Du bist mir wichtig... von BloodyRubin (...warum merkst du es nicht?) ================================================================================ Kapitel 1: Dunkelheit --------------------- Mit leeren Augen sah er in die Nacht. Im Zimmer war es dunkel und kalt, doch das interessierte ihn nicht. Er hatte alle Gefühle ausgeschaltet. Er empfand keine Freude, keine Trauer, keinen Zorn mehr. Einfach nichts. Sein Leben war sinnlos geworden, eine Aneinanderreihung von Tagen, die immer gleich waren. So auch heute. Erst das Läuten des Telefons riss ihn aus seiner Lethargie. „Hallo?“ „Hallo, Dai-chan. Wie geht es dir?“ „Ach, du bist es, Mutter. Es geht mir gut.“ „Dai-chan… das mit Riku…“ „Lass es.“ „Dieser Unfall… es war nicht deine Schuld. Willst du nicht doch nach Hause kommen?“ „Nein. Diese Wohnung…Riku hat sie so geliebt. Ich könnte nie hier fortgehen.“ „Na schön. Du bist alt genug, das selbst zu entscheiden. Aber Dai-chan…pass auf dich auf.“ „Sicher. Bis bald.“ Er legte auf, setzte sich auf den Boden und blickte sich um. Kahle, leere Wände, ein paar Stühle, ein Tisch und eine Couch. Er hatte nichts verändert, seit er mit Riku hier eingezogen war. Nun war er alleine. Riku war ihm genommen worden und er hatte nichts dagegen tun können. Hätte er sie nur besser beschützt. Daisuke fuhr sich durch die roten Haare und brachte sie damit noch mehr durcheinander, als sie eh schon waren. Alle, mit denen er hätte reden können, waren fort. Dark, With, Risa… Zwar rief seine Mutter immer wieder an, doch stets kamen dieselben leeren Worte aus ihrem Mund. Als würde es irgendetwas ändern. Nichts konnte ihm seine große Liebe zurückgeben. Irgendwie schon ironisch. Nichts hatte Riku etwas anhaben können, immer hatte sie gelächelt. Und dann hatte das wahre Leben zugeschlagen. Danach war nichts mehr, wie es einmal war. Der einst so lebenslustige Junge war zu einem stillen, zurückgezogenen jungen Mann geworden. Inzwischen war er fast achtzehn, hatte sich aber äußerlich nur wenig verändert. Nicht, dass es ihm aufgefallen wäre. Für ihn war es nicht mehr wichtig, wie er aussah. Als langsam die Sonne aufging, stand er auf und machte sich für die Schule fertig. Bald würde er den Abschluss machen und sich eine Arbeit suchen müssen. Doch das hatte noch Zeit. Langsam machte er sich auf den Weg, ignorierte die Menschen, die ihn ansahen. Stur sah er auf den Boden, bis er vor dem Schulgebäude stand. Zu seinen alten Freunden hatte er jeden Kontakt abgebrochen. Deshalb verwunderte es ihn nicht, dass niemand ihn begrüßte. Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und hörte kaum zu, was gesagt wurde. Daisuke wusste, dass seine Noten immer mehr in den Keller rutschten. Sein Lehrer hatte versucht, mit ihm zu reden. Vergeblich. Also ließen sie ihn in Ruhe, sagten sich, er würde schon wieder normal werden. Was für Schwachköpfe. Endlich klingelte es zur Pause und er machte sich auf den Weg zur Sporthalle. Neugierige Blicke verfolgten ihn, leises Flüstern drang an seine Ohren. Inzwischen hatte er sich daran gewöhnt. Während der Unterricht sich langsam seinem Ende näherte, dachte er an Riku. Der Gedanke an ihr Lächeln begleitete ihn überall hin. Eine wundervolle, schreckliche Erinnerung. Oft schon hatte er mit dem Gedanken gespielt, allem ein Ende zu machen. Doch dazu fehlte ihm der Mut. Regen kam auf, während er sich auf den Weg nach Hause machte. Kurz hielt er an einem Blumenladen und kaufte eine einzelne rote Rose. Er wollte der Unfallstelle einen Besuch abstatten und für Riku beten. Immer noch fiel es ihm schwer, dorthin zu gehen. Tropfnass kam er an und legte die Rose ab. Regungslos stand er da, vertieft in seine Gedanken. Er bemerkte die Person nicht, die sich ihm näherte. „Niwa?“ Geschockt wirbelte er herum. „Hiwatari-kun. Was tust du denn hier?“ „Ich habe dich hier stehen sehen. Du bist ja klitschnass.“ Im Stillen dachte Daisuke sich, dass der andere nicht viel besser aussah. Sein hellblaues Haar hing triefend um sein Gesicht und auch seine Kleidung hatte schon bessere Tage erlebt. Sie war zerrissen und blutig. Warum war sie blutig? „Bist du verletzt?“ Die dunkelblauen Augen von Hiwatari wurden noch dunkler. „Nein, es ist alles in Ordnung.“ Daisuke kam näher an ihn heran und betrachtete ihn genauer. An einigen Stellen war Hiwataris Haut zu erkennen, die mit unzähligen Blutergüssen versehen war. „Wer hat dich so zugerichtet?“ „Niemand. Ich bin gefallen.“ Daisuke war klar, dass das gelogen war. „Es ist doch immer dasselbe mit dir. Los, komm mit.“ „Wohin gehen wir?“ „Wirst du schon sehen.“ Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu Daisukes Wohnung. „Setz dich da auf den Stuhl, ich werde dir neue Sachen bringen. Und rühr nichts an, verstanden?“ Damit verschwand er in sein Schlafzimmer und kramte achtlos in einer Schublade, wobei er die Hälfte durch das Zimmer warf. Als er gefunden hatte, was er wollte, kehrte er zurück – und erstarrte. Hiwatari hielt ein Bild von Riku in der Hand und musterte es mit leicht trauriger Miene. „Ich habe doch gesagt, du sollst nichts anrühren.“ „Das mit Riku tut mir leid, ehrlich.“ Er stellte das Bild wieder an seinen Platz und legte Daisuke kurz die Hand auf die Schulter. „Das bringt sie mir auch nicht wieder.“ murmelte dieser leise und drückte Hiwatari die Klamotten in die Hand. „Hier, geh dich umziehen und dann verschwinde.“ „Schön, wie du willst.“ Leicht seufzend ging Hiwatari ins Badezimmer. Während Daisuke wartete, musste er an seine Jugendzeit denken. Was er alles erlebt hatte… verrückt. Er wünschte sich diese Zeit zurück. „Willst du für den Rest deines Lebens trauern?“ „Was verstehst du schon?“ gab er gereizt zurück. Ernst sah Hiwatari ihn an. „Ach, vergiss es. Erklär mir lieber, was mit dir passiert ist.“ „Das lässt dir wohl keine Ruhe mehr, wie?“ „Also?“ Lange war es still, bevor der andere wieder etwas sagte. „Ich habe jemanden getötet.“ „Was?“ Daisuke konnte es nicht glauben. Ausgerechnet Hiwatari sollte jemanden getötet haben? Das war nicht möglich. „Als ob du jemanden umbringen könntest.“ „ Meinen Onkel, um genau zu sein.“ Kurz hob er das Shirt, das Daisuke ihm geliehen hatte und entblößte seine helle Haut. Unwillkürlich wich der Rotschopf zurück. „Dein Onkel hat dir das angetan?“ „Ja.“ „Aber warum?“ Hiwatari zuckte mit den Schultern. „Er hat mich gehasst. Laut seinen Worten ist es meine Schuld, dass mein Vater damals gestorben ist.“ „Aber…das war doch ein Unfall.“ Der Blauhaarige lachte freudlos auf. „Das hat er anders gesehen. Und er hat es mich spüren lassen, mehr als einmal.“ Fassungslos sah Daisuke ihn an. „Wann…wann hat das angefangen?“ „Als ich fünfzehn war. Erst waren es nur Anschuldigungen, dann kamen die Schläge.“ erwiderte Hiwatari mit leerer Stimme, als würde er über jemand anderen reden. In der Zeit, die sich die beiden nicht gesehen hatten, hatte er sich wieder zu seinem früheren Selbst entwickelt. Dabei war er damals doch so glücklich gewesen… „Erzähl mir alles.“ Kapitel 2: Blut --------------- Der erste Schlag kam völlig unerwartet. Hart erwischte ihn die Faust seines Onkels im Gesicht und er taumelte etwas zurück. „Du hast mir meinen Bruder genommen!“ schrie eine Stimme ihn an, deutlich nahm er den Geruch nach Alkohol wahr. Nicht gut. Immer, wenn sein Onkel getrunken hatte, führte er sich auf wie ein Irrer. Und in letzter Zeit trank er oft. Dennoch schrie Satoshi nicht, stand einfach nur da. In seinem tiefsten Inneren hatte er es geahnt. Er durfte nicht glücklich sein oder ein normales Leben führen. Zwar war er Krad losgeworden, doch etwas viel Schlimmeres hatte sich an seine Stelle gedrängt. Den dämonischen Engel hatte er wenigstens zurückhalten können. Nur beiläufig nahm er wahr, wie Schmerzen ihn durchfuhren und Blut aus seiner Nase kam. Es war, als wäre er nur eine Puppe, die keine Gefühle empfinden konnte. Wenn er einfach nur abwartete, würde sein Onkel bald das Interesse verlieren. „Sieh´ mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede.“ „Das bist du nicht wert.“ Wieder ein Schlag. Inzwischen tat Satoshi alles weh, heftig biss er die Zähne zusammen. Nein, niemals würde ein Laut über seine Lippen kommen. Dieser Mann würde ihn nicht brechen. Dazu hatte er bereits viel zu viel durchgemacht. Sein ganzes Leben war voller Schmerz gewesen. Da machte das hier auch keinen Unterschied mehr. Außerdem war er an die Schläge gewöhnt. Es lief sowieso immer gleich ab. Erst prügelte sein Onkel auf ihn ein, dann rauschte er aus dem Zimmer. Sobald sich Satoshi einigermaßen erholt hatte, ging alles von vorne los. Fast schon langweilig. Mit der Zeit hatte er gelernt, seine Gedanken schweifen zu lassen, sich an die Tage zu erinnern, die ihm das Gefühl von Glück gegeben hatten. Fast elf Monate, erfüllt von wundervollen Dingen. Der Tag, an dem Krad aus seinem Leben verschwunden war und die neuen Freunde, die er gefunden hatte. Der Moment im Regen, als Risa ihn geküsst hatte und ihm gesagt hatte, was sie für ihn empfand. An diesen Gedanken hielt er sich fest, um die Wahrheit zu verdrängen. Endlich hatte sein Onkel genug und verschwand. Ohne das geringste Gefühl ließ Satoshi sich auf sein Bett sinken und griff nach einer Packung Taschentüchern, um sich das Blut aus dem Gesicht zu wischen. Behutsam ließ er sich zurückfallen. „Du hättest mich damals sterben lassen sollen, Niwa.“ wisperte er in den leeren Raum. „Durch deine Einmischung habe ich den Himmel berührt, nur um wieder direkt in die Hölle gestoßen zu werden. Warum hast du es nicht zugelassen?“ Selbst jetzt noch hörte er die Worte, die ihm Niwa entgegengerufen hatte. `Auf keinen Fall darfst du aufgeben. Du kannst nicht einfach weglaufen. Irgendwann wirst du die Person treffen, die froh ist, dass du lebst.´ Tränen hatten in seinen tiefroten Augen gestanden und auch er selbst hatte zu seiner eigenen Überraschung gespürt, wie er zu weinen begonnen hatte. Nie zuvor hatte er solche Gefühle zugelassen. Doch sein Schicksal konnte er nicht aufhalten. Gerade als er dachte, er könne ein ganz neues Leben beginnen, war ihm alles genommen worden. Seine Freunde, sein Glück und seine zaghafte Liebe zu Risa. Nun war alles anders. Die Zwillinge waren tot, seine Freunde waren fort und sein Onkel, zu dem er einmal aufgesehen hatte, entpuppte sich als Monster. Vielleicht war er doch verflucht. Doch er wusste nicht, was er getan hatte, um so ein Elend zu ertragen. Müde schloss er die Augen und versuchte, etwas Schlaf zu finden. Als ihm das nicht gelang, begnügte er sich damit, in der ruhigen Dunkelheit zu liegen und schaltete seine Gedanken vollständig ab. Spät in der Nacht machte er sich auf, um etwas Essen aus der Küche zu stehlen. Das musste er tun, wenn er nicht verhungern wollte. Wobei – so einen großen Unterschied machte das auch nicht. Ihm war es inzwischen herzlich egal, ob er lebte oder starb. Lautlos fand er den Weg zurück in sein Zimmer, wo er sich über das Essen hermachte. Es war nicht viel, aber er konnte es sich nicht erlauben, wählerisch zu sein. Sein Onkel durfte nie erfahren, dass er das tat. Er würde ihn umbringen. Kurz beugte er sich vor und öffnete eine Schublade seines Nachttisches. Kurz glitzerte der Gegenstand im Mondlicht. Wie in Trance hob er das Messer hoch und drehte es in seinen Fingern. Es hatte etwas Beruhigendes, dem Lichtspiel auf der Klinge zuzusehen. Plötzlich hörte er ein Geräusch, versteckte das Messer und tat so, als würde er schlafen. Wieder konnte er Alkohol riechen. Was hatte sein Onkel denn jetzt schon wieder? Wahrscheinlich passte es ihm nicht, dass er vorhin keine Regung gezeigt hatte. Innerlich seufzend machte sich Satoshi auf weitere Schläge gefasst. Starke Hände legten sich um seinen Hals und er öffnete die Augen. Wollte sein Onkel ihn doch umbringen? Vollkommen ruhig sah er in die glasige Miene des Mannes. „Na los, trau dich. Das hattest du doch schon die ganze Zeit vor, nicht wahr?