Jagd von Alaiya (Wichtelgeschichte für ChaoticLyra) ================================================================================ Kapitel 1: Durch die Nacht -------------------------- Es dämmerte über dem Grasland, das zwischen den Lough Clooncraff und Grance lag. Die Sonne war bereits untergegangen, so dass es nun mit jeder Minute merklich dunkler wurde. Noch konnte man einen roten Schimmer am Horizont im Westen, dort wo die Sonne versunken war, erkennen, doch auch dieser würde bald verschwinden. Nördlich von Lecarrow war eine junge Frau noch immer in ihrem Garten, wo sie über ein Beet, in dem einige Kräuter und einiges Gemüse wuchs. Sie pflückte einzelne Blätter von den Pflanzen, rieb sie zwischen den Fingern, ehe sie einige der Pflanzen ganz abschnitt und in einen Korb legte. Die Frau war noch nicht allzu alt, allerhöchstens dreißig Jahre alt. Wahrscheinlicher sogar etwas jünger. Ihr Haar war lang und dunkelbraun. Sie hatte es zu einem lockeren Zopf gebunden, der bis unter ihre Schultern hinabhing. Sie trug eine altmodisch wirkende Bluse aus einem leinenähnlichen Stoff und eine einfache, ausgewaschene Jeans. Sie reagierte nicht auf das sich nähernde Geräusch eines Autos, das sich offenbar die Schotterstraße, an der ihr kleines, mit weißem Holz verkleidete Haus lag, entlangbewegte, bis dieses Auto – ein dunkler Geländewagen – genau vor ihrem Garten hielt. Langsam richtete sie sich auf. Ihre Hose war an den Knien dreckig, was sie jedoch ignorierter. Ein Mann mit dunkelblonden kurzem Haar stieg aus dem Auto aus, ohne den Motor auszusteigen. Er hatte einen etwas ungepflegt wirkenden Stoppelbart und trug einen etwas verschlissenen Anzug, so wie eine Sonnenbrille, die ihn wie eine schlechte „Men in Black“-Parodie wirken ließ. „Cil“, begrüßte die Frau ihn. „Was bereitet mir die Ehre dich so spät begrüßen zu dürfen?“ „Ich brauche deine Hilfe“, meinte der durchaus muskulöse Mann nur. „Steig ein. Ich erkläre es dir während der Fahrt.“ Die Frau verdrehte die Augen und hob in einer übertriebenen Geste des Schulterzuckens die Arme. „Und ich dachte schon, du schaust nur auf ein Schwätzchen und einen Tee zum Abend vorbei“, meinte sie sarkastisch. „Dafür ist gerade keine Zeit, Fin“, antwortete Cil. „Wir haben sechs tote Kinder und ein siebtes das vermisst wird.“ Daraufhin seufzte die Frau, die eigentlich Finola hieß und nickte schließlich. „Lass mich eben meine Sachen hineinbringen“, entgegnete sie dann, wartete aber keine Antwort von ihm ab, sondern machte sich auf den Weg ins Haus, aus dem sie keine Minute später mit noch immer dreckiger Hose, aber nun mit einer ebenfalls ausgewaschenen Jeansjacke über einem weiten T-Shirt herauskam. Cil saß bereits wieder in seinem Auto und wartete ungeduldig, so dass er direkt, ohne ein weiteres Wort losfuhr, als sich Finola auf den Beifahrersitz setzte. „Lässt du mich vielleicht noch anschnallen?“, kommentierte sie gereizt, auch wenn sie keine Anstallten machte dies nun nachzuholen. „Ach, als würde dir ein Unfall etwas ausmachen“, grummelte er. Daraufhin schürzte sie die Lippen. „Ich wollte nur anmerken, dass ich es als furchtbar unhöflich empfinde, dass du mich erst so hetzt, mir dann aber nicht einmal erklärst, worum es geht. Welches Problemchen ist schon wieder zu viel, für den werten Herren Ermittler?