Unser Trauerspiel von Skeru_Seven ================================================================================ 1. Teil ------- Noch fünf Minuten bis zur nächsten Zigarette. Unruhig fingerte ich an meiner Hosentasche herum, weil ich es kaum noch erwarten konnte. Warum zum Geier hatten wir uns nicht auf Pausen nach jeder halben Stunde geeinigt? „Marian, reiß dich zusammen“, zischte mir Kleo scharf zu, die meinen exorbitanten Konsum noch nie gut gehießen hatte, während sie der Horde von einem Dutzend Unterstufenschülerinnen zulächelte. Die wenigen, die nicht gespannt auf ihr nagelneues Textheft in ihren Händen starrten, als sei es mit Gold oder Diamanten überzogen, erwiderten schüchtern die höfliche Geste und wartete, was jetzt kam. Nämlich mein Part; ich als Leiter der Theatergruppe musste jetzt noch irgendetwas erzählen, um die letzten Minuten zu füllen. Leider war es mir von der stellvertretenden Schulleitung unter Androhung bedenklicher Konsequenzen verboten worden, zu früh die Kleinen nach Hause zu schicken. Versicherungsschutz und solcher Krempel. Kleo hatte sich letztes Jahr generell darüber aufgeregt, ich es dagegen mit einem Schulterzucken akzeptiert. Was halfen mir Proteste und Gejammer? Entweder nahm mich danach keiner von denen mehr für voll oder noch schlimmer, man gab den Posten an jemand anderen ab. Immerhin gab es noch Kleo, die Coleiterin, und im Notfall fand sich immer ein unterbeschäftigter Lehrer, der sich noch eine zusätzliche Truppe aufs Auge drücken ließ. „Also, lest euch den Text bis nächste Woche einfach mal durch und sagt uns eure Meinung dazu. Ihr könnt ruhig ehrlich sein, wir benoten euch nicht und beißen nicht, wenns euch nicht gefällt. Ihr sollt Spaß an der Sache haben und nicht wir unseren Willen.“ Erleichtertes Gekicher bei den Mädchen; entweder waren sie froh, mal jemanden ohne „Ich drück euch dämliche Scheiße aufs Auge“-Getue vor sich zu haben oder sie lachten nicht sehr heimlich über mich, weil ich manchmal einfach wie ein Vollidiot klang; Text auswendig gelernt und vorgetragen. Seis drum, sie hatten genügend Zeit, um zu merken, dass sogar ich ab und zu lustig sein konnte; wenn ich wollte. „Über Verbesserungsvorschläge würden wir uns echt freuen“, fügte Kleo abschließend noch hinzu, was tatsächlich stimmte, da wir zwar die halben Sommerferien an diesem Manuskript gesessen hatten, um wenigstens schon mal eine Art Vorlage zu haben, aber wirklich zufrieden waren wir nicht. Außerdem musste man meistens noch irgendetwas ändern, weil mehr kamen als erwartet oder sich der Andrang gnadenlos in Grenzen hielt. „Bis nächste Woche!“ Eilig verließen alle die Aula, um noch rechtzeitig ihren Bus zu erreichen oder noch etwas vom restlichen Mittagessen daheim abzubekommen. Kleo seufzte und strecke sich ausgiebig, obwohl wir wirklich nicht viel getan hatten, außer die neuen Küken zu begrüßen, die bekannten Gesichter zu registrieren, ihnen kleine Spiele zum Kennenlernen aufzuhalsen und uns den Mund über unsere Pläne fusselig zu reden. „Ich bin fertig, ich geh heim. Und bevor die was sagst: Ich schwänze heute Sport. Ausnahmsweise. Nehm ich mal an.“ Wir wussten beide, dass sie das in den nächsten Wochen noch sehr oft behaupten würde. Doch bevor sie ihre Fluchtpläne in die Tat umsetzen und mit ihrem Fahrrad in Richtung Stadtmitte losfahren konnte, kam jemand auf uns zu, mit dessen Anwesenheit ich nicht gerechnet hatte. Meine Geschichtslehrerin, gleichzeitig auch heimliche Wächterin über das reibungslose Ablaufen jeglicher AG und größeren Nachhilferunde. Skeptisch hob ich eine Augenbraue und verschränkte gewohnheitsmäßig die Arme vor meinem Bauch. Ich konnte mich nicht erinnern, irgendetwas Regelwidriges verbrochen zu haben. Sogar geraucht hatte ich nicht auf dem Schulgelände, sondern auf dem kleinen Weg daneben. Und erst recht nicht die Kinder früher heimgeschickt. Was war also los? Neben mir trat Kleo von einem Fuß auf den anderen, als hätte sie Angst, dass ihr Plan, Sport geflissentlich zu ignorieren, aufgeflogen wäre. Was nicht sein konnte, die gute Frau Rosberg war nämlich etwas schwerhörig, was alle wussten und was sie sich trotzdem nie eingestehen wollte. „Marian, Kleophea.“ Kleos Gesicht wurde bei der Nennung ihres kompletten, zu Recht verhassten Namens noch eine Spur verkniffener. „Ich möchte ihnen mitteilen, dass sich jemand als zusätzlicher Coleiter für die Theatergruppe angemeldet hat.“ „Wir brauchen niemanden“, platzte Kleo prompt dazwischen und biss sich schnell auf die Zunge. Wenn es um unsere Theatergruppe ging, war sie eigen. Den letzten Neuzugang hatte sie offen wegen angeblicher Unfähigkeit hinausgeworfen. „Ich meine, zu zweit ist es völlig okay, noch jemand würde sich wahrscheinlich nur langweilen.“ „Das kann er ja selbst entscheiden, wenn er ein paar Mal bei ihnen mitgewirkt hat“, erwiderte Frau Rosberg etwas zu kühl und dirigierte uns zu sich in ihr winziges Büro, um auf denjenigen zu warten, der sich gerade noch die letzten Schulbücher für dieses Jahr organisierte. Mein Verlangen nach einer Kippe wuchs ins Unermessliche und ich musste mich zusammenreißen, um mich nicht mit einer fadenscheinigen Begründung davonzumachen. Ich und meine dämlichen Suchtprobleme. Außerdem war ich neugierig, wen man denn nun zu Gesicht bekam; in unsere Klasse ging niemand Neues und ansonsten bekam man von Neuzugängen selten viel mit. Es sei denn, sie benahmen sich extrem daneben. „Hat der sich verlaufen oder was?“, brummte Kleo missmutig, schaute genervt auf ihre Armbanduhr, trommelte mit ihren langen Fingernägeln auf die Tischplatte vor ihr und drehte sich wie ich abrupt zur Tür um, als diese nicht gerade dezent aufgerissen wurde. Ich betrachtete den jungen Mann im Türrahmen, wie er uns freundlich zunickte, und plötzlich traf mich die Erkenntnis wie ein Blitz, sodass ich das Gefühl bekam, kaum noch Luft zu bekommen. Sera. Ich brauchte jetzt ganz schnell ganz dringend diese verfluchte Kippe oder eine Tüte Chips; am besten gleich alles zusammen in rauen Mengen, sonst ging hier gar nichts mehr. „Wow“, flüsterte Kleo leise, sodass man es kaum hörte, und ich ahnte, dass die ganze Sache drohte, unverschämt bösartig zu werden. „Hey, ich bin Serafin und ich würde gerne an eurer Gruppe teilnehmen“, stellte sich der potentielle Neuzugang vor. „Hi, ich bin Kleophea. Aber nenn mich ruhig Kleo, das machen alle, die mich kennen, weil…“ Sie brach unvollendeter Dinge ab und aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie sie errötete, den Blick zu Boden senkte und sich selbst verfluchte, dass sie in manchen Momenten zu selbstsicher war und in anderen dafür viel zu wenig. „Hallo, ich bin Marian.“ Ich hatte die Worte schneller ausgesprochen und ihm die Hand hingereicht, als ich es selbst realisierte, was mein Glück war, ansonsten hätte ich wie ein Trottel vor ihm gestanden und ihn angegafft, als sei er geradewegs als Geist durch die Wand gekommen. Er schien kurz zu überlegen und man sah ihm an, wie die Erkenntnis über ihn hereinbrach. „Hey, lang nicht mehr gesehen, Mann, ich hätte dich fast nicht erkannt.“ Kleo, immer noch peinlich berührt von ihrem eigenen Unvermögen, raunte mir ein ungläubiges „Ihr kennt euch?“ zu, was ich nur mit einem kurzen Nicken bestätigte. Ich wollte hier raus, auf der Stelle. „Komm nächste Woche einfach in die Aula, dort proben wir immer“, grummelte ich ihm schnell entgegen, bevor ich meine Tasche vom Boden aufhob und mit einem unverständlichen Gruß aus dem Raum trat. Ich hörte, dass Kleo mir nur wenige Augenblicke später folgte, während sie in Richtung Fahrradstellplätze eilte, als müsste sie vor einer Bedrohung fliehen. „Die hatten es aber eilig“, hörte ich noch undeutlich Seras Stimme überrascht verkünden. Was ein Glück, dass wir uns beide vollkommen zum Vollpfosten gemacht hatten. Es dauerte schließlich fünf Zigaretten und drei Tüten Paprikachips, die ich mir an der nahe gelegenen Tanke trotz Wucherpreis gönnte, bis ich wieder auf meinem normalen Level war und nicht vor Nervosität meine Kippenpackung zerquetschte. Eigentlich peinlich, wie ich mich benahm, aber manchmal reagierte sogar ich über. Was für ein Glück, dass ich meine Methoden hatte, um wieder der ausgeglichene Marian zu werden und kein hysterisches Etwas, dass sich auf der Straße herumrollte und panisch schrie. Die Vorstellung war so bescheuert, dass ich kurz das Gesicht verzog und mich über mich selbst ärgerte, bevor ich den Heimweg endgültig antrat. Zwanzig Minuten laufen bis zu unserer Wohnung; die einzige sportliche Aktivität, die ich mir Tag für Tag auferlegte, damit ich nicht doch irgendwann aussah wie ein Hefekloß, was mir meine Mutter immer prophezeite. Diese kam gerade aus dem Keller, in den Händen einen Korb mit Wäsche, frisch aus dem Trockner, als ich die Haustür aufschob. Das Zeichen, dass ich für das verspätete Mittagessen zuständig war, wenn ich nicht nur eine labbrige Scheibe Toast mit Erdnussbutter bevorzugte. „Hey Mutti“, begrüßte ich sie, spürte ihren vorwurfsvollen Blick, weil sie mich schon wieder dabei beobachten durfte, wie ich mich mit Chips vollstopfte, und ging schnurstraks in mein Zimmer. Manchmal sagten ihre Augen mehr als jeder Vorwurf, den sie mir schon gegenüber geäußert hatte. Ich wusste, dass ich jeden Tag ein wenig mehr auf die hundert Kilo zusteuerte und inzwischen nur noch sehr knapp davon entfernt war, aber das und jedes halbe Jahr neue T-Shirts und Hosen war immer noch besser als ein Sohn, der andauernd die Schule schwänzte oder seinen Mitschülerin gerne die Fresse polierte. Dadurch, dass heute erst der zweite Schultag war und die Lehrer ein Einsehen mit uns hatten und sich die Hausaufgaben für später aufgehoben hatten, saß ich unbeschäftigt auf meinem Bett mit der schlichten, hellblauen Überdecke, schaute durch mein Fenster auf den Nachbarblock, wo sich die zwei bekannten Nachbarn auf ihrem Balkon zankten, und versuchte angestrengt an alles zu denken, nur nicht an den Typen, der so unverhofft wieder aufgetaucht war. Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis man sich wieder über den Weg lief, aber obwohl ich das theoretisch gewusst haben musste, hatte mich sein spontanes Auftauchen und das besonders in meiner Theatergruppe doch aus der Bahn geworfen. Themenwechsel, ganz schnell. Ich sollte mir Nudel kochen, damit ich heute mal etwas Richtiges zwischen die Zähne bekam. Kleo, die alte Vegetarierin, trat mir für meinen gedankenlosen Konsum von Kippen, Chips und Kaffee gegen die Müdigkeit in der Schule sowieso regelmäßig in den Hintern und wollte mir immer ihren kreativ gestalteten Salat andrehen, was ich immer höflich, aber bestimmt ablehnte. Ich war kein Hase. An Kleo war die Begegnung mit Sera auch nicht spurlos vorbeigezogen, entsprach einfach ihrem Typ Mann, auf den sie zumindest auf den ersten Blick abfuhr. Ob sie auch den Rest von ihm mögen würde, musste sie selbst rausfinden. Wenn Sera überhaupt noch so war wie vor einem Jahrzehnt… Ärgerlich rief ich mich selbst zur Ordnung. Keinen Gedanken an ihn verschwenden, zumindest nicht mehr als notwendig, sonst kam wieder das, wogegen ich keine Allzweckwaffe hatte. Und das hasste ich fürchterlich. Seufzend ließ ich noch einen Blick durch meinen grün gestrichenen Raum mit der wenigen, aber gutüberlegten Einrichtung schweifen, bevor ich mich aufraffte und meine Füße in den Wohnessbereich lenkte, wo meine Mutter schon eifrig Wäsche bügelte und zusammenlegte. * Ich sah ihn früher, als mir lieb war, denn Sera war nicht einfach vom Himmel gefallen, sondern ein Opfer seiner eigenen Faulheit. Einmal Sitzengeblieben und nun unfreiwilliges Mitglied meines Jahrgangs, so berichtete er es jedenfalls den Leuten vor der Religionsstunde, die es unbedingt von ihm wissen wollte und ein kleines Grüppchen um seinen neuen Platz gebildet hatte. Fast genau auf dem Platz vor mir saß er nun; was ein Glück, dass man ihn nicht in dieselbe Klasse wie mich gesteckt hatte, ansonsten hätte ich wohl ein paar radikale Schritte einleiten müssen, um meiner Gesundheit willen. Natürlich war er seit dem Kindergarten gewachsen; allerdings war er nun der kleinere von uns und nicht mehr ich. Ich wusste nicht, ob mich das in irgendeiner Weise beruhigen sollte. Auch an seiner Aussehen hatte sich einiges geändert, statt dem kurzen, ordentlich gebürsteten Weizenfeld auf seinem Kopf, dass genügend Erzieherinnen gelobt und bewundert hatten, waren seine Haare schulterlang, irgendwie zottelig und schlecht gefärbt, sodass man hier und da zwischen dem braunen Chaos noch helle, offensichtliche Strähnen hervorstechen sah. Dazu noch zwei Ringe in der Unterlippe und ein verwaschener Kapuzenpulli mit einem unleserlichen Schriftzug und fertig war ein pseudocooler Typ, der aus dem Grinsen kaum herauskam und mit den Leuten um sich herum plauderte, als kannte er sie schon länger als fünf Minuten. Das war nicht mehr der Sera, den ich gekannt hatte, aber trotzdem ihm so ähnlich, dass gleich ein ganzer Haufen Erinnerungen vor meinem inneren Auge herumtanzten, bis ich gereizt den Blick von ihm abwandte und mein Schulheft fokussierte, als ständen dort schon erhellende theologische Erkenntnisse wie die Lösung der Theodizeefrage oder warum Jesus irgendwie doch nicht an Weihnachten geboren war. Jetzt hatte ich noch einen Grund, Religion nicht gerne zu besuchen. Der spröde, von sich selbst so überzeugte Lehrer mit dem unfairen Bewertungssystem bekam Konkurrenz von einem Teil meiner Vergangenheit, auf den ich gerne verzichtet hätte. Nicht, weil sie in irgendeiner Weise besonders dramatisch gewesen war und aus mir ein traumatisiertes Wesen gemacht hätte, das nur noch wimmern in der Ecke saß, wenn keiner hinsah, von wegen. Eher deshalb, weil sie so schön gewesen war. * Seras Erscheinen rief bei den jungen Teilnehmerinnen wie erwartet unterschiedliche Reaktionen hervor; die große Mehrheit musterte ihn skeptisch, weil sie vermuteten, dass es die Sorte Junge war, vor der ihre Eltern sie immer gewarnt hatte, während der Rest genau vom Gegenteil überzeugt war. Wer sich traute, so abgeranzt und doch so selbstsicher vor sie zu treten, der musste einfach cool sein. Aber die, die von nun an am meisten außer Rand und Band sein würde, war wohl Kleo, die unverständlicherweise um Sera herumstrich, als gäbe es auf dem Planeten keinen anderen, auf den sie ihre Aufmerksamkeit richten konnte. Nur mit Mühe konnte ich ein Augenrollen unterdrücken, wünschte mir meine Zigarettenpause herbei, machte durch ein lautes Räuspern die entzweite Damenwelt auf mich aufmerksam und stellte ihnen erst mal den neuen Coleiter vor. Manchmal war es gut, dass ich mit meiner massigen Statur nicht als Ziel abwegiger Teenieschwärmereien endete, sondern als reine Autoritätsperson gesehen wurde; anscheinend sah ich auch noch älter aus, als ich war, wodurch auch keiner die Kumpelschiene von mir verlangte. Dafür war ich sowieso eher weniger gemacht. Kleo riss ihren Blick krampfhaft von Sera los, der ebenfalls darauf wartete, was nun geschah, überlegte kurz, was sie eigentlich hatte sagen wollen, und stellte dann die Frage, vor der man sich insgeheim immer fürchtete, egal wie oft man es durchlebte. „Was sagt ihr zu dem Stück?“ Verhaltenes Murmeln, vereinzeltes Schulterzucken und nachdenkliche Blicke. Das war Antwort genug, um uns klar zu machen, das wir wohl noch eines an Änderungen vor uns hatten, bis das Stück den Geschmack der Gruppe traf. Zwar konnten wir auch diktatorisch bestimmen, das alles so blieb, wie es war, aber aus Erfahrung wusste ich, dass wir dann in spätestens drei Wochen mit zwei Leuten und langen Gesichtern das Handtuch werfen konnten. „Kann ich es mal sehen?“, bat Sera Kleo, die das unbeliebte Manuskript dem nächstbesten Mädchen aus der Hand riss und es ihm fast entgegen schleuderte. Noch ein großer Punkt, Serafin ganz schnell wieder aus unserer Mitte zu entfernen; in dem Zustand war Kleo als Coleiterin wirklich nicht besonders zu gebrauchen. Sie machte sich unfreiwillig zum Affen. Eilig überflog er ein paar Passagen. „Etwas spießig.“ Irgendwo stimmte ihm jemand leise zu; gewohnheitsmäßig verschränkte ich die Arme und wartete auf weitere konstruktive Kritikpunkte. „Nicht schlecht, aber mich würde es nicht unbedingt reizen.“ Mir lag ein böses „Dann geh doch“ auf der Zunge, aber so primitiv ließ ich mich nicht vor meinen Schützlingen gehen und außerdem wusste ich ja, dass er es nicht als Beleidigung meinte. Er war nur manchmal ziemlich direkt; schon immer gewesen. „Ähm, gut.“ Kleo versuchte mit allen Mitteln, die peinliche Lage zu entschärfen. „Dann… werden wir es wohl am besten überarbeiten. Und ihr… ihr könnt Vorschläge machen. Schreibt es auf und gebt es bei uns ab. Bis nächste Woche habt ihr dann Zeit dafür. Oder besser übernächste, falls euch noch was Gutes einfällt.“ „Und jetzt machen wir erst mal Pause.“ Dieser unerwartete Katastrophenauftritt hatte mich ziemlich an meine Grenzen getrieben, auch wenn ich mit aller Macht versuchte, dass man mir das nicht ansah. „Kleo, kommst du kurz mit?“ „Klar, Marian.“ Ich sah ihr an, dass sie sich lieber wie die Kleinen um Serafin gestellt und ihn wie eine Schar neugieriger Klatschreporter ausgefragt hätte, aber sie merkte, dass ich ernsthaften Klärungsbedarf hatte, und folgte mir, obwohl sie es gar nicht mochte, wenn ich sie mit meinem Rauch einnebelte. Vor den Fahrradständern blieben wir stehen und ich suchte angestrengt nach dem Feuerzeug, das ich in meiner Hosentasche vermutete. „Ich will ihn nicht dabei haben.“ „Aber warum? Er hat doch nichts gemacht. Gut, er hat uns ziemlich dumm dastehen lassen, aber irgendwann wäre sowieso eine von den Kleinen zu uns gekommen, hätte sich über das Stück beschwert und wir hätten in letzter Minute noch mal alles umwerfen müssen. Er hat uns theoretisch viel Hektik erspart.“ „Das mein ich nicht.“ Ein Zug und die ganze Welt sah schon gleich viel entspannter aus. „Ich hab ein persönliches Problem mit ihm.“ „Was hat er dir denn getan? Das scheint aber nicht auf Gegenseitigkeit zu beruhen.“ „Ist doch nicht so wichtig.“ Das verstand sie sowieso nicht; sogar ich selbst empfand die ganze Sache als unnötig kompliziert und irrational. „Es kann halt nicht jeder so übermäßig hinter ihm her sein.“ Der Seitenhieb hatte gesessen, Kleos Augen verengten sich und funkelten mich giftig an. „Du kannst manchmal so ein Blödmann sein, Marian. Geh du doch, wenn es dir nicht passt.“ Demonstrativ erhob sie sich und stampfte etwas arg melodramatisch in Richtung Aula zurück. Halb belustigt, weil sie es doch gewesen war, der keinen Neuzugang geduldet hatte, halb ärgerlich über meine unnötige Stichelei, die sie nicht verdient hatte, schüttelte ich den Kopf, zündete noch eine Kippe an, lehnte mich an die Wand, starrte in den Himmel und wollte nicht daran denken, dass das früher eine von Seras und meinen Lieblingsbeschäftigungen gewesen war. Kleo war am Ende der Stunde immer noch sauer auf mich und rauschte schnell ab, um mir das Aufräumen zu überlassen; also half mir Serafin, die Stühle, die wir für die spontane Theatergruppenkrisensitzung gegen ungewünschte Manuskripte gestellt hatten, wieder an Ort und Stelle zu verstauen. An sich nichts Dramatisches, wenn er nicht die Gunst der Stunde, dass außer uns keiner mehr in der Aula war, genutzt hätte, um ein Gespräch mit mir zu führen. Leider kein belangloses über die Qualität meiner Gruppe. „Ist doch ein lustiger Zufall, dass ich ausgerechnet in der Gruppe bin, die du leitest“, begann er seinen Monolog. „Immerhin haben wir uns seit Jahren nicht gesehen, nicht mal irgendwie im Supermarkt oder im Kino oder so. Wie lang ist das jetzt her, zehn Jahre, oder? Elf? Naja, egal, ich hätte damit nicht gerechnet.“ Ich wusste nicht, ob er darauf überhaupt eine Antwort hören wollte oder ob ich ihn legal nicht beachten durfte, denn nach Konversation stand mir gerade nicht der Sinn. Vor allem nicht mit ihm. Er konnte noch genauso viel und ohne Inhalt reden wie damals. Er schien sich wirklich nur vom Aussehen verändert zu haben, im Gegensatz zu mir. Ich war von Natur kein unhöflicher Mensch, aber heute ging ich einfach nach draußen, ohne mich zu verabschieden; nur scheiterte der Versuch daran, dass Serafin gar nicht merkte, dass ich ohne ihn gehen wollte, er verstand meine mangelnde Reaktion eher als Aufforderung, mir zu folgen und mir zu erklären, was alles passiert war während unserer räumlichen Trennung. Nur Banalitäten, Grundschule, danach Realschule und der plötzliche Wunsch, doch noch Abitur zu machen, was ihn dann doch noch auf unsere Schule verschlagen hatte. Nur hatte dieser Wunsch im Vergleich zu seinen diversen Hobbies, Treffen mit Freunden und dem Nebenjob im Supermarkt den Kürzeren gezogen und war vernachlässigt worden; deshalb seine Ehrenrunde. Angeblich wollte er sich jetzt aber viel mehr anstrengen, damit er zusammen mit mir den Abschluss machen konnte. Ich lief einfach nur neben ihm, nickte von Zeit zu Zeit und verkniff mir, von meinen Erlebnissen zu erzählen. Das wollte er gar nicht hören. Auf halber Strecke zwischen Schule und meinem Zuhause hielt ich es nicht mehr aus und holte wieder meine Schachtel heraus, die schon erschreckend leer war, obwohl ich sie gestern Abend erst gekauft hatte. Da zerrte etwas deutlich an meinen Nerven. „Du rauchst?“ Er schaute erstaunt, als hätte man ihm etwas ganz unerhörtes vor die Nase gesetzt. Unbeteiligt zuckte ich mit den Schultern. „Du nicht?