“ Seltsamerweise begann sein Onkel zu lächeln. „ Keine Sorge, ich töte dich nicht. Ich werde dir zeigen, was passiert, wenn man mich respektlos behandelt.“ Mit einer schnellen Bewegung griff er nach Satoshis Handgelenken und hielt sie mit einer Hand fest, während seine andere Hand sein Kinn hochzwang. Unruhe stieg in dem Blauhaarigen auf. Bevor er reagieren konnte, wurde sein Mund von den Lippen des Mannes verschlossen. Er versuchte, sich wegzudrehen, doch er konnte sich nicht rühren. Übelkeit überkam ihn, als er die Zunge seines Onkels in seiner Mundhöhle spürte. Gleichzeitig glitt die freie Hand des anderen unter sein Shirt und zerriss den dünnen Stoff. Verzweifelt bemühte er sich, freizukommen. Umsonst. Inzwischen drängte der Körper seines Onkels sich auf ihn, presste ihm die Luft ab. Satoshi wollte schreien, doch ein fester Schlag in den Magen brachte ihn zum Verstummen. Nach Luft ringend, bekam er nicht mit, wie sein Onkel ihn auszog und sich dann von dem Bademantel, den er getragen hatte, befreite. Wieder war die Zunge des Mannes in ihm, erstickte seine Stimme. Etwas drückte sich gegen ihn, panisch wand er sich hin und her. Dann durchfuhr ihn ein so grausamer Schmerz, als wäre er von einem glühenden Schwert durchbohrt worden. Nun schrie er, schrie in den Mund seines Onkels, der triumphierend grinste und begann, sich zu bewegen. Immer wieder stieß er brutal zu, bis er kurz aufstöhnte und auf ihm zusammensank. Jegliches Gefühl war von Satoshi abgefallen, wie tot lag er da. Eine Ewigkeit später zog der andere sich zurück und begann, sich anzuziehen. Mit zitternden Fingern öffnete der Blauhaarige die Schublade, packte das Messer und robbte, die Schmerzen ignorierend, an seinen Onkel heran. Mit letzter Kraft trieb er die Klinge in den Rücken des Mannes, bevor er ohnmächtig wurde. Lange war er nicht bewusstlos. Als er wieder zu sich kam, lag sein Onkel am Boden, überall war Blut. Satoshi wusste, dass er fliehen musste, bevor jemand herausfand, was er getan hatte. Mühsam zog er sich an und lief aus der Wohnung in den strömenden Regen. Kapitel 3: Scherben ------------------- Vollkommene Stille lag in dem Zimmer, als Hiwatari geendet hatte. Geschockt versuchte Daisuke, das Gehörte zu verarbeiten. In ihm drehte sich alles. Und er hatte gedacht, ihm würde es schlecht gehen. Wie sollte er sich jetzt verhalten? „Nun, jetzt kennst du meine Geschichte. Ich werde dann mal gehen.“ „Was?“ „Du wolltest doch, dass ich verschwinde. Außerdem muss ich sehen, dass ich aus der Stadt rauskomme. Bestimmt wird man sehr bald nach mir suchen.“ „Aber…“ „Kein Aber. Vergiss nicht, Niwa: Ich habe einen Menschen auf dem Gewissen. Wir sind keine vierzehn mehr. Das ist nicht deine Sache. Du kannst nicht alle retten.“ „Woher willst du das wissen?“ „Dazu muss man dich nur ansehen. Wie könntest du versuchen, jemanden zu retten, wenn du selbst nicht mit deinem Leben klarkommst?“ Darauf wusste Daisuke keine Antwort. Hiwatari hatte Recht. „Es war nett, dich wiederzusehen. Auch wenn ich mir andere Umstände gewünscht hätte.“ Damit wandte er sich um und wollte gehen. Er machte zwei Schritte – und kippte um wie ein gefällter Baum. „Hiwatari-kun. Was ist los?“ Mit wenigen Schritten war er bei dem Blauhaarigen und drehte ihn auf den Rücken. Der hatte die Augen geschlossen und atmete schwer. Vorsichtig berührte er Hiwatari an der Schulter und zuckte zurück, als dieser anfing, um sich zu schlagen. „Nein… fass mich nicht an… nimm deine dreckigen Hände von mir… bitte, hör auf…. nicht…“ „Beruhige dich. Ich bin es, Daisuke. Ich würde dir nie etwas antun.“ Ratlos sah er zu dem anderen hinunter. Wie sollte er vorgehen? Er konnte ihn ja wohl kaum einfach so liegenlassen. Bestimmt hielt er ihn fest und wartete ab. „Es ist alles gut. Du bist in Sicherheit.“ Nur langsam wurde der andere ruhiger, bevor Daisuke es wagte, ihn loszulassen. Verwirrt sah Hiwatari ihn an, als wäre er ein Fremder. „Ni…wa…?“ „Geht es wieder?“ „Ja. Ich war nur kurz weggetreten.“ „So kann man es auch nennen. Vielleicht solltest du dich etwas ausruhen.“ „Du verstehst es immer noch nicht, oder? Ich will kein Mitleid. Wenn ich hierbleibe, wird man mich finden und wegsperren.“ „Schön, wie du willst. Aber wenn du unterwegs wieder zusammenbrichst, wirst du auf jeden Fall weggesperrt.“ Sichtlich widerwillig stimmte Hiwatari dem zu. „Na gut, ich werde bleiben. Aber nicht lange.“ „Das will ich gar nicht. Sobald du dich besser fühlst, kannst du gehen, wohin du willst. Ich werde dich bestimmt nicht aufhalten.“ Lange blieb es still, bis Daisukes Blick zufällig auf die Uhr fiel. „Ich muss sehen, dass ich ins Bett komme. Falls etwas sein sollte, mein Schlafzimmer ist die zweite Tür links. Und versuch, nicht so viel unordentlich zu machen.“ Damit ließ er den Blauhaarigen alleine und fiel in einen tiefen Schlaf. Erst durch das laute Piepen des Weckers wurde er wieder wach und schlurfte gähnend ins Badezimmer. Nachdem er geduscht und sich angezogen hatte, betrat er das Wohnzimmer und wunderte sich im ersten Moment, warum Hiwatari auf seiner Couch lag. Als ihm alles wieder einfiel, schrieb er eine kurze Nachricht auf ein Stück Papier und legte sie auf den Tisch. Dann machte er sich auf den Weg zur Schule, wo er wie üblich nicht bei der Sache war. Direkt nach Schulschluss hastete er zum Supermarkt, wo er etwas zu Essen besorgte. Als er fertig war, ging er nach Hause. Im Inneren der Wohnung war alles still. Seltsam. Wo steckte Hiwatari? „Hiwatari-kun? Ich bin wieder da. Hast du meine Nachricht gelesen?“ Als es weiterhin ruhig blieb, suchte er stirnrunzelnd die Wohnung ab. Schließlich fand er den anderen in der Küche, damit beschäftigt, einen zerbrochenen Teller zusammenzusammeln. Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er Daisuke gar nicht bemerkte, der kopfschüttelnd hinter ihm stand. Und da hieß es immer, er wäre schusselig. Ein leiser Fluch drang an seine Ohren, als der Blauhaarige sich an einer Scherbe schnitt. „Was wird das, wenn es fertig ist?“ Hiwatari zuckte zusammen und sah ihn leicht schuldbewusst an, bevor er ihm wieder den Rücken zuwandte. „Ich wollte abwaschen, dabei ist mir ein Teller runtergefallen.“ Seufzend trat Daisuke vor und half dem anderen. „Ich werde mal sehen, ob ich irgendwo noch Verbandszeug habe.“ „Das wird nicht nötig sein.“ „Sei nicht so stur. Geh ins Badezimmer und lass Wasser über die Wunde laufen.“ Während Hiwatari leicht grummelnd tat, worum er gebeten wurde, ging Daisuke ins sein Zimmer und durchsuchte die Schränke. Als er gefunden hatte, was er brauchte, kehrte er zurück und wies den anderen an, das Wasser abzustellen und sich hinzusetzen. Der Schnitt war recht tief, aber es schien nicht so, als ob er genäht werden musste. Ohne den anderen anzusehen, ging er in die Knie und versorgte die Verletzung. „So, das sollte erstmal reichen. Wahrscheinlich werde ich den Verband später noch einmal wechseln müssen.“ Mit leicht hochgezogenen Augenbrauen begutachtete der Blauhaarige den mehr schlecht als recht angelegten Verband. „Ich bin nicht so geschickt, was das Verarzten angeht.“ meinte Daisuke entschuldigend, als ihm der Blick auffiel. „Sieht ganz so aus. Aber danke trotzdem.“ Kurz hob der Rotschopf den Kopf und einen Herzschlag lang schien die Zeit einzufrieren, als er in die tiefblauen Augen des anderen sah. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Hiwatari seine Brille nicht trug. Die Zerrissenheit, der Schmerz und die Einsamkeit in diesen Augen war unübersehbar. Wie sehr hatte er all die Zeit wohl leiden müssen? Auf diese Frage wollte er lieber keine Antwort. Was er bisher gehört hatte, reichte ihm völlig. „Ist was?“ riss ihn die Stimme des Blauhaarigen aus seinen Gedanken. „Wie?“ gab er nicht sehr clever zurück. „Weil du mich so anstarrst.“ „Warum…?“ „Warum was?“ „Warum bist du nicht schon vorher geflohen? Warum hast du deinen Onkel das tun lassen? Verdammt noch mal, Hiwatari-kun, was hat du dir nur dabei gedacht?“ „Niwa…“ begann der unsicher, aber Daisuke ließ ihn nicht weiterreden. „Wenn du mir jetzt wieder damit kommst, dass du das alles verdient hast, dann…dann…“ Stockend brach er ab, Tränen rannen über seine Wangen. Er wusste nicht einmal genau, warum er weinte. Ein Teil von ihm trauerte um den jungen, zerrissenen Mann vor ihm, der ihn sichtlich verwirrt ansah, ein anderer Teil erinnerte sich wieder an Riku. Mit einer Hand griff er nach Hiwatari und bevor der reagieren konnte, hielt er ihn fest in den Armen und legte seinen Kopf auf die Schulter des Blauhaarigen. Zum ersten Mal seit Rikus Unfall brachen alle seine aufgestauten Gefühle sich Bahn. Unfähig, seinen bebenden Körper unter Kontrolle zu bringen, ließ er sich treiben und bemerkte nur am Rand, wie eine warme Hand ihm durch die Haare fuhr. Kapitel 4: Funken ----------------- Satoshi konnte es sich nicht erklären. Was war nur in Niwa gefahren? Immer noch spürte er, wie der andere haltlos schluchzte. Ohne ein Wort strich er dem Jüngeren durch die Haare. Er tat das eigentlich mehr, um sich abzulenken. Die Worte des Rotschopfs hatten ihn ziemlich aufgewühlt. Niemand außer Niwa hatte es jemals geschafft, ihn so aus dem Konzept zu bringen. So ein Idiot. Natürlich hatte er alles verdient, was ihm widerfahren war. Verfluchten Personen wurde nun mal nicht vergeben. Aber jetzt war er hier, auf dem kalten Fliesenboden und sah dabei zu, wie der andere seinetwegen in Tränen aufgelöst dasaß. Schon wieder… Und das nach all den Jahren, die sich nicht begegnet waren. „Du wirst dich wohl nie mehr ändern, was?“ fragte er endlich ruhig. Aus verquollenen Augen sah der Rotschopf ihn an, bevor er zu realisieren schien, was er da gerade tat. Sofort ließ er ihn los und erhob sich mit knallroten Wangen. „Hast du Hunger? Ich habe etwas eingekauft, als ich auf dem Weg nach Hause war.“ nuschelte er undeutlich und Satoshi konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er nickte. Während Niwa eher aus dem Badezimmer hinausstolperte als hinausging, stand der Blauhaarige ebenfalls auf und musterte erneut den Verband. Sicher, es war keine gute Arbeit, dennoch hatte die Blutung nachgelassen. „Du wirst mir wohl immer ein Rätsel bleiben.“ murmelte er halblaut. Früher schon war der Rotschopf ihm durch seine seltsame Art aufgefallen. Eigentlich nicht gerade die Art von Mensch, mit denen er etwas zu tun haben wollte. Krad war es damals gewesen, der Dark in Niwas Innerem gespürt hatte. Alles andere war dann von selbst passiert. Schließlich hatte auch Satoshi ein Interesse daran, den legendären Meisterdieb zu fangen. Gegen Ende war es dann aus dem Ruder gelaufen. Trotzdem war er endlich sein zweites Ich losgeworden. Dass auch Niwa von dem dunklen Engel getrennt worden war, tat ihm etwas leid. Aber es war Darks Entscheidung gewesen und er hätte ihn sowieso nicht aufhalten können. Ein leises Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sich daran erinnerte, was damals zwischen ihnen beiden alles passiert war. Ihre erste Unterhaltung im Kunstraum, die sich mal auf mehr als drei Sätze erstreckt hatte, ihre kurze, aber ereignisreiche Gefangenschaft im Lager und der nachfolgende vorläufige Abschied. Besonders lustig fand er immer noch den Tag, an dem er den Rotschopf vor dem Ertrinken gerettet hatte. Als Niwa erfahren hatte, dass Satoshi ihn Mund-zu-Mund beatmet hatte, war er erst feurig wie eine Tomate geworden und dann in Ohnmacht gefallen. Wie man sich deswegen so anstellen konnte… Ihm selbst war das ziemlich egal gewesen. Was andere von ihm hielten, hatte ihn nie besonders gestört. „Hiwatari-kun, könntest du schon mal den Tisch decken? Ich kann gerade nicht vom Herd weg.