“ Statt zu antworten öffnete Cil mit einer Hand das Handschuhfach vor dem Beifahrersitz und reichte ihr einige Unterlagen, die darin waren. Es waren verschiedene Akten, von denen die meisten offenbar Aufnahmen zu vermissten Personen, alles Kinder zwischen acht und zwölf Jahren, wie Finola feststellte, waren. „Sechs Kinder sind innerhalb von den letzten zehn Tagen vermisst gemeldet worden“, erklärte Cil nun. „Ein siebtes wird seit heute morgen vermisst.“ Er griff in den Papierstapel und zog ein Bild von einem etwa neun oder zehnjährigen rotblonden Jungen, dessen Gesicht über und über mit Sommersprossen übersät war, hervor. „Marcas O'Brien“, meinte Cil weiter. „Und nun erkläre mir doch, was du damit zu tun hast und warum du meine Hilfe brauchst“, hakte Fin nach und sah ihn nun von der Seite an. Der Angesprochene ließ nur ein leises Grummeln hören. „Warte doch ab“, knurrte er. „Ich erkläre doch schon.“ Er starrte auf die Straße vor sich, die nun langsam in der Dunkelheit versank, was ihn jedoch dennoch nicht dazu brachte die Sonnenbrille abzunehmen. „Die bisherigen Kinder, alles Jungen, wie dir vielleicht aufgefallen sind, wurden ertrunken in Ufernähe der Lough aufgefungen.“ Fin setzte an, um etwas einzuwerfen, doch er hob nur abwehrend eine Hand. „Es waren keine Spuren von Gewalteinwirkungen festzustellen. Sie sind einfach ertrunken.“ Kurz wandte er ihr den Kopf zu. „Und findest du es nicht auch seltsam, dass in einem so kleinen Raum auf einmal sechs Jungen innerhalb einer so kurzen Zeit verschwinden.“ Daraufhin ließ die Frau ein geschlagenes Seufzen hören. „Ich verstehe. Eine Kelpie? Ich dachte ihr hättet alle unter Kontrolle.“ „Das dachten wir auch“, entgegnete Cil grimmig. Finola schwieg für eine Weile. „Glaubst du, dass der Junge noch lebt?“, fragte schließlich und sah auf das Bild?“ Ihr Begleiter zuckte nur mit den Schultern. „Vielleicht. Die anderen Jungen sind nicht sofort, nachdem sie verschwunden sind, gestorben. So oder so... Wir müssen das Kelpie finden, ehe der nächste Junge verschwindet.“ Eine klamme Kälte erfüllte seine Brust. Er fühlte sich, als wäre er nicht mehr eins mit seinem Körper, denn der Schmerz, der diesen erfüllte, schien für ihn so fremd und fern. Was machte er? Wo war er? Er konnte es nicht sagen. Er wusste auch nicht, wie er hierher – wo auch immer hier war – gekommen war. Genau so wenig, wie er wusste, ob er wach war oder noch immer schlief. Alles wirkte so seltsam unwirklich. Wo waren seine Freunde? Wo waren seine Eltern? War es überhaupt wichtig dies zu wissen? „Es ist egal“, meinte er eine weiche, rauschende Stimme zu hören, als würde diese ihm ins Ohr flüstern. Vielleicht hatte diese Stimme Recht. Er konnte nicht sehen, wo er war, doch es fühlte sich an, als würde er fliegen. Er füllte sich frei und gleichzeitig behütet. Ein schönes Gefühl, dem er sich nur zu gern hingab. Etwa eine halbe Stunde, nachdem sie bei Finolas Hütte losgefahren waren, kamen Cil und sie am südlichen Ufer von Lough Key an. Dünne Flussarme streckten sich von hier aus zu kleineren Seen in der Nähe aus. Ein solches Flussnetz durchzog die gesamte Gegend – und genau dies war es, was Finola Gedanken machte. Davon abgesehen, dass Kelpies keine wassergebundenen Wesen waren, konnte sich dieses Kelpie praktisch im Wasser in einem breiten Umkreis bewegen. Immerhin waren die bisherigen Jungen in einem Umkreis von etwa 50 Kilometern verschwunden und an den Ufern von Seen und Flüssen wieder aufgetaucht. „Es ist hier in der Nähe gewesen, dass Marcas das letzte Mal gesehen wurde“, erklärte Cil. „Seine Mutter hatte ihn zur Bushaltestelle gebracht. Er sollte eigentlich zur Schule fahren, aber seine Mitschüler haben ihn nicht im Bus gesehen.