es ernst meinte. Eine winzige… nein. Er sollte sich gar nicht erst dieser Illusion hingeben. Von Natur aus war er stur, also sollte er es auch in diesem Falle bleiben. Aber noch kurz abzuwarten konnte nicht schaden. Yata wandte sich dem Verräter wieder zu, als dieser erneut begann, sich ihm zu nähern. „Und das wäre?“ Er hoffte, möglichst abweisend zu klingen. Oder wenigstens neutral, auf keinen Fall aber hoffnungsvoll. Dann nickte er zum Säbel an Fushimis Hüfte. „Wie ich dich inzwischen kenne, ist dein Geschenk, dass du mir den da zwischen die Rippen bohrst.“ „Tche… Wieso führst du dich so auf, Misaki? Du hast versucht, mich zu schlagen, hast mich weggestoßen und jetzt tust du so, als sei ich der Böse? Ich würde dich niemals mit dieser Waffe töten. Das könnte ich gar nicht. Weißt du auch, wieso?“ „Weil du tief im Inneren immer noch mein bester Freund bist und mir nicht wehtun willst?“ Yata konnte nicht anders, als diese Worte gepaart mit einem gehörigen Maß an Ironie auszuspucken. Es hätte zu Fushimi gepasst, so etwas zu sagen, sich über ihn lustig zu machen, auf diese Art mit ihm zu spielen. „Falsch. Es ist, weil ich an deine Worte glaube. Vom ersten Tag bei HOMRA an hast du doch gekräht, dass du dich niemals von einer dieser verdammten blauen Waffen umbringen lassen würdest. Und das glaube ich dir, du bist dickköpfig genug, um in dieser Sache Wort zu halten. Das ist auch der Grund, weswegen ich mir die hier aufgehoben habe.“ Fushimis herablassender werdendes Grinse hatte ihn eine Sekunde abgelenkt und schon hatte Yata einen seiner Dolche an der Kehle. Er glühte leicht, strahlte eine bedrohliche, aber noch nicht gefährliche Hitze aus. Schlagartig wurde sein Mund staubtrocken. Bevor es soweit ist, dass endgültig alles vergessen ist, was zwischen ihnen war? War es denn nicht bereits so weit, wenn Fushimi nur mit seiner Hand zucken musste, um ihn zu töten? „Ich glaube nicht, dass du dir je Gedanken darüber gemacht hast, wie man jemanden bekämpft, der dieselbe Farbe nutzt wie man selbst. Wozu auch? In deiner Welt wäre so etwas unmöglich gewesen, in deinen kleinen Tagträumen schließt man sich zusammen und hockt dann für die Ewigkeit aufeinander herum.“ „Du hast kein Recht mehr, damit zu kämpfen!“ „Seit wann kümmert sich ein Möchtegerngangster um Rechte?“ Fushimis Blick war mitleidig, als bedauerte er es wirklich, dass Yata seine Grundaussagen nicht nachvollziehen konnte. Der süffisante Unterton in seiner Stimme machte diesen Eindruck jedoch wieder zunichte. Yata schluckte, wollte zu einer Erwiderung ansetzen, ließ es dann aber bleiben. In Diskussionen gewann er selten, erst recht dann nicht, wenn es in seinen Augen gar nichts zu diskutieren gab. „Rück endlich das Geschenk raus und verpiss dich dann wieder.“ „Kein Bitte?“ Langsam entfernte Fushimi den Dolch wieder und schob ihn sich in die Uniform. Trotzig reckte Yata das Kinn hervor. Er würde sich nicht einschüchtern lassen und auch nicht mehr an diesem sinnlosen Redegefecht teilhaben. Entweder sein Gegenüber rückte endlich damit raus, was er wollte oder- Er bekam seinen ersten Kuss, noch bevor er Fushimis plötzliche Bewegung in seine Richtung überhaupt hatte deuten können. Im Gegensatz zu dessen Fingern waren seine Lippen warm, warm und wesentlich weicher als erwartet. Als erwartet? Das klang ja, als hätte er sich zuvor schon vorstellen müssen, wie sich das hier anfühlen würde! Seltsamerweise