“ Das hätte ich ihm irgendwie zugetraut, so pseudocool, wie er sich gab und wie er früher immer alles hatte austesten wollen. Er schüttelte den Kopf und wirkte immer noch übertrieben überrascht. Ich nahm meine Annahme von vorhin zurück. Er hatte sich wohl auch verändert. Dumm von mir zu glauben, nur ich sei der einzige Mensch, der nicht mehr derselbe Kindergartenwinzling war, der Käfer im Sandkasten einbuddelte und ängstlich zusah, wie sein bester Freund todesmutig aufs Dach der Rutsche kletterte. Ziemlich dumm. Die Wiese hinter unserem Häuserblock verdiente diesen Namen kaum, immerhin bestand sie nur aus ein paar Metern stacheliger Stängel, die einem in die Haut piekten, weil sich niemand dafür zuständig fühlte, sie zu gießen oder neu zu bepflanzen. Das typische Schicksal eines quasiöffentlichen Bereichs, um den sich im Endeffekt keiner scherte. Obwohl es mindestens zwanzig Orte in naher Umgebung gab, die bequemer und hübscher waren als dieser Fleck menschlichen Unvermögens, angefangen bei meinem Bett bis hin zur allgemeinen Waschküche im Keller, lag ich dort. Neben mir die obligatorische Tüte Chips, in der sich nur noch die letzten Krümel dagegen sträubten, herausgeholt zu werden; auf der anderen Seite eine neue, aber doch schon leere Packung Klimmstängel. Und trotzdem ging es mir wider erwarten nicht besser; das eigentlich so harmlos verlaufene Gespräch zwischen meinem früher mal besten Freund und mir hatte mich so arg mitgenommen, ohne dass ich den genauen Grund nennen konnte, dass mir nur wieder eine einzige Lösung eingefallen war, doch die klappte nicht. Statt dass ich ruhig wurde und wieder auf meinem üblichen Stand von gleichgültiger Zufriedenheit mit der Welt und mir selbst ruhte, vermischten sich Bilder von früher und Fetzen von unserer furchtbar einseitigen Unterhaltung von vorhin in einem widerwärtigen Sumpf aus Melancholie, aus dem ich gar nicht mehr entfliehen konnte. Da half gar nichts, ich lag auf der Erde, nahm kaum den Himmel über mir wahr und versuchte mit zusammengebissenen Zähnen die Tränen zurückzuhalten, die auf der Stelle hinauslaufen wollten. Ich fühlte mich wie ein Depp, ein kindischer Idiot, der seiner Vergangenheit im wahrsten Sinn des Wortes hinterherweinte. Verflucht sei Serafin und sein Unwissen über das, was er mit mir anstellte. Warum funktionierte meine über Jahre hinweg perfektionierte Taktik gegen überschwappende Gefühlsregungen bei allem, nur nicht bei Melancholie? Das war doch eigentlich auch nur eine andere Variante von Traurigkeit und mit einer guten Portion Chips ging sie immer weg; das hatte doch schon seit der Scheidung meiner Eltern vorzüglich geklappt. Das erste Schluchzen bahnte sich seinen Weg über meine Lippen an die Außenwelt und ich hatte wirklich nicht mehr die Kraft, noch großartig dagegen anzukämpfen. Wenn der Damm gebrochen war, half eigentlich gar nichts mehr dagegen, egal wie beschämend ich es fand und wie verhasst es mir war. „Marian? Was machst du denn hier?“ Jemand trat in mein Blickfeld. Etwas verschwommen, aber ich konnte trotzdem erkennen, um wen es sich handelte. Lotta. „Alles okay bei dir?“ Ich verkniff mir eine Antwort, weil sie sich innerhalb weniger Sekunden selbst ein Bild davon machen konnte. Immerhin kannte sie mich inzwischen fast besser als meine eigene Mutter. Wie erwartet verstand sie, dass ich weit weg von „alles okay“ war, akzeptierte wortlos, dass ich nicht darüber reden wollte, sondern nahm mich einfach nur in den Arm und wartete darauf, dass ich ihr signalisierte, dass sie mich loslassen konnte. Heute war ich wirklich sehr dankbar, dass sie vorbei gekommen war. Als wir nach fast einer halben Stunde unseren Aufenthaltsort nach drinnen verlagerten, wo wir ungestörter sein konnten, stellte ich fest, dass meine Mutter ausgegangen sein musste, denn die Tür war abgeschlossen. Es kam nicht sehr oft vor, dass ich allein daheim war, aber eine absolute Seltenheit war es auch nicht. Heute war ich ganz froh darüber, dass sie mich nicht sah, wie ich mit verquollenen Augen und Lotta an meiner Seite in mein Zimmer schlurfte und mich auf mein Bett sinken ließ, als wollte ich nie wieder aufstehen. „Deine Ma, ist sie nicht da?“, fragte Lotta vorsichtig, während sie mir sachte durch die Haare strich; ich ließ sie wie immer gewähren. „Nein, anscheinend nicht. Hat wohl ein Date.“ Das musste man meiner Mutter lassen, sie hatte seit zehn Jahren keinen Mann mit nach Hause geschleppt, weil sie darauf bestand, sie erst mal besser kennen zu lernen, bevor sie sie mir vorstellte, damit ich mich nicht dauernd an neue Gesichter gewöhnen musste. Allerdings hatte wohl nie einer soweit ihr Vertrauen gewinnen können, dass ich mit ihm Bekanntschaft schließen konnte. Vielleicht hatten die Typen auch allesamt wenig Interesse daran, den fast erwachsenen Sohn ihrer Kurzzeitfreundin zu treffen. Dieser Umstand verschaffte mir keine fremden Kerle im Haus, die mich herumkommandieren konnten, und ab und an freie Stunden, die ich dann meistens nutzte, um Lotta einzuladen. Lotta, meine „irgendwie-Alibi-Freundin“. Böse Zungen hätten wohl von einer „Fick-Beziehung auf Freundschaftsbasis“ gesprochen, aber die ganze Sache war etwas komplexer als das. Wir hatten uns auf irgendeiner langweiligen Feier eines gemeinsamen Bekannten getroffen. Sie war der Meinung, nicht attraktiv genug für die Männerwelt zu sein und wich mir von da an nicht mehr von der Seite; für mich war sie meine Bestätigung für mich selbst, dass in mir doch noch ein Funken typische Heteromännergefühle glommen. Zu meinem eigenen Leidwesen war ich zu gefühlten neunzig Prozent schwul, was außer mir und ein paar ausgewählten Personen niemand wussten und womit ich, seit ich es kapiert hatte, ein großes Problem hatte. Lottas Streicheleinheiten hatten sich etwas vertieft, doch sie stockte mittendrin und schaute mich fragend an. „Ist es okay für dich oder bist du nicht in Stimmung…?“ Ich ahnte, worauf sie hinauswollte; für Ablenkung jeder Art, die mich auf andere Gedanken brachte, war ich nur zu dankbar, deswegen sah ich gar keinen Grund abzulehnen. Ihre Lippen drückten etwas verschämt gegen meine Wange, bis ich sie an mich zog und ihr zu verstehen gab, dass ich nicht wie ein rohes Ei behandelt werden wollte. Sie durfte so sein wie immer und ich nutzte die Chance und genoss den Moment so lange wie möglich. Ich ärgerte mich bis heute, dass ich mit ihr keine Beziehung führen würde; immerhin war sie mein Typ und ein nettes Mädchen, aber der Funke, den man noch benötigte, der fehlte leider. Außerdem war mir schleierhaft, ob sie sich so ernsthaft auf mich einlassen konnte. Ein paar Mal im Monat gemeinsamer Sex, zusammen für Hausarbeiten lernen und DVD Abende zu zweit waren einfach etwas anderes als eine feste Beziehung. Doch jetzt war nicht der Moment, sich über Dinge aufzuregen, die ich nicht ändern konnte, stattdessen legte ich meine volle Aufmerksamkeit auf Lotta und versuchte, alles andere zu vergessen. * Obwohl ich Religion gerne als das überflüssigste Fach meiner ganzen Schullaufbahn deklarierte und den Lehrer gerne persönlich gefeuert hätte, hatte ich es mir bisher verkniffen, einfach nicht hinzugehen. So was hob man sich am besten für ganz gravierende Situationen auf. Heute tat ich es dann doch. Statt mir also pseudowissenschaftliche Tiraden über Jesus, Martin Luther, Jonas Wal und wie sie alle hießen anzutun und währenddessen Serafins munter plaudernde Stimme im Ohr zu haben, hatte ich es mir auf der Bank vor dem provisorischen Kräutergarten im hintersten Winkel des Schulhofs gemütlich gemacht. Hier sah man mich hoffentlich nicht auf den ersten Blick, aber nach Hause zu gehen war sinnlos, bis ich da war, konnte ich gerade wieder für die nächste Stunde zurücklaufen. Das kam davon, wenn man konsequent ablehnte, von seinem Vater ein Fahrrad geschenkt zu bekommen. Er wusste genau, dass ich die Teile aus gutem Grund nicht mochte, nicht mehr. Kleo hätte es bestimmt lustig gefunden, wenn sie mitbekommen hätte, dass ich schon so wie sie anfing und Unterricht ausfallen ließ; Lotta dagegen wäre alles andere als erfreut gewesen, dass ich jetzt auch so anfing wie viele aus unserem Jahrgang und hätte mich gedrängt, mich vom Massenverhalten abzuwenden. Zum Glück wusste keine von beiden, was ich gerade tat, da sie einer anderen Konfession angehörten. Obwohl ich nicht im Unterricht saß, schienen auch hier die Minuten mit großer Mühe vorüberzuziehen, als hätte sie jemand festgeklebt. Das lag wohl an meiner unterschwelligen Nervosität, doch noch erwischt zu werden. Mit etwas Pech endete die ganze Geschichte darin, dass ich meine Leitung in der Theatergruppe verlor, weil man der Meinung war, dass ich unzuverlässig wurde. Darüber wollte ich gar nicht erst nachdenken. Ich zeigte es zwar nie offensichtlich, aber mir lag viel an der Gruppe, obwohl ich selbst eine Niete im Schauspielern war und früher nie auf die Idee gekommen wäre, mich bei so etwas anzuschließen. Manche Dinge konnte man einfach nicht voraussehen. * „Los, wir müssen uns beeilen, sonst kommen wir zu spät“, trieb mich Kleo unbarmherzig an; meine Uhr zeigte mir tatsächlich, dass wir schon fünf Minuten mit unserer Anwesenheit in der Gruppe im Verzug lagen, was allerdings nicht unsere alleinige Schuld war. Die Ursache nannte sich Vokabelüberprüfung in Englisch und fiel dadurch auf, dass es sich immer unglaublich in die Länge zog, weil unser Lehrer anscheinend einen perfiden Hang dazu entwickelt hatte, seine Schüler mit Fremdwörtern zu bombardieren, die wirklich noch nie jemand gehört hatte. Manchmal bezweifelte, dass selbst das Englischbuch sie kannte. „Ich komm ja.“ Pünktlichkeit hin oder her, um mich zum Rennen zu bringen, gehörte schon mehr. Nicht mal dem Zug rannte ich hinterher. Ich hätte bei meiner katastrophalen Kondition sowieso keine fünfzig Meter durchgehalten. Natürlich war Kleo viel flinker als ich und erreichte schon die große Treppe, während ich noch im Mittelteil des Flurs entlangging. „Hopp hopp.“ Und schon war sie die ersten Stufe hinuntergesaust und außerhalb meiner Sichtweite. Wenn sie sowieso als erste dort ankam, musste ich nicht in übertriebene Hektik verfallen, immerhin kam einer fast pünktlich an. Wenn ich jetzt überhastet drei Gänge zulegte, verfehlte ich am Ende noch den Absatz und krachte die halbe Treppe hinunter. Manche Sachen muss man nicht provozieren. Ich wurde sowieso kurzzeitig abgelenkt. Jemand kreuzte meinen Weg, blickte mich kurz an, grinste mich unübersehbar wissend an und hatte sich schon in den nächsten Klassensaal geflüchtet, während ich draußen mit mir kämpfte, mich auf meinen Weg zu konzentrieren und nicht genervt die Hände vors Gesicht zu schlagen. In letzter Zeit hatte ich einfach nur Pech mit der Bekanntschaft, die mir in der Schule über den Weg lief. Das war nämlich dummerweise nicht irgendjemand, den man so einfach ignorierte, sondern Denny, der einzige offen schwule Kerl an dieser ganzen Schule. Und einer von drei Leuten, die wussten, dass ich nicht der war, für den ich mich gerade ausgab. Bis heute bereute ich das eine Jahr meines Lebens, in dem ich wirklich geglaubt hatte, ich käme damit zurecht, auf Jungs abzufahren. In der Aula warteten schon alle auf mich, damit sie loslegen konnten; die Mädchen tuschelten und kicherten, wie es in ihrem Alter leider absolut üblich war, Sera lehnte an der Wand und nickte mir zur Begrüßung zu und Kleo hatte natürlich fast nur Augen für ihn und benahm sich peinlich. Und in meinem Kopf stiegen gerade wieder die Bilder von mir und Laz hoch, die unschöne Eskalation auf der Schultoilette und mein beschämtes Gelübde danach, mich nie nie wieder im Leben zu so einem Mist hinreißen zu lassen, egal wie verlockend die Gelegenheit aussah und wie stark der Druck war. Danach schämte man sich immer. In mir zog wieder die Unruhe beim Gedanken an diese Erlebnisse auf. „Kleo, ich muss noch mal kurz raus.