“ „Wenn es ein Kelpie war, wird es ihn zum Wasser gelockt haben“, meinte Finola und sah sich um. Mittlerweile war es vollkommen dunkel, da die Sonne bereits gänzlich untergegangen war, jedoch auch der Mond noch nicht zu sehen war. Einzig die Sterne spendeten Licht, was jedoch genug für die scharfen Augen der Frau war. Auch Cil schien sich an der Dunkelheit nicht zu stören und trug noch immer seine Sonnenbrille. Vorsichtig machte Finola einige Schritte auf die Wiese hinter der Straße heraus. Sie blieb stehen, schloss die Augen und schnüffelte in der Luft, als eine Windbrise über das Gras wehte. Dann ging sie weiter, nur um etwa zehn Meter später dieselbe Prozedur zu wiederholen. „Irgendwas?“, rief Cil, der noch immer am Rand der Straße stand, zu ihr herüber, doch sie hob nur die Hand um ihm zu warten zu gebieten. Für das menschliche Auge wirkte das hohe Gras der Loughwiesen in der Dunkelheit schwarz und tot, doch sie sah es vollkommen anders, kam jedoch gleichzeitig nicht umher sich zu wundern, wie Cil es sah. Schließlich, vielleicht vierzig Meter im Feld und nah genug am Flussarm, als dass sie das Wasser plätschern hören konnte, fand sie schließlich, was sie suchte. Es war nicht nur ein menschlicher Geruch, sondern auch etwas, dass nach nassen Fell, aber auch nach – sei konnte es nicht anders ausdrücken – nach „Tiefe“. Sie war sich sicher, dass dies der Geruch des Kelpies sein musste. Es war hier länger verweilt. Unwillkürlich bückte Finola sich und strich mit den Händen durch das Gras. Ja, hier war ein größeres Wesen für längere Zeit gestanden und hatte gewartet. Kelpies mochten Kinder. Wahrscheinlich hatte es die Kinder an der Bushaltestelle gesehen oder gespürt, so dass es hier auf das erste Kind gewartet hatte, das es bemerkte. Sie sah zu Cil, der noch immer ungerührt dastand und sie ansah. „Hier“, rief sie zu ihm hinüber und hob die Hand. Der Mann nickte und lief raschen Schrittes zu ihr hinüber. „Es hat hier für längere Zeit gewartet“, teilte Finola ihm ihre Feststellung mit. „Und dann?“, erwiderte Cil nur ungeduldig. „Was hat es dann gemacht?“ Daraufhin verdrehte die Frau die Augen, ehe sie erneut schnüffelte. „Hier entlang“, meinte sie dann nur und lief, ohne auf ihn zu warten, über die Wiese voraus. Der Geruch des Wasserpferdes lag dort, wo es sich hinwegbewegt hatte, nur schwach in der Luft, war nach fast einem Tag kaum noch wahrnehmbar, was ein Grund mehr war, sich zu beeilen. Doch auch wenn Fin hier noch das Wasserwesen wittern konnte, so verlor sich die Fährte nach einigen hundert Metern. „Was?“, fragte Cil ungeduldig, als er sie einholte. Sie stand am Rand von einem der Flüsse, die vom Lough ausgingen, und versuchte erneut den Geruch in der Luft zu entdecken. „Fließendes Wasser“, erklärte sie kurz angebunden. Wasser an sich störte, anders als viele Menschen es glaubten, den Geruch nicht. Im Gegenteil. Wenn jemand durch stehendes Wasser floh, so war dessen Fährte in diesem wesentlich längerer konserviert als auf trockenem Boden. Doch fließendes Wasser war etwas anderes, da es den Geruch und auch viele andere Möglichkeiten, jemanden zu Folgen, mit sich trug. „Was ist nun?“, drängte Cil, der – so schloss Finola – doch noch glaubte, den Jungen, wenn sie sich beeilten, lebend retten zu können. „Wenn du es so eilig hast, warum hast du keinen Aufspürzauber oder dergleichen verwendet, Cil?