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Replika - Preis der Wahrheit

Feder & Stift - Rundumwichteln für AgentAya
von

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Prolog

Ich spürte die Blicke, die auf mir ruhten, als ich langsam die Stufen zum Podium erklomm. Mein Puls raste und das Herz schlug wild in meiner Brust, als wollt es sich befreien aus diesem Gefängnis aus Knochen und Fleisch und fliehen, um nicht Teil dieser Dummheit zu sein, die ich begehen würde.

Der Minister trat ein Stück zur Seite, als ich mein Ziel erreichte, dankbar, weil meine zitternden Beine mir den Dienst nicht versagt hatten. Ich wischte verstohlen meine verschwitzten Hände an meiner Hose ab.

Auch der Blick dieses Mannes war auf mich gerichtet. Er hatte kalte, verschlagene Augen und ich wusste, dass er die Wahrheit kannte, das große Geheimnis. Er wusste wer, nein was, ich war und sein Blick versprach mir stumm, dass ich jeden Fehler teuer bezahlen würde. Es hätte mir Angst machen sollen, aber da war schon so viel Angst in mir, dass es einfach keinen Platz mehr für noch mehr gab und deshalb lächelte ich.

Ich lächelte, damit er derjenige war, der Angst hatte. Lächelte, damit er begriff, was ich tun würde und lächelte, weil es rein gar nichts gab, was er tun konnte, um mich daran zu hindern. Nicht er und kein anderer, der an der Verschwörung beteiligt war. Ich war frei. Zum ersten Mal in meinem Leben, weil ich wusste, dass ich noch in dieser Stunde sterben würde.

Mein Blick schweifte nach unten über den großen Platz, wo sich die Einwohner der Stadt entsprechend den Vorschriften beinahe ausnahmslos versammelt hatten. Alte und Kinder, Mütter mit Babys auf dem Arm. Es gab nicht viele Entschuldigungen dafür, eine Versammlung zu versäumen. Der Platz war groß und gefüllt mit Menschen, die sich dicht zusammendrängten. Im vorderen Bereich standen die Würdenträger, die Reichen und die Mächtigen, die es in unserem System angeblich nicht gab. Dann kamen die Fachkräfte und schließlich die einfachen Arbeiter. Die Gesichter verschwammen vor mir wie helle Flecken und ich atmete ein. Ich würde sterben, aber niemand auf der Welt würde in der Lage sein, zurück zu nehmen, was ich sagen würde, niemand konnte ungeschehen machen, was ich tun würde. Viele dieser Menschen dort würden versuchen es zu vergessen und zu verdrängen, weil die Wahrheit sie ebenfalls mit Angst erfüllen würde. Sie würden Entschuldigungen suchen für etwas, dessen Teil sie waren und gegen das sie sich nie aufgelehnt hatten, selbst wenn sie es nicht verursacht oder gewollt hatten. Jeder von ihnen war schuldig, war Mittäter und hatte davon profitiert. Nur wenige würden stark genug sein, um das zu akzeptieren. Aber ich war sicher. Ich musste daran glauben, dass es ein paar gab, die zuhören würden und deren Herzen nicht zu Eis erstarrt waren, wie ein nicht unerheblicher Teil der Welt, in der wir lebten. Und das würde den Unterschied machen.

Meine Worte und mein Tod würden an diesem Abend keine große Bedeutung haben. Aber vielleicht in einem Jahr, vielleicht in fünf oder zehn. Wenn ich die Menschen zum Nachdenken brachte, dazu, zu fühlen, dann konnte es nicht anders sein und dann würde mein Schicksal das Schicksal derer wenden, die meine Familie waren. Und vielleicht würde es ihnen ein Beispiel geben, ihrer Resignation zu entfliehen und selbst etwas zu tun. Sie mussten nur begreifen, dass sie nichts zu verlieren hatten, so wenig wie ich, denn unser Leben hatte niemals uns gehört.

Schweigen kehrte ein. So deutlich, dass es unnatürlich schien, als wären all diese Menschen dort unten, die mich ausdruckslos ansahen, nur Gespenster, nicht wirklich, nicht da. Ich atmete aus und legte in meinem Kopf die Worte zurecht. Ich hatte so lange darüber nachgedacht, was ich sagen sollte, wie ich die kurze Zeit nutzen würde, die mir bliebe. Ich musste etwas sagen, das die Menschen in ihren Bann zog, und ihnen all das mitteilte, was ich ihnen mitteilen musste, noch bevor das Ministrat bemerkte, was ich tat und bevor sie mich zum Schweigen brachten.

So viele Worte, die ich in Betracht gezogen und wieder verworfen hatte, weil es unmöglich schien, dass Worte ausdrücken konnten, was ich war und was ich fühlte. Was es bedeutete. Aber jetzt war es ganz leicht, als wären die Worte schon immer da gewesen, irgendwo in meinem Kopf.

Als ich begann, war es noch die Rede, die der Minister mir vorgegeben hatte. Meine Stimme füllte das Schweigen des Platzes und obwohl sämtliche Blicke auf mir ruhten oder doch zumindest dem Punkt, an dem ich stand, wusste ich, dass die meisten dieser Menschen mir nicht zuhörten. Sie kannten die Worte, die ich sagen sollte wahrscheinlich besser als ich. Hatten sie auswendig gekannt, noch ehe ich sie in Stunden der Arbeit erlernt hatte, weil es die gleichen Worte, die immer wiederkehrenden Parolen waren, mit denen man ihnen versicherte, dass in ihrer Welt alles in Ordnung sei. Es gäbe keinen Grund zur Sorge und so viele Gründe stolz zu sein auf das, was aus den Trümmern einer ausgebluteten Welt entstanden war.

Dann begann ich damit die Wahrheit zu sagen und plötzlich hatte ich alle Aufmerksamkeit der Welt.

Wer einen Blick auf die Geschicke der meinen und auch auf mein eigenes Leben wirft, bevor eine Kette von Ereignissen, die niemals hätten sein dürfen, es in schier undenkbare Bahnen lenkte, der wird gewiss vieles in Frage stellen. Zumindest mir ging es so, sobald ich gesehen hatte, was sich jenseits dessen befand, das wir für die Welt hielten.

Warum wir zuließen, dass all das geschah. Warum uns all die Unstimmigkeiten nicht auffielen, die im Nachhinein betrachtet offensichtlich waren. Wir waren so viele. Warum also ließen wir zu, dass jene Dinge geschahen, von denen niemand sprach? Die Antwort ist einfach und bietet doch keine Entschuldigung. Wir wussten es nicht besser.