schossen ihm diese fast schuldbewussten Gedanken durch den Kopf, noch bevor er überhaupt eine Reaktion zeigen konnte. Sein nächster Impuls war es, zurückzuzucken, doch noch bevor er sich lösen konnte, hatte Fushimi schon seine Arme um ihn gelegt. Diese Geste, die eigentlich beschützend hätte sein sollen, wirkte als würde er ihn einkesseln, ihn gefangen nehmen. Derjenige, dem Yata mehr als jedem sonst vertraut hatte, hatte ihn verraten, verlassen und nun küsste er ihn, als sei nichts gewesen. Er war überrascht, dass Fushimi dabei die Augen geschlossen hielt. Ging es ihm hier nicht darum, sein Verhalten zu beobachten, sich an seiner Reaktion zu ergötzen? Oder… Nun begann er ebenfalls, seine Augen zu schließen. Vorsichtig bewegte er seine Lippen gegen Fushimis. Machte er das richtig? Er wusste, dass Fushimi schon Freundinnen gehabt hatte, dass ihm das hier nicht unbekannt war. Er selbst hingegen hatte keinerlei Erfahrung, hatte stets nur gewartet, mal hoffnungsvoll und mal verzweifelt, dass eine Art Wunder geschehen würde. Er blinzelte verwirrt, als sich die Lippen seines ehemaligen Freundes wieder zurückzogen. Ihm war, als wachte er gerade aus einem Traum auf. Vielleicht war dies auch ein Traum, einer von der Sorte, die nach dem Aufwachen sowohl Glückshormone als auch Beklemmungen auslösten, weil man nicht wusste, was sie bedeuteten und ob die Zeichen nun als gut oder schlecht zu deuten waren. Er konnte den steifen Stoff der Uniform unter seinen Handflächen spüren und fragte sich, wann er begonnen hatte, die Umarmung zu erwidern. Sein Herzschlag dröhnte in seinen Ohren und war sicherlich auch für Fushimi zu hören, wenn er es nicht ohnehin schon an seiner Brust spürte. Yata hatte es die Sprache verschlagen, er wagte es nicht einmal, seinem Gegenüber in die Augen zu sehen. Schweigend klammerte er sich fest, fragte sich, was als Nächstes passieren würde. Er konnte spüren, wie Fushimis Finger begannen, mit einer seiner Strähnen im Nacken zu spielen. Wie ihm sanft über den Hals gestreichelt wurde. Hatte er eben tatsächlich noch einen Dolch an der Kehle gehabt? Wenn ja, was war dann realer gewesen, die Klinge oder diese zärtlichen Liebkosungen hier? „Also dann.“ Also dann… was? Er wusste nicht, was das heißen sollte, aber sehr wohl, dass es nichts Gutes war. Im nächsten Moment schon löste Fushimi sich von ihm und trat zurück, ließ ihn alleine und ratlos stehen. Er konnte seinen Augen kaum trauen, als der Vasall des Blue King Anstalten machte, sich einfach umzudrehen und zu gehen. Mit einem großen Schritt war Yata wieder bei ihm, hielt seinen Arm fest, auch wenn er eigentlich nach etwas ganz anderem greifen wollte. Nach etwas, was längst nicht mehr erreichbar war, etwas, was er einst als Zukunft bezeichnet hatte und was nun nichts weiter war als Vergangenheit. „Was soll das? Haust du jetzt einfach ab?“ Er hatte anklagend klingen wollen oder herausfordernd, stattdessen hätte er sich ohrfeigen können für dieses verletzte Zittern in seiner Stimme. Fushimi blieb stehen, riss sich zwar nicht los, strahlte aber den deutlichen Wunsch aus, einfach in Ruhe gelassen zu werden. „Ich sagte doch, dass ich hier bin, um dir etwas zu geben, was du schon lange wolltest. Und das habe ich getan.“ Meinte er das wirklich so? Glaubte er wirklich, dass das sein Wunsch gewesen war? „Du weißt gar nichts über mich, du-„ „Ich kenne dich besser als du dich kennst, Misaki. Und jetzt lass mich los, du tust mir weh.