“ hallte die Stimme des Rotschopfs durch den Flur und holte ihn in die Wirklichkeit zurück. „Bin schon dabei.“ erwiderte er gelangweilt und nur kurz darauf war er damit beschäftigt, Teller zu suchen und Besteck zu verteilen. Ein seltsamer Geruch drang aus der Küche und mit einer unguten Vorahnung ging er nachsehen, was los war. Niwa stand, kurz vor einer Panik, vor einem Topf, der unheilvoll qualmte und rührte wild darin herum. „Wusste ich es doch…“ seufzte Satoshi und trat näher heran. „Hör auf zu rühren, du machst alles nur noch schlimmer.“ „Ich habe doch nur einen Moment nicht aufgepasst. Warum muss so was immer mir passieren?“ „Geh mal da weg.“ befahl der Blauhaarige und schob den Jüngeren entschieden beiseite. Prüfend kostete er etwas von dem Essen und verzog das Gesicht. Da würde einiges an Arbeit auf ihn zukommen. „Vielleicht kann ich noch was drehen, aber du musst mir helfen. Erstmal brauche ich einen neuen Topf…“ So ging es eine Weile weiter. Während er Niwa quer durch die Küche scheuchte, versuchte er, den bitteren Geschmack loszuwerden. Fast eine Stunde dauerte es, bis er zufrieden war. Immer noch etwas rauchig, aber besser als vorher. „Gut, das muss reichen.“ „Seit wann kannst du denn kochen?“ „So was lernt man, wenn man keine andere Wahl hat.“ Der Rest des Abends blieb ruhig. Nach dem Essen bemühte der Rotschopf sich, den angebrannten Topf sauberzubekommen, während Satoshi ein wenig fernsah. Bei den Nachrichten blieb er kurz hängen. „Im Fall des ermordeten Junji Hiwatari, dessen Leiche vor einer Woche gefunden wurde, gibt es immer noch keine Spur der Täter. Die Tatwaffe, ein Küchenmesser, wurde in einem Fluss gefunden. Die Polizei wollte keine genauen Angaben machen, schließt aber eine Kurzschlusshandlung nicht aus und…“ Mit einem Klick wurde der Bildschirm schwarz. Zitternd lehnte der Blauhaarige sich zurück und versuchte, sich zu beruhigen. Ungebetene Bilder flimmerten vor seinen Augen und er verkrampfte sich. Konnte er denn nicht einmal etwas Ruhe finden? „Hiwatari-kun? Alles in Ordnung?“ Besorgt sah Niwa zu ihm hinab. „Mach dir deswegen keine Gedanken. Ich schaffe das schon.“ Der andere antwortete nicht, sondern setzte sich zu ihm. „Bist du sicher? Du siehst aus, als würdest du gleich umkippen.“ „Ja, ich bin mir sicher.“ „Gut, dann werde ich mich etwas hinlegen. Falls du was brauchst, sag einfach Bescheid.“ Satoshi nickte nur geistesabwesend. Immer noch tanzten die Bilder vor seinen Augen und er kauerte sich zusammen. Eine Hand auf seiner Schulter ließ ihn zusammenfahren. „Lass es…“ Er merkte, wie ihn Panik einhüllte, alles andere in ihm zurückdrängte. „Geh einfach. Ich will nicht, dass du mich so siehst.“ „Ich kann dich jetzt nicht einfach alleine lassen.“ protestierte der Rotschopf. Langsam verlor Satoshi die Geduld. Konnte dieser elende Sturkopf nicht einmal tun, was ihm gesagt wurde? „Lass mich in Ruhe.“ fuhr er den Jüngeren an und erstarrte, als das Gesicht seines Onkels vor ihm auftauchte. Wieder wurde ihm schwindelig und er fiel vornüber, wobei er Niwa mit sich riss. Nur langsam wurde er ruhiger und die Bilder verschwanden. Ein merkwürdiges Gefühl breitete sich in ihm aus und er spürte, dass irgendetwas anders war als sonst. Sein Blick klärte sich und er blickte in tiefrote Augen, die ihn vollkommen entsetzt ansahen. Warum der andere so schaute, wurde ihm eine Sekunde später klar, als er die Lippen des Jüngeren auf seinen eigenen bemerkte. Blitzschnell zog er sich zurück und versuchte, so viel Abstand wie nur möglich zu Niwa zu bekommen. Erst als er mit dem Rücken an die Wand stieß, wurde ihm klar, was gerade passiert war. Ihr zweiter „Kuss“. Unbeholfen rappelte der Rotschopf sich auf und floh regelrecht aus dem Wohnzimmer. Immer noch durcheinander, blickte Satoshi ihm nach. Offenbar würde er einiges klarstellen müssen… Kapitel 5: Verwirrung --------------------- Wie ein gefangener Tiger lief Daisuke in seinem Schlafzimmer hin und her. Die Tür hatte er abgeschlossen. Momentan brauchte er Zeit, um sich wieder zu beruhigen. Wie hatte es nur so weit kommen können? Bereits zum zweiten Mal hatten Hiwataris Lippen die seinen berührt. Verflucht, er hätte einfach ins Bett gehen sollen. Warum musste er sich nur überall einmischen? Dabei hatte der Blauhaarige doch gesagt, er wolle allein sein. Seufzend ließ er sich in die Kissen sinken. Hoffentlich war morgen alles vergessen… Immer noch in seine Gedanken vertieft, schlief er schließlich ein. Erst das helle Tageslicht, das durch seine Fenster fiel, weckte ihn wieder auf. Während er sich anzog, musste er erneut an den gestrigen Abend denken. Energisch schüttelte er den Kopf und marschierte schnurstracks ins Wohnzimmer, wo der andere noch tief schlafend dalag. Irgendwie war es faszinierend, Hiwatari so zu sehen. Im Schlaf wirkte er so friedlich... er schien sogar zu lächeln. Einige Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht und leuchteten in der aufgehenden Sonne. Für einen Moment war Daisuke regelrecht hingerissen von diesem Anblick, bevor ein Klingeln ihn wieder in die Realität zurückholte. Eilig ging er zum Telefon und hielt sich den Hörer ans Ohr. „Hallo?“ „Ich bin es, Dai-chan. Geht es dir gut?“ „Ja, einigermaßen.“ „Du klingst so merkwürdig. Ist etwas passiert?“ „Nein, alles in Ordnung.“ log er sofort und versuchte, das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken. Seine Mutter schien ihm das nicht zu glauben, doch sie seufzte nur. „Na schön. Hör mal, wenn du Lust hast, könntest du doch mal wieder hier vorbeikommen.“ „Ja, sicher. Aber im Moment ist es nicht so günstig. Ich habe viel um die Ohren. Am Montag schreibe ich eine Arbeit und wenn ich die nicht bestehe, falle ich durch.“ „Das verstehe ich. Ruf einfach noch mal an, wenn du Zeit hast.“ „Mach ich. Bis dann.“ „Weißt du, du hättest ihr auch einfach sagen können, was los ist.“ „Hi-Hi-Hiwatari-kun. Wie lange bist du schon wach?“ „Lange genug.“ erwiderte dieser und gähnte. „Wieso hast du nicht vorher was gesagt?“ „Wie hätte deine Mutter wohl reagiert, wenn sie meine Stimme in deiner Wohnung gehört hätte?“ Daisuke antwortete nicht, sondern knirschte nur mit den Zähnen. Schon wieder hatte der Blauhaarige ihn kalt erwischt. Innerlich leicht fluchend, ging er in die Küche und vertiefte sich in die Zeitung. Das Bild eines dunkelhaarigen Mannes fiel ihm ins Auge und interessiert las er den Namen, der darunter zu sehen war. `Junji Hiwatari, 36´. Das musste der Onkel des Älteren sein… Der Mann, der ihm so viel angetan hatte. Wie von selbst schlug er den Artikel auf und begann zu lesen. `Immer noch keine neuen Erkenntnisse im Fall des ermordeten Junji Hiwatari. Der Bankdirektor, der am 16.03. von einer Putzkraft gefunden wurde, schien keine Feinde gehabt zu haben. Weder in der Wohnung noch auf der Tatwaffe konnten verwertbare Beweise gefunden werden. Laut Aussage eines Freundes hatte das Opfer nach dem Tod seines Bruders die Vormundschaft für seinen Neffen, Satoshi Hiwatari, übernommen. Von dem mittlerweile achtzehnjährigen Jungen fehlt noch immer jede Spur. Ob er entführt wurde oder rechtzeitig fliehen konnte, ist unklar. Hinweise aus der Bevölkerung werden von der Polizeistelle entgegengenommen.´ Nachdenklich ließ Daisuke die Zeitung sinken. Er war mit der Situation etwas überfordert. Was, wenn man den anderen hier fand? Ach, unmöglich. Außer ihnen beiden wusste schließlich keiner, dass es Hiwatari selbst gewesen war, der seinen Onkel umgebracht hatte. Trotzdem… Hastig klappte er die Zeitung zusammen, als der Blauhaarige ebenfalls in die Küche kam. „Niwa, wegen gestern… dir ist klar, dass das nicht beabsichtigt war, oder?“ „Natürlich. Es war ein Unfall, mehr nicht.“ „Gut. Und noch was. Es tut mir leid, dass ich dich so angeschrien habe.“ „Ist schon gut. Ich hätte dich einfach in Ruhe lassen sollen.“ Kurz breitete sich Schweigen aus, bevor Hiwatari zum Kühlschrank ging und zwei Dosen Limonade hinausfischte. „Er sieht nicht wie ein Schläger aus, nicht wahr?“ „Was?“ „Ich rede von meinem Onkel. Er ist in der Zeitung abgebildet, oder?“ „Aber… woher…ich meine, wie…?“ „Man kann in dir lesen wie in einem offenen Buch.“ Seufzend machte der Ältere den Kühlschrank zu und setzte sich zu ihm. „Es gab mal eine Zeit, da habe ich ihn sogar bewundert. Er war immer so selbstsicher, so direkt. Niemals hätte ich gedacht, dass er zu solchen Taten fähig ist. Als er mich das erste Mal schlug, bin ich aus allen Wolken gefallen. Erst dachte ich noch, es wäre nur ein Ausrutscher gewesen, doch es wurde immer schlimmer. Irgendwann hatte ich mich daran gewöhnt, dass er mir die Schuld am Tod meines Vaters gab.“ Kurz nippte er an seinem Getränk, bevor er fortfuhr. „Später habe ich herausgefunden, dass mein Onkel meinen Vater sehr verehrt hat. Man könnte sagen, dass er sein einziger Lebensinhalt war. Ein seltsamer Gedanke. Immer hat er nur von ihm gesprochen, fast als würde er mehr für ihn empfinden als reine brüderliche Liebe. Später hat mein Onkel angefangen zu trinken, was ihn vollständig wahnsinnig machte. Auch an dem Abend, als er starb, war er betrunken.“ Hiwataris Stimme wurde leiser und seine Augen hatten jede Emotion verloren. „Er wollte mich brechen, doch ich habe mich geweigert, ihm diesen Gefallen zu tun. Als er begann, mich zu würgen, war ich ganz ruhig. Ich hatte sowieso mit meinem Leben abgeschlossen. Woher hätte ich auch ahnen können, dass er nicht vorhatte, mich zu töten? Stattdessen hat er… hat er…“ Wieder brach er ab, heftig zitterte sein Körper. „Du musst es mir nicht noch einmal erzählen.“ versuchte Daisuke ihn zu beruhigen, bevor er mit Schrecken die Tränen bemerkte, die über das Gesicht des Blauhaarigen flossen. Wieder ein ungewohntes Bild. Zwar hatte er den anderen schon einmal weinen sehen, aber das war fast vier Jahre her. Er hatte es ganz vergessen. „Als er mich vergewaltigt hat, ist alles in mir gestorben. In dem Moment, in dem ich ihm das Messer in den Rücken stieß, war ich wie in Trance. Nein, er hat nie wie jemand ausgesehen, der zu so etwas fähig ist, aber das war er… das war er…“ Hilflos musste Daisuke dabei zusehen, wie Hiwatari sein Gesicht in seinen Armen verbarg und seiner Trauer freien Lauf ließ. Gerne hätte er den anderen getröstet, doch wagte er es nicht, ihn zu berühren. Still saß er da, wusste nicht, was er tun sollte. Wenn nur Dark oder Riku jetzt hier wären. Sie hätten bestimmt einen Ausweg gefunden. Aber er war alleine und sein Kopf wie leergefegt. Vielleicht sollte er gehen und abwarten, bis alles vorbei war. Ja, das wäre wohl das Beste. Doch als er aufstehen wollte, packte der Blauhaarige ihn am Handgelenk. Kapitel 6: Sünder ----------------- Warum er den Rotschopf zurückhielt, wusste Satoshi nicht. Er wusste nur, dass er jetzt nicht alleine sein wollte. So lange hatte er seine Gefühle in seinem Inneren verschlossen und sich geschworen, nie wieder so verletzbar und schwach zu sein. Und dann tauchte dieser Niwa auf und zerstörte seinen Schutzschild innerhalb von wenigen Tagen. Verwirrt, aber immer noch ruhig, folgte der Jüngere der unausgesprochenen Bitte und ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. Nach einer Weile hatte sich der Blauhaarige wieder unter Kontrolle und hörte auf zu schluchzen. Der Gefühlsausbruch war zwar ziemlich peinlich, aber irgendwie fühlte er sich jetzt besser. Als er wieder aufsah, erwiderten tiefrote Augen seinen Blick. Sie waren voller Mitgefühl und Verständnis. Eigentlich hätte Satoshi Verachtung oder Spott erwartet. Aber Niwa war anders als die meisten. Immer musste er erst an andere denken, bevor seine eigenen Probleme an der Reihe waren. Ein Charakterzug, der sich nicht geändert hatte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er den anderen immer noch festhielt. Leicht widerwillig ließ er los und ging zum Spülbecken, um sich das Gesicht zu waschen. Moment mal… Widerwillig? Drehte er jetzt vollkommen durch? Verstohlen warf er einen Blick über die Schulter zu dem Jüngeren, der gerade damit beschäftigt war, den Tisch abzuwischen. Sofort fühlte er sich sicherer, als würde die bloße Anwesenheit Niwas die tiefschwarzen Wolken in seinem Inneren auflösen. Konnte es etwa sein, dass… Nein! Nein, auf gar keinen Fall. Er hatte sich doch sonst so gut unter Kontrolle. Dann würde er dieses merkwürdige Gefühl auch wieder loswerden. „Was ist? Willst du mich gar nicht auslachen?