Keiner von uns hatte je gelernt, dass es eine Alternative zu dem Leben gab, das wir führten. Wir wussten nicht, dass Kinder bei ihren Eltern aufwuchsen, im Kreis der Familie, weil keiner von uns Eltern hatte. Wir wären nie auf den Gedanken gekommen, dass wir anders hätten aufwachsen können, als in den großen Häusern mit ihren weitläufigen Grundstücken, fern vom Rest unserer Welt.

Wir wurden nicht misstrauisch, weil niemand uns das Gefühl gab, dass etwas fehlte. Wir vermissten die Freiheit nicht, von deren wahrer Bedeutung wir nichts wussten, weil es so gut wie keine Tabus zu geben schien.

Da waren Bücher und Filme, gewiss, doch das waren nur Relikte aus einer vergangenen Zeit, als die Dinge noch anders lagen. Die Betreuer waren freundlich und sie beantworteten all unsere Fragen so überzeugend, dass niemand je auf den Gedanken gekommen wäre, sie könnten lügen. Sie mussten keine Angst davor haben, dass jemand die falschen Fragen stellte, weil es auf jede Frage eine Antwort zu geben schien und weil sie keinen Grund hatten, Angst vor uns zu haben.

Menschen sind in ihren Gewohnheiten fixiert und nicht anders war es für uns. Unser Leben lang daran gewöhnt, folgten wir dem straff geplanten Tageslauf, der es in seiner Eintönigkeit schwer machte, den Fluss der Zeit zu verfolgen. Wir lernten, übernahmen später verschiedene leichte Tätigkeiten, die der Gesellschaft Nutzen brachten, ohne uns selbst nur der geringsten Gefahr auszusetzen. Denn nichts war ihnen wichtiger als unsere Gesundheit.

Es mochte kaum noch schwerwiegende Krankheiten geben, weil die Notwendigkeit des Überlebens zu zahlreichen medizinischen Entdeckungen geführt hatte und weil der Klimaumschwung und die damit einhergehende Flutung großer Landmassen und die Vereisung der Regionen um die Erdpole herum einen Großteil der Fauna und Flora unserer Welt vernichtet hatten. Und mit ihnen das Reservoir für zahlreiche Infektionskrankheiten. Die menschlichen Siedlungen waren fast vollständig autonom, sorgten für die Sauberkeit des Wassers, die zumeist rekombinante Nahrungsproduktion und schotteten sich vor den gefährlichen Einflüssen des Planeten ab, so gut sie konnten.

Doch die Welt, in der wir lebten, war durchsetzt von Strahlung. Von radioaktiver Strahlung, die Überrest der alten Zivilisation und vor allem ihrer Kriege war, von UV-B- und kosmischer Strahlung, die ohne die längst zerstörten Schutzhüllen der Erdatmosphäre ungebremst dorthin reichte, wo Leben noch möglich war. Gesundheit ist ein hohes, wertvolles Gut und niemand hätte es in Frage gestellt. Deshalb waren die einzigen Verbote jene, die uns und andere in Gefahr brachten.

Sie achteten auf unsere Ernährung und darauf, dass wir ausreichend Sport trieben ohne uns dabei zu schaden. Darauf, dass wir ausreichend schliefen und etwa monatlich erfolgten verschiedene Untersuchungen, die Schäden frühzeitig aufdecken sollten.

Sie wollten, dass wir gesund waren und deshalb wollten sie auch, dass wir glücklich waren. Es hielt uns niemand davon ab, nach unseren Interessen zu suchen und ihnen in angemessener Weise nachzugehen. Und weil der Bestand an Möglichkeiten zuvor von ihnen ausgewählt worden war, hatten sie keinen Grund zur Sorge.

Niemand versuchte uns daran zu hindern die Nähe anderer zu suchen. Sie sorgten nur dafür, dass wir die Gefahren kannten und uns davor schützen würden. Wer die Regeln brach, die unser aller Überleben sichern sollten, musste gehen und heute frage ich mich, ob das Ausreden waren, um das Verschwinden mancher zu vertuschen und was mit denen geschah, die nicht mehr tragbar waren, noch ehe ihre Zeit gekommen war. Sie zu töten hätte man als Verschwendung betrachten müssen, wurden sie also isoliert?

Dinge, die ich mich zuvor nie gefragt hatte. Keiner von uns. Wir kannten die Regeln und sie galten für jeden. Außerdem waren es nur wenige, die aus diesen Gründen verschwanden. Für die meisten gab es die gleichen Erklärungen, wie für jede andere Unstimmigkeit. Erklärungen, die vollkommen plausibel schienen und im höchsten Maße über alle Zweifel erhaben. Ja, tatsächlich kam ich mir zumeist dumm vor, wenn ich diese Dinge in Frage stellte und anschließend die Erklärung dafür vernahm.

Viele seien trotz allem krank geworden, an andere Orte geschickt, um sie zu isolieren und uns zu schützen. Um ihnen dort zu helfen. Manche starben. Wahrscheinlich so viele, dass es uns hätte auffallen sollen. Aber wie sollten wir wissen, dass diese Art des Todes, der von einem Augenblick auf den anderen geschehen konnte, unrealistisch war? Wir kannten es von klein auf nicht anders.

Wieder andere wurden versetzt, sollten an anderer Stelle arbeiten oder ähnliches. Tatsache ist, dass sie verschwanden und Tatsache ist auch, dass niemand es in Frage stellte, so sehr wir sie auch vermissen mochten.

Fragten wir nach denen, die fortgezogen oder krank waren, dann erhielten wir stets Auskunft nach besten Vermögen und wir wurden sogar ermuntert Briefe zu schreiben und den Kontakt zu suchen, doch zugleich ermahnt, wie schwierig es sein konnte, Nachrichten zwischen den einzelnen Kolonien zu übermitteln.

Es gab uns eine Vorstellung der Welt, in der sich unzählige Häuser wie unseres in einer weiten, erbarmungslosen Öde befanden. Es war kein falsches Bild, darin fehlte nur ein wesentlicher Aspekt. Das tatsächliche Zentrum dieser Welt.

Von außen betrachtet schien die Situation eine absurde Tragik in sich zu bergen. Weil wir meistens glücklich waren. Glücklich, weil wir nichts wussten und weil wir es nicht gewesen wären, hätten wir die Wahrheit gekannt. Wenn Glück eine solche Frage der Perspektive ist, welchen Wert birgt es dann? Und bedeutete das, dass es grausam war, etwas an der Situation ändern zu wollen? Dass es falsch war, die Wahrheit zu sagen, weil sie jene unglücklich machen würde, die ohne Schuld waren? Das war eine schwierige Frage und selbst als ich es tat, wusste ich nicht, ob es die richtige Entscheidung war. Ich wusste nur, dass die Welt wie sie war, das glückliche Lügenkonstrukt, falsch war. Dass eine Veränderung auch eine Besserung mit sich bringen würde, das konnte ich nur hoffen.