“, zischte Finola, nun langsam ungehalten. „Als ob ich das nicht hätte“, entgegnete Cil. „Sonst wäre ich kaum zu dir gekommen.“ Die Frau verdrehte die Augen. „Es ist immer wieder schön zu merken, wie sehr meine Anwesenheit geschätzt wird.“ „Du bist neuerdings scharf darauf uns zu helfen?“, entgegnete Cil in einem nicht minder sarkastischem Tonfall als ihren. Sie zuckte nur mit den Schultern. „Verdammt, Fin, ich will den Jungen möglichst lebend finden, okay?“, zischte der Mann nun ungehalten. „Dann verlass dich nicht nur auf mich“, entgegnete Finola und versuchte ihren Ärger zu unterdrückten. „Du bist hier der Ermittler. Also benutze deinen sechsten oder von mir aus auch siebten Sinn und denk nach. Wohin würde das verdammte Vieh den Jungen bringen? Du hast eine Fünfzig-Fünfzig-Chance. Stromaufwärts oder Stromabwärts?“ Etwas war nicht richtig. Er fühlte sich wohl, aber es war nicht richtig. Nein, ganz und gar nicht. Was ging hier vor? Wieder schossen ihm dieselben Fragen durch den Kopf wie zuvor: Wo war er? Wie kam er hierher? Wo waren seine Eltern? Was war passiert? Und was war das für eine klamme Kälte, die seine Brust erfüllte? Die Kälte, sie machte es so schwer zu atmen... Schwer... Er fühlte sich schwer. Nein, es war nicht richtig. Auf einmal wurde im klar, dass er die ganze Zeit seine Augen geschlossen hatte. Er riss sie auf und schnappte gleichzeitig nach Luft. Über ihm schwebte ein paar dumpf leuchtender, roter Augen, die ihn bösartig anfunkelten. „Nein“, keuchte er. „Nein.“ Dabei wusste er nicht einmal was er verneinte. „Das...“ Sie liefen stromabwärts, wie Cil es beschlossen hatte. Langsam ging der Mond auf und spendete als Sichel zumindest etwas Licht – auch wenn sie nicht unbedingt darauf angewiesen waren. Es gab einen Grund, warum Finola sich normal bemühte, sich von dem Ermittlern und ihren Arbeiten fernzuhalten: Sie bevorzugte es, von den Menschen nicht als „die seltsame Frau, die ständig auftaucht, wenn seltsames passiert“ angesehen zu werden. Zwar war es das 21ste Jahrhundert, so dass die Menschen für gewöhnlich darauf verzichteten alles, was ihnen ungewöhnlich erschien zu erhängen, verbrennen oder ertränken, aber es war angenehm, in die Stadt gehen zu können, ohne zu viel Aufsehen zu erregen und hasserfüllte oder ängstliche Blicke auf sich zu ziehen. Denn auch im 21sten Jahrhundert gab es noch immer Aberglaube – gerade hier, wo überraschend viele Menschen von der Existenz kleiner Gnome in grüner Kleidung, die Goldtöpfe versteckten, überzeugt waren. Nun, Gnome gab es natürlich wirklich. Nur trugen sie kein grün und kämen auch nie auf die Idee ihr Gold in Töpfen oder Kesseln aufzubewahren. Auch wenn sich einige gerne Scherze mit Menschen erlaubten – und auch damit hatten dann ab und zu die Ermittler zu tun und auch das war ein Grund, warum Finola dieser Job nicht reizte. Doch nun war es Nacht und die Chancen waren gut, dass kein Mensch sie sah und erkannte. Davon abgesehen ging es um das Leben von Kindern und diese waren, auch wenn manch abergläubischer Mensch das so vielleicht nicht geglaubt hätte, auch für ihre Spezies wertvoll. Also rannte sie und musste aufpassen, dass sie Cil dabei nicht abhängte, da dieser auch trotz Zauber, die ihn schneller und wendiger machten, immer noch ein Mensch war und sich daher mehr als einmal schwer tat durch das Gebüsch und den weichen Untergrund am Ufer des Flusses zu kommen. Dann endlich – sie näherten sich nun Lough Ree roch sie es wieder. Und dieses Mal konnte sie auch den Geruch eines Menschenkindes wahrnehmen. Unwillkürlich blieb sie stehen. Die Fährte war nicht all zu alt, stammte vielleicht vom späten Nachmittag. „Was ist?