“ „Warum sollte ich das tun?“ Der Rotschopf klang ehrlich verwirrt. „Immer noch so unschuldig wie früher. Du bist ein äußerst merkwürdiger Junge.“ „Du aber auch.“ So schlagfertig hatte Satoshi ihn noch nicht erlebt. Grinsend schlug er dem anderen leicht auf die Schulter. „Ich habe einen Riesenhunger. Also sei doch so nett und deck den Tisch.“ Während er sich um das Essen kümmerte, war er zum ersten Mal seit Jahren wieder etwas gelöster. Als es auf den Abend zuging, ging Niwa früh ins Bett und gab dem Blauhaarigen damit die Möglichkeit, nachzudenken. Warum nur schlug sein Herz so schnell, wenn er dem anderen nahe war? Was war es, das dieser Junge in ihm auslöste? Er wusste es nicht. Wahrscheinlich drehte er wirklich durch. Sanft fuhr er sich über die Lippen und dachte dabei an den Abend, als er den Jüngeren versehentlich geküsst hatte. Sofort lief ihm ein angenehmer Schauer über den Rücken. Diese Lippen waren so sanft und weich gewesen, nicht hart und fordernd. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitzschlag. Er war doch tatsächlich dabei, sich in Niwa zu verlieben. Wann war das denn passiert? So etwas konnte nicht gut gehen. Der andere würde ihn auslachen, wenn er davon erfuhr. Außerdem liebte er immer noch Riku. Wie konnte er auch nur ansatzweise solche Gefühle hegen? Nein, er musste stark bleiben. Er durfte dem anderen nur nicht mehr zu nahe kommen, dann würde diese kleine Schwärmerei sich im Sand verlaufen. Mit dieser Entscheidung schloss er die Augen und schlief sofort ein. Als er wieder erwachte, begann er, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Peinlich genau achtete er darauf, jeden Körperkontakt zu vermeiden. Niwa schien das nicht weiter aufzufallen, er war wie immer. Inzwischen waren die Sommerferien angebrochen. Immer noch wurde nach Satoshi gesucht. Der hatte seinen Plan, aus der Stadt zu verschwinden, inzwischen total vergessen. Auch der Rotschopf schien sich an seine Anwesenheit gewöhnt zu haben. Doch wie so oft, mischte sich das Schicksal wieder ein und erinnerte sie daran, dass man sich nicht zu früh freuen sollte… Es war Morgen und die Luft war noch kühl. Leicht fröstelnd stand Satoshi am Fenster und sah auf die Stadt hinunter. Leichtes Vogelgezwitscher drang an seine Ohren. Wie friedlich alles war… fast schon unwirklich. Er streckte sich und musterte den leeren Raum. Niwa hatte sich vor einer Weile aufgemacht, um einzukaufen. Irgendwie schien die Wohnung ohne ihn kälter zu sein. Ein lautes Klopfen an der Tür erregte seine Aufmerksamkeit. Hatte der Rotschopf etwa seinen Schlüssel vergessen? Das war so typisch für ihn. Das Klopfen wiederholte sich und er machte sich auf den Weg zur Tür. „Du solltest wirklich besser aufpassen, Niwa. Irgendwann würdest du sonst noch deinen Kopf verlie…“ Er brach ab, als er in ein fremdes Gesicht blickte. „Satoshi Hiwatari?“ „Wer sind Sie?“ „Inspektor Karamuri, das ist mein Kollege Okana.“ So ein Mist! Wie hatte die Polizei ihn nur finden können? „Sie werden gesucht als Verdächtiger in einem Mordfall. Es tut mir leid, aber Sie sind festgenommen.“ Ein Klicken ertönte, als sich Handschellen um ihn schlossen. Seltsamerweise blieb er ganz ruhig. Das hatte ja passieren müssen. Draußen vor der Tür hatten sich bereits einige Schaulustige angefunden. Ein Raunen durchlief die Menge, als sie Satoshi bemerkten. Unbeeindruckt ging er weiter, als er eine Stimme hörte, die seinen Namen rief. Nur Sekunden später stand ein vollkommen erschrockener Niwa vor ihm. „Was ist hier los, Hiwatari-kun?“ „Man hat mich gefunden.“ antwortete er und die Augen des anderen wurden groß. „Er ist Hauptverdächtiger in einem Mord.“ „Nein, warten Sie, das war doch alles ganz anders…“ „Niwa.“ schnitt der Blauhaarige ihm das Wort ab. Er wollte nicht, dass die ganze Stadt von seiner Vergangenheit erfuhr. Sehr viel sanfter fuhr er fort. „Ich danke dir. Für alles, was du für mich getan hast.“ „Hiwatari-kun…“ „Na los, bringen wir ihn zur Wache.“ ging Inspektor Karamuri dazwischen. „Das können Sie nicht tun.“ Wie aus dem Nichts tauchten zwei Polizisten auf und hielten den Rotschopf zurück. „Leb wohl, Niwa.“ Ohne den anderen anzusehen, ließ er sich auf den Rücksitz des Wagens bugsieren, wobei er durch das offene Fenster immer noch die Rufe des Jüngeren hörte. „Nein, Sie dürfen ihn nicht einsperren. Das würde er nicht überstehen. Bitte, warten Sie. Hiwatari-kun!“ Langsam setzte sich der Wagen in Bewegung, suchte einen Weg durch die Menge. „Lass nicht zu, dass sie das tun. SATOSHI!!!“ Zum ersten Mal hatte Niwa ihn bei seinem Vornamen angesprochen. Kurz warf er einen Blick zurück und lächelte müde. „Wie ich schon sagte: Du kannst nicht alle retten, Niwa.“ flüsterte er und schloss die Augen, während der Wagen schneller wurde und alle anderen Geräusche verschluckte. Kapitel 7: Entdeckungen ----------------------- Versteinert sah Daisuke dem Wagen nach. Allmählich zerstreute sich die Menge und auch die Polizisten verschwanden. Was sollte er jetzt nur tun? Wie von alleine sammelte er seine Einkäufe zusammen und rannte in die Wohnung. Dort stellte er den Fernseher an und versuchte, sich zu beruhigen. Lange musste er nicht warten. Eine junge Frau erschien auf dem Bildschirm. Das Gebäude hinter ihr konnte nur die Hauptstelle der Polizei sein. „Nach wochenlanger Suche wurde Satoshi Hiwatari, der mutmaßliche Mörder von Junji Hiwatari, in der Wohnung eines alten Bekannten aufgegriffen. Er soll nun so bald wie möglich dem Haftrichter vorgeführt werden und… Moment, da kommt er.“ Unwillkürlich beugte Daisuke sich vor, als er den Wagen auf den Hof fuhren sah. Tatsächlich, diese hellblauen Haare würde er überall wiedererkennen. Nichts an dem Älteren verriet seine Stimmung, als er in das Gebäude geführt wurde, ohne auf die drängenden Fragen zu antworten. Ein Klingeln ließ den Rotschopf zusammenzucken. Ausgerechnet jetzt musste das Telefon ihn stören. „Hallo?“ „Dai-chan, ich bin es. Siehst du zufällig gerade die Nachrichten?“ „Ja, warum?“ Seine Mutter schien etwas fragen zu wollen, das spürte er. „Dieser alte Bekannte…warst etwa du damit gemeint?“ „Wie kommst du darauf?“ „Versuch nicht, mir auszuweichen. Warst du es, ja oder nein?“ „Ja, er war bei mir.“ „Ach, Dai-chan. Du kannst doch nicht einfach einen Mörder bei dir verstecken.“ „Nenn ihn nicht so. Es war nicht so, wie alle glauben.“ „Ach ja? Wie war es dann?“ Sich selbst einen Trottel schimpfend, seufzte er auf. „Das kann ich dir nicht sagen. Wenn, muss Hiwatari-kun selber darüber reden.“ „Und du glaubst, er tut es?“ „Wenn ich das wüsste. Wahrscheinlich nicht.“ Lange blieb es still, bevor seine Mutter wieder etwas sagte. „Bitte sag mir, dass du keine Dummheiten machen wirst.“ „Ich werde bestimmt nicht tatenlos dabei zusehen, wie sie ihn wegsperren.“ „Du liebst ihn, richtig?“ „WAS?“ „Welchen Grund gibt es sonst für dein Verhalten?“ Mühsam bekam sich Daisuke wieder unter Kontrolle. Wie kam seine Mutter nur auf so etwas? Er und in Hiwatari-kun verliebt? Was für eine abwegige Idee. „Okay, um eines mal klarzustellen: Ich bin garantiert nicht in ihn verknallt.“ „Warum zittert deine Stimme dann so?“ Ein leises Lachen folgte auf ihre Worte. „Es ist zwar nicht das, was ich wollte, aber die Hauptsache ist, dass du glücklich bist.“ Ihre Stimme wurde ernst. „Hör zu, Dai-chan. Seit gestern ist der Tatort wieder freigegeben. Wenn du Beweise für Hiwataris Unschuld suchst, werde ich dir helfen.“ „Aber…“ begann der Rotschopf, doch sie unterbrach ihn. „Wir treffen uns heute abend vor deiner Wohnung. Punkt zehn Uhr, verstanden?“ Daisuke wollte protestieren, bis er bemerkte, dass sie aufgelegt hatte. Na toll, als hätte er nicht schon genug Probleme. Verwirrt ließ er sich auf die Couch sinken. Hatte er seiner Mutter wirklich die Wahrheit gesagt? Ach, natürlich hatte er das. Trotzdem ging ihm der Blauhaarige nicht mehr aus dem Kopf. So einsam, so verschlossen, so distanziert. In den wenigen Momenten, in denen er gelächelt hatte, hatte Daisukes Herz immer kurz ausgesetzt. Dieses Lächeln hatte seinen eigenen Schmerz gelindert. Natürlich tat es immer noch weh, an Riku zu denken. Dennoch… Hastig schüttelte er den Kopf. Was dachte er da nur? Als ob Hiwatari ausgerechnet ihn an sich heranlassen würde. Der Rest des Tages verging schnell und schon bald stand Daisuke vor seiner Wohnung, ein mulmiges Gefühl im Magen. Warum machte er nur bei so etwas mit? Eine Hand legte sich auf seine Schulter und er hätte fast aufgeschrien. „Psst. Ich bin es nur.“ „Musst du mich so erschrecken?“ giftete er seine Mutter an, die ihn nur kurz in die Arme nahm. „Tut mir leid. Ich musste etwas weiter weg parken, sonst wäre ich aufgefallen.“ Dem Rotschopf fiel auf, dass Emiko mindestens genauso aufgeregt war wie er selbst. „Und du glaubst, das wird etwas bringen? Die Polizei hat doch bestimmt das ganze Haus auf den Kopf gestellt.“ „Wir werden sehen. Los, komm schon.“ Die Fahrt dauerte lange. Das Haus von Hiwataris Onkel lag abgeschieden und war recht groß, was ihre Suche nicht gerade einfacher machen würde. Unruhig stand er im Wohnzimmer, das nur von ihren Taschenlampen erhellt wurde. „Such du bei den Büchern, ich schaue da hinten nach.“ wies seine Mutter ihn an und sie machten sich ans Werk. Leider konnten sie nichts finden und Daisuke fragte sich bereits, ob sie die ganze Aktion nicht einfach abblasen sollten, als er stolperte und gegen ein Bücherregal fiel. Seltsamerweise krachte das Regal nicht zusammen, was ihn stutzig machte. Mit aller Macht stemmte er sich dagegen und es schwang zur Seite. „Ein Geheimraum. Wer hätte gedacht, dass deine Tollpatschigkeit mal so nützlich sein könnte?“ Murrend betrat er das Zimmer. Dort gab es nicht viel zu sehen. Ein Stuhl, ein Fernseher und ein Kassettenrekorder. Ohne zu zögern, schaltete er den Fernseher ein, während seine Mutter sich hinter ihn stellte. Kurz war alles dunkel, dann konnte man deutlich ein anderes Zimmer erkennen. Hiwataris Schlafzimmer… Warum hatte Junji dort eine Kamera angebracht? Die Antwort auf diese Frage bekam er wenig später, als die Tür aufflog und der Blauhaarige hineinstolperte, gefolgt von seinem Onkel, der ihm schreckliche Dinge entgegenschrie. Als er ausholte, schloss Daisuke die Augen. „Großer Gott…“ hauchte Emiko entsetzt. Erst als die Tür wieder zuknallte, wagte es der Rotschopf, wieder hinzusehen. Hiwatari stand eine Weile regungslos im Raum, bevor er sich zu seinem Bett schleppte und sofort einschlief. „Wir müssen die Kassette vom Tatabend finden. Ich bin mir sicher, dass sie noch in Hiwataris Zimmer ist.“ Schnell machte er den Fernseher aus und öffnete wahllos alle Türen, bis er Glück hatte. Hinter einem Bild fand er, was er suchte. Tatsächlich befand sich die Kassette dort. Er nahm sie mit und kehrte zum Geheimraum zurück, wo seine Mutter auf ihn gewartet hatte. „Ich habe sie.