Doch zu Beginn dieser Geschichte war ich nicht weniger glücklich als all die anderen, es gab nichts, was mich von ihnen unterschied, mit Ausnahme meiner DNS.

Als all das seinen Anfang nahm, war ich siebzehn Jahre alt. Ich liebte Bücher und wann immer ich die Zeit dazu fand, verbrachte ich sie mit den Geschichten, die in den Regalen der Bibliothek schlummerten. Die Erzählungen, die aus der Zeit der Zivilisation bewahrt worden waren, ehe der Krieg ausbrach und sie zerstörte, erschienen mir wie fantastische Literatur. Von Achsenmächten war die Rede und Gründen für Kriege, die so lächerlich waren, dass sie sich einfach jemand ausgedacht haben musste. Da waren Berichte über Länder, Wesen und Dinge, die ich mir kaum vorstellen konnte und viele Dinge schienen so merkwürdig, dass ich sie unmöglich mit unserer Wirklichkeit in Einklang bringen konnte. Ich nahm das, was ich las, niemals wirklich ernst und wahrscheinlich war es ein Fehler. Ich glaubte diese Dinge zu verstehen und zu wissen, dass sie nichts mit mir zu tun hatten, doch dachte ich nie in einer Weise darüber nach, als wären sie wirklich,denn sie waren nicht wirklich. Die Welt der Bücher war ein Ort, den es nicht mehr gab.

In unserer Welt lebten gerade noch so viele Menschen, wie früher in einem der größeren Länder und sie verteilten sich in mehreren Hauptkolonien entlang des Äquators. Die Strahlung und die Umweltbedingungen erniedrigten die Lebenserwartung der Menschen deutlich, so groß der medizinische Fortschritt auch war. Doch die Strahlung brachte uns auch die Energie, die uns am Leben und die Funktion unserer Welt aufrecht erhielt.

Regiert wurde diese Welt durch einen Zusammenschluss von Ministerien, hauptsächlich regional in den einzelnen Ansiedlungen. Denn Kontakte waren schwierig und bedeuteten stellenweise große Entfernungen über tückisches und unsicheres Land. In dieser Gesellschaft wurde jeder Mensch entsprechend der Ambitionen und Talente gefordert, die er aufwies und jedem wurde der Platz zugewiesen, an dem er der Gemeinschaft am meisten nutzte und damit auch sich selbst.

Das waren die Dinge, von denen ich wusste. Und auch ihnen hatte ich nie mehr an Beachtung geschenkt, weil es Selbstverständlichkeiten waren. Ich wusste nicht einmal, wie genau entschieden wurde, was der richtige Platz eines Menschen war. Wer es entschied und wer vor allem darüber entschied, wer Minister wurde.

Erst Recht aber wusste ich nicht, dass dieses System durch Ausfälle gefährdet war. Geburten waren selten, weil die geringe Bevölkerungsdichte einen unzureichenden Genpool bot. Und das obwohl die Fortschritte im Rahmen der Genetik und Fertilisation problemlos die Selektion von krankhaften Genen und Merkmalen, ja sogar in einem gewissen Rahmen ihre Veränderung erlaubten. Der genetische Code war kein Geheimnis mehr sondern konnte gelesen werden wie ein Buch, doch die Informationen halfen lediglich das auszusortieren, was der Menschheit schaden würde und in wenigen Fällen die Informationen zu verändern, um genetische Krankheiten auszumerzen.

Die Bedeutung der DNS war zu komplex, als dass sie der menschlichen Willkür hätte unterworfen werden können und auch die Geburt eines Kindes blieb eine der wenigen Bastionen der Natur, die niemals erobert worden waren.

Fiel nun ein Teil des Systems aus, dann konnte es Probleme bereiten, weil niemand garantieren konnte, dass bald ein Ersatz das Licht der Welt erblicken würde. Und handelte es sich um eine wichtige Person, dann wären die Folgen fatal.

Aus diesem Grund hatte man einen Weg finden müssen die menschliche Sterblichkeit zu senken. Aus diesem Grund und weil die geringe Reproduktionsrate gegenüber der höheren Todesrate sonst bald zur Auslöschung der Menschheit geführt hätte und damit zur Bedeutungslosigkeit all dessen, was sie in Jahrtausenden geschaffen hatte.

Letztlich bedeutete es, dass die stolze Weigerung in den unvermeidlichen Untergang zu gehen noch ein anderes System hervorbrachte.

Um den Menschen arbeitsfähig und am Leben zu erhalten, gab es ein einfaches Prinzip. Die Teile, die nicht mehr funktionierten, mussten ersetzt werden und die operativen Verfahren dazu waren so ausgereift, dass beinahe alles möglich war. Doch irgendwoher mussten diese „Ersatzteile“ kommen. Deshalb wurde bei der Geburt jedes Menschen eine Kopie seiner Gene erschaffen. Ein Klon, ausgetragen durch Arbeiterinnen, die man für diese Zwecke abgestellt hatte, oder durch weibliche Klone, deren Äquivalent trotz allem gestorben war und sie zurück gelassen hatte. Ich weiß nicht, was mit den männlichen Klonen geschieht, die nicht mehr gebraucht werden, oder mit denen, die zu alt, und in einem vorgegebenen Intervall durch neue Kopien ersetzt wurden. Wahrscheinlich will ich es nicht wissen.

Die Kopien wurden in abgeschirmten Lagern verwahrt, geschützt vor allen schädigenden Einflüssen und bereit für den Tag, an dem sie gebraucht würden. Das System erscheint auf den ersten Blick fragwürdig, das ist es vermutlich auch, doch es funktionierte unter anderem deshalb, weil wir, die Kopien, nichts davon ahnten, dass es eine Welt der Originale gab.

Weil wir darum wussten, dass die Personen in unserer Umgebung von einem Tag auf den anderen verschwinden konnten, wagten viele von uns nicht, engere Bindungen einzugehen. Wir boten einander eine Familie, doch die meisten von uns blieben für sich selbst, um sich vor dem Schmerz einen Verlustes zu schützen. Das mochte grausam sein, doch nur deshalb, weil die feindliche Welt ebenfalls grausam war und nach Jahrhunderten der Ausbeutung zerstört und nicht mehr dazu gedacht, in ihr zu leben.