“, fragte Cil, als er nun keuchend ebenfalls zum Stehen kam. „Sie waren hier“, erwiderte sie und sah sich um. Nicht weit entfernt konnte sie das felsige Ufer des kleineren Loughs, dessen Oberfläche beinahe komplett glatt zu sein schien, erkennen. „Wenn das Kelpie die Kinder nicht sofort umbringt... Es kann sie nicht offen am Ufer lassen. Die Menschen...“ Cil nickte. „Die Höhlen.“ „Los.“ Damit begann sie erneut zu rennen. Vielleicht hatten sie wirklich eine Chance den Jungen zu retten. Die Wasserkreatur spielte offenbar gerne mit ihrem Futter – und das konnte das Kind vielleicht retten. Doch auch wenn das Lough nicht groß war, so durfte man die Uferstrecke nicht unterschätzen. Sie konnte nur hoffen, dass sie die Fährte nicht wieder verlor, denn sonst würden sie viele kleine Höhlen absuchen können und würden am Ende doch zu spät kommen. Während sie lief warf sie einen Blick zum Mond. Mitternacht konnte nicht sehr weit entfernt sein. Sie hoffte nur, dass Cil etwas in der Tasche hatte, um das Kelpie zu zähmen, wenn sie es sahen. Denn sie hatte keine Luft auf einen Kampf mit einem Tiefenwesen, das zu allem Überfluss zum Gestaltwandeln fähig war. Ja. Sie würde Cil helfen, den Jungen und das Wesen zu finden – doch eigentlich hatte sie keine Lust sich in einen Kampf verwickeln zu lassen. Zumal die Zeit ungünstig war. Sie hatte nicht so viel Kraft wie sonst. Keuchend bemühte er sich den Kopf über Wasser zu halten, während er angestrengt versuchte, sich zu orientieren. Wo war er? Es war alles so dunkel! Und das Wasser war so kalt. Seine Gedanken rasten. Intuitiv entschloss er sich schließlich in die Richtung zu Schwimmen, in der er den Mond sehen konnte. Doch um sich herum sah er nur Wasser, kein Ufer. Und die Kreatur war direkt hinter ihm – oder vielleicht unter ihm? Was war es für ein Wesen? Er erinnerte sich langsam. Er hatte am Morgen ein wunderschönes schwarzes Pferd gesehen. Es hatte ihn zum Fluss geführt. Doch was danach geschehen war, konnte er beim besten Willen nicht sagen. Er musste gegen den Drang ankämpfen um Hilfe zu schreien. Wer würde ihn schon hören? Außerdem brauchte er den Atem, um weiter zu schwimmen. Nur eins wusste er sicher: Er wollte nicht sterben. „Verdammt“, fluchte Fin, als die Fährte zwischen zwei Felsen verschwand. Weitab von einer Höhle. Hatte das Kelpie den Jungen weiter auf den See hinaus gebracht? Wenn sie hier gewesen waren, als es bereits dunkel geworden war... Und ein einfaches Pferd zog wohl wenig Aufmerksamkeit auf sich – selbst wenn es in Begleitung eines vermissten Jungen war. „Sie müssen hier irgendwo ein“, flüsterte sie Cil zu, dessen Blick (so gut sie es trotz seiner Sonnenbrille sagen konnte) nun auf die Wasseroberfläche gerichtet war. „Kannst du nicht irgendetwas...