“ „Gut gemacht, Dai-chan. Ich habe auch etwas gefunden. Hier, lies dir das mal durch.“ Sie hielt ihm eine Art Dokument hin und er überflog es, wobei er immer ungläubiger wurde. „Aber… das würde ja bedeuten… Er durfte es gar nicht?“ „Sehr richtig. Da muss irgendjemand ziemlich geschlampt haben. Sonst wäre es nie so weit gekommen.“ „Lass uns zurückfahren. Die Verhandlung beginnt in ein paar Tagen. Würdest du mich begleiten?“ „Natürlich.“ Still fuhren sie zurück zu seiner Wohnung, wo sie ihn erneut in die Arme nahm. „Ruf gleich an, wenn es so weit ist, ja? Und Dai-chan… mach dir keine Sorgen. Ihm wird schon nichts passieren.“ „Das hoffe ich auch. Danke für deine Hilfe.“ So blieben sie noch lange stehen, bevor Emiko sich wieder auf den Weg machte und Daisuke sich in seinem Zimmer verkroch. „Satoshi, halte durch. Ich bin bald bei dir.“ Kapitel 8: Gefangen ------------------- Nachdenklich lag er auf der Pritsche und blickte zum vergitterten Fenster. Immer noch fragte er sich, wie man ihn gefunden hatte. Aber das war jetzt auch nicht mehr wichtig. Er würde wohl eine ganze Weile hier bleiben, wenn er tatsächlich verurteilt wurde. Vielleicht war es besser so. Schließlich hätte er sich nicht für immer bei Niwa verstecken können. Der Rotschopf hatte wegen ihm schon genug durchgemacht. Seit Satoshis Festnahme hatte er nichts mehr von dem anderen gehört. Hoffentlich wurde er nicht auch noch eingesperrt. „Hey, Hiwatari, du hast Besuch.“ Kurz sah der Blauhaarige auf, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem Fenster zuwandte. „Also warst du es.“ Der junge Mann vor seiner Zelle wirkte gleichzeitig nervös und wütend. Hellgrüne Augen sahen ihn anklagend an. „Was hätte ich denn tun sollen? Meine Güte, du hast deinen Onkel umgebracht. Der Gerichtsmediziner hat Hautschuppen unter Junjis Fingernägeln gefunden, die nur von dir sein können.“ „Und das beweist meine Schuld?“ „Er hat sich gegen dich gewehrt. Warum hast du das getan?“ „Das geht dich nichts an. Woher wusstest du, dass ich bei Niwa bin?“ „Das war die einzig logische Erklärung. Als ihr vor vier Jahren `Eis und Schnee´ aufgeführt habt, wirkte es so, als wärt ihr seit einer Weile befreundet. Da du sonst nicht viele Freunde hattest, blieb eigentlich nur er übrig.“ „Clever kombiniert, Natsu.“ „Dein Onkel war so ein guter Mensch. Für das, was du getan hast, gibt es keine Entschuldigung.“ Ungehalten sprang Satoshi auf. „Mein Onkel und ein guter Mensch? Du hast ja keine Ahnung. Du hast immer nur das gesehen, was du sehen solltest. Dass er nur eine Rolle gespielt hat, ist niemandem aufgefallen. Für alle war er immer nur der freundliche Bankdirektor, der sogar seinen Neffen bei sich aufgenommen hat. Wenn ihr nur wüsstet…“ Bevor Natsu antworten konnte, trat ein Beamter an die Zelle heran. „Die Zeit ist um.“ „Ich hoffe, du bekommst Gelegenheit, um über dein Verhalten nachzudenken.“ Damit verschwand er und ließ den Blauhaarigen schäumend vor Wut zurück. Schwer atmend setzte er sich hin, während in ihm die Gedanken kreisten. Nur noch drei Tage, dann würde man ihm den Prozess machen. Es sah nicht gut für ihn aus. Auf Mord stand immer noch lebenslange Haft. Naja, irgendwie würde er das schon hinkriegen. Ob er hier oder woanders sein Leben verbrachte, er würde sowieso nie Frieden finden. Das Leben war nun mal nicht gerecht. Nicht zu ihm. Wenn er nur jemanden hätte, der verstand, wie es in ihm aussah. Niemand hatte ihn je wirklich gekannt. Weder Krad, noch sein Vater und auch Niwa nicht. Immer noch hörte er die Stimme des Jüngeren in seinen Gedanken. `Lass nicht zu, dass sie das tun. SATOSHI!!!´ „Du warst der Einzige, dem ich mich geöffnet habe. Wie hast du es geschafft, mir in die Seele zu schauen? Warum wolltest du mich so dringend schützen?“ Trotz seiner Lage musste er lächeln. Mit seinen Gedanken immer noch bei dem Rotschopf, schlief er schließlich ein, bis er von einem Wächter geweckt wurde. „Hofgang.“ bellte der ihm zu und lustlos stand der Blauhaarige auf. Wenn die Tage hier drinnen nur nicht so langweilig wären. Immer derselbe Ablauf und das noch zwei Tage. Dann würde es zur Gewohnheit werden. Im Hof war es stickig und laut. Einige Häftlinge waren damit beschäftigt, Fußball zu spielen, wieder andere dösten in der Sonne. Desinteressiert ließ er sich im Schatten eines Baumes nieder und sah dem Treiben zu. Die nächsten Tage vergingen wie im Flug und es wurde Zeit, sich für die Verhandlung bereit zu machen. Schon früh am Morgen wurde Satoshi aus seiner Zelle geholt und durch lange Gänge geführt. Bewacht von einem Polizisten, gab man ihm die Gelegenheit zu duschen und etwas zu essen. Dann hieß es warten. „Satoshi Hiwatari in Raum 305.“ ertönte eine Stimme aus einem Lautsprecher. Na endlich. Auch wenn er sich äußerlich nichts anmerken ließ, war er doch leicht unruhig, als er den strengen Blick des Richters bemerkte. Einige Zuschauer hatten sich eingefunden, darunter auch Natsu. Ohne jemanden eines Blickes zu würdigen, nahm er auf dem Stuhl vor dem Richter Platz und wartete ab. „Satoshi Hiwatari, Sie sind angeklagt des Mordes an ihrem Onkel Junji Hiwatari. Darauf steht lebenslange Haft. Kommen wir zu ihren Personalien. Sie heißen Satoshi Hiwatari, sind achtzehn Jahre alt…“ Endlos ging es so weiter, bis es wieder interessant wurde. „Verlesen Sie die Anklage.“ Der Staatsanwalt stand auf. „Am 16. 03. gegen 21:00 Uhr kam es zwischen dem Angeklagten und dem Opfer zu einem heftigen Streit. Auslöser dafür war wohl der Bruder des Opfers, der vor vier Jahren bei einem Unfall sein Leben verlor. Gerade, als das Opfer den Raum verlassen wollte, rammte ihm der Angeklagte ein Küchenmesser in den Rücken. Das Opfer starb noch vor Ort durch einen direkten Treffer ins Herz. Der Angeklagte floh und entsorgte die Tatwaffe in einem nahegelegenen Fluss. Satoshi Hiwatari wird daher des Mordes angeklagt.“ „Nun, werden Sie Angaben zu dem Vorfall machen?“ „Ja.“ „Gut. Also, was sagen Sie zu den Vorwürfen?“ „So, wie es beschrieben wurde, war es nicht. Ich habe mich nicht mit meinem Onkel gestritten.“ „Ein Zeuge behauptet aber, er hätte beim Vorbeifahren mit dem Fahrrad laute Stimmen gehört. Wie erklären Sie das?“ „Er hat mich angeschrien, dass ich die Schuld an dem Tod meines Vaters trage. Aber das kannte ich schon von ihm, deswegen habe ich gehofft, dass er sich bald wieder beruhigt. Später kam er noch einmal zurück.“ „Und da kam es erneut zu Auseinandersetzungen, in deren Folge Sie Ihren Onkel getötet haben.“ „Nein, das ist nicht wahr.“ Der Blauhaarige spürte wieder, wie Panik in ihm aufstieg. Er wollte nicht darüber reden, nicht vor all diesen Leuten. „Wie kommen dann Ihre Spuren unter die Fingernägel des Opfers?“ „Ich… ich…“ Vollkommen überfordert stockte er, wieder waren diese Bilder vor seinen Augen. `Ich werde dir zeigen, was passiert, wenn man mich respektlos behandelt.´ „Nein…“ flüsterte er schwach, den Blick auf den Tisch vor sich gerichtet. „Hören Sie, die Beweise sind eindeutig. Nur Sie kommen als Täter in Frage. Alles, was uns fehlt, ist das Motiv. Waren Sie wütend auf ihn, weil ihr Onkel Sie für den Tod Ihres Vaters verantwortlich machte?“ Schwindel überkam ihn, hilflos suchte er nach Worten, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Nicht mehr lange und er würde wieder umkippen. „Es ist im Affekt passiert.“ ertönte eine Stimme von der Tür her. Niwa stand dort, zusammen mit seiner Mutter. In seinem Blick lag eine Entschlossenheit, die Satoshi noch nie gesehen hatte. „Wir haben hier etwas, dass diesem Fall eine völlig neue Wendung geben dürfte.“ Mit sicheren Schritten ging Niwa zum Richter und gab ihm einen Umschlag. „Hier, das haben wir in einem Geheimraum gefunden. Sehen Sie es sich an.“ Kapitel 9: Wahrheit ------------------- „Was soll das? Wer sind Sie überhaupt?“ „Mein Name ist Niwa Daisuke und das ist meine Mutter Emiko.“ Argwöhnisch begutachtete der Richter den Rotschopf. „Und Sie sagen, Sie hätten etwas gefunden?“ „Ja. Wir hätten es Ihnen gerne schon früher gegeben, aber da das nicht möglich war, sind wir heute hier.“ Während der Richter den Umschlag öffnete, ging Daisuke zu dem Älteren und nahm kurz seine Hand. Hiwatari sah gar nicht gut aus. Er war leichenblass und seine Atmung ging unkontrolliert. Bei seiner Berührung entspannte er sich etwas. „Mach dir keine Sorgen. Es wird alles gut.“ „Was ist auf dieser Kassette?“ „Eine Aufnahme von einer Überwachungskamera.“ „Nun, dann beginnen wir damit, die Aufzeichnung einzusehen. Ist die Anklage damit einverstanden?“ Ein Nicken. „Herr Verteidiger?“ Wieder ein Nicken. „Es wird folgendes zu Protokoll gegeben: In Einverständnis mit beiden Seiten wird das Videomaterial gesichtet.“ Ein großer Bildschirm wurde ausgefahren, dann legte der Richter die Kassette ein. Daisuke hockte sich neben Hiwatari, der mit schreckgeweiteten Augen auf den Fernseher starrte. „Niwa, was ist auf dieser Aufzeichnung?“ „Die Wahrheit.“ „Nein, das kannst du nicht tun. Bitte, zwing mich nicht, es nochmal durchzumachen.“ Sanft griff der Rotschopf nach seinem Gesicht. „Keine Angst, ich beschütze dich. Mach die Augen zu.“ Er hielt seinem Gegenüber die Ohren zu und drückte in an sich. Deutlich hörte er Hiwataris Onkel schreien: „Du hast mir meinen Bruder genommen.“ Wie gebannt hingen die Augen aller auf dem Bildschirm, der gerade zeigte, wie Junji Hiwatari seinem Neffen die Hände um den Hals legte. Ohne es zu merken, spannte Daisuke sich an und hielt den anderen noch fester. Dann kamen die Schreie. Sie waren gedämpft, aber so voller Schmerz und Panik, dass sich dem Rotschopf das Herz abschnürte. Er schloss die Augen, doch die Schreie brannten sich in sein Gedächtnis. Endlich war alles vorbei und der Bildschirm wurde schwarz. Totenstille lag im Gerichtssaal. Zwar hatte die Kassette auch deutlich gezeigt, dass Hiwatari der Mörder seines Onkels war, doch das war momentan zweitrangig. Nur mühsam fand der Richter seine Stimme wieder. „Sie hatten Recht. Das gibt dem Fall wirklich eine völlig neue Wendung.“ Behutsam löste sich Daisuke von dem Blauhaarigen, der immer noch zitterte. „Ich muss mich nach hinten setzen. Bleib ganz ruhig. Ich bin bei dir.“ Inzwischen hatte der Richter sich wieder gefangen und las aufmerksam das Dokument durch. „Auch dieses Schriftstück kommt zur Verlesung. Sind beide Seiten damit einverstanden?“ Ein simultanes Nicken antwortete. „Es scheint sich um ein ärztliches Untersuchungsergebnis zu handeln. Ich lese vor: Bei Junji Hiwatari, 29, wurde eine krankhafte seelische Störung festgestellt. Die unnatürliche Liebe zu seinem Bruder, die schon fast an Besessenheit grenzt, ist ein ernstzunehmender Faktor, der wohl nie mehr verschwinden wird. In Absprache mit einem Psychologen wird Herrn Hiwatari empfohlen, mindestens dreimal die Woche an Kursen teilzunehmen und regelmäßig Medikamente einzunehmen. Der Umgang mit anderen Personen sollte soweit wie möglich unterbunden werden. Bis zu einer deutlich erkennbaren Besserung ist es ihm untersagt, sich seinem Bruder zu nähern.“ Verwundert fielen die Augen des Richters auf Hiwatari. „Wussten Sie von der Krankheit Ihres Onkels?“ „Nein. Ich wusste nur, dass er meinen Vater immer sehr verehrt hat. Dass es so schlimm ist, war mir nicht bewusst.“ „Verzeihen Sie die Unterbrechung, aber wieso wurde einem psychisch Kranken erlaubt, den Sohn seines Bruders in seine Obhut zu nehmen?