“ „Nicht dein Ernst, Marian.“ Sie sah mich böse an. „Was ist mit dir los? Bist du irgendwie auf einem Egotrip hängen geblieben oder was soll das?“ Sie nahm mir meine unfreundliche Entgleisung von letzter Woche immer noch übel. „Geht dich nichts an.“ Ich wollte nicht diskutieren, ich brauchte jetzt wirklich ein paar Minuten Auszeit, die mir durch diesen schwachsinnigen Test nicht vergönnt worden waren. Doch anstatt drei Minuten allein unter freiem Himmel verbringen zu können, schloss sich Serafin ungefragt mir an und musterte mich die ganze Zeit über auffallend kritisch. Das gefiel mir kein bisschen. „Du rauchst zu viel, Mann.“ Er kaute unruhig auf seinen Ringen in der Unterlippe herum. „Denk an deine Gesundheit.“ „Lass mich in Ruhe, danke.“ Irgendwie wollte die Menschheit mich in den Wahnsinn treiben, dabei tat ich doch mein besten, dem entgegen zu steuern, aber das durchblickte keiner. Alle sahen nur den böse drein guckenden, dauerqualmenden Marian, wie er eigenbrötlerisch in der Ecke stand und arrogant wirkte. „Tut mir Leid, dass es mich interessiert, wie es dir geht.“ Fast hätte ich über diese Feststellung laut gelacht, wenn ich denn in der Stimmung dazu gewesen wäre. „Du bist doch an allem schuld.“ Die Worte sprudelten schneller aus mir heraus, als ich sie zurückdrängen konnte und ich hätte mir schon wieder selbst eine scheuern können, weil ich in letzter Zeit meine Impulse so schlecht unter Kontrolle hatte. Serafin starrte mich an, als hätte ich ihm mein Knie in den Bauch gerammt. „Was meinst du damit?“ War er nur verwirrt oder fühlte er sich schuldig? Wahrscheinlich nicht, mit meiner letzten Menge Rationalität musste ich zugeben, dass ich einfach wollte, dass er der Schuldige war. „Vergiss es. Ich red gerade nur dummes Zeug.“ In Ausreden finden war ich noch nie ein Held gewesen, er musste mir meine Lüge ansehen. Es fehlte nicht mehr viel und ich grub mir ein Loch, schüttete es zu und wartete, bis ich elendig gestorben war; dann passierten mir wenigstens nicht mehr diese ganzen fehlgeleiteten Gefühlsausbrüche. * In der Mittagspause kam Lotta vorbei, um mir etwas Gesellschaft zu leisten. Eigentlich hatte sie noch gar keinen Zutritt zum Oberstufenbereich, weil sie eine Klasse unter mir war, aber es störte sich an diesem Verbot so gut wie keiner, hier hockten auch oft genug Fünftklässler, die ich dann aber wegen ihrem Gelärme vor die Tür setzte. Irgendwann hatte man auch einmal ein Recht auf Ruhe, fangen konnte sie auf dem Schulhof oder noch besser auf dem Dach spielen. Wie so oft hatte mir Lotta etwas zum Essen mitgebracht, heute war es ein Stück Käsekuchen. Vielleicht sollte ich doch über meinen Schatten springen und sie fragen, ob wir richtig zusammen sein wollten. Eine gute Wahl war sie auf jeden Fall trotz ihrer Minderwertigkeitskomplexe, die sie erst zu mir geführt hatten. „Und, schmeckt er?“ Eine rein rhetorische Frage; seit ich sie kannte, hatte sie mir nie etwas mitgebracht, was man klammheimlich im Mülleimer versenken musste. Also nickte ich und zwang mich zu einem Grinsen, obwohl mir immer noch nicht danach war. Mein dezenter Ausraster in der Theatergruppe war zwar fast eine Woche her und ich hatte weder mit Kleo noch mit Serafin seitdem ein Wort gewechselt, was mich beruhigte, aber es hing trotzdem nach. Mein Verhältnis zu den beiden wurde immer schlechter und ob ich es wollte oder nicht, daran war nur ich allein schuld. Aber was sollte ich ihnen denn erzählen? Ich fing einen besorgten Blick von Lotta auf. „Dir gehts immer noch nicht besser, oder?“ Sie durchschaute mich ziemlich gut, deswegen half mir eine drittklassige Ausrede nicht aus der Klemme. Entweder ich schwieg eisern oder ich fing endlich mal an, mit jemandem über mich zu reden. Das wäre dann wohl Prämiere. „Sagen wir es mal so: Jemand, den ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen habe, läuft mir öfter über den Weg und ich will ihn eigentlich gar nicht sehen, weil ich dann an früher denke und dann fühl ich mich beschissen.“ So, jetzt wars raus; das, was auch Zigaretten und Chips und viel Kopfzerbrechen nicht hatten kurieren können. Meine furchtbaren melancholischen Nostalgieanfälle. „Oh.“ Sie wirkte überrascht und rückte etwas näher mit ihrem Stuhl an mich heran. „Ich dachte, du bist vielleicht unglücklich verliebt.“ „Nein, ich bin einfach unfähig, mit der Vergangenheit abzuschließen.“ Ich seufzte; ich klang wie einer der ganz dramatischen Sorte, wie erbärmlich. Wenigstens heulte ich mich nicht bei Serafin direkt aus, das wäre noch peinlicher für mich gewesen. „Ist es so schlimm gewesen, was dir passiert ist?“ Sie witterte verstörende Details aus meinem Leben, die ich noch keinem erzählt hatte, weil ich mich zu sehr schämte, und fasst meine Hand. Warum konnte ich mich nicht einfach wie jeder normale Mann in dieses Mädchen verlieben? „Nein, das ist ja der Witz an der Sache.“ Ich überprüfte mit einem schnellen Blick durch den Raum, dass keiner von denen auf die blöde Idee kam, uns bei diesem äußerst privaten Gespräch belauschte. Immerhin war Lotta die erster Person, der ich das anvertraute. „Ich kenne ihn aus dem Kindergarten, wir waren gute Freunde und haben jeden Schwachsinn zusammen gemacht. Das war echt ne tolle Zeit, bis er dann in die Grundschule gegangen ist und ich noch ein Jahr im Kindergarten geblieben bin.“ Bei jedem Worte wurde Lottas Miene verwirrter, weil das absolut nicht das war, was sie jetzt erwarte hatte. Bestimmt irgendetwas von einem großen Konflikt oder dramatischen Szenen. Die Realität sah etwas anders aus. „Wir haben uns danach nicht mehr wieder gesehen; ich wusste ja weder seinen Nachnamen noch wo er wohnt. Jedenfalls fing alles danach an, irgendwie schlecht zu laufen und ich hab mir mit der Zeit angefangen einzureden, dass es daran liegt, dass er nicht mehr da war. Total dämlich, aber wenn dir viel Scheiße passiert, suchst du immer einen Grund, warum dir das passiert, obwohl keiner was dafür kann.“ „Und was war das alles?“ Sie traute sich kaum, die Frage zu stellen, aber man sah ihr an, dass sie es jetzt wissen wollte, wenn ich schon angefangen hatte, über mich und meine Probleme zu reden. So eine Chance bot sich nämlich möglicherweise nie wieder. „In der ersten Klasse haben sich meine Eltern getrennt, ohne Vorwarnung. Plötzlich stand mein Vater mit meiner Schwester an der Hand und ein paar Koffern dabei in unserer Einfahrt, hat mir alles Gute gewünscht und war dann einfach weg. Damals hab ich das mit den Chips angefangen; ich kanns bis heute nicht lassen. In der dritten Klasse ist mein Tischnachbar beim Fahrradfahren von einem Auto überfahren worden.“ Das schlimmste daran war gewesen, dass es meins gewesen war, das er sich von mir ausgeliehen hatte. Ich fühlte mich bis heute irgendwie schuldig deswegen, obwohl mir meine Mutter oft genug deswegen das Gegenteil hatte beibringen wollen. „Und ich habe nie wieder geschafft, so einen guten Freund wie meinen Kindergartenfreund zu finden.“ Von meinem Desaster, dass ich in der fünften Klasse schleichend gemerkt hatte, dass ich mich eher zu meinen Mitschüler hingezogen fühlte statt wie der Rest sich an die Mädchen zu kletten, berichtete ich ihr allerdings nichts. Das brachte sonst noch mehr Gesprächsstoff mit sich, mit dem ich mich erst mal nicht beschäftigen wollte. „Vielleicht… solltest du versuchen, ihm nicht immer auszuweichen, sondern akzeptieren, dass er jetzt wieder da ist. Ihr müsst ja nicht gleich wieder beste Freunde fürs Leben werden, aber wie willst du denn die nächsten Jahre überstehen? Du würdest ja dann nur noch vor ihm weglaufen.“ Der Rat klang so plausibel, dass es fast schon unangenehm war, ihn zu hören. Aber ich hatte mir einfach antrainiert, Konfrontationen aus dem Weg zu gehen und lieber alles in mich reinzufressen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich nickte geistesabwesend. Ich musste es wenigstens probieren, meine mentale Gesundheit und auch die Zukunft der Theatergruppe standen auf dem Spiel. Auch wenn es mir zuwider war, ich musste über meinen Schatten springen. „Kleo, es tut mir Leid, dass ich so ein Vollidiot war.“ Sie sah mich an, als wäre ich komplett wahnsinnig geworden; sie hatte wohl angenommen, ich würde den Zwischenfall entweder totschweigen oder mich weiterhin wie ein pubertärer Trottel aufführen. „Okay…“ Sie fuhr sich mit beiden Händen durch ihre Haare. „Entschuldigung angenommen. Ich will mal nicht so sein, jeder von uns macht Fehler. Aber ich müsste mal mit dir über was reden, was auch noch wichtig ist.“ Sie zog mich etwas zur Seite, denn wir standen immer noch mitten im Gang der Schule und blockierten für jedermann den Weg. „Ich und Serafin, wir waren letztes zusammen Eis essen.“ Obwohl sie das so beiläufig wie möglich erwähnte, merkte ich, dass es ihr peinlich war, das mir gegenüber zu erwähnen. „Und er hat mir erzählt, dass ihr früher ziemlich gut befreundet wart.“ Schön, dass das bald die ganze Schule wusste. Aber worauf wollte sie damit hinaus? „Er war ziemlich geknickt, dass du so frostig zu ihm bist.“ „Und jetzt fragst du mich für ihn, weshalb.“ Was war aus dem selbstbewussten Serafin geworden? Alles mehr Schein als Sein, wenn ich mir sein bisheriges Auftreten ansah. „Nein, er hat mich nicht darum gebeten, ich hab das selbst entschieden. Aber ihn zieht das wirklich richtig runter, vor allem das von letzter Woche. Er hat zwar nicht genau gesagt, was passiert ist, aber ich glaub, ich will es auch gar nicht wissen. Er ist echt kein schlechter Mensch, deswegen versteh ich deine Abneigung nicht. Wenn er dir was getan hat, sprich ihn drauf an, ihm ist es echt wichtig.“ Und schon wieder bekam ich den Rat, mich wieder mit ihm zu versöhnen. Die stellten sich das alle einfacher vor, als es das in Wirklichkeit war. Es war so viel passiert, wir hatten uns beide verändert, vielleicht wollte ich auch mit der neuen Variante Serafin nichts zu tun haben? Langsam bekam ich Kopfschmerzen wegen diesen ewigen Diskusionen und gutgemeinten Ratschlägen. Das war nicht meine Welt, da musste ich mich erst langsam hineinfinden. „Ich guck mal, was sich machen lässt.