“ Doch er hob nur die Hand, um ihr so Schweigen zu gebieten. Sie gehorchte. Etwas an seiner Aura hatte sich geändert und sie wusste, was dies bedeutete: Er benutzte Magie. Nun nahm er – zum ersten Mal an diesem Abend – seine Sonnenbrille ab und zeigte seine seltsamen Augen. Die Iris war von seinem goldenen Ring umgeben, der leicht in der Dunkelheit zu schimmern schien. Cils Blick war starr auf die Wasseroberfläche gerichtet und nun, als sie all ihre Sinne auch in diese Richtung schärfte, hörte sie es: Plätschern und ein kreischendes Wiehern, dass ihr einen Schauder über den Rücken jagte. „Sie sind am anderen Ufer“, stieß sie schließlich aus und Cil nickte. „Der Junge hat das Ufer fasst erreicht“, erklärte er und konnte offenbar genaustens erkennen, was dort vor sich ging. „Aber das Kelpie hat ihn fast.“ Er griff an seinen Gürtel unter seinem schwarzen Blazer und zog ein kleines Glasfläschchen hervor. Finola wusste, was es war: Ein vorbereiteter Zauber. Jedoch sah sie Cil nur misstrauisch an, ehe sie wieder zum anderen Ufer versuche hinüber zu sehen. Derweil entkorkte Cil das Fläschchen. Die Flüssigkeit im inneren des Gefäßes begann in einem türkisgrünen Licht zu pulsieren. Dann, ohne zu zögern, ging Cil in das Wasser hinein, bis er etwa bis zu den Knien im Lough stand, ehe er den Inhalt des Fläschchens in das Wasser kippte. Es schien, als würde nichts passieren, doch Finola bemerkte die Veränderung in Cils Aura. Er wirkte die Magie, die er vorbereitet hatte und sie war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte. Sicher, sie wollte möglichst schnell das andere Ufer erreichen und konnte bei weitem nicht schnell genug schwimmen, um es im Wasser mit einem Kelpie aufzunehmen, aber dennoch vertraute sie nur ungern auf Magie. Auf einmal leuchtete das Wasser um Cil herum auf und eine dünne, leuchtende Linie begann sich über den See zu dehnen. Finola verstand: Ein Weg über das Wasser. Er spürte, wie das Monster hinter ihm im Wasser war. Die Wellen, die es erzeugte, machten es noch schwerer für ihn zu schwimmen - obwohl er ohnehin kaum noch Kraft in seinen tauben Armen hatte. Doch er konnte nun Ufer sehen und auch wenn es schwer für ihn war die Entfernung zu schätzen, so glaubte er, es erreichen zu können, wenn dieses Wesen ihn nicht vorher erreichte. Er traute nicht, sich zu dem seltsamen Pferd umzudrehen, glaubte aber fast das Schnauben direkt in seinen Ohren zu hören. Ein Gedanke drängte sich ihm unmittelbar auf, den er bereits die ganze Zeit zu verdrängen suchte: Wenn dieses Wesen ihn töten wollte, so würde ihm auch das Ufer kaum Schutz bieten, denn er hatte es bereits am Morgen auf der Wiese gesehen. Dieses seltsame Monsterpferd war nicht an das Wasser gebunden und wenn es ihn am Ufer verfolgen wollte, so würde es dies tun. Auf einmal spürte er, dass seine Beine den Boden fast erreichen konnten. Nur noch einige Züge. Da spürte er einen furchtbaren Schmerz an seinem linken Fuß, ehe das Wesen ihn unter Wasser zog. Er hörte Wasser plätschern und dann... Finola war mit dem ganzen nicht zufrieden, doch nun war sie dem fremden Wesen so nahe und sie wusste eins: Sie würde den Jungen retten. Sie sprintete über das Wasser hinweg, dass sie dank Cils Zauber zu tragen schien. Es fühlte sich an, als würde sie durch eine Pfütze rennen, nicht über die Oberfläche eines Sees. Doch dennoch vertraute sie der Magie nicht sonderlich. Selbst hier, auf seiner Magie, war Cil hinter ihr zurückgefallen. Nun hörte sie ein Plätschern und wusste, dass sie beinahe das andere Ufer und damit auch Kelpie und Jungen erreicht hatte. Wasser wurde aufgetreten und der Geruch nach nassen Pferd und Tod lag nun ekelerregend deutlich in der Luft. Mit einem Blick zum Himmel verfluchte sie, dass dies nicht die