Die aber, die es wagten diese Grenze zu übertreten, manche, weil sie es wollten, die meisten, weil es einfach passierte, für die bewiesen diese Beziehungen eine schwer zu beschreibende Intimität. Ganz gleich, ob es sich um Freundschaften handelte oder Liebesbeziehungen. Das Wissen, dass jeder gemeinsame Augenblick der letzte sein mochte, und dass mit einer nicht unbedingt geringen Wahrscheinlichkeit, machte jede Sekunde kostbar. Es bedeutete nicht, dass wir nicht stritten oder andere dumme Dinge taten. Selbst wenn wir keine Menschen waren, zumindest in den Augen derer, die sich selbst für Menschen hielten, so verhielten wir uns doch wie selbige. Aber selbst mit jemanden zu streiten, den man liebte, war eine wertvolle Erfahrung.

Die Person, die ich liebte, hieß Liv und ihr Name entsprach ihrem Naturell. Sie war lebendig und voller Energie. Im Gegensatz zu mir, der ich mich normalerweise im Hintergrund hielt, und zufrieden war mit dem ruhigen Ablauf meines Lebens. Meine Neugier erstreckte sich nur auf die fantastische Welt der Geschichten und ich nahm die Gefahren unserer Welt so ernst, dass vieles mich in die Furcht stürzte, es könne ein irreparabler Schaden entstehen.

Liv wusste nicht, was Angst bedeutete. Wir waren zusammen aufgewachsen und sie war nicht ganz ein Jahr jünger als ich. Irgendwann hatte sie beschlossen, dass wir Freunde sein würden, so wie sie oft aus einer Laune heraus Dinge beschloss und vielleicht war sie auf ihre Weise die erste von uns, die rebellierte.

Liv stellte die Dinge nicht in Frage. Sie hatte ebenso wenig Grund, an den vermeintlichen Tatsachen zu zweifeln, wie ich oder irgendjemand anderes, doch das hervorstechendste Merkmal ihres Charakters war die Liebe zum Leben - und nicht nur zum Überleben. Es war dieses Mädchen, das mich den Unterschied lehrte. Und das Wissen um diesen Unterschied war es, das sie Dinge tun ließ, die andere nicht taten. Dinge, die nicht wirklich verboten waren, aber die in unserem Tagesablauf auch nicht vorkamen.

Niemand sonst hatte das Bedürfnis, mehr Zeit draußen zu verbringen, als durch den Sport nötig war, obwohl auch das Gelände durch hohe Wälle aus Blei und Schwermetallen abgeschirmt war. Ein Schutz gegen Strahlung und vielleicht auch eine Barriere, die unsere Welt von der Welt jenseits der Mauern trennte. Liv trieb es in jedem freien Augenblick hinaus, fort aus dem Vertrauten und hinein in etwas, das für uns wie ein Abenteuer war, so wenig Bemerkenswertes das Gelände auch bieten mochte. Die Rebellionen waren winzig und nicht bemerkenswert. Bemerkenswert war nur, dass es sie gab. Sie war die Einzige, die ich kannte, die nicht einfach nur das tat, was von ihr erwartet wurde, sondern mehr suchte ohne zu wissen, was „mehr“ eigentlich war.

Und sie muss mich angesteckt haben, denn die Suche nach dem „mehr“ mag der Grund dafür sein, die Wahrheit ins Licht zu zerren, ungeachtet aller Konsequenzen.

Während wir älter wurden, wandelte sich Freundschaft zu Liebe und wir lernten neue Seiten aneinander kennen. Teilten neue Erlebnisse.

Wenn ich an Liv dachte, dann sah ich zuerst ihre Augen vor mir. Die gentechnische Korrektur eines Stoffwechseldefektes, ich glaube es handelte sich um ein Leberproblem, war einer der möglichen Eingriffe in das Genmaterial, doch er zog als Folge eine medizinisch nicht relevante und daher zugelassene Normvariante in der Pigmentierung der Iris nach sich. Ich wusste, dass man das Phänomen als Iris-Hetrochromie bezeichnete.

Es bedeutete, dass ihre Augen zwei verschiedene Farben hatten und das schien das offensichtliche Merkmal zu sein, das sie irgendwie von den anderen unterschied. Es mochte öfter Menschen und damit auch Klone mit diesem Merkmal geben, doch die meisten von ihnen fallen nicht auf, weil die Farbverteilung unauffällig bleibt. Bei Liv war es anders.

Ihr linkes Auge war von einem hellen Grün und so stellte ich mir die Augen einer Katze vor. Ich hatte nie eine gesehen, aber einmal eine Zeichnung und in meinen Büchern wurden sie manchmal beschrieben. Tatsächlich hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie ein lebendes Tier gesehen. Auch ihnen bot die Erde keinen sicheren Raum mehr, vor allem nicht in der Nähe der Siedlungen. Livs rechtes Auge war blaugrau. Ich war es von klein auf gewohnt, diese Augen zu sehen und bald auch in diese Augen zu sehen, aber ich weiß, dass sie andere irritierten. Sie waren auffällig und das waren die meisten von uns nicht.

Unsere Körper wurden entsprechend des Gesundheitsplanes trainiert und geformt. Es gab verschiedene Körpergrößen, aber bezüglich des Trainings- oder Ernährungszustandes unterschieden wir uns kaum. Die Haar- und Augenfarben variierten, doch handelte es sich bei ersterem vor allem um Brauntöne, bei letzterem um Abstufungen von Braun, Grau, Blau und Grün. Menschen mit helleren oder roten Haaren waren durch ihre Hautbeschaffenheit und die verringerte Pigmentierung im Selektionsnachteil. Deshalb waren diese Farben selten und das Aussehen der Menschen war durch den geringen Genpool vereinheitlicht. Identifizierbare Einschläge ehemaliger ethnischer Gruppen waren selten zu beobachten, zumindest zu meiner Zeit. Es hatte sich längst alles mit einander vermischt.

Als Liv fortging, hörte ich auf, glücklich zu sein. Sie war eine derjenigen, die angeblich erkrankt waren und so schrieb ich ihr lange Briefe und bettelte um jede Information, die ihren Zustand betreffen mochte, den Ort, an dem sie sich befand, das, was dort mit ihr geschah. Etwa einen Monat lang, dann sagten sie mir, dass sie es nicht geschafft hatte.

Ich akzeptierte diese Tatsache, weil ich wusste, dass ich keine Wahl hatte - doch von diesem Augenblick an hatte sich etwas in mir verändert. Obgleich der immer gleiche Ablauf es mir leicht machte, zum Alltag überzugehen und das, was nicht mehr war, hinter mir zu lassen oder zu verdrängen, konnte ich es nicht. Ich hörte nicht auf, das Loch zu spüren, das verblieben war, das draußen kleiner wirkte, manchmal größer. Und ich begann mich zu fragen, was der Sinn dieses Lebens war.