“ Das war kein festes Versprechen, ließ aber offen, dass ich mich meinen selbsterschaffenen Problemen stellte. * Ich hatte mein Versprechen eingehalten, nur deshalb saß ich am Wochenende in der Eisdiele, stocherte in meinem Becher herum und wartete darauf, dass Serafin vielleicht das Wort ergriff. Im Ansprechen von Problemen war ich kein Meister und überließ den ersten Schritt gerne dem Gegenüber. Heute trug Serafin ausnahmsweise ein T-Shirt, wie es sich für die Jahreszeit eigentlich auch gehörte, und hatte seine Haare dazu gebracht, nicht wie ein Vogelnest im Anfangsstadium auszusehen. Ich witterte hinter seiner plötzlichen Sorge um sein Aussehen ein Date; vielleicht sollte ich ihm noch den beiläufigen Tipp geben, dass Kleo ihn lieber in seinem etwas nachlässigen Stil mochte. Aber eigentlich brauchte es mich nicht zu interessieren, wer was für wen tat und ob es sinnvoll war. Wenn es das Schicksal wollte, fanden die beiden schon irgendwie zusammen. Das Schweigen zwischen uns zog sich und wurde immer unangenehmer; keiner von uns wusste, wie er die klärende Unterhaltung beginnen sollte, und wartete darauf, dass der andere den ersten Schritt machte. Schließlich, als sein Eis schon in der Sonne geschmolzen war und ich meinen Becher nur noch aus Langweile auskratzte, um einen Vorwand zu finden, nicht aufzustehen und zu gehen, räusperte sich Serafin und wagte den ersten Schritt. „Was hab ich dir getan?“ Was hatte er getan? Gute Frage eigentlich. „Du warst nicht da.“ „Wie, ich war nicht da?“ Völlig verwirrt sah er mich an. „Wann und weshalb? Tut mir Leid, aber ich versteh echt nicht, was du meinst.“ Also erklärte ich es ihm, fast genauso, wie ich es Lotta beigebracht hatte. Von Sekunde zu Sekunde merkte ich, wie er immer mehr an meiner geistigen Zurechnungsfähigkeit zweifelte. Aber ich hatte auch nie behauptet, einen rationalen Grund zu haben, ihn von mir auf Abstand zu halten. „Ich erwarte gar nicht, dass man es versteht.“ Je öfter ich es jemanden unter die Nase rieb, desto dämlicher kam ich mir selbst vor. „Und jetzt? Willst du mich weiter ignorieren? Obwohl ich dir wirklich nichts getan hab?“ Irgendwie wirkte er geknickt und wartete wohl auf das Angebot, dass wir da weitermachen konnten, wo wir vor über zehn Jahren aufgehört hatten, aber so leicht ging das nicht. Ich brauchte erst mal Zeit, mich zu sortieren, mir klarzumachen, was ich eigentlich wollte. Dann konnte man weitersehen, ob aus seinem Wunsch etwas wurde. „Wir werden sehen. Ich will dir nichts versprechen, was ich vielleicht nicht halten kann.“ Dann fühlte ich mich hinterher doch wieder schlecht und griff zur altbewährten Methode. „Aber ich versprech zumindest, mich nicht mehr von solchen dummen Gedanken leiten zu lassen.“ „Ja, das wär ganz nett.“ Die Anspannung fiel deutlich von ihm ab und er grinste mich erleitert an. Es fühlte sich gut an, ihn so zu sehen. 2. Teil ------- Irgendwie fühlte ich mich ausgeschlossen. Während unserer Theatergruppe waren Serafin und Kleo fast ununterbrochen dabei, sich scherzhaft zu kabbeln, was einerseits ziemlich das Vorankommen unserer Gruppe hemmte und andererseits mir furchtbar auf den Geist ging. Musste die ganze Welt mitbekommen, dass sich zwischen ihnen etwas anbahnte? Sogar die Kleinen stellten schon Vermutungen auf und die Mutigste von ihnen rief ihre Mitspielerinnen zu Wetteinsätzen auf, wann die beiden endlich zusammenkamen. Auch wenn wir zu dritt in den Pausen unterwegs waren, was nun öfter vorkam, weil ich Serafin nicht mehr mied und mich wieder mit Kleo versöhnt hatte, fühlte ich mich stellenweise wie das fünfte Rad am Wagen. Wenn sie sich wieder über Dinge unterhielten, die mich so gar nicht interessierten, dass ich nicht einmal einen kleinen Kommentar dazu abgeben wollte, fragte ich mich, was mich daran hinderte, einfach wegzugehen. Keiner zwang mich, bei ihnen zu sein. Früher hatte ich auch nicht immer mit Kleo die Zeit totgeschlagen und keiner verlangte von mir, dass Serafin und ich wieder zu unserer alten Vertrautheit zurückfanden. Trotzdem wollte ich mich nicht einfach geschlagen geben und das Weite suchen, dann hätte ich nämlich genau wieder das getan, was ich mir vorgenommen hatte, nicht mehr zu tun. Wegrennen; meinen unausgesprochenen Kummer in schlechten Ersatzdrogen ertränkt; keinen mehr an mich ran lassen. Zeitweise war ich wirklich ein unrettbarer Fall. „Hey, was ist los, schlecht gelaunt oder so?“ Kleo war aufgefallen, dass ich mich eher mit meinem Pausenbrot beschäftigte als mit ihrer Konversation über irgendwelche Metalbands, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Ich beschäftigte mich lieber mit Housemusik, egal wie oft sie mich zu bekehren versucht. „Nein.“ Aber das konnte sich mit etwas Pech bald ändern. „Ich geh mal kurz wohin.“ Rauchen konnte man nicht von heute auf morgen aufhören, zumindest hatte ich noch niemanden kennen gelernt, dem das tatsächlich geglückt wäre. Doch auch heute blieb ich nicht lange allein in der kleinen Ecke, denn Serafin war mir mit etwas Abstand gefolgt. Überrascht zog ich eine Augenbrau hoch. „Bist du jetzt doch Raucher geworden?“ „Nein, natürlich nicht.“ Er wedelte die Wolke, die auf ihn zutrieb, energisch auseinander. „Du bist nur wieder so komisch. Ganz ehrlich: Bist du neidisch oder eifersüchtig wegen Kleo und mir?“ Ich hatte mit einigem gerechnet, allerdings in Richtung „Du bemühst dich nicht“ und „Gib es zu, wenn du keinen Bock auf mich hast“, aber dass er annahm, dass ich in Kleo verliebt war und deswegen so eine bitterböse Miene zog, war fast schon lustig. Immerhin hätte ich viel gegeben, mich in ein Mädchen zu verlieben; nicht unbedingt Kleo, aber selbst das wäre mir lieber gewesen als meine momentane Orientierung, die ich gnadenlos unterdrückte. „Ich bin nicht eifersüchtig auf dich.“ Irgendetwas störte mich, aber ich konnte nicht genau benennen, was es war. Vielleicht, dass Kleo in der Theatergruppe mehr Wert auf Serafins Meinung legte als auf meine, obwohl sie beiden nur die Coleiter waren; vielleicht, dass ich erwartet hatte, Serafin würde sich mehr um den Neustart unserer Freundschaft bemühen statt Kleo Komplimente über ihre Haare zu machen, die aussahen wie jeden Tag auch. Vielleicht wollte ich auch einfach nur dasselbe wie die beiden durchleben und nicht dauernd dagegen ankämpfen, homosexuelle Gefühle zu entwickeln, die Im Endeffekt mit allen Mitteln beiseite geschoben wurden, bis sie schwiegen. „Oh, okay, dann hab ich das falsch verstanden.“ Peinlich berührt steckte er die Hände in die Hosentasche und setzte ein verunglücktes Grinsen auf, das mich so sehr an früher erinnerte, dass es mir einen Stich ins Herz verpasste. Einen viel zu heftigen, der mich dazu veranlasste, noch den Rest der Pause in der inoffiziellen Raucherecke zu stehen und mir den Kopf darüber zu zerbrechen. *** Ich hatte mir vorgenommen, den einen Satz nie zu benutzen, weil er meiner Meinung nach für dauerdepressive oder aufmerksamkeitsgeifernde Mittelschüler reserviert war, aber leider passte er gerade allzu gut. Ich hasste mein Leben. Und zwar nicht, weil ich irgendwelche Klausuren in den Sand gesetzt hatte, man meine Lieblingssendung aus dem Programm gestrichen hatte oder der Friseur meine Haare komplett verschnitten hatte. Solche Sachen wären noch irgendwie ertragbar gewesen und ließen sich wiedergutmachen. Mehr lernen, DVD Staffeln kaufen und Mütze aufsetzen. Die drei spontanen Austritte aus meiner Theatergruppe nahm ich auch nicht persönlich, obwohl sie mich störten, weil das unser Konzept wieder völlig über den Haufen warf. Mein Problem war, dass sich herauskristallisierte, was mir mein merkwürdiges Gefühl beim letzten ernsthaften Gespräch mit Serafin hatte sagen wollen. Und dass es nicht bei solchen gelegentlichen, leichten Gefühlsäußerungen blieb. Ich, der seit geraumer Zeit alle Gefühle, die ich für falsch oder problematisch hielt, in irgendeine dunkle Ecke sperrte und dann mit aller Macht zum Verstummen brachte, hatte mich schleichend, aber unwiderruflich in meinen ehemals besten Freund verliebt. Vielleicht schon, seitdem ich ihn das erste Mal seit Jahren gesehen hatte, vielleicht auch erst als Reaktion auf sein steigendes Interesse an Kleo. Ich wusste es nicht, aber das spielte auch keine Rolle, die Tatsache an sich war schon eine fürchterliche Katastrophe und ließ sich nicht mit Fluchen, Essen, Rauchen, Sex mit Lotta vertreiben. Ich war komplett hilflos gegen dieses Gefühl und dem Zwiespalt, ihn so nah wie möglich bei mir haben zu wollen und ihn gleichzeitig so weit wie möglich von mir wegzustoßen, um gar nicht erst in Versuchung zu gelangen, alles kaputt zu machen. Im Moment hasste ich mein Leben, aber mindestens genauso mich selbst. Was hatte ich Serafin versprochen? Mich nicht von dummen Gedanken leiten zu lassen. Und was war daraus geworden? Ich ließ mich von dummen, überflüssigen, verfluchten Gefühlen leiten, um die ich nie gebeten hatte. Es war zum Verzweifeln, daheim hockte ich nur noch in meinem Zimmer und schlug entweder wie ein Wahnsinniger auf die Matratze ein oder heulte mir tonlos die Augen aus, weil ich mich selbst so sehr anwiderte. Das schlimmste war trotz allem, dass ich Serafin fast jeden Tag sehen musste, wie er an Kleo klebte, ihr Hilfe bei Chemie anbot, obwohl sie viel besser war als er, ihr immer erfolglos seinen Lieblingskaugummi andrehen wollte, und dabei so wirken musste, als wäre es mir alles gleichgültig. Dabei hatte ich permanent das Bedürfnis zu schreien und irgendwen zu schlagen. „Marian, ich glaub, wir müssten noch mal über was reden.“ Kleo stand unübersehbar vor mir und wirkte nicht so, als würde sie mich einfach gehen lassen. Jetzt wurde ich schon vor dem Kunstunterricht abgefangen, was war heute wohl das Thema? Vielleicht brauchte sie Tipps, wie sie über ihren Schatten springen und Serafin endlich um ein richtiges Date bitten konnte. Da hatte sie sich die schlechteste Adresse ausgesucht. „Was gibts?“ Mein Rucksack war schwer wie Blei, ich müde und missgelaunt und in drei Minuten musste ich im Gebäude auf der anderen Seite des Geländes sein, weil ich ansonsten ins Klassenbuch verewigt wurde. Unser Lehrer kannte in solchen Angelegenheiten keine Gnade. „Ich mache mir Sorgen um dich.“ Diese Aussage wurde mir mit der Zeit lästig; früher hatte es doch auch keinen interessiert, wie es mir erging. „Aha.“ „Also eigentlich wir. Serafin und ich. Und Lotta, aber sie wollte eigentlich nicht, das du das weißt.“ Gut, also so gut wie alle Menschen, mit denen ich mehr redete als drei Worte fürchteten um mein Wohlbefinden und leider nicht zu Unrecht. Dummerweise konnte ich das nicht zugeben, sonst wurde ich bei jeder sich bietenden Gelegenheit ausgequetscht, weshalb und wie man mir helfen konnte. „Ich will dir echt nicht zu nahe treten und dir vorschreiben, wie du zu leben hast, aber du hast in den letzten drei Wochen allein während der Schulzeit ein halbes Päckchen Kippen weggehauen, was du früher nicht gemacht hast. Dein Chipskonsum ist auch nicht mehr gesund. Und dann läufst du nur noch mit einer Miene rum, als wolltest du irgendwen töten. Die Kleinen sind schon zu mir gekommen, weil sie dachten, sie hätten etwas gemacht, was dir nicht passt. Bitte sag mir nicht, bei dir sei alles okay, dann muss ich dir nämlich wirklich eine reinhauen, weil wir deine Freunde sind und du mit uns reden sollst, wenn dich etwas bedrückt.