“ Er hatte nicht bemerkt, wie krampfhaft seine Finger sich in Fushimis Arm gebohrt hatten. Dennoch hatte er nicht vor, locker zu lassen. Und Fushimi schien außerdem keinerlei Intention zu haben, sich einfach loszureißen. Stattdessen atmete er tief durch und sah Yata wieder in die Augen. „Natürlich weiß ich, dass dir das nicht reicht. Aber mehr als das bekommst du nicht. Es ist wie mit den anderen Geburtstagsgeschenken auch: Du magst dir etwas Einzigartiges wünschen, letztlich musst du dich aber mit dem zufrieden geben, die anderen sich für dich leisten können. Mehr kannst du von mir nicht erwarten.“ „Natürlich kann ich das! Du kannst nicht einfach sowas… und dann so tun, als sei nichts…“ Seine Worte schienen sich zu überschlagen. Er konnte nicht einmal in Gedanken formulieren, wie entrüstet er von Fushimis Handeln war, geschweige denn es aussprechen. Aber wenn dieser Typ hier behauptete, ihn besser zu kennen als er sich selbst kannte, dann sollte er daraus jawohl auch herauslesen können, worum es ihm ging! „Du meinst, dass ich nicht einfach gehen kann? Aber das bin ich bereits, Misaki. Ich bin doch schon weg. Das hier ist ein verspäteter Abschied.“ „Abschied? Ich scheiß auf deinen Abschied!“ Er ließ den Arm los, aber nur, um sich als Nächstes Fushimis Kragen zu krallen. Er hörte den Stoff reißen, doch das war ihm gleich. Schlimm war nur  der Anblick der Brandnarben, welche nun unter der verrutschten Uniform hervorlugten. „Du hättest einfach bei uns bleiben können, Saru! Bei HOMRA, bei mir!“ „Und dann? Dann hätte ich tagein, tagaus zwischen einem bunten Haufen Schläger in einer Bar sitzen, lauwarmes Bier trinken und mich über die letzte Straßenschlacht amüsieren können? Wow, diese Aussichten!“ Bei diesem arroganten Gefasel kam es Yata fast hoch. So sah er sie also inzwischen? Die Leute, die seine Familie ersetzt hatten, bis vor gerade einmal ein paar Wochen? Das waren sie für ihn, nur ein Haufen Schläger? Er war noch nie so wütend gewesen, auch nicht unmittelbar nach dem Verrat. Seine Finger schlossen sich fester um den Stoff, zogen an ihm, bis dieser in Fushimis Haut schnitt. „Wenn HOMRA so schlimm für dich gewesen ist, weshalb bist du dann überhaupt solange dort geblieben? Wieso bist du nicht gleich zum Blue King und seinem Rudel dressierter Hunde gelaufen, hä?“ Er erwartete eine erneute herablassende Bemerkung, eine neue Abart dieser entnervenden Grinse, die Fushimi entwickelt hatte. Stattdessen bekam er eine Antwort, deren Aufrichtigkeit ihn mehr verletzte als jeder Hohn es vermocht hätte. „Weil du auch dort warst, ist das nicht klar?“ Yatas Augen weiteten sich, seine Hände zitterten, lösten sich aber noch nicht von dem Hemd. Unbewusst fuhr er sich mit der Zunge über seine Lippen, welche plötzlich brannten, als würden sie erst jetzt, viel zu spät, auf den Kuss reagieren. „Was ist? Glaubst du mir nicht? Aber welchen anderen Grund hätte ich schon haben sollen? Wir sind immer zusammen gewesen, Misaki. Natürlich konnte ich nicht sofort gehen, als ich merkte, dass ich das alles dort nicht will. Auch ich brauche meine Zeit für solche Entscheidungen.“ „Aber eben noch sagtest du, dass du es die ganze Zeit über gewusst hast… was ich von dir wollte… worauf ich gewartet habe und trotzdem bist du verschwunden.“ Seine Stimme wurde gegen Ende immer leiser. „Das ist nicht richtig. Ich bin letztlich nicht trotzdem gegangen, sondern deswegen.