“ warf Emiko ein. „Das werden wir noch mal prüfen müssen. Es sieht so aus, als hätte das Opfer seine Krankheit vorsätzlich verschwiegen. Nun gut, für heute habe ich genug. Herr Verteidiger, kümmern Sie Sich darum, dass wir den Arzt ausfindig machen, der das Untersuchungsergebnis verfasst hat. Herr Staatsanwalt, Sie benachrichtigen bitte die Leitung der Jugendbehörde. Was den Angeklagten angeht: Ich erwarte Sie morgen wieder hier.“ Der Blauhaarige nickte nur und stand auf. Sofort lief Daisuke zu ihm. „Alles in Ordnung?“ „Ich schaffe das schon. Du solltest wirklich damit aufhören, immer zuerst an andere zu denken.“ Kurz lächelte er schwach und sofort beschleunigte sich der Herzschlag des Rotschopfs. „Vielen Dank, dass du mir zur Seite gestanden hast. Ich bin sehr gespannt, was der morgige Tag bringt.“ Damit wurde er aus dem Gerichtssaal geführt. „Komm, Dai-chan. Im Moment können wir nichts für ihn tun.“ ermahnte ihn Emiko sanft und brachte ihn nach Hause. „Kannst du noch etwas bleiben? Ich will gerade nicht allein sein.“ Zusammen ließen sie sich auf der Couch nieder und Emiko schlang ihre Arme um ihn. Sie sagte nichts, hielt ihn nur fest, als würde sie wissen, dass er momentan nicht reden wollte. In ihren Armen wurde er langsam ruhiger, bis er sich von seiner Mutter löste. „Denkst du, sie sperren ihn ein?“ „Das weiß ich nicht. Alles hängt jetzt von dem Urteil ab und bis das kommt, kann es noch etwas dauern.“ „Ich hoffe, wir konnten ihm helfen.“ „Auf jeden Fall. Auch wenn es schwer für Hiwatari war, ist es doch besser, dass die Wahrheit jetzt raus ist.“ „Ich glaube, du hattest Recht.“ meinte Daisuke plötzlich. „Recht? Was meinst du?“ „Ich… ich liebe ihn wirklich.“ „Ach, du Schussel. Das war mir schon lange klar. Und, wirst du es ihm sagen?“ „Das kann ich nicht. Er musste wegen seinem Onkel so viel durchmachen, dass er garantiert niemanden mehr in seine Nähe lassen wird.“ „Du könntest es wenigstens versuchen.“ Müdigkeit stieg in dem Rotschopf auf und er dämmerte weg. „Vielleicht…“ gähnte er und fiel in tiefen Schlaf. Als er wieder wach wurde, fand er sich selbst in eine Decke eingewickelt und hörte, wie seine Mutter in der Küche mit Geschirr klapperte. „Was machst du denn für einen Lärm?“ rief er, noch etwas benebelt. „Willst du ohne Frühstück los?“ gab seine Mutter ohne das geringste Bedauern zurück. „Noch ein Grund, warum ich meine eigene Wohnung habe.“ knurrte er leise und stand auf. Während der Fahrt stieg seine Aufregung merklich an. Emiko schien das aufzufallen, doch sie hielt sich zurück, bis sie beim Gerichtsgebäude angekommen waren. „Dai-chan, noch ist das Urteil nicht gefallen. Also versuch, dich zu entspannen.“ Sichtlich bemüht, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen, betrat er den Raum, in dem die weitere Verhandlung stattfinden würde und wartete ab. Nur kurze Zeit später schwangen die Türen auf und Hiwatari wurde zur Anklagebank gebracht. Er schien vollkommen ruhig, doch seine zitternden Hände verrieten ihn. Hoffentlich stand er das durch. „Erheben Sie Sich für den Richter.“ Mit undurchdringlicher Miene kam der Mann in den Raum. „Setzen Sie Sich. Der Prozess gegen Satoshi Hiwatari wegen Mordes wird heute fortgesetzt. Also dann, fangen wir an…“ Kapitel 10: Schatten -------------------- Geduldig ließ Satoshi die Verlesung des Protokolls über sich ergehen. „Haben Sie noch irgendetwas hinzuzufügen?“ „Nein.“ „Dann würde ich gerne zunächst Doktor Yasamaki in den Zeugenstand rufen. Sie können Sich zu Ihrem Verteidiger setzen.“ Der Arzt war ein hagerer, freundlicher Mann in den Fünfzigern, der eine runde, etwas zu kleine Brille trug. „Doktor Yasamaki, erkennen Sie dieses Schriftstück wieder?“ wollte der Richter wissen und dieser trat an das Richterpult heran. „Ja, das habe ich geschrieben.“ „Danke. Sie dürfen Sich wieder setzen.“ Kurze Stille folgte, bis es weiterging. „Beschreiben Sie das Verhalten des Opfers näher.“ „Nun, das erste Mal wurde seine Störung deutlich, als ich ihm auf einer Feier begegnete. Er ist auf einen Gast losgegangen, der einen Scherz über seinen Bruder gemacht hat. Glücklicherweise konnte die Situation unter Kontrolle gebracht werden. Daraufhin habe ich ihn angesprochen und gebeten, sich bei mir zu melden.“ „Hat er das getan?“ „Ja. Er war sehr entgegenkommend und bereit, eine Therapie anzufangen. Offenbar hegte er schon länger viel zu große Gefühle für seinen Bruder. Nach den ersten Sitzungen hat er dann Medikamente bekommen. Eigentlich nichts Ungewöhnliches.“ „Sie schreiben hier, dass er sich seinem Bruder vorerst nicht mehr nähern durfte.“ „Ja, zu seiner eigenen Sicherheit. Er war regelrecht fanatisch und hat sogar angefangen, seinem Bruder in allem nachzueifern. Daher hielten wir es für besser, ihm die Möglichkeit zu geben, wieder ein selbstständiges Leben zu führen.“ „Wussten Sie, dass das Opfer vor drei Jahren die Vormundschaft für den Angeklagten übernommen hat?“ „Nein, das ist mir neu. In seiner Verfassung hätte ich ihm auch dringend davon abgeraten. Nach dem Tod seines Bruders war er psychisch extrem labil.“ „Gut, wir sind fast durch. Was mich sehr interessiert: Hat er die Therapie nach dem Ableben seines Bruders weiter fortgesetzt?“ „Nein. Er ist urplötzlich nicht mehr bei uns aufgetaucht. Ich habe oft versucht, ihn anzurufen, aber er schien seine Nummer geändert zu haben. Danach habe ich nichts mehr von ihm gehört.“ „Vielen Dank. Sie haben uns sehr geholfen. Dann rufe ich als nächstes Frau Kimicha in den Zeugenstand.“ Eine Frau in einem schlichten Kleid nahm vor dem Richter Platz. „Frau Kimicha, Sie sind die Leiterin der Jugendbehörde, ist das richtig?“ „Ja, seit fast sechs Jahren.“ „Als der Angeklagte nach dem Tod seines Vaters in Ihre Einrichtung kam, was hat er da für einen Eindruck auf Sie gemacht?“ „Nun, er war verschlossen und etwas distanziert. Es hat gedauert, bis er auf die anderen Jugendlichen zugegangen ist.“ „Wie lange war er in Ihrer Einrichtung?“ „Etwa elf Monate. Dann hat sein Onkel die Vormundschaft beantragt, was er zu begrüßen schien.“ „Entspricht das der Wahrheit?“ fragte der Richter plötzlich unvermittelt. „Ja.“ antwortete Satoshi ruhig. „Als ich hörte, dass ich bei meinem Onkel leben konnte, war ich sofort dafür. Da ich nichts von seinen Problemen wusste, bin ich davon ausgegangen, in ihm jemanden gefunden zu haben, zu dem ich aufschauen konnte.“ „Also hat er sich zunächst nichts anmerken lassen.“ Ein verbittertes Lächeln spielte um die Lippen des Blauhaarigen. „Nein, zuerst nicht. Das kam später, als er sicher sein konnte, dass man ihm sein kleines Theaterstück abgenommen hatte.“ „Ich verstehe. Frau Kamichi, haben Sie gewusst, dass das Opfer unter einer krankhaften seelischen Störung litt?“ „Was? Davon höre ich heute zum ersten Mal.“ „Wäre es nicht Ihre Aufgabe gewesen, genaue Erkundungen einzuholen, bevor Sie einer Adoption zustimmen?“ „Aber… er hat einen völlig gesunden Eindruck gemacht, war freundlich und zuvorkommend. Woher hätte ich das ahnen können?“ „Also haben Sie nicht weiter nachgefragt?“ „Nein. Wozu auch?“ „Wozu? Wozu? Durch Ihre Nachlässigkeit ist der Angeklagte jahrelang geschlagen und sogar vergewaltigt worden.“ Die Frau war inzwischen weiß wie eine Wand. „Wovon reden Sie da?“ „Das Opfer hatte eine krankhafte Bindung zu seinem Bruder. Als dieser starb, wurde der Angeklagte dafür verantwortlich gemacht.“ Kurz erhob sich der Doktor und der Richter wandte ihm seine Aufmerksamkeit zu. „Was Sie eben sagten, klingt so, als hätte sich die Krankheit verschlimmert.“ „Erklären Sie das genauer.“ „Nun, offenbar sind die Gefühle, die das spätere Opfer für seinen Bruder empfand, nach dessen Tod noch gewachsen, anstatt, wie normalerweise üblich, zu verschwinden. Dadurch ergaben sich sexuelle Fantasien, die das Opfer nicht mehr ausleben konnte, da das Objekt seiner Begierde tot war.“ „Soll das heißen, das Opfer wollte mit seinem eigenen Bruder schlafen?“ Einfach ausgedrückt, ja. Wahrscheinlich kam es zu den gewaltsamen Handlungen, weil der Angeklagte das Blut seines Vaters in sich trägt.“ „Was soll das denn jetzt bedeuten? Dass das Opfer in dem Angeklagten nicht ihn selbst, sondern dessen Vater gesehen hat?“ „Sie sollten als Doktor anfangen. Genau das habe ich gemeint.“ „Ich werde darüber nachdenken.“ seufzte der Richter müde und rieb sich die Schläfen. „Nun gut, das war es erstmal. In einer Woche wird das Urteil gesprochen. So lange bleibt der Angeklagte in Untersuchungshaft.“ Ein Hammerschlag und die Verhandlung war vorüber. Mit schmerzenden Gliedern stand der Blauhaarige auf. Eine ganze Woche noch, bevor er wusste, was ihn erwartete. Nun, sieben Tage konnte er auch aushalten. Als er Niwa bemerkte, seine Tränen sah, schüttelte er den Kopf. „Ist doch ganz gut gelaufen.“ wisperte er, als er an dem Jüngeren vorbeiging. „Satoshi…“ „Lass das. Du solltest nicht um jemanden wie mich weinen. Und das auch noch zum dritten Mal.“ Die tiefroten Augen des anderen veränderten sich. Erst waren sie traurig, dann fassungslos und schließlich wütend. Im nächsten Moment spürte er einen brennenden Schmerz in seiner linken Wange. „Ich weine, um wen ich will, du Riesenidiot. Begreif das endlich mal.“ „Niwa…“ Weiter kam er nicht, da ein Polizist ihn hastig von dem Rotschopf entfernte. In seiner Zelle dachte der Blauhaarige lange nach. „Vielleicht habe ich dich wirklich unterschätzt.“ murmelte er so leise, dass niemand außer ihm selbst es hören konnte. Niwa Daisuke. Ein Rätsel, schlimmer als jedes andere. Und trotzdem die einzige Person, die ihn so akzeptierte, wie er war. Bei diesem Gedanken kam ein Glücksgefühl in ihm auf, das er seit Jahren nicht mehr empfunden hatte. „Du verdammter Mistkerl. Warum nur empfinde ich so für dich? Wie kann ich dir jetzt noch unter die Augen treten? Was soll ich tun, wenn ich dich liebe und du es gar nicht weißt?“ Kurz hielt er inne. Ja, er hatte sich nicht geirrt. Er liebte den Rotschopf, der immer noch seiner ehemaligen Freundin nachtrauerte. Schöner Mist. Vielleicht sollte er es dem anderen sagen. Nein, das würde nichts bringen. Schlaf überkam ihn und ließ ihn ruhig und traumlos zurück. Kapitel 11: Urteil ------------------ In Tränen aufgelöst, kauerte Daisuke auf seinem Bett. Immer noch hallten die Worte des Älteren in seinem Kopf. `Du solltest nicht um jemanden wie mich weinen.´ „Wie kann ich dir nur begreiflich machen, wie es in mir aussieht? Warum fällt es dir nicht auf? Warum fragst du nicht nach?“ Zum ersten Mal seit Rikus Unfall hatte er wieder eine Person gefunden, die ihm wichtig war. Aber musste es ausgerechnet Hiwatari sein? Und dann auch noch zu so einem ungünstigen Zeitpunkt. Könnte doch nur jemand diese Gefühle ausschalten, ihn von diesem Durcheinander befreien. Das alles war viel zu weit gegangen. Wenn er genau darüber nachdachte, war es seine eigene Schuld. Hätte er den Blauhaarigen einfach gehen lassen, wäre ihm viel erspart geblieben. „Und dabei dachte ich, ich wäre ein Dieb gewesen. Begreifst du, was du getan hast? Du hast mein Herz gestohlen und weigerst dich, es mir zurückzugeben.“ Er kauerte sich noch mehr zusammen, gleichzeitig unendlich glücklich und todtraurig. „Bitte, gib es zurück. Ich kann es nicht ertragen, dich zu lieben, wenn du meine Gefühle überhaupt nicht bemerkst, dich immer vor mir zurückziehst.“ Natürlich kam keine Antwort. Nur das Geräusch des Straßenverkehrs, das durch die geöffneten Fenster drang. Etwas wackelig stand er auf und ging ins Wohnzimmer, wo er sich auf die Couch kuschelte. Noch sechs Tage, bis das Urteil gesprochen wurde. Vielleicht würde er Hiwatari nie wiedersehen. Allein der Gedanke daran war unerträglich. Vielleicht würde ihn der Fernseher etwas ablenken. Ohne auf die Bilder zu achten, die über den Schirm flimmerten, döste er ein und wurde erst wach, als seine Mutter ihn an der Schulter rüttelte. „Wie kommst du hier rein?