“ Sie sieht aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen und meine Wut über ihre Dreistigkeit, sich in meine Angelegenheiten einzumischen, verraucht ganz schnell, denn sie macht das nicht aus reiner Bosheit. Sie machte sich Vorwürfe, dass ich ihnen nicht genug vertraute, dass ich mich ihnen öffnete. Statt sie also darauf hinzuweisen, dass ich mein Leben so führen durfte, wie ich es für akzeptabel hielt, seufzte ich nur leise, versuchte ihr nicht in ihr angespanntes Gesicht zu sehen und überlegte mir genau, was sie hören durfte. „Ich bin in jemanden verliebt, der das nicht erwidern wird.“ Ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht haltlos weiterzuplappern und dabei zu verraten, dass ich nicht von einem Mädchen, sondern von Sera redete. Ihre Augen wurden groß wie der aufgehende Vollmond; ich wirkte auf meine Umwelt nicht wie jemand, der sich verliebte und dann wegen Liebeskummer den Kopf in den Sand steckte. „Das… tut mir Leid.“ Kleo rang um Worte. „Und… du bist dir ganz sicher? Vielleicht glaubst du das auch nur. Vielleicht mag sie dich auch und traut sich nur nicht, es zuzugeben. So wie ich.“ Sie sprach von Lotta, Kleo dachte allen Ernstes, ich sei in Lotta verliebt und dachte, ich hätte bei ihr keine Chance. Wenn es doch nur so einfach gewesen wäre. Mit Lotta hätte ich mich hingesetzt, sie direkt angesprochen und dann wäre das Problem vom Tisch. Aber bei Serafin… ich war nicht nur unglücklich verliebt, ich wollte nicht einmal verliebt sein, nicht in ihn. „Wahrscheinlich hast du recht.“ Es blieb mir nichts anderes, als Kleo in dem Glauben zu lassen, ich hätte Lotta gemeint. Zum Glück hatte sie nicht vermutet, dass ich sie meinte, sonst wären unsere Zusammenkünfte zu dritt noch unangenehmer als ohnehin schon. „ich muss in Kunst, sonst bekomm ich Ärger. Danke für deinen Rat.“ Den ich nicht anwenden würde. Ich war ja nicht lebensmüde. „Du schaffst das.“ Freundschaftlich klopfte sie mir auf die Schulter und ich floh fast in Richtung Kunstgebäude. * Für heute hatten wir eine Sondersitzung unserer Theatergruppe einberufen, um unserem Stück den letzten Schliff zu verleihen, die überflüssigen Rollen gerecht aufzuteilen und noch letzte Wünsche, Kritiken und Anmerkungen unsererseits unterzubringen. Zum Glück hatten wir nach Serafins grundehrlicher Bemerkung unser traditionelles Stück sein lassen und eine Variante gewählt, die man mit mehr als zehn Personen gut spielen konnte. Keine festgelegten Rollen und erzwungen gereimte Sätze mehr, sondern jeder verkörperte einen anonymen Charakter, der so reden durfte, wie es den Kleinen gefiel. Natürlich mussten sie gucken, dass sie nicht etwas völlig anderes erzählen als vorgegeben war, aber ich hing nicht über meinem Textbuch und korrigierte jedes Wort, das nicht so in der Vorlage stand. Aber obwohl wir die ganze Sache lockerer sahen als ein Lehrer, der auf alles Noten gab, mussten wir auf zusehen, dass das Stück in sich harmonierte und nicht wie ein zusammengeflickter Teppich aus wilden Ideen und Improvisationsspektakel wirkte. „Ich würde sagen, an der Stelle lässt Elisa eine kurze Pause, um ein bisschen die Spannung zu steigern.“ Kleo vermerkte es in ihrem Text und wartete, bis wir es ihr gleich getan hatten. „Aber nicht so lang, dass es aussieht, als hätte sie ihren Text vergessen.“ Ich kannte ein paar freche Kinder, die zogen die arme Elisa nachher nämlich wegen ihrem angeblichen Texthänger auf und das musste man nicht provozieren. Leider hielten diese Nervensägen nie die Klappe, egal wie oft ich ihnen sagte, dass sie gefälligst andere Leute in Ruhe lassen sollten. „Und was machen wir wegen den Kostümen? Wenn alle in Alltagskleidung da rumstehen, wirkt das doch nicht so gut.“ Kleo war in ihrem Element; durchplanen, Ideen verwerfen und neue an Land holen, ein Grund, weshalb sie mich gebeten hatte, sie als Coleiterin anzunehmen. Ich hatte nicht nein gesagt, weil Unterstützung in diesem Fall nie verkehrt war. „Wie wäre es mit dem Standard, komplett schwarz? Das hat jeder im Schrank.“ Man musste es nicht unnötig kompliziert machen. Und falls doch irgendeine von ihnen nur knallbunte Sachen trug, konnte man sich was leihen oder günstig im Laden kaufen und danach verschenken. „Nein, das macht jeder, find ich langweilig.“ Serafin schüttelte entschieden den Kopf und trank einen Schluck aus seiner Wasserflasche. „Wir sollten uns etwas Kreativeres ausdenken.“ „Jeder in einer anderen Farbe?“ An den Klamotten wollte ich mich eigentlich nicht aufhängen, dafür standen noch genügend Ablauffragen auf der Tagesordnung und wir hatten schon sieben Uhr. Dank Serafins umfangreicher Lebensart hatten wir erst nach seinem Basketballtraining anfangen können, über unser Stück zu debattieren. Dieses Mal war Kleo nicht einverstanden. „Zu verwirrend, der Zuschauer sieht dann nur noch Regenbögen.“ Sie überlegte. „Wir haben zwei Gruppen. Was ist mit schwarz und wie?“ „Zu offensichtlich. Und man könnte meinen, wir bewerten die Gruppen damit. Wenn schon, dann alle in grau.“ „Ist jetzt auch nicht viel anders als schwarz“, warf Serafin in die Runde und ich stöhnte genervt. Wie gesagt, es gab Wichtigeres, worüber gesprochen werden musste. Wir entschieden uns, die Frage auf die nächste Probe zu vertagen und die Mädchen mit einzubeziehen, immerhin mussten sie damit einverstanden sein, und saßen trotzdem noch fast zwei Stunden zusammen, bis feststand, wer von welcher Seite kam, wo wir bestimmte Requisiten platzierten und wann das Licht ein- und ausgeschaltet wurde. Allein hätte man es sicher schneller entscheiden können, aber zu dritt kamen mehr Idee, teilweise richtig gute Ideen zustande, auf die man als einzelner nicht gekommen wäre, weil man schon sein festes Bild vor Augen gehabt hatte. „Ich bin fertig für heute, bis morgen Jungs.“ Kleo war so müde, dass sie nicht einmal die Gelegenheit ausnutzen, noch länger in Serafins Nähe zu sein. Aber sie ließ es nicht nehmen, ihn zum Abschied kurz zu umarmen, was sie bei mir nicht tat. Einerseits war ich überrascht, dass Serafin es zuließ, weil er früher jegliche Art von Körperkontakt immer übertrieben gemieden hatte, andererseits spürte ich die Eifersucht in mir, die nicht ruhen wollte. Hoffentlich merkte man mir nichts an. „Lass uns auch gehen.“ Die Schulleitung hatte uns ausnahmsweise erlaubt, die Räumlichkeiten für unsere Planung zu nutzen, aber länger als nötig mussten wir nicht hier herumsitzen, zumal die Stühle in der Aula keinen Preis für Bequemlichkeit gewinnen konnten. Außerdem sahen wir die Schule schneller wieder von innen, als einem lieb sein sollte. „Ach komm, wir haben doch Zeit. Außerdem weiß ich, dass du morgen erst zur dritten Stunde hier her musst, also erzähl mir nichts von früh schlafen gehen wollen.“ Er grinste mich auffordernd an und ich konnte einfach nicht nein sagen, obwohl ich es hätte tun sollen. Jede Minute, die ich länger mit ihm allein verbrachte, konnte mein dummes Geheimnis ans Tageslicht befördern. Andererseits blieb uns dann Raum, um an die alten Zeiten anzuknüpfen. Inzwischen hatte ich gar nichts mehr gegen die Idee, dass wir uns wieder näher kamen, so wie damals. Nur war mein Grund im Kindergarten rein freundschaftlicher Natur entsprungen, was ich momentan leider nicht mehr von mir behaupten konnte. Aus seinem Rucksack holte Serafin ungefragt zwei Flaschen Bier und eine Packung Salzstangen, die er gern in allen passenden und unpassenden Situationen knabberte, und ich fragte mich, was er damit bezwecken wollte. Männerabend in der Schulaula? Gab es noch irgendetwas zu klären? Hatte er vielleicht den Plan, mich abzufüllen und dann… nein, ausgeschlossen, für ihn existierte doch fast nur Kleo. Das Bier regte mich an, mit ihm über den Zeitraum zu sprechen, in dem wir uns aus den Augen verloren hatten, wir diskutierten, wer von uns den besseren Musikgeschmack entwickelt hatten, machten uns etwas über die überschminkten Zwerge aus der Mittelstufe lustig, und irgendwann gestand er mir nach langem Drumrumreden, dass er verliebt war. In zwei Personen. Mein Herz krampfte sich zusammen, aber ich machte gute Miene zum bösen Spiel, um nicht aufzufallen. Selbst mit Alkohol reagierte ich noch ekelhaft sensibel auf dieses Thema. Aus einem Bier wurden drei und ich spürte, dass ich zu viel getrunken hatte. Ich war nicht betrunken, aber dadurch, dass ich eher zur Zigarette statt zur Flasche griff und selten auf Geburtstagen war, die in Gruppenbesäufnissen endeten, war ich nicht sehr viel gewohnt. Ich lehnte also Serafins Angebot von Nachschub vorsichtshalber ab, holte mir stattdessen am Getränkeautomaten ein Wasser und leerte es eilig. Ich hatte Angst, in diesem Zustand zu viel zu reden, weil ich für meine Verhältnisse zu aufgedreht und sprunghaft war. Serafin wirkte geistig etwas abwesend, sodass ich ihm kurzerhand die Flasche wegnahm, um eine mögliche Katastrophe durch Kotzen oder nicht zu stoppendes Gequassel zu verhindern. Leider lehnte er es ab, etwas zum Neutralisieren zu sich zu nehmen. Es war schon fast elf, als wir uns nicht schwankend, aber doch etwas unsicher auf den Beinen aus der Schule schlichen. Ich hatte noch die letzten Überreste des Treffens weggeräumt, um den Lehrern keinen Grund zu bieten, uns nicht mehr unbeaufsichtigt dort arbeiten zu lassen. Mit Serafins Hilfe hatte ich nicht mehr rechnen können, der hockte die ganze Zeit über nur auf der untersten Treppenstufe zu den Klassenräumen, starrte vor sich ins Leere und dachte an etwas. Ich fragte lieber gar nicht, woran. Da der letzte Bus schon lange weg war und der Weg zu ihm nach Hause fast die doppelte Strecke bis zu mir nach Hause bedeutete, beschloss ich halb uneigennützig, ihn bei mir übernachten zu lassen. Unter meinem Bett lagerte eine Matratze, die konnte ich neben den Schreibtisch schieben und schon hatte er ein Bett für die Nacht. Während den zwanzig Minuten Fußmarsch schwieg Serafin, nur ab und zu seufzte er leise, gähnte etwas lauter oder stolperte über eine Unebenheit auf dem Bürgersteig. Ich war froh, als wir endlich bei mir waren und meine Mutter uns ohne Fragen zu stellen die Tür aufmachte. Allerdings erwähnte ich auch nicht, dass ich Serafin mitgebracht hatte, dann hätte sie noch ewig und drei Tage versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen, immerhin war er drei Jahre lang Thema Nummer eins in all meinen Erzählungen des Kindergartenalltags gewesen. „Kannst du mir was zum Drüberziehen leihen?