“ Yatas Herz schien auszusetzen, als wollte es ausgleichen, dass es eben viel zu schnell geschlagen hatte. „Ist das dein Ernst?“ Seine Finger lösten sich von dem Stoff, als er zurückstolperte. Ziellos wanderte sein Blick über Fushimis Körper, bis er schließlich an dessen Lippen hängen blieben, welche sich gerade wieder zu einem grotesken Lächeln verzogen.  „Nein, das war nicht ernst gemeint. Aber was bringt es, dass ich das sage? Du wirst trotzdem die nächsten Tage schlaflos im Bett liegen und dich fragen, ob nicht doch etwas Wahrheit darin steckte, ob ich nicht doch genau deswegen gegangen bin. Weil du mir zu viel geworden bist, du und deine Art mir gegenüber. Dieses naive Vertrauen, als könnte dir nichts passieren, solange du mich hast. Diese Tendenz, mir Dinge zu vergeben, für die du anderen den Kopf eingeschlagen hättest, als sei ich etwas Besonderes. Dieser Blick, als würdest du auf etwas hoffen, was mir nicht ferner liegen könnte. Du musstest nichts sagen, Misaki. Ich kenne dich lange und gut genug, um deine Zeichen zu verstehen, ob du sie nun willentlich aussendest oder nicht. Und ich kenne deine Hartnäckigkeit. Vielleicht war es mir ja wirklich lieber, einen Schlussstrich zu ziehen, bevor das alles eskaliert und du mir mit der Tür ins Haus fällst. Denn in dem Fall wäre es noch unschöner geworden.“ Die Worte trafen ihn härter als jeder Schlag ins Gesicht, den er bisher kassiert hatte. Hatte er sich wirklich so offensichtlich verhalten? Oder stimmte es einfach nur, dass Fushimi in ihm lesen konnte, in seinen Gedanken, seinen Gefühlen? Hatte er ihn verjagt, obwohl alles was er getan hatte dafür da gewesen war, damit sie für immer gemeinsam bei HOMRA bleiben konnten? „Das… ist Unsinn.“ Er selbst konnte seine Stimme kaum hören, sie war nicht mehr als ein belegtes Raunen. Er spürte wieder diese Gänsehaut, wenn dieses Mal auch aus einem anderen Grund. „Du hättest mit mir sprechen müssen. Du hättest irgendetwas sagen müssen, aber du hättest nicht so feige sein und dich einfach aus dem Staub machen dürfen! So wichtig kann ich dir nicht gewesen sein, wenn du so egoistisch bist und mich einfach zurücklässt!“ „Aha?“ Fushimis Brauen hoben sich leicht fragend. „Du hättest also mitkommen wollen?“ „Natürlich nicht!“ Alleine schon diese Frage! Er, Yata, hatte im Gegensatz zu diesem hinterhältigen Verräter seinen Stolz! „Dann bist du der Egoist, Misaki.“ Fushimis Worte klangen völlig tonlos, waren eine reine Feststellung. „Du verlangst, dass ich bei euch hätte bleiben sollen, obwohl ich mich dort unwohl gefühlt habe. Obwohl ich weiß, dass ich für etwas anderes bestimmt bin, dass ich mein Leben nicht einfach auf der Straße vergeuden will. Ich hingegen wusste, dass du dich niemals Scepter 4 oder überhaupt einem anderen King anschließen würdest. Mir war bewusst, dass deine Loyalität stärker sein würde als alles andere, also habe ich nicht eine Sekunde lang in Erwägung gezogen, von dir zu verlangen, HOMRA zu verlassen. Selbst, wenn ich gewusst hätte, wie ich mit deinen Gefühlen umgehen sollte, ich hätte nie erwartet, dass du mich dem Leben vorziehst, wie du es dir wünschst. Dem Leben, das zu dir passt. Dass du genau das von mir verlangst, zeigt doch nur, dass du der viel größere Egoist bist. Ich mag unser Vertrauen zueinander verraten haben, aber du verrätst unsere Freundschaft durch deine Reaktion mindestens genauso.