“ grummelte er verschlafen. „Du hast mir einen Zweitschlüssel gegeben, hast du das etwa vergessen?“ „Ach, stimmt. Also, es gibt doch sicher einen Grund, warum du hier bist.“ Emiko lächelte breit und packte ihn am Handgelenk. „Es ist so ein schöner Tag, da wollte ich mal wieder etwas Zeit mit dir verbringen, Dai-chan.“ „Und was hast du vor?“ „Lass dich überraschen.“ Nicht gerade begeistert, machte er sich fertig und ließ zu, dass sie ihn aus der Wohnung scheuchte. Ihm war klar, was sie versuchte. Sie wollte ihn auf andere Gedanken bringen und dafür sorgen, dass er etwas frische Luft bekam. Würde zwar nicht viel bringen, aber das musste er ihr ja nicht sagen. Er war mit den Gedanken eh woanders. „Es hat dich wohl ganz schön erwischt.“ „Was?“ „Ach, bitte, du weißt, wovon ich spreche.“ Unweigerlich wurde Daisuke rot, was seine Mutter zum Kichern brachte. „Ich mache mir Sorgen um ihn. Was ist, wenn er im Gefängnis bleiben muss?“ „Du bist viel zu pessimistisch. Noch ist nichts entschieden.“ „Ja, schon gut.“ „Womit hatte er eigentlich die Ohrfeige verdient, die du ihm beim letzten Mal verpasst hast?“ „Er hat etwas gesagt, was mich ziemlich mitgenommen hat.“ „Ja, das kann er gut. Er ist wirklich ein merkwürdiger Kerl, nicht?“ „Er ist nur einsam und verletzt. Wahrscheinlich denkt er, dass sich niemand für ihn interessiert.“ „Solange du ihm nicht sagst, was du für ihn empfindest, wird sich das wohl auch nicht ändern.“ „Nicht schon wieder. Ich sagte doch schon, dass er sich nie jemandem öffnen würde. Mir erst recht nicht.“ „Dich soll einer verstehen. Da hast du dich endlich dazu aufgerafft, dir deine Gefühle für Hiwatari einzugestehen und traust dich nicht, es ihm zu sagen, weil du nicht weißt, wie er reagieren wird.“ „Viele Möglichkeiten gibt es auch nicht. Entweder er lacht mich aus oder er weist mich ab.“ „Hast du auch die dritte Möglichkeit in Betracht gezogen?“ „Welche dritte Möglichkeit?“ „Dass er deine Gefühle versteht, sie sogar erwidert?“ Bei diesen Worten musste der Rotschopf lachen. „Na klar, erwidern. Ausgerechnet Satoshi. Das glaubst du doch wohl selber nicht.“ Es war ein wundervoller Gedanke, aber gleichzeitig so dermaßen absurd. „Eher friert die Hölle zu.“ Emiko antwortete nicht, rollte aber die Augen und seufzte. „Also wirst du es ihm nicht sagen und dich damit weiterhin kaputtmachen. Wirklich eine tolle Idee.“ „Wie nett von dir.“ erwiderte er etwas beleidigt. „Lass uns zurück. Es wird bald dunkel und ich habe noch etwas zu erledigen.“ Daisuke nickte und sie begleitete ihn nach Hause, wo sie sich verabschiedete. Die nächsten Tage verbrachte er damit, seine Gedanken von dem Blauhaarigen fernzuhalten, was ihm nicht so recht gelingen wollte. War ihm die Zeit erst viel zu langsam vorgekommen, schien sie nun zu rasen und eines Morgens wachte er in dem Wissen auf, dass sich heute alles entscheiden würde. Unruhig lief er durch die Gegend, bis es soweit war, sich anzuziehen und auf den Weg zu machen. Auch seine Mutter schien besorgt, als sie den Verhandlungsraum betraten. Als Hiwatari eintrat, erschrak der Rotschopf. Dunkle Ringe zeichneten sich unter den Augen des Älteren ab und er wirkte recht blass. „Satoshi.“ Kurz blieb der stehen. „Schön, dass du heute hier bist, Niwa. Es könnte das letzte Mal sein. Falls ich wirklich für immer weggesperrt werde, komm mich ab und an besuchen.“ „Ich verspreche es.“ Obwohl Hiwatari ihn nicht ansah, schien er zu lächeln, als er seinen Weg zur Anklagebank fortsetzte. Dann kam der Richter und es wurde mucksmäuschenstill. „Das Gericht ist zu einem Urteil gekommen.“ begann der Richter, Daisuke nahm die Hand seiner Mutter und hielt sie fest. „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte Satoshi Hiwatari wird wegen Totschlags zu zwei Jahren Haft verurteilt, dessen Vollzug zur Bewährung ausgesetzt wird. Des Weiteren wird dem Angeklagten auferlegt, einmal die Woche einen Psychologen aufzusuchen.“ Völlig verdattert setzte der Blauhaarige sich hin. „Eigentlich waren Sie des Mordes angeklagt, doch angesichts der Umstände waren wir gezwungen, den Fall neu aufzunehmen. Inzwischen ist klar, dass Sie die Tat im Affekt begangen haben. Außerdem haben Sie Sich bisher nichts zuschulden kommen lassen. Die Termine beim Psychologen beginnen ab Montag und sollen helfen, Ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten.“ Obwohl Daisuke das Urteil genau gehört hatte, dauerte es eine Weile, bis sein Verstand die Nachricht aufnahm. „Er wird nicht eingesperrt.“ wiederholte er wieder und wieder. „Ich habe doch gesagt, du musst abwarten.“ erwiderte seine Mutter und ihr Lächeln war unübersehbar. „In der Zeit der Bewährung dürfen Sie keine Straftat begehen. Ansonsten wird aus der Bewährungsstrafe eine Gefängnisstrafe. Aber ich denke, dass das nicht nötig werden wird. Ich wünsche Ihnen viel Glück. Die Sitzung ist geschlossen.“ Kapitel 12: Gefühlschaos ------------------------ Was war gerade passiert? Wurde er wirklich nicht in dieses trostlose Rattenloch gesperrt, das andere als Gefängnis bezeichneten? Ein Polizist kam auf ihn zu und nahm ihm die Handschellen ab. „Satoshi.“ Natsu kam auf ihn zu, er wirkte äußerst nervös. „Ich… ich wollte mich entschuldigen. Ich hatte ja keine Ahnung, wie Junji wirklich war.“ „Das hatten die wenigsten.“ gab er kühl zurück. Er war noch immer leicht wütend auf den Mann, der ihn an die Polizei verraten hatte. „Warum hast du keinem etwas gesagt?“ „Was hätte ich denn sagen sollen? Dass mein Onkel ein durchgeknallter Spinner ist, der seinen Bruder liebt? Natürlich, das hätte mir auch jeder geglaubt.“ Darauf schien der andere keine Antwort zu haben. „Nimmst du meine Entschuldigung wenigstens an?“ „Wenn es dir so wichtig ist. Ich wäre eh irgendwann gefasst worden.“ Kurz gaben sie sich die Hand, dann verließ Natsu den Raum. Richtig, die Verhandlung war ja vorbei. Irgendwie wusste Satoshi nicht, was er jetzt tun sollte. Konnte er wirklich einfach so aufstehen und gehen? Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, bemerkte er Niwa, der ihn strahlend ansah. Wieder stieg dieses Gefühl in ihm auf und er riss sich mühsam zusammen. „Nun, anscheinend werde ich doch nicht hierbleiben müssen.“ „Ich freue mich so für dich.“ „Danke.“ „Und… wo willst du jetzt hin?“ „Ich werde mir erstmal ein Hotelzimmer nehmen und dann versuchen, eine Wohnung zu finden.“ Das schien den anderen ziemlich zu schocken. „Ich habe deine Gastfreundschaft viel zu lange ausgenutzt. Die Kosten für Unterkunft und Verpflegung bekommst du zurück, sobald es geht. Ist das in Ordnung für dich?“ „Ja, sicher...“ antwortete der Rotschopf geistesabwesend. „Auf Wiedersehen, Niwa.“ „Auf Wiedersehen, Sato… Hiwatari-kun.“ Ohne einen Blick zurück trat der Blauhaarige ins Freie. Sicher hatte seine Entscheidung wehgetan, aber mit der Zeit würde er sicher über den anderen hinwegkommen. Und wieder war sein Glück futsch. Dennoch… der Rotschopf würde seine Gefühle auf keinen Fall erwidern, das wusste er einfach. Wer würde sich auch mit einem verfluchten Hikari abgeben? Leise seufzend machte er sich daran, ein Hotel für die nächsten Tage zu finden. Als er das erledigt hatte, fiel er auf das Bett und genoss seine wiedererlangte Freiheit. „Es ist besser so, Niwa. Ich darf dir nicht mehr nahe sein. Es würde mich innerlich zerfressen, zu sehen, wie du auf ewig Riku nachtrauerst. Vielleicht finde ich irgendwann die Person, für die ich leben will. Auch wenn es mich glücklicher gemacht hätte, wenn du diese Person gewesen wärst.“ Erschöpft schloss er die Augen und dämmerte weg. Schneller als erwartet kam der Tag, an dem er das erste Mal zum Psychologen musste. Als er dort ankam, wurde er bereits erwartet. „Sie müssen Satoshi Hiwatari sein.“ begrüßte ihn ein Mann von etwa vierzig Jahren. „Ja. Sind Sie Herr Asaki?“ „Der bin ich. Bitte folgen Sie mir ins Besprechungszimmer.“ Der Raum war klein und ruhig. Ohne eine Miene zu verziehen, ließ der Blauhaarige sich auf den ihm angebotenen Stuhl fallen. „Ich würde heute gerne damit beginnen, Ihre Kindheit näher zu ergründen. Was ist Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?“ „Wenn Sie so fragen: Das müsste die Zeit gewesen sein, in der ich den Meisterdieb Dark gejagt habe.“ Im Verlauf der nächsten zwei Stunden unterhielten sie sich hauptsächlich über Satoshis erfolglose Versuche, den schwarzen Engel in die Finger zu kriegen. Erst ein schrilles Piepen unterbrach sie. „Die Sitzung ist vorbei. Wie fühlen Sie Sich?“ „Unverändert.“ Verständnisvoll blickte der Mann ihn an. „Das kann ich gut nachvollziehen. Aber es wäre höchst unklug, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Daher werden wir uns das nächste Mal etwas mehr mit Ihrem Vater beschäftigen. Also, bis nächste Woche.“ Wieder aus dem Gebäude, atmete der Blauhaarige tief durch. Das war ja wohl eine furchtbare Verschwendung seiner Zeit gewesen. Außerdem war er dadurch wieder an den Rotschopf erinnert worden. Mussten seine Gedanken nur noch um ihn kreisen? Das würde sich auf Dauer bestimmt als ziemlich hinderlich herausstellen. Schließlich war er gerade dabei, den anderen zu vergessen. „Hiwatari.“ drang eine Stimme zu ihm durch. Er blickte auf und erkannte die Person vor sich gleich wieder. „Was tun Sie denn hier?“ Niwas Mutter musterte ihn ernst. „Ich würde gerne kurz mit dir reden.“ Auch das noch. „Worum geht es?“ „Komm mit.“ Neugierig geworden, folgte er ihr zu ihrem Auto, stieg ein und sie begann zu fahren. „Wo fahren wir hin?“ „Ich werde dir jetzt eine Frage stellen und ich möchte, dass du sie ehrlich beantwortest.“ sagte sie, ohne auf seine Frage einzugehen. „Was siehst du in Daisuke?“ „Einen alten Klassenkameraden mit einem Hang zur Schusseligkeit?“ „Das meinte ich nicht. Gut, ich frage mal anders: Satoshi, liebst du ihn?“ „Wie…?“ „Ja oder Nein. Mehr Antwortmöglichkeiten gibt es nicht. Also?“ Etwas in ihrer Stimme brachte ihn dazu, ihr die Wahrheit zu sagen. „Ja.“ „Das dachte ich mir.“ Seltsamerweise fuhr Emiko direkt zur Wohnung des Jüngeren. Verwirrt blieb er sitzen und sah dabei zu, wie sie ausstieg und seine Tür öffnete. Bevor er etwas sagen konnte, packte sie ihn am Handgelenk und zog ihn mit sich. Ohne auf seine Proteste zu achten, drängte sie ihn ins Wohnzimmer, wo sich Niwa erstaunt von der Couch erhob. „Hiwatari-kun. Was tust du hier?“ „Frag das deine Mutter.“ „Mutter, warum hast du…“ „Weil ich mir dieses Theater nicht mehr ansehen konnte.“ Mit einigen Handgriffen schnappte sie sich ihren Sohn und brachte ihn dazu, sich direkt vor Satoshi hinzustellen. Dann nahm sie die Hand des Blauhaarigen und hob sie etwas. „Satoshi, Daisuke liebt dich.“ Sofort wurde Niwa knallrot, bevor sie zu ihm ging und auch seine Hand ergriff, sodass sich die Finger der beiden berührten. „Daisuke, Satoshi liebt dich ebenfalls.“ „Aber… ich dachte…ist das wirklich wahr?“ „Ja, schon, aber… du liebst doch Riku, oder nicht?“ „Das habe ich. Aber dann bist du mir wieder über den Weg gelaufen. Mit der Zeit habe ich dann gemerkt, was ich für dich empfinde.“ Verlegen sah er zu Boden. „Ich habe gedacht, dass du meine Gefühle niemals erwidern würdest. Besonders nicht nach allem, was dir passiert ist.“ „Ich hätte es auch nie für möglich gehalten.“ Vorsichtig verschränkten sich ihre Finger und Niwa lächelte schüchtern. „Gut, das wäre geklärt. Und jetzt bitte, küsst euch endlich.“ „Was?“ „Was?“ „Muss ich euch dabei etwa auch helfen?