beste Zeit war, in einen Kampf verwickelt zu werden. Doch hatte sie eine Wahl? Cil war einige Meter hinter ihr und sie sah nun die Gestalt des Kelpies dunkel unter der Wasseroberfläche, wie auch eine sich immer weniger regende helle Gestalt - der Junge. „Verdammt“, fluchte sie. Es waren nur zwei Nächte seit Neumond vergangen, wodurch der Mond bei weitem nicht voll genug war, als dass sie sich hätte verwandeln können. Selbst die alten Wölfe waren zu dieser Zeit recht machtlos. Dennoch war sie mehr als nur ein einfacher Mensch. Mit einem Knurren stieß sie sich von dem magischen Grund - oder was auch immer es war, dass sie über Wasser hielt - ab und sprang auf den dunklen Fleck im Wasser zu, der das Kelpie war. Im nächsten Moment war sie unter Wasser und konnte gespenstisch die Augen des Wesens leuchten sehen. Sie schaffte es sich auf den Rücken des vermeintlichen Pferdes zu schwingen und den Kopf des Wesens in die Höhe zu reißen. Das Kelpie, dessen Kiefer sich um den Fuß des Jungen geschlossen hatte, versuchte sie abzuschütteln, doch sie umklammerte seinen Kopf nur noch fester. Schließlich ließ das Wesen den Jungen los. Finola betete, dass Cil sie bald erreichte, den der Junge schien ohnmächtig zu sein - ohne dass sie sich nun um ihn kümmern konnte. Sie legte all ihre Kraft in ihre Hände und vergrub ihre Hände im Hals des Pferdes. Dunkles Blut umgab sie und das Wesen bäumte sich auf, versuchte erneut sie abzuschütteln. Es drehte den Kopf zu ihr und machte anstalten nach ihr zu schnappen. Da drang ein helles Licht durch das Wasser - offenbar ein weiterer Zauber Cils, ehe ein Platschen Finola verriet, dass der Zauberer nun offenbar auf da war. Das Pferd scheute umso mehr, denn auch wenn es nicht direkt lichtempfindlich war, so ließ es sich von diesem verschrecken. Doch auch Finola war für einen Moment geblendet und achtete nicht genau auf ihre Bewegungen, als sie merkte, dass sie vom glitschigen Rücken des Wesens rutschte. Sie spürte, wie das Wesen seine Zähne in ihrer linken Schulter versenkte, noch bevor sie unter Wasser ihre Selbstbeherrschung wiederfand. Unwillkürlich schnappte sie nach Luft, atmete nur Wasser. Sie spürte Panik in sich aufsteigen, auch wenn sie wusste, dass sie dieser nicht nachgeben durfte. Mit ihrer rechten schaffte sie es einen Schlag gegen den Kopf des Kelpies zu landen, das jedoch nicht minder versessen, als sie zuvor, versuchte nicht loszulassen. Sie holte erneut aus und zielte mit ihrem Schlag nun auf das einzige Körperteil, das sie deutlich erkennen konnte: Das Auge des Kelpies. Dieses Mal mit der spitzen Hand schlagend spürte sie, wie der weiche Augapfel unter ihrem Schlag nachgab. Das Pferd stieß einen Schrei aus, der selbst unter Wasser deutlich zu hören war. Dies war genug, als dass sie ihre Beine gegen den Hals des Tieres richten und sich von diesem abstoßen konnte. Ihr Kopf durchbrach die Wasseroberfläche und sie zog gierig die frische Nachtluft ein. Schnell fand sie Halt auf dem Untergrund und schaffte es den Weg zum Ufer zu finden, wo der offenbar ohnmächtig und mit einigen Verletzungen, von denen zum Glück keine all zu schwer wirkte, auf dem felsigen Untergrund lag. Über ihn beugte sich Cil. „Verdammt, das Manöver war nicht okay, Cil, du Arsch“, keuchte Finola und starrte angestrengt aufs Wasser. „Ich brauchte eine Ablenkung, um den Jungen da heraus zu holen“, erwiderte er. „Hast du das Kelpie getötet?