“ Yata biss sich auf die Zähne. Wie konnte dieser verlogene Kerl es wagen, so zu sprechen? Sie beide in einen Topf zu werfen? Sah er das wirklich so oder wollte er ihn wieder nur provozieren? Er hatte das Gefühl, dass Ersteres zutraf, was das Alles nun wirklich nicht besser machte. Als er darauf nicht antwortete, zuckte Fushimi bloß mit den Schultern. Er hatte gesagt, was er zu sagen hatte und wenn man ihm nicht widersprach, war das seine Bestätigung. Es war ihm immer schon lieber gewesen, einfach Recht zu haben als sich auf einen Streit einzulassen. „Und wieso bist du dann hier? Wenn du mir nur einen Bruchteil von dem geben wolltest, was ich mir gewünscht habe, wenn ich doch so egoistisch und unerträglich bin, was hast du hier zu suchen? Abschied, von wegen! Nach allem, was du getan hast, sollte es dir jawohl egal sein, ob du dich richtig verabschiedet hast oder nicht!“ „Ja, mir schon. Aber dir nicht.“ Ohne eine weitere Erklärung wandte Fushimi sich ab und ging weiter auf die Treppe zu, welche vom Dach führte. Yata biss sich auf die Lippe, um das immer noch vorhandene Brennen mit Schmerz zu überschreiben. Irgendetwas stimmte nicht. Wenn sein alter Freund wirklich nur wegen ihm hier aufgetaucht war, wieso behandelte er ihn so? Wieso sprach er von einem Abschied, ließ diesen aber noch offener als es ihr letzter bereits gewesen war? Er hatte ihn geküsst, obwohl keiner von ihnen das gewollt hatte, zumindest nicht auf diese Weise… und das sollte wirklich nicht weiter als ein Gefallen sein? Anscheinend wurde hier wieder versucht, ihn für blöd zu verkaufen. „Heh…“ Wieder einmal griff er sich sein Skateboard und startete damit. Kurz vor der Treppe holte er Fushimi ein, überholte ihn und versperrte den Weg. Dieses Mal war er es, der grinste, wenn auch nicht so herablassend wie sein Gegenüber es neuerdings tat. „Was ist los, Saru? Wieso willst du schon gehen? Willst du an meinem Geburtstag nicht noch ein wenig länger mit mir rumhängen?“ Es war deutlich zu sehen, wie der Kämpfer von Scepter 4 versuchte, seine Verwirrung unter einem gleichgültigen Blick zu verstecken. Seine Augen, die in Yatas Gesicht danach forschten, woher dieser Sinneswandel kam, verrieten ihn. „Was willst du noch, Misaki?“ „Ich? Ich will gar nichts. Aber was willst du? Tauchst hier auf, bringst so viel durcheinander wie du kannst und rennst dann weg, bevor ich die Chance habe, drüber nachzudenken.“ „Das liegt daran, dass wir hier bis zu deinem nächsten Geburtstag stehen würden, wenn ich dich jetzt nachdenken ließe.“ Yatas Augen verengten sich etwas. So kam er immer an, wenn er vom Thema ablenken wollte. Er hackte auf ihm herum, in der Hoffnung, dass er sich aufregen und alles andere vergessen würde. Aber heute nicht! „Du hast Angst, Saru. Du bist ein Schisser, deswegen konntest du nicht früher die Kurve kratzen und deswegen bist du jetzt doch zurückgekommen.“ Er ließ sich vom Lachen seines Gegenübers nicht beirren. Sollte er doch daran ersticken, sobald er merkte, dass er durchschaut worden war. Tatsächlich brach es abrupt ab, als Yata keine Spur von Verunsicherung zeigte, im Gegenteil. Sein Grinsen wurde breiter, fast siegessicher, wie wenn er einen Gegner in die Ecke drängte und wusste, dass ein letzter Schlag ausreichen würde, um zum Gewinner zu werden. Es war ein gutes Gefühl, mitanzusehen, wie Fushimis Blick nun beinahe so misstrauisch wurde, wie seiner es eben noch gewesen war. „Und das hat was genau damit zu tun, dass ich Angst hätte?