Nicht, weil ich Verdacht geschöpft hätte, oder etwas hatte ändern wollen. Unsere Art zu leben schien mir die einzig Mögliche zu sein, doch ich fragte mich, was es unter diesen Umständen überhaupt wert war zu leben. Es bedeutete, den Fortbestand der Menschheit, wenngleich aus anderen Gründen, als ich ahnte - doch wozu war dieser Fortbestand gut? Warum spielte es eine Rolle, ob es Menschen gab oder nicht? Der natürliche Überlebensinstinkt trieb sie, die Biologie, von der sie sich doch eigentlich so weit entfernt hatten, doch abgesehen davon?

Ich weiß nicht, was geschehen wäre, oder zu welchem Schluss ich gekommen wäre, hätte ich länger darüber nachdenken können, doch etwa vier Monate, nachdem Liv gegangen war, war ich es, den sie riefen.

Sie fanden mich in der Bücherei, wo ich mich vergraben hatte, und sie brachten mich in die medizinische Abteilung, weil eines der Testergebnisse aus der letzten Untersuchungsreihe besorgniserregend gewesen sei.

Ich hatte Angst, aber wahrscheinlich weniger, als ich hätte haben sollen. Ich vertraute darauf, dass sie mir helfen würden, wenn sie es konnten und ich fragte mich, ob es das gleiche war, was Liv getötet hatte. Der Gedanke schien mir merkwürdig tröstlich wenn ich schon sterben sollte, aber vielleicht würde ich das nicht.

Ich achtete nicht auf die Nadeln. Und als ich müde wurde, wunderte ich mich nur ein wenig. Ich schlief ein und wusste nicht, dass ich nie wieder hätte erwachen sollen.

Als ich erwachte, war da der Schmerz. Er war so überwältigend, dass er mir jeden Sinn und jeden Gedanken raubte. Ich hatte nicht gewusst, dass es so eine Art von Schmerzen geben konnte. Die einzigen, die ich gekannt hatte, waren der Schmerz kleiner Wunden, eines Schnittes, vom Einstich einer Nadel. Das dumpfe Ziehen eines verstauchten Knöchels oder eine Prellung und der Schmerz, den man empfand, wenn man verlor, was man liebte. Auch das war ein starker Schmerz, doch von einer ganz anderen Natur. Dieser war körperlich und er sorgte dafür, dass ich mich nach dem Vergessen des Schlafes sehnte.

Der Schlaf kam oder vielleicht auch die Bewusstlosigkeit, doch er ging auch wieder, während der Schmerz scheinbar ewig zu bleiben schien. Nach und nach begann ich mich daran zu gewöhnen, ein paar andere Dinge wahrzunehmen als meine Agonie, noch ohne sie wirklich zu begreifen.

Nach und nach, vor allem, als der Schmerz schließlich nachließ, eroberte ich meinen Geist und auch meinen Körper zurück.

Am Anfang waren es nur kleine Dinge. Das Bett, in dem ich lag. Die Monitore und Geräte, die in einschüchternden Türmen um mich herum aufragten, bedrohlich summten, piepten und blinkten. Die Schläuche und Verbände. Dann das Zimmer, in dem sich das Bett befand. Ein kleiner Raum, der im Weiß zu ertrinken schien. Weiße Wände, weiße Decke, weiße Fliesen auf dem Boden. So musste es an den Polen aussehen, wo das ewige Eis sich nach der Gletscherschmelze sein Territorium zurück erobert hatte. Es war nur nicht so kalt.

Mir fiel es schwer, mich zu bewegen, aber auch das wurde nach und nach leichter. Ich fürchtete mich nur, weil ich nicht wusste, was diese Bewegungen anrichten konnten. Ich wusste ja, dass etwas mit mir nicht stimmte. Ich war krank. Aber ich wünschte mir, jemand würde kommen und mir erklären, was mit mir passierte. Ich wünschte es mir so lange, bis der Wunsch in Erfüllung ging.

Gewiss waren die weißgekleideten Mediziner auch zuvor schon bei mir gewesen. Wahrscheinlich, während ich schlief oder während meine vernebelten Sinne sie in all dem blendenden Weiß nicht entdecken konnten. Die Augen zu lange zu öffnen tat weh. Der Mann aber, dem der Weißkittel folgte, war gewiss noch nie hier gewesen, denn er war grau und hob sich so als unübersehbarer Schatten vom Rest des Zimmers ab.

Er war mittleren Alters und hatte etwas Strenges an sich. Ausgedünntes dunkles Haar war streng gescheitelt und sein Körper wirkte etwas hagerer, als gesund zu sein schien. Die Kleidung, die er trug, ließ ihn wichtig wirken. Oder vielleicht war es auch nur seine Haltung, seine Ausstrahlung. Vielleicht war es die Art, wie die anderen ihm begegneten. Sie schienen so rasch sie nur konnten seinem Blick entfliehen zu wollen, als hätten sie Angst. Und als er diesen Blick auf mich richtete, verstand ich, warum.

Seine Augen waren grau und kalt wie der Stahl des Bettgestells. Die Haut war relativ dunkel, was wahrscheinlich einen Vorteil bedeutete, ihn aber noch bedrohlicher und dunkler wirken ließ. Sein Blick schien mich zu durchdringen und der missbilligende Zug um seine schmalen Lippen gab mir das Gefühl, etwas Schreckliches getan zu haben. Etwas so Schreckliches, dass ich mich beinahe nach dem Delirium der Schmerzen zurück sehnte, ich wusste nur nicht warum. Und er erklärte es mir.

Er war der Minister des Bezirks, zu dem ich gehörte. Und er war derjenige, der mir nach und nach die Wahrheit über mich und das System in unserer Welt offenbarte.

Nicht alles auf einmal. Ich konnte es auch so kaum begreifen, hielt es für Alpträume. Wollte es gar nicht glauben, solange mir eine Wahl blieb. Er fing in vergangenen Tagen an und mit Dingen, die ich wusste. Tag für Tag war er eine Weile bei mir und erzählte mir von der untergegangenen Zivilisation und ihrem letzten Krieg. Erzählte mir, wie die traurigen Überreste der Weltbevölkerung immer weiter dezimiert wurden, während sie sich bemühten, aus den Ruinen ihrer Heimat etwas aufzubauen, das funktionierte. Davon, wie die Welt sich um sie herum veränderte, wie das Wasser stieg und Land verschwand, Land regelrecht zerbrach. Wie die Temperaturen in großen Bereichen immer weiter sanken, bis das Leben gefror und andernorts stiegen, bis dort kein Leben mehr möglich war. Von Kämpfen, die sie immer noch führten, weil sie überleben wollten und davon, was vor allem die Strahlung ihnen antat.