“ Vorsichtig kam Satoshi dem anderen näher, sah lange in diese tiefroten Augen. Ohne die Hand des anderen loszulassen, griff er mit der freien Hand in den Nacken des Rotschopfs und beugte sich vor. Endlich waren die letzten Millimeter überwunden und ihre Lippen trafen sich, verschmolzen miteinander. Tausend Gefühle auf einmal überfluteten den Älteren, behutsam strich er mit der Zunge über das begehrte Gegenstück, bis Niwa ihm Einlass gewährte und sie völlig in ihrer eigenen kleinen Welt versanken. Kapitel 13: Zukunft ------------------- Vier Monate waren seit jenem Tag vergangen. Auf Daisukes Drängen hin war Hiwatari wieder bei ihm eingezogen. Auch wenn er die meiste Zeit mit dem Jüngeren verbrachte, schien er seine Vergangenheit nicht einfach so abschütteln zu können. Nur sehr langsam öffnete er sich und zeigte seine Gefühle. Daisuke half ihm, wo immer er konnte. Beiden war der Anfang ihrer Beziehung schwergefallen. Mit der Zeit war ihr Umgang immer ungezwungener geworden. Für diesen Abend hatte sich Daisuke etwas Besonderes ausgedacht. Ohne das Wissen seines Freundes hatte er einen Tisch im teuersten Restaurant der Stadt reserviert. Satoshis Frage, warum er so aufgeregt war, hatte er nur mit einem flüchtigen Kuss beantwortet. Erst als es langsam Zeit wurde, sich fertigzumachen, rief er den Älteren zu sich. „Ich habe eine Überraschung für dich. Geh dich umziehen. Die Sachen liegen auf meinem Bett.“ Als der Blauhaarige endlich wieder ins Wohnzimmer kam, war er kaum wiederzuerkennen. „Der Anzug steht dir richtig gut.“ „Danke. Aber wozu musste ich mich so herausputzen?“ „Wenn ich dir das sage, ist es doch keine Überraschung mehr.“ erwiderte der Rotschopf und lächelte, als er den zweifelnden Blick bemerkte, mit dem Satoshi ihn ansah. Vor dem Haus wartete Emiko auf die beiden. „Da seid ihr ja. Beeilt euch, sonst kommt ihr noch zu spät.“ Schweigend fuhren sie durch die Stadt, bis sie ihr Ziel erreichten. „Was wollen wir hier?“ „Was tut man denn normalerweise in Restaurants?“ Ein leichter Rotschimmer erschien auf Satoshis Wangen. „Viel Spaß euch beiden. Dai-chan, ruf einfach an, wenn ich euch wieder abholen soll.“ Der Blauhaarige kicherte leise, was diesmal Daisuke rot werden ließ. „Dai-chan? Das ist ja niedlich.“ spottete er, während sie zu ihrem Tisch gebracht wurden. „Ein Spitzname, den ich meiner Mutter einfach nicht abgewöhnen kann.“ Das Essen verlief sehr gut, obwohl die beiden den neugierigen Blicken der anderen Gäste ausgesetzt waren. Als sie das Restaurant endlich wieder verließen, war es bereits später Abend. Emiko wartete bereits auf sie. „Ihr habt euch Zeit gelassen.“ „Natürlich haben wir das.“ erwiderte Daisuke leicht beleidigt. „War ja auch teuer genug.“ „Kommt, ich bringe euch nach Hause. Es ist schon spät.“ Während sie zurückfuhren, unterhielt sich Daisuke mit seiner Mutter. Satoshi beteiligte sich nicht an dem Gespräch, sondern blickte gedankenversunken aus dem Fenster. Nachdem Emiko sich von ihnen verabschiedet hatte, betraten sie die Wohnung und der Rotschopf ließ sich erschöpft auf die Couch fallen. „Hat dir der Abend gefallen?“ Satoshi lächelte leicht und löste damit einen Schmetterlingstanz in Daisukes Innerem aus. „Ja, sehr. Vielen Dank.“ „Das freut mich. Also dann, gute Nacht.“ Damit stand er auf und wollte gehen. Doch bevor er wusste, was geschah, wurde er durch überraschend starke Arme zurückgehalten. „Satoshi…“ „Du bist mir wirklich sehr wichtig.“ „Mir geht es genauso.“ Vorsichtig löste sich der Rotschopf aus der Umarmung und strich dem anderen über die Wange. „Ich liebe dich.“ „Ich liebe dich auch.“ Erneut fanden sich ihre Lippen, endlos schien der Kuss anzudauern. Als sie sich endlich voneinander lösten, atmeten sie schwer. „Ich sollte lieber gehen.“ nuschelte Daisuke undeutlich. „Bitte, geh nicht.“ „Aber…“ Weiter kam der Rotschopf nicht, da Satoshi ihm in die Arme fiel. „Zeige es mir.“ hauchte er dem anderen ins Ohr. „Zeige mir, wie es ist, jemandem vertrauen zu können. Ich habe meine Gefühle so lange verborgen. Durch dich bin ich zu einem anderen Menschen geworden. Ich will mit dir zusammenbleiben. Bitte, lauf nicht vor mir davon. Du musst dir nicht ständig Sorgen um mich machen.“ Angespannt blickte Daisuke seinem Freund in die Augen. „Bist du sicher?“ Der Blauhaarige antwortete nicht, sondern küsste ihn und strich ihm über den Rücken. Etwas überrumpelt erwiderte Daisuke den Kuss, sein Herz schlug wie wild. Hastig zog er sich etwas zurück. „Es tut mir leid, ich kann das nicht.“ „Was?“ Verlegen starrte der Rotschopf auf seine Füße. „Ich meine... wir sollten dafür bereit sein, wenn wir… wenn es passiert. Und ich denke, noch ist es zu früh.“ Bevor Satoshi antworten konnte, hastete er aus dem Wohnzimmer, lief durch den Flur in sein Schlafzimmer und ließ sich auf sein Bett fallen. Er war so vertieft in seine Gedanken, dass er zuerst nicht bemerkte, wie sich jemand zu ihm setzte. Erst, als Satoshi ihn an der Wange berührte, schreckte er auf. „Du hast mich erschreckt.“ Die eisblauen Augen des Älteren sahen auf ihn hinab, unergründlich wie immer. Dann packte er Daisuke an den Handgelenken und drückte ihn in die Kissen. „Was tust du denn da?“ „Du bist schon wieder vor mir weggelaufen. Kannst du mich nicht verstehen, oder willst du es nicht? Ich bin nicht aus Glas, Niwa. Warum lernst du das nicht?“ „Ich wollte nur…“ „Ich weiß, dass du mich schützen willst.“ unterbrach Satoshi ihn und fuhr mit der Zunge seinen Hals entlang. Kurz erzitterte Daisukes Körper und er unterdrückte ein Keuchen. „Aber ich brauche keinen Schutz.“ Geschickt öffnete der Blauhaarige das Oberteil des Jüngeren und fuhr mit den Fingern über dessen Brust. Daisuke war davon so überrumpelt, dass er nicht einmal bemerkte, dass Satoshi ihn nicht mehr festhielt. Er brauchte seine ganze Kraft, um nicht in diesen Berührungen zu versinken. Natürlich fiel das dem anderen auf, denn er lächelte und beugte sich vor. Als der Rotschopf spürte, wie an seiner Brustwarze gesaugt wurde, schlug er sich schnell die Hände vor den Mund und kniff die Augen zusammen. „Gefällt es dir?“ „Sa…to…shi…“ Zufrieden musterte der sein Werk. Auch wenn der Jüngere versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, seine Augen hatten ihn verraten. Wieder wurde an seiner Brustwarze gesaugt und er biss sich auf die Lippen. Kurz hielt Satoshi inne und Daisuke traute sich, die Augen wieder aufzumachen. Sofort wurde er rot, als er ihm klar wurde, dass der andere kein Oberteil mehr trug. Deutlich konnte er die leichten Muskeln sehen, die sich unter der blassen Haut Satoshis abzeichneten. Er wollte diese Haut berühren, doch noch immer sträubte sich etwas in ihm. Zu groß war seine Angst, dass dem Blauhaarigen seine Vergangenheit wieder einfiel. Vorsichtig beugte sich Satoshi vor und knabberte sanft am Ohrläppchen des Jüngeren. Diesmal konnte der ein Stöhnen nicht unterdrücken. Als er die nackte Haut an seiner Brust spürte, zitterte er wieder. Langsam gingen die Hände des Älteren tiefer, was Daisuke erneut ein Stöhnen entlockte. Inzwischen hatte er seine Zweifel völlig vergessen und streichelte Satoshis Oberkörper. Diese weiche Haut zu berühren, ließ sein Verlangen noch ansteigen. Ohne Widerstand ließ er sich komplett ausziehen, während sich sein Verstand komplett ausschaltete. Heftig atmend lag er da und sah mit verhangenen Augen zu, wie sich der Blauhaarige seiner restlichen Kleidung entledigte. Ein Schrei kam über seine Lippen, als Satoshi sich seiner Köpermitte zuwandte und mit seiner Zunge an seinem Glied entlangfuhr. „Es scheint dir ja wirklich zu gefallen.“ drang die Stimme des Älteren an seine Ohren. Daisuke setzte sich auf und küsste den anderen so heftig, dass dieser nach hinten fiel. „Satoshi…“ Er erstarrte, als er bemerkte, wie der andere ihn ansah. „Ich gehöre nur dir.“ Mit geweiteten Augen erwiderte der Rotschopf den Blick. Nur vier Worte, doch sie hatten ihn sprachlos gemacht. Zögernd, fast widerstrebend näherte er sich Satoshi und küsste ihn auf die Brust. Entspannt schloss der die Augen und seufzte auf. Behutsam ging Daisuke daran, mehr von dieser weichen Haut zu erkunden. Als er mit den Lippen den Penis des Blauhaarigen umschloss, stöhnte dieser erregt. Kurz verharrte Daisuke, in der Angst, etwas falsch gemacht zu haben. „Hör…nicht…auf…“ Erleichtert fuhr der Rotschopf mit seiner Tätigkeit fort und begann zu saugen. Mit einem unterdrückten Schrei krallten Satoshis Finger sich in seine Haare. Bereits kurz darauf hatte Daisuke einen guten Rhythmus gefunden. Allmählich erhöhte er das Tempo und nun bemühte sich der andere nicht mehr, seine Stimme zurückzuhalten. Immer heftiger bebte der Körper unter Daisuke, lange schien er nicht mehr durchzuhalten. Auch der Rotschopf hielt sich nun nicht mehr zurück, sondern begann damit, seinen Geliebten mit den Fingern zu weiten. Wie auf Kommando verkrampfte sich Satoshi und Daisuke wartete geduldig ab, bis er sich wieder entspannte. Erst dann nahm er einen weiteren Finger dazu. Ein lustvoller Schrei antwortete ihm, worüber er kurz schmunzeln musste. Solche Laute hätte er von dem anderen nicht erwartet. In aller Ruhe machte er weiter, reizte Satoshi mit Mund und Fingern, bis dieser den Kopf in den Nacken warf und zum Höhepunkt kam. Ohne zu zögern, schluckte er Satoshis Erbe hinunter und verpasste ihm einen glühenden Zungenkuss. Als er den Kuss aus Luftmangel wieder lösen musste, öffneten sich die vor Lust tiefblauen Augen des Älteren und er zog Daisuke an sich. „Das ist genug…ich will dich richtig spüren…“ Bei diesen Worten überfiel den Rotschopf kurz Nervosität, trotzdem gehorchte er und ersetzte die Finger durch sein Glied. Mit einem Stoß war er in den anderen eingedrungen, der leicht schmerzvoll aufkeuchte und sich an seinen Schultern festkrallte. Eine Weile wartete Daisuke ab, bis Satoshi leicht nickte. Langsam begann er, sich zu bewegen, spürte, wie er immer tiefer in den Blauhaarigen eindrang. Plötzlich schrie dieser lustvoll auf und öffnete die Augen wieder. „Was ist los? Habe ich dir wehgetan?“ „Nein…mach es nochmal…“ stöhnte Satoshi abgehackt. Daisuke tat, worum er gebeten wurde und wurde mit einem weiteren Schrei belohnt. Das erregte ihn unheimlich und er wurde schneller. Immer öfter schrie der Blauhaarige auf und trieb damit auch Daisuke an den Abgrund. Er wusste, dass er kurz vor dem Orgasmus stand, dennoch hielt er sich noch zurück. So schnell wollte er dieses Gefühl nicht verlieren. Sanft streichelte er Satoshis Wange, der unter dieser Berührung erschauerte. „Daisuke…Ich liebe dich…“ Endlich hatte auch er Daisuke beim Vornamen genannt. Einige Male stieß dieser noch zu, bis er es nicht mehr aushielt und sich tief in seinem Liebsten ergoss. „Satoshi…“ Ohne sich voneinander zu lösen, umarmten sich die beiden und versuchten, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen. Erst nach einer ganzen Zeit zog Daisuke sich zurück, rollte sich auf die Seite und verschränkte seine Finger mit denen des anderen. „Ich bleibe für immer bei dir. Und ich werde dich immer beschützen, egal, was auch passiert.“ „Du bist unverbesserlich.“ erwiderte Satoshi kopfschüttelnd. Bevor Daisuke antworten konnte, küsste der Blauhaarige ihn auf die Wange. „Dann beschütze mich…für alle Zeit…“ „Für alle Zeit.“ wiederholte der Rotschopf leise und kuschelte sich an den warmen Körper neben sich. Müdigkeit stieg in ihm auf und er schloss die Augen. „Ja, für alle Zeit..“ Satoshi lächelte kurz und beobachtete, wie Daisuke in tiefen Schlaf fiel. „Auch ich werde dich beschützen…damit wir unsere Zukunft gemeinsam gestalten können.“ Wieder beugte er sich vor und schloss seine Lippen über die des Jüngeren. „Ich liebe dich…“ Auch er schlief ein, neben der Person, für die er leben wollte und die glücklich war, dass er lebte. So, wie er es sich immer gewünscht hatte… Ende Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)