“ „Ganz einfach. Du hast mich verlassen, Saru. Auf so viele Arten hast du dich einfach vom Acker gemacht. Aber was dir Angst macht, ist, dass ich nun auch dich verlassen könnte. Ich hatte immer viele Leute um mich, seit jeher, schon bevor ich dich kannte. Du hingegen hattest niemanden, standst immer nur am Rand und wenn ich dich nicht angesprochen hätte, würdest du auch jetzt noch abseits von allen herumlungern. Es gäbe kein HOMRA für dich, aber auch kein Scepter 4, du wärst niemals ein Teil von etwas Größerem geworden. Das ist dir auch klar, oder nicht? Du meinst, dass du zu gut für Mikoto und seine Leute bist, aber ohne mich wärst du niemals überhaupt irgendetwas geworden.“ Endlich schien Fushimi zu verstehen, worauf er hinaus wollte. Er schüttelte kaum merklich den Kopf und fand zurück zu seinem desinteressierten Gesichtsausdruck. „Glaub diesen Schwachsinn, wenn du dich dadurch besser fühlst.“ „Es geht nicht darum, ob ich mich besser fühle. Du bist derjenige, der sich die Wahrheit nicht eingesteht. Und deswegen führst du dich so auf, wirbelst alles durcheinander. Weil du verhindern willst, dass ich dich einfach genauso hinter mir lasse wie du mich, damit du weißt, dass es immer jemanden geben wird, der für dich da ist, auch wenn du nie mehr zu ihm zurückkommen würdest. Sicher wärst du früher oder später wieder hier vorbeigeschneit, nur um diese Absicherung aufzufrischen.“ Da! Ein kurzes, aber verräterisches Zucken seiner Augen. Er hatte ihn durchschaut und Fushimi wusste das genau. Das Blatt hatte sich gewendet. „Du musst gar nicht hier auftauchen und sichergehen, dass ich dich nicht vergesse. Das werde ich eh nicht, aber du wirst das genauso wenig und wenn dir das erst einmal klar ist, bist du derjenige, der Pech gehabt hat. Du hast dich mit deinem Handeln selbst verarscht.“ Er stieß seinen Fuß schwach am Boden ab und rollte auf Fushimi zu, kam nur wenige Zentimeter vor ihm zum Stehen. „Vielleicht hatte ich die ganze Zeit über Angst, dass unsere Wege sich trennen würden. Aber jetzt habe ich das hinter mich gebracht, ich habe dich verloren. Du hingegen wirst ab jetzt mit der Gewissheit leben, dass auch ich mich abwenden werde und dass du dann nur noch deine blauen Kollegen hast, von denen keiner weiß, wer Saruhiko Fushimi eigentlich ist.“ Dieses Mal blieben Fushimis Augen bei dem Kuss geöffnet. Er war einfach überrumpelt worden. Und so kurz dieser zweite Kuss auch war und so abrupt er auch endete, Yata genoss ihn weitaus mehr als den Ersten. Denn er hatte die Oberhand, er traf die Entscheidungen. Und er entschied sich nun, dieses Dach zu verlassen und dabei nicht so ein Hin und Her zu veranstalten wie Fushimi. Wenn er ging, dann ging er richtig und das konnte ruhig deutlich werden. Er ließ sein Board wieder in seine Hand schnellen, wandte sich ab und ging die Treppe herunter. Ohne Eile. Fushimi würde ohnehin noch eine Weile auf dem Dach stehen und versuchen, zu begreifen, dass seine Aktion nach hinten losgegangen war. Yata hatte gewonnen. Sein Grinsen wich unterwegs nicht. Es war ein leeres freudloses Grinsen, aber wenigstens Etwas. Erst zuhause verließen ihn sämtliche Kräfte, erst zuhause wurde der Drang sich einfach auf dem Bett einzurollen übermächtig. Er reagierte auf keine Anrufe, auf kein Türklingeln, auf keinen einzigen der Glückwünsche seiner Freunde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)