Dann erzählte er mir von denen, die Erfolge verzeichnet hatten. Wiederauferstehungen medizinischer Versorgung, wissenschaftlicher Labore. Die gelungene Zucht künstlichen Gewebes, das frei von den Belastungen der Nahrungsautonomie dienen konnte. Kleine Schritte auf dem Weg dorthin, wo wir uns heute befanden.

Man konnte nicht überhören, wie stolz er auf die Kolonien war. Darauf, wie die Menschen den Widrigkeiten trotzten, wie sie überlebten. Und ich konnte auch nicht überhören, wie sehr er mich verachtete. Den Grund verstand ich, als er mir verriet, was ich war, oder als was er mich betrachtete: Ein Warenlager. Und für ihn schien es meine Schuld zu sein, dass er sich mit mir befassen musste.

Die Wahrheit schmerzte mich so sehr, dass ich mich lange Zeit gar nicht fragte, wieso ich dann noch hier war, warum er hier war und mit mir über diese Dinge sprach. Warum der Schmerz irgendwann nachzulassen begann und die Geräte und Schläuche immer weniger wurden.

Er sagte es mir erst, als ich ihn selbst danach fragte. Es waren die ersten Worte, die ich an ihn richtete. Die ersten Worte überhaupt, wie mir in jenem Augenblick bewusst wurde und sie schmerzten in meinem Hals.

„Weil ich mir sicher bin, dass du an deiner wertlosen Existenz hängst“, erklärte er kühl und beinahe gelangweilt. Er sah mich nicht an bei diesen Worten, als wäre ich zu unwichtig dazu, sondern betrachtete seine Hände. „Weil du leben willst und ich dir dein Leben geben kann, solange du tust, was ich von dir verlange.“

Die Wahrheit war, dass das Original den Eingriff, der sein Leben hätte retten sollen, nicht überstanden hatte. Das geschah sehr selten, war normalerweise ein Ärgernis, vielleicht sogar tragisch. In diesem Fall aber war es ein ernstes Problem. Ein so großes Problem, dass man alles Menschenmögliche unternommen hatte, um die Organe in meinen Körper zurück zu verfrachten und selbigen wieder zum Laufen zu bringen.

Es war ganz einfach. Der Junge, der gestorben war, war der Nachfolger des Ministers. Auch der Austausch von Verschleißteilen konnte die Lebenszeit nicht endlos verlängern und weil es im Augenblick keine geeignete Alternative gab, die man hätte ausbilden können, durfte niemand je erfahren, dass dieser Mann gestorben war. Die Aussicht auf Führungslosigkeit hätte eine ernsthafte Gefährdung der Stabilität des Systems bedeutet und war inakzeptabel, wie er sagte.

Also würde ich leben, wenn ich tat, was man mir sagte und die Sache gut genug machte. Während man die Zeit nutzen würde, um jemanden zu finden, der kein Klon war und geeignet. Den man ausbilden konnte und der mich schließlich ersetzen würde.

Der Aufwand, den es bedeuten würde mich auf einen Stand zu bringen, in dem ich hilfreich wäre, ärgerte den Minister und auch dafür gab er mir die Schuld. Die Zeit, die es benötigen würde und in der es heißen würde, dass der Nachfolger des Ministers in einem kritischen Gesundheitszustand sei. Zeit, in der die Menschen sich um ihre Zukunft sorgen würden. Zeit, in der es zu Unruhen kommen mochte. Und so etwas konnten sich die Menschen nicht leisten.

Wenn das System schwankte, dann würde alles auseinander brechen. Dann wäre die Ära der Menschen endgültig vorbei.

Als ich zustimmte, war ich eigentlich nicht fähig, über irgendetwas nachzudenken. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, warum ich zustimmte und es wäre Heuchelei zu behaupten, es sei aus achtbaren Motiven geschehen. Vielleicht hoffte ich nur, seiner Missbilligung zu entkommen, wenn ich tat was er wollte. Denn jene Missbilligung schien mich in diesem winzigen Raum zu ersticken.

Danach kamen auch andere Leute. Zuerst verschwammen ihre Namen und Gesichter zu einer homogenen Masse, doch nach und nach lernte ich sie kennen. Sie kamen, um mir die Dinge zu erzählen, die ich wissen musste. Bei vielen verstand ich die Gründe nicht, aber das schien sie nicht zu stören. Vielleicht dachten sie, ich wäre umso leichter zu lenken, je weniger ich verstand und wahrscheinlich war es am Anfang auch so.

Andere brachten mir bei, was für ein Mensch das Original gewesen war und was für ein Mensch ich demnach jetzt sein musste. Wahrscheinlich fehlte mir das Talent zur Schauspielerei, denn es war schwer für mich, jemand anders zu sein als ich selbst. Sogar, als ich eigentlich gar nicht mehr wusste, wer ich war.

Zum ersten Mal wachgerüttelt wurde ich, als die Frau, mit der das Original zusammen gewesen war, an meinem Bett erschien. Sie war gefasst und ruhig, aber ich erkannte etwas vertrautes in ihr, weil sie um ihn trauerte, wie ich um Liv getrauert hatte. Der Unterschied war, dass sie mich hasste. Wahrscheinlich wollte sie es nicht. Wahrscheinlich hätte ich es auch gehasst, wenn plötzlich eine unzulängliche Kopie des Menschen, den ich liebte, aufgetaucht wäre und seinen Platz beansprucht hätte, doch am Ende lernte ich von ihr mehr, als von all den anderen. Über das Original, über die Menschen und über mich selbst.

Nachdem ich genesen war, konnte ich das weiße Zimmer verlassen und ich lernte die eigentliche Welt kennen. Sie war so grau wie der Minister. Stabile, funktionale Gebäude aus Stahl und Stein, Schutzwälle, chemische und wissenschaftliche Anlagen. Gerade Winkel bei den Straßen und der der Eindruck von Ordnung, Strenge und Symmetrie überall.

Es überraschte mich, wie viele Menschen es gab. Ich mochte wissen, dass es eigentlich nicht viele waren, aber doch mehr, als ich je auf einmal gesehen hatte. Und ich fühlte mich schrecklich fremd.

Das Haus, in dem ich lebte, war groß und bot vermutlich das, was in unserer Gesellschaft ein Maximum an Luxus war. Auch das Haus war voller Menschen, von denen ich noch mehr Dinge lernen sollte.

Das alles musste Monate gedauert haben und daraufhin dauerte es Jahre. Es war leichter, als ich gedacht hatte, weil ich eigentlich nichts tun musste. Nur Worte lernen und sie im richtigen Moment aufsagen. Das tun, wozu ich angewiesen wurde: existieren.