“ Zur Antwort schüttelte sie nur den Kopf. Sie hielt sich die linke Schulter und verfluchte innerlich weiterhin Cil, während sie jedoch weiter auf die Wasseroberfläche starrte, darauf wartend, dass die Kreatur sie durchbrechen würde. Sie konzentrierte sich darauf zu atmen. Da sah sie einen kleinen, roten Punkt unter der Oberfläche, ehe genau an dieser Stelle das nun einäugige Kelpie aus dem Wasser hervorbrach. Es stürmte offenbar in rasender Wut auf sie zu und Finola hörte Cil hinter sich aufstehen. „Jetzt halt dich da raus“, knurrte sie mit tieferer Stimme als zuvor und sprang dem Wesen entgegen. Am Land war sie im Vorteil und das wusste sie. Noch bevor das Kelpie reagieren konnte, landete sie zwei weitere Treffer gegen seinen Kopf, so dass es ins Wanken geriet. Dann ließ sie sich auf den Boden fallen und schlug dem Pferd die Beine unter dem Körper weg, so dass es auf die Seite fiel. Sie hob die Hand, die nun wie eine Klaue verfolgt war, um den verletzlichen Bauch des Wesens anzugreifen, als ein leuchtender Kreis um den Körper des Kelpies herum erschien. Finola schlug zu, doch ihre Hand wurde von einer unsichtbaren Kraft zurückgehalten. „Es reicht, Fin“, meinte Cil etwas aufgebracht und stand nun auf. „Halt dein Maul, Cil“, knurrte sie. „Lass mich diesem Vieh den Rest geben!“ „Ich soll das Kelpie einfangen, nicht töten“, entgegnete Cil. „Wir töten keine magischen Wesen einfach so.“ „Das Mistvieh hat mich verletzt“, stieß sie aus und sah ihn wütend an. „Jetzt lass mich!“ Cil machte einige Schritte auf sie zu. „Beruhige dich. Du lässt dich komplett vom Tier kontrollieren, Fin.“ „Und wenn schon“, rief sie. Einem Instinkt folgend, hob sie die Hand, um ihn anzugreifen. Doch damit schien Cil gerechnet zu haben. Er duckte sich unter ihrem Schlag weg und tauchte direkt vor ihr auf, um ihr mit der flachen Hand einen gezielten Schlag gegen die Stirn zu versetzen. Zu spät merkte sie, dass er erneut einen Zauber verwendet hatte. Ihre Muskeln erschlafften und sie schaffte es gerade so noch genug Gleichgewicht zu bewahren, als dass sie sich setzen konnte, statt kraftlos zu Boden zu fallen. Sie wurde nicht ohnmächtig, wusste aber, dass sie nicht mehr kämpfen konnte. „Ich hasse dich, Cil“, knurrte sie leise. Er sah sie nur an und zuckte mit den Schultern. „Von mir aus.“ Dann wandte er sich wieder dem Jungen zu. Finola beobachtete ihn dabei. Genau das war der Grund, warum sie es hatte sich mit ihm und seines gleichen einzulassen. Nicht nur, dass es am Ende immer irgendwie sie war, die verletzt wurde – nein! Man erwartete auch noch, dass sie sich an die albernen Regeln der Ermittler hielt. Sie sah zu dem Kind am Boden, auf dessen Wunden Cil nun eine Flüssigkeit träufelte. Ein Heiltrag – ohne Frage, damit später keine seltsamen Fragen von den Menschen gestellt wurden. Zumindest lebte der Junge. Sie seufzte, als Cil den Jungen schließlich aufhob. „Ich bringe ihn zur Polizei. Soll ich dich danach nach Hause fahren?“ Zur Antwort knurrte Finola nur. „Ich laufe lieber.“ Erneut zuckte der Mann nur mit den Schultern. „Habe ich mir gedacht.“ Damit macht er Anstalten loszugehen. „Und Cil“, meinte sie und wartete, bis er inne hielt, ehe sie fortfuhr: „Frag mich niewieder um Hilfe.“ Daraufhin ließ er nur ein Seufzen hören. „Ich lasse dir morgen einen Scheck vorbei bringen.“ Damit ging er wieder los. „Gute Nacht, Fin.“ Sie knurrte. „Arschloch.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)