“, fragte mich Serafin, während er umständlich seine Turnschuhe auszog und sich schon mal seinen Kapuzenpulli samt dem T-Shirt über den Kopf zog. Der Anblick machte mich keinen Meter scharf, was mich beruhigte, immerhin hatte ich nicht vor, die ganze Nacht dagegen anzukämpfen, ihn zu überfallen. Ich fühlte einfach nur wieder dieses Stechen im Brustbereich und fragte mich, ob das wirklich Liebe sein konnte, dieses bittere Gefühl auf der Zunge und eine unerklärliche Traurigkeit, die sich bis in den letzten Winkel zog. Womöglich kam letzteres nur vom Alkohol, der manchmal die Menschen schrecklich emotional werden ließ. Mein Ersatzshirt für ihn war ihm natürlich meterweit zu groß, was mich nicht wunderte, immerhin wog Serafin fast dreißig Kilo weniger und war einen halben Kopf kleiner, obwohl er fast ein Jahr älter als ich war. „Gute Nacht.“ Ich hatte mich nur schnell von Schuhe und Hose befreit, war unter die Bettdecke gekrochen und suchte hinter dem Nachtschränkchen den Schalter für die Nachttischlampe. Zwar ahnte ich, dass ich noch zu unruhig war, um wirklich Schlaf zu finden, aber wenn ich es nicht wenigstens versuchte, war ich morgen ein furchtbar gelaunter Untoter. „Warte.“ Serafin erhob sich zögernd von seinem Schlafplatz und kauerte sich ungefragt zu mir auf meine Matratze. „Ich muss noch mit dir über was reden. Ist wichtig für mich.“ Nicht sein Ernst. Er sollte lieber ins Bett gehen. Außerdem fühlte ich mich noch angespannter, wenn er mir so nah kam, auch wenn uns momentan noch zwei Handbreiten und meine Decke trennten. „Was ist los?“ Bitte keine Geständnisse im betrunkenen Zustand, daran konnte er sich morgen vielleicht gar nicht mehr erinnern und es war nicht das, was ich haben wollte. „Hat das nicht Zeit bis morgen?“ „Wenn ich richtig nüchtern bin, trau ich mich wieder nicht, mit dir darüber zu reden.“ Er grinste betreten. „Ich glaub nicht, dass du gern von so was belästigt wirst.“ Alles in mir verkrampfte sich; warum musste er sich so umständlich ausdrücken und nicht einfach sagen, was ihm auf der Seele lastete? Ich war der letzte, der ihn für etwas fressen würde, immerhin war ich verrückterweise trotz allem froh, ihn bei mir zu haben. „Sag einfach, was Sache ist, wir müssen morgen noch in die Schule gehen.“ „Ich hab dir ja erzählt, dass ich ziemlich verknallt bin. In zwei Leute. Und ich weiß nicht, für wen von beiden ich mich entscheiden soll. Sie sind beide echt tolle Menschen, auch wenn ich die eine noch nicht so lange kenne.“ Dann war das eine bestimmt Kleo, sie hatte er erst kennen gelernt, seitdem er in unserer Stufe war. „Und die andere Person kennst du schon länger?“ Mir war irgendwie übel vor Nervosität; ich wünschte so sehr, dass er mich meinte, und wusste gleichzeitig, dass es nicht so sein sollte. Dass es vielleicht besser so war, wenn er meine Gefühle nicht erwiderte, weil das so vieles furchtbar verkomplizierte. „Ja, schon. Aber eigentlich ist es egal, wie lange man jemanden kennt, oder? Manche Leute kennt man seit immer und weiß trotzdem nicht so viel über sie wie über denjenigen, den man erst getroffen hat.“ „Wer… von wem redest du denn überhaupt? Dann kann ich dir vielleicht besser helfen“, brachte ich mühsam hervor; ich traute mich kaum, die Frage zu stellen, aus Angst, die Wahrheit aus seinem Mund zu hören. Jede Antwort konnte etwas zerstören, entweder unsere Freundschaft, die sich langsam entwickelte, oder meine Hoffnung, ihn allein für mich haben zu können. „Kleo natürlich, das ist ja klar. Und Lillith, mit ihr war ich schon in der Grundschule in einer Klasse. Lillith ist halt so unbeständig, da weiß man nie genau, woran man ist. Das macht sie natürlich auch so interessant, aber ich glaub, sie wäre niemand, der auf länger treu bleibt. Und Kleo… sie ist offen und ehrlich, nur weiß ich nicht, ob sie mich einfach nur als guten Kumpel sieht oder sich nicht traut, mir zu zeigen, dass sie gerne mehr von mir möchte.“ Es tat furchtbar weh zu hören, dass man nicht zum Kreis der Auserwählen gehörte, obwohl ich mich innerlich darauf eingestellt hatte, biss ich die Zähne aufeinander und verkrallte meine Finger in meinen Armen, um den übermächtigen Sturm von Enttäuschung, Verzweiflung und Hilflosigkeit irgendwie zu ertragen. In diesen Momenten halfen keine Suchtmittel, um mich zu beruhigen. Und Serafin saß weiter neben mir und redete mit einem verträumten Blick von seinen zwei Angebeteten und merkte nicht, wie ich innerlich litt und mit mir selbst kämpfte. Im normalen Zustand hätte ich es vielleicht geschafft, mich zu beherrschen, meinen Kummer hinunterzuschlucken und ihm zu lauschen, während er sich seine Unsicherheit von der Seele redete, aber in mir schwammen noch die Überreste des Biers, die mein rationales Denken einfach ignorierten und das taten, wonach mir in diesem Augenblick der Sinn stand. Ich packte Serafin fester als notwendig an den Schultern und küsste ihn einfach; mir war es gerade egal, ob er mich am nächsten Morgen dafür hassen würde und es in der ganzen Schule herumerzählte. Ich wollte nur einmal ehrlich zu mir sein und das bekommen, wonach ich mich nie zu fragen getraut hatte. Er hing starr und erschrocken in meinen Armen, erwiderte nicht, stieß mich aber auch nicht weg, was mich dazu aufforderte, noch mehr in die Offensive zu gehen. Seine Ringe drückten kühl gegen meine Unterlippe, ich spürte ganz schwach sein Herz schlagen und schmeckte noch die Kombination von Salz und Bier an seinem Mundwinkel. Dann kippte ich vorneüber und begrub ihn halb unter mir, kaum in der Lage, mich von ihm zu lösen. Noch immer blieb der verbale oder körperliche Protest aus, stattdessen merkte ich, wie sich seine Arme um mich klammerten und er zögerlich auf den Kuss einging. Trotz allem hatte ich nicht das Gefühl, einen großen Triumpf einzufahren, auch als wir uns voneinander lösten und wir einfach nur ineinander verschlungen dalagen und auf die Müdigkeit warteten. Ich wachte am nächsten Morgen mit leichten Kopfschmerzen, einem merkwürdigen Geschmack im Mund und allein in meinem Bett auf. Erst dachte ich, einen aberwitzigen Traum durchgestanden zu haben, der mir meine peinlichen Sehnsüchte offenbart hatte, doch als mein Blick zur Zimmeruhr glitt, um festzustellen, dass ich nicht verschlafen hatte, und dabei an Serafin hängen blieb, wusste ich, dass das alles äußerst real gewesen war. Mit angezogenen Beinen hockte Serafin auf seiner Matratze, hatte die Arme um die Knie gelegt und schaute ins Leere. Er wirkte müde, verwirrt und auch irgendwie ängstlich. „Sera?“ Mühsam setzte ich mich auf, rückte mein T-Shirt zurecht und wusste nicht, ob ich es wagen sollte, sonst noch etwas zu sagen. Er schreckte auf und sah mich an, nur um im nächsten Augenblick den Blick wieder auf seinen Bauch zu richten. Ohne Zweifel, er schämte sich ziemlich für das, was gestern passiert war. Und ich hatte die böse Ahnung, dass ich nicht ganz unschuldig war, dass er keine Gegenwehr gezeigt hatte. „Wegen gestern…“ Obwohl er es nicht zeigen wollte, zitterte seine Stimme hörbar. Sofort krochen Schuldgefühle in mir hoch, die sich wie Kletten festsetzten. Ich kam mir im Nachhinein wie ein Unmensch vor. „Es tut mir Leid, was ich getan hab“, sprudelte es aus mir heraus, auch wenn es nur die halbe Wahrheit war, immerhin hatte ich es auch genossen, meine wahren Absichten zu offenbaren. „Ich hätte dich nicht dazu zwingen sollen, das war total falsch von mir, aber ich hatte nicht mehr die volle Kontrolle über mich.“ Alkohol sei dank. „Es muss dir nicht leid tun, ich hab ja mitgemacht.“ Vor Scham wurde er rot und legte seine Stirn auf die Knie. „Ich weiß schon, wie ich mich wehren kann, wenn es sein muss. Ein Tritt und du hättest nichts mehr gemacht, wirklich. Aber… wenn ich zu viel trinke, werd ich komisch, zum Glück wird mir nie übel und ich hab auch keinen Filmriss, aber ich bin dann teilweise super anhänglich und lass dann fast alles mit mir machen, egal von wem es ausgeht. Das letzte Mal wars mit der festen Freundin von einem Kumpel, der hat mich danach richtig fertig gemacht, weil ich seiner Meinung nach seine Beziehung zerstört hab. Und das war nicht das erste Mal. Ich bin also selbst schuld, das so was passiert, weil ich mich immer überschätze, aber ich denk jedes Mal, dass ich mich endlich an den Alkohol gewöhne.“ Er sah wieder zu mir hoch. „Können wir das Ganze als einmaligen Ausrutscher verbuchen und nie wieder drüber sprechen, okay?“ Meine Miene entgleiste nun endgültig und enthüllte damit viel mehr, als jedes Wort hätte sagen können. Serafin wurde noch eine Spur bleicher und atmete tief durch. „War dir das ernst, das gestern Nacht?“ Ich konnte lügen, aber abkaufen würde er es mir nicht, jetzt nicht mehr. Also nickte ich betreten und wünschte mich selbst zum Teufel. Spätestens jetzt würde er mich verachten, wie es so viele Jungs machten, wenn man sich outete. Betrunken rummachen war etwas ganz anderes als dumme Gefühle hegen. „Okay, das ist… ich hab damit nicht gerechnet. Ich dachte, du wärst an solchen Sachen gar nicht interessiert und das gestern wär einfach nur… naja, passiert.“ Seine Finger zogen den Saum meines T-Shirts über seine Knie, während er nachdachte, wie er darauf reagieren sollte. „Ich weiß, dass geht mich nichts an und du musst mir nicht antworten, aber… bist du schwul? Oder machst du bei mir eine Ausnahme?“ Irgendwie wäre es mir lieber, wenn er mich in Grund und Boden gestampft hätte, weil ich ihn angefasst hatte, statt dass er mich mit nicht nachvollziehbarem Verständnis ausfragte, was in mir vorging. Ich merkte, dass er das nicht wissen wollte, um es am schwarzen Brett zu veröffentlichen, sondern um Klarheit zwischen uns zu schaffen. „Ja, ich steh auf Jungs, bis auf ganz wenige Ausnahmen. Aber ich will das gar nicht, ich wäre lieber hetero und nicht so.“ „Seit wann weißt du es? Schon damals?“ „Nein, erst seit der Unterstufe.