Nach zwei Jahren fanden sie ein Kind, das ihnen vielversprechend schien und ich wusste, dass meine Zeit von da an begrenzt sein würde. Es würde eine Weile dauern, das Mädchen auszubilden. Sie wäre erst in ein paar Jahren bereit, in meine Fußstapfen zu treten - doch wenn es soweit war, würde man mich nicht mehr brauchen und ich machte mir keine Illusion darüber, was das bedeuten würde.

Vielleicht begann ich da ernsthaft darüber nachzudenken, wie ich dieser Sache einen Sinn geben konnte.

Ich hatte Zeit genug gehabt, mich an die Tatsachen zu gewöhnen und mir eine Meinung dazu zu bilden. Ich hatte Augen und Ohren offen gehalten und nicht nur das erfahren, was mir zugedacht war, und ich war zu dem Entschluss gekommen, dass ich etwas tun musste. Meine Situation war einmalig und auch wenn ich noch nicht wusste was, so wusste ich doch, dass ich irgendetwas tun musste. Irgendetwas von Bedeutung.

Letztlich war es das, was mich acht Jahre nach Beginn meines neuen Lebens an jenem Tag mit dem Wissen vor die Menge führte, dass ich die Stufen des Podestes zum letzten Mal erklomm. Ich wusste, dass jeder Akt, der dem System schadete unverzeihlich war. Ich hoffte, dass meine Worte, mein Tod und meine Geschichte es auf lange Sicht in seinen Grundfesten erschüttern würden.

Epilog

„In der untergegangenen Welt gab es ein Gesetz, das besagte, dass die Würde des Menschen unantastbar sei“, begann ich und mein Herz klopfte spürbar. Ich redete schnell, weil ich nicht wusste, wie viel Zeit mir blieb. Ich konnte nicht einschätzen, ob sie mich hier vor aller Augen töten würden, oder ob sie warteten, bis ich fertig war. Deshalb beeilte ich mich, um jede Sekunde zu nutzen, in der ihnen noch nicht klar geworden war, was ich hier tat.

„Aber was bedeutet Würde? Vor allem heute? Und wie definiert sich Menschlichkeit? Die Widrigkeiten der Welt, in der wir leben, bürdet uns Entscheidungen auf, die wir vielleicht nicht treffen wollen, aber treffen müssen. Die wissenschaftlichen Möglichkeiten bieten uns Verteidigungsstrategien und Fluchtwege an und jede einzelne von ihnen hat ihren Preis. Die Wahrheit ist, dass nichts an diesem System bewundernswert ist. Es ist grausam, nicht weniger als jene, die letztlich zur Zerstörung der Welt geführt haben!“

Und dann, weil ich mutig geworden war, erzählte ich ihnen, wer ich war und woher ich kam. Und meinen Namen, meinen Namen, nicht den des Originals. Erzählte ihnen, was passiert war und aus den Augenwinkeln sah ich die angespannte Haltung des Ministers. Ich hatte meine Antwort. Sie würden warten, weil sie durch meinen Tod einen größeren Aufruhr vermuteten als durch meine Worte. Das Herz wurde mir leichter weil es bedeutete, dass ich Zeit hatte ihnen die ganze Geschichte zu erzählen. Ihnen von den anderen Klonen zu erzählen, von denen, die waren, wie sie selbst. Vom dem, was uns von ihnen unterschied und vor allem all den Dingen, die es nicht taten. Und ich erzählte ihnen von Liv und all den Dingen, die ich wusste, die, an die ich glaubte, die, die ich mehr als alles andere fürchtete.

Ich wusste nicht, ob ich gut mit den Worten umging. Ich versuchte mein Bestes und für mich fühlten sie sich richtig an. Darauf, dass diese Menschen ähnlich empfanden und dass sie nicht in der Lage wären sie einfach abzutun, darauf musste ich hoffen. Musste Vertrauen haben, dass es dem Minister nicht gelingen würde, mit ihnen zu tun, was man mit uns getan hatte, wenn wir über Dinge nachdachten, an die wir nicht denken sollten. Antworten geben die so plausibel und bequem waren, so sicher, dass sie zu glauben die einzige Alternative darstellte.

„Wir haben nicht die Macht dazu, etwas an den Dingen zu ändern“, erklärte ich und die Art, auf die sie mich ansahen erfüllte mich mit einem merkwürdigen Gefühl. Sie wirkten überrascht und entsetzt, manche ängstlich, einige wütend - aber jeder einzelne schwieg und hörte mir zu, nur mir und damit auch all den anderen, für die ich sprechen musste, weil sie es nicht konnten.

„Aber ihr schon. Und alles was ihr tun müsst, ist eine Frage zu beantworten: Ist es das wert? Ist das Leben eines Menschen das Leben eines anderen wert? Wir sind Menschen - denn es gibt keinen Unterschied zwischen uns. Wir sind ihr, ihr seid wir, gleich bis zur letzten Base unserer DNS.

Und doch behandelt ihr uns wie Dinge. Sperrt uns ein und nehmt euch dann, was immer ihr wollt, ohne uns zu fragen. Ihr wollt leben, aber das wollen wir auch. Ist euer Recht größer als unseres? Und wenn es andere wie mich gibt, die vielleicht unter euch sind, wie würdet ihr es erkennen, wenn es tatsächlich einen Unterschied gibt, der euch Recht gibt?

Diese Gesellschaft nennt sich gerecht. Ist es gerecht wenn ihr leben dürft und wir diejenigen sind, die für euch bluten und für euch sterben?“

Ich endete, spürte, wie das Schweigen der Menschen sich über mich senkte um mich zu ersticken. Ich fühlte meinen Herzschlag so unendlich bewusst und dann entdeckte ich etwas, das mich lächeln und die Furcht vergessen ließ.

Ein Gesicht, das ich kannte, obgleich es sich mit den Jahren verändert hatte. Mit dem Ausdruck von Entschlossenheit. Ein grünes und ein blaues Auge, die mich anblickten. Liv. Die andere Liv, das Original, aber es gab mir Hoffnung. Wenn die Gene eines Menschen irgendeinen Einfluss darauf hatten, wer dieser Mensch war, wenn diese Frau noch etwas anderes als die Augenfarbe von dem Mädchen in sich trug, das ich gekannt hatte, dann bedeutete dieser Ausdruck in ihrem Gesicht, dass zumindest ein Mensch in dieser Menge nicht vergessen würde, was ich getan hatte. Und vielleicht auch nicht zulassen würde, dass die anderen es vergaßen.