“ Und da hatte es mich so überrumpelt, dass ich es die ersten zwei Jahre einfach konsequent ignoriert hatte und jedem, der merkwürdige Empfindungen in mir wachgerufen hatte, aus dem Weg gegangen war. Danach hatte ich eine viel zu lange Zeit die Phase, in der ich geglaubt hatte, ich konnte damit leben, schwul zu sein. Dass es für mich richtig war, meinen Gefühlen nachzugehen und sie nicht einzusperren, bis sie gestorben waren. Alles ausgelöst von einem flüchtigen Bekannten aus meinem damaligen Sportverein, der mir völlig unverfroren für meine Bereitschaft, mich auf ihn einzulassen, ein Eis angeboten hatte. Jung, dumm und leichtsinnig wie ich war hatte ich angenommen, war auf den Geschmack gekommen und von da an fest überzeugt, mich auf dem richtigen Weg zu befinden. Von dem Typ hatte ich danach nie wieder etwas gesehen, was mir im Nachhinein immer noch ein ungutes Gefühl vermittelte. Er hatte mich gnadenlos benutzt, ohne dass es mir bewusst gewesen war. Weil ich mich auch zu diesem Zeitpunkt nicht getraut hatte, offen zuzugeben, wie es mit meiner Orientierung aussah, war zum einzigen offen schwulen Menschen an dieser Schule, nämlich Denny, gegangen, hatte nach einigem Hin und Her mit ihm geschlafen und war dadurch von „offiziell hetero“ in die Kategorie „heimlich homosexuell“ gewechselt. Ein merkwürdiges System, das Denny angelegt hatte, um alle ungeouteten Jungs untereinander bekannt zu machen und gleichzeitig zu verhindern, dass jemand nur vorgab, interessiert zu sein, um hinterher jemanden vor allen anderen bloßzustellen. Über diesen Weg war ich an Lazare geraten, einen komischen Kerl mit übersteigertem Selbstbewusstsein, der inzwischen gar nicht mehr auf unsere Schule ging, was gar nicht unrecht war. Hätte ich ihn heute noch sehen müssen, wäre ich wohl freiwillig von der Schule abgegangen. Er hatte mich zu wirklich dämlichen Sachen animiert, für die ich mich heute immer noch bis aufs Mark schämen würde, wenn ich mich nicht dazu entschlossen hätte, sie als fehlgeleitete Dummheit abzustempeln und auf sich beruhen zu lassen. Darunter fiel auch seine clevere Idee, auf dem Schulklo zu vögeln und sich dabei fast erwischen zu lassen, während er mir dabei so weh getan hatte, dass ich einfach nur noch weinen wollte. Nach der erschreckenden Erfahrung mit Lazare hatte ich noch am selben Abend vor dem Schlafengehen ein Gelübde abgegeben, mich nie wieder auf schnellen Sex mit irgendwelchen Kerlen einzulassen und mich von der Szene fernzuhalten, da sie mir nicht guttat. Seitdem hielt ich Ausschau nach Mädchen, mit denen ich vielleicht eine Beziehung führen könnte, wenn sie denn wollten, und war irgendwie an Lotta hängen geblieben. Ich bereute es bis heute nicht. In etwas kürzerer Form und ohne besonders emotionale Reaktionen ratterte ich Serafin diesen verkorksten Werdegang herunter, damit er zumindest eine Ahnung bekam, wie es sich abgespielt hatte, dass ich nicht freudestrahlend meine Veranlagung angenommen hatte und eigentlich den Großteil meines Lebens mit Verleugnen verbrachte. „Okay.“ Serafin machte einen spürbar überforderten Eindruck, weil er nicht damit gerechnet hatte, dass ich ihn gleich so vollkommen ins Bild setzte, probierte aber, seine Verwirrung durch ein Grinsen irgendwie zu überspielen. Nun sah er aus, als hätte er Zahnschmerzen. „Du siehst, ich hab nie darum gebeten, so zu sein, ich wollte eigentlich immer nur normal sein, so wie alle. Aber bei dir hab ich es nicht geschafft, es zu ignorieren“, rechtfertigte ich mich und klang dabei noch bitterer als zuvor. „Ich bin ziemlich armselig.“ Serafin hielt mein blödsinniges Selbstmitleid anscheinend nicht mehr aus, denn er stand eilig auf. Erst dachte ich, er würde jetzt tatsächlich schleunigst verschwinden, weil es ihm zu bunt und zu detailliert wurde und er mein Gejammere nicht mehr ertragen wollte, doch stattdessen kam er wieder zu mir auf mein Bett geklettert. Skeptisch sah ich zu, wie er selbst nicht genau wusste, wie er sich verhalten sollte, denn eigentlich nahm man an, dass er eher den Abstand wahren wollte, nachdem er so gut wie alle meinen dunklen Geheimnisse kannte, aber am Ende saß er neben mir und hatte fast unverfänglich einen Arm um meine Schulter gelegt. Ich fühlte mich wieder in unsere Kindergartenzeit zurück versetzt, als ich der Kleine war und Serafin ganz automatisch auf mich aufgepasst hatte, und mich an unserem letzten gemeinsamen Tag aufgemuntert hatte. Vielleicht fühlte er sich im Augenblick auch wieder ganz selbstverständlich verpflichtet, mir beizustehen, und nahm deshalb nicht fluchtartig Reißaus vor mir. Das Gewicht seines Arms wurde ein wenig von der Decke, die noch halb über meinem Rücken hing, gemildert, was gleichzeitig eine schwache, aber notwendige Barriere zwischen uns zog. Das hier war kein Rumgekuschel zwischen Verliebten; er wollte mich einfach ein bisschen beruhigen und mir zeigen, dass er trotz gestern Abend und meinem endlosen Gerede noch zu mir hielt. Dafür war ich ihm dankbar und es bedeutete mir viel mehr, als wenn er sich jetzt dazu durchgerungen hätte, etwas mit mir anzufangen, nur um meine Gefühle nicht komplett zu verletzten. „Und wie solls jetzt weitergehen?“, fragte ich nach einiger Zeit langem Schweigen und hoffte, dass kein „Erst mal gehen wir zum Unterricht“ als Antwort kam, denn soweit konnte ich noch allein denken. „Ich weiß es nicht. Wir werden sehen.“ Schön, dass er fast dieselben Worte benutzte wie ich vor ein paar Wochen. Da merkte ich nun am eigenen Leib, wie unbefriedigend eine solche Erwiderung sich anfühlte, wenn man auf Klarheit bestand. „Na dann.“ Ich seufzte unhörbar und überlegte, ihn langsam nach draußen zu komplimentieren, um Abstand und einen klaren Kopf zu bekommen. Doch zuerst musste ich noch etwas loswerden. „Nimm Kleo, die meint es wirklich ernst mit dir.“ Er brauchte einen Augenblick, bis er meinen plötzlichen Gedankensprung verstand, dann konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Wenn du das meinst.“ Dann wurde er wieder etwas ernster. „Und was hast du jetzt vor? Gibts denn sonst noch jemand, den du… der für dich infrage kommt?“ „Ich werds mal mit Lotta versuchen.“ Doch statt mir zuzustimmen, erhielt ich nur ein vehementes Kopfschütteln. „Mach das nicht, Marian. Du weißt doch eigentlich, dass du sie nicht wirklich willst, oder? Und du musst ihr nicht auf diese Art das Herz brechen, das wäre nicht gerecht.“ Wie gerne hätte ich ihm scharf widersprochen, weil ich das für mich selbst entscheiden musste, doch ich konnte nicht abstreiten, dass an seinen Bedenken die Wahrheit haftete. Wenn ich etwas Ernstes mit ihr anfing oder unsere momentane Verbindung weiterführte, belog ich nur wieder mich selbst und tat außerdem auch ihr weh, weil sie merken würde, dass etwas fehlte. Genau das, was sie zu suchen schien. „Du hast ja Recht.“ Auch wenn ich es nicht gern zugab. Es war so erstaunlich, dass er nach diesem Desaster noch so ehrlich und unverkrampft mit mir umging; das war mehr, als ich hätte erwarten dürfen. Vielleicht fühlte er sich auch noch etwas schuldig, dass er mir zumindest für eine Nacht Hoffnungen gemacht hatte. Vielleicht machten sich auch endlich unsere gemeinsamen Jahre im Kindergarten bezahlt. * „Oh mein Gott, Marian, er hat mich gefragt!“ Kleo hibbelte so furchtbar aufgeregt vor mir herum, als hätte sie einen Gummiball verschluckt. Verständnislos betrachtete ich ihr denkwürdiges Tänzchen und wartete, bis sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie wieder verständliche Sätze zustande brachte. Die Leute auf dem Gang beobachteten uns, als hätten wir beide nicht mehr alle Tassen im Schrank, schenkten uns aber nicht unnötig viel Aufmerksamkeit. „Serafin… er will mit mir zusammen sein!“ So wie sie klang, konnte sie es selbst noch kaum glauben. Ich verkniff mir ein belustigtes Grinsen. „Mann, hat der lange gebraucht.“ Entweder war er in manchen Punkten so entscheidungsfreudig wie meine Mutter beim Bettwäschekauf oder er hatte befürchtet, mich gleich in die nächste Krise zu reißen, wenn er Kleo schon einen Tag nach unserer gemeinsamen Nacht einen Antrag unterbreitete. Ich hatte nicht vor, ihn nach seinen Gründen zu fragen. Zum Glück hielt sich die Eifersucht, mit der ich gerechnet hatte, stark in Grenzen, ich freute mich eher für Sera, dass wenigstens er nun jemanden an seiner Seite hatte, den er wirklich mochte. Außerdem war es Kleo und nicht eine von den verwöhnten Modepüppchen, mit denen man höchsten angeben, aber nicht glücklich werden konnte. Allein das machte die Sache deutlich ertragbarer. Für einen Moment stockte Kleo in ihrem aufgedrehten Gehampel. „Was meinst du damit?“ Dass sie überhaupt auf meine Aussage geachtet hatte, grenzte an ein Wunder. Ich hatte gar nicht angenommen, dass sie mir zugehört hatte, so wie sie gerade durchdrehte. „Ach, nichts.“ Wenn ich ihr erklärte, dass ich sozusagen Amor gespielt hatte, um Serafin vor einigem Kummer zu bewahren, wäre sicher ihr Bild vom großen, immer irgendwie unbeteiligt wirkenden Marian für immer nicht mehr dasselbe. Wobei sich das sowieso noch änderte, wenn ich ihr offen und ehrlich sagte, dass ich nicht an Frauen interessiert war. Aber das musste nicht heute sein, sie hatte nämlich schon genügend im Kopf, da musste ich mich nicht noch ihr aufdrängen und sie verwirren. Reichte, dass ihr Serafin mal wieder alle Sinne stahl. Lotta saß auf der Wiese vor dem Hauptgebäude und schrieb ihre Zusammenfassung für die nächste Bioklausur, als ich mich neben sie setzte und mit einem Räuspern auf mich aufmerksam machte. Überrascht fiel ihr der Kuli aus den Fingern, weil sie so vertieft in ihre Arbeit gewesen war, dass sie mein Näherkommen gar nicht bemerkt hatte. „Marian, erschreck mich doch nicht so.“ Verlegen sammelte sie ihre Utensilien wieder zusammen und legte sie beiseite ins Gras. Jetzt war der Moment, auf den ich mich seit Tagen vorbereitet hatte und vor dem ich nicht kneifen wollte. „Lotta, ich muss dir was sagen.“ Erwartungsvoll schaute sie mich an und ich kam mir wie ein Blödmann vor. Sie dachte bestimmt, nun kam die berühmte Frage, über die sich eine Frau freute. „Du bist ein ganz toller Mensch, ich mag dich sehr und ich wäre wirklich gerne mit dir zusammen, aber leider kann ich keine richtigen Gefühle für dich empfinden, weil ich nicht an Frauen insgesamt interessiert bin. Ich bin schwul. Es tut mir Leid, dass ich dir das erst jetzt sage, aber ich wollt es selbst nicht wahrhaben.“Und wieder klang das furchtbar steif und einstudiert, obwohl ich mir nicht notiert hatte, was ich ihr erzählen wollte. Aber wenigstens hatte ich es endlich über mich gebracht, ihr die Wahrheit zu sagen. Blieb nur abzuwarten, wie sie darauf reagierte. Ich traute es ihr ja eigentlich nicht zu, aber trotzdem befürchtete, dass sie mich zusammenstauchte, immerhin hatte ich durch meinen Selbstbetrug auch ihr etwas vorgespielt. Sie saß kerzengerade da und hoffte wohl, ich hätte mir einen makaberen Witz erlaubt. „Okay, das… ist jetzt merkwürdig.“ Natürlich war es merkwürdig, ich machte ihr keinen Vorwurf; immerhin hätte man aus ihrer Position wirklich denken können, ich wäre die ganze Zeit nur nicht sicher gewesen, ob ich tatsächlich eine Beziehung eingehen wollte. Wer vermutete hinter solchem Verhalten einen jungen Mann ohne Mut zu seinem wahren Kern? Sie ließ mich einfach sitzen; blitzschnell packte sie ihren Krempel in ihre Umhängetasche und lief davon. Etwas überrumpelt und mit einem schlechten Gewissen blieb ich zurück und fühlte mich schlecht. Ich konnte ihr nicht einmal böse sein, dass sie es anscheinend nicht akzeptieren wollte. Vielleicht beruhigte sie sich und wir konnten einfach befreundet sein. Vielleicht nahm sie es mir auch noch ewig übel, sie getäuscht zu haben, und wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Das wäre sich mit der Zeit herauskristallisieren. Seufzend erhob ich mich, klopfte mir die Grasreste von der Jeans und machte mich auf den Weg, um an meiner Lieblingsstelle mir eine Kippe anzuzünden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)