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Kommentare zu dieser Fanfic (11)
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Von:  Pfeffersosse
2015-05-21T22:15:30+00:00 22.05.2015 00:15
Wow, ich bin wirklich begeistert. Ich habe die Geschichte in einem Rutsch durchgelesen und bin wirklich sehr überrascht. Ich habe zwar einen Moment an 'Die Insel' denken müssen, aber schlussendlich hat es doch nicht mehr wirklich etwas damit zu tun, obwohl es ja dann doch irgendwie wieder etwas damit zu tun hat.
Ich finde den Aufbau, dass du einen mit der 'Wahrheit' teaserst am Anfang sehr gelungen. Es giert einen danach zu wissen, was denn nun gesagt wurde. Und, habe ich ihn überlesen oder hat man den Namen der 'Kopie' nie gelesen?
Ich finde es toll, wie du ohne wirklich in die direkte Rede zu verfallen, ein tolles Konzept vollbracht hast. Es ist so stimmig und es ist wirklich sehr interessant. Doch nun kommt ein kleines 'aber'. Leider gibt es einige Fehler drin, die beim Lesen dann doch auffallen. Sie machen die schöne Stimmung etwas zunichte, aber dennoch sind sie auch nicht so schlimm. Es ist echt eine zwiespaltige Sache.

(Du bekommst aber von mir noch eine ENS~)
Von:  Major
2015-01-10T14:57:51+00:00 10.01.2015 15:57
Ich muss zugeben, die Geschichte erinnert mich an "Die Insel" und den Vorgänger, der die eigentliche Geschichte beinhalten soll. Aber deine Darstellungsweise ist anders, sie ist sehr interessant. Das viele Erzählen darüber und keine direkte Darstellung der Handlung hat mir gefallen.

Es gibt hier jetzt nicht so die epische Landschaft a la herr der Ringe. Aber ich werde versuchen das, was ich beim lesen gesehen habe, auf eine Kakaokarte zu bannen ;)
Von:  Chimi-mimi
2013-03-18T16:31:48+00:00 18.03.2013 17:31
Ah, ein bewegendes Ende. Eine schöne, nachdenkliche und so unglaublich wahre Rede.

Ich muss sagen, dass ich mir nicht sicher bin, ob die Begebenheit mit Livs Original mir gefällt oder nicht. Ich bin da zwiegespalten, ein Teil von mir findet es nämlich etwas melodramatisch und der andere findet es in Ordnung.

Eine schöne Geschichte mit einem Blick auf eine ethisch spannende Diskussion.
Von:  Chimi-mimi
2013-03-18T16:29:41+00:00 18.03.2013 17:29
Das ist kalt, wirklich unglaublich kalt. Und erklärt den Prolog.
Das ist das, was ich an Dystopien, die sich mit Klonen beschäftigen, beängstigend finde. Diese Kälte, dieses Nutzen von lebendigen Wesen, das ist doch auch nichts anderes als moderne Sklaverei, nur noch schlimmer.
Wenn Menschen sich als Gott aufspielen...
Von:  Chimi-mimi
2013-03-18T16:26:37+00:00 18.03.2013 17:26
Okay, ich finde das mit dieser Auslese (wie beispielsweise bei den Rothaarigen auch schlimm), die Vorstellung, dass man sich sein Kind erschaffen kann, finde ich sehr beängstigend und noch deutlich näher als die Klone.

Als Liv fort ging hörte ich auf, glücklich zu sein. - Den Satz finde ich sehr schön, denn er zeigt, dass auch für Klone eine Seele existiert und Gesellschaft wichtig ist, nicht so, wie die Menschen, die die Klone erschaffen, immer denken.
Von:  Chimi-mimi
2013-03-18T16:23:01+00:00 18.03.2013 17:23
Ah, da haben wir es ja. Klone. Das ist wirklich ein interessantes Thema. Aya erinnerte es an einen Film, mich im weitesten Sinne an "Alles, was wir geben mussten" von Kazuo Irgendwas...
Da gibt es Klone, die als Ersatzteillager dienen. Das hier - mit den Kopien - ist ja noch unglaublicher. Eine Dystopie, die leider Wirklichkeit sein könnte, wenn die falschen Leute die Klonforschung unterstützen (die ich in einigen Dingen sogar unterstützen würde, aber niemals das Klonen kompletter Menschen).
Der Protagonist oder die Protagonistin wirkt für mich irgendwie deillusioniert, verloren, abgestumpft, das kommt sehr schön rüber.
Von:  Chimi-mimi
2013-03-18T16:19:53+00:00 18.03.2013 17:19
Das ist ein sehr nachdenkliches Kapitel. Viele interessante Gedankengänge, die der Protagonist da hat. Schön formuliert.
Von:  Chimi-mimi
2013-03-18T16:17:45+00:00 18.03.2013 17:17
Oho... dank Ayas Kommentar weiß ich jetzt, dass es vermutlich um Klone geht. Das ist ein großer Konflikt, hab ich gerade erst ein Buch dazu gelesen.

Der Prolog macht auf alle Fälle Lust auf mehr, regt zum Weiterlesen an.
Von:  Wintersoldier
2013-02-22T18:39:20+00:00 22.02.2013 19:39
Ich liebe den ersten Absatz. Diesen Blick zurück auf unsere Welt und wie man zukünftig darüber denken könnte. Und trotz des eigentlich ernsten Themas bringt es mich irgendwie zum Lachen, weil es einfach so wahr ist. Und durchaus vorstellbar, dass irgendeine zukünftige Generation genau so darüber denkt.

Allgemein könnte ich mir die Entwicklung der Welt, wie du sie hier beschrieben hast, in gewissen Zügen sehr, sehr einfach vorstellen und gerade das macht einen Großteil der Geschichte aus, weil es einfach in einem großen Rahmen plausibel klingt. Was ich persönlich allerdings auch gruselig finde, wenn ich bedenke, wie sich die Welt entwickeln könnte, aber gut, dass ist ja was anderes...

Liebe Grüße
Aya

P.S: das Szenario erinnert mich an einen Film, dessen Titel ich vergessen habe, mit Scarlett Johansson und Ewan McGregor. :3
Von:  Wintersoldier
2013-02-22T18:27:01+00:00 22.02.2013 19:27
Ist was dazwischen gekommen, daher konnte ich erst jetzt weiterlesen. :)

Jedenfalls bin ich gerade an diesem Satz hängen geblieben: Wenn Glück eine solche Frage der Perspektive ist, welchen Wert birgt es dann? Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie finde ich, ist das ein sehr starker und aussagekräftiger Satz und ich finde ihn einfach nur toll (warum ich mich so über einen einfachen Satz freuen kann, sei mal dahingestellt... ich schiebe es auf meinen Schnupfen |P).

So, und bevor ich mich wieder verhasple, lese ich lieber weiter. ;)

Liebe Grüße
Aya


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