Tal der Tränen von Shunya (Wenn Träume wahr werden) ================================================================================ Kapitel 5: Licht ---------------- Gerade als ich meine Hand nach Tala ausstrecken will, fällt mein Blick zum Himmel. Mit aufgerissenen Augen starrre ich dorthin und verharre in der Bewegung. „Acavi, was ist los?“, fragt mein Vater, doch ich bin unfähig auch nur ein Wort zu sagen. Batu folgt meinem Blick und erstarrt. Ein Stern. Langsam, wie in Zeitlupe fällt er zu Boden. Dieser Stern ist größer als die anderen. Sehr viel größer. Angst überkommt mich, ich erstarre. Ich muss hier weg! Einfach nur weglaufen, aber meine Beine bewegen sich nicht vom Fleck. Der Boden unter meinen Füßen scheint mich zu verschlingen. Ich sehe herunter und stelle fest, dass dem wirklich so ist. Der Sand zieht mich herunter. Treibsand. „Vater!“, schreie ich panisch und versuche mich zu bewegen, doch ich kann mich nicht befreien. Ich sehe in den Himmel. Der Stern fällt immer tiefer. Mala ist noch in ihrer eigenen Welt und mein Vater scheint mich nicht wahrzunehmen. „Vater!!!“, brülle ich so laut ich kann. Er schaut zu mir und sieht mich erschrocken an. Ich bin bereits bis zur Hüfte im Sand. Mein Vater kommt zur mir, greift nach meinen Armen und zieht, doch es bringt nichts. Er kann mich nicht befreien. „Hilf mir! Bitte!“, flehe ich ihn an. Immer tiefer sacke ich hinein, habe keinen Halt mehr unter den Füßen und kann mich kaum noch bewegen. „Acavi!“ Mein Vater sieht mich voller Furcht an. Wieder sehe ich hinauf zum Himmel. Der Stern berührt den Boden. Ein lange Riss zieht sich durch seine gesamte Länge. Zerreißt ihn förmlich und löst den Stern in Millionen von Splittern. Das letzte was ich noch sehe, sind die riesigen Scherben, die alles um sich herum zerstören. Sie fliegen messerscharf durch die Luft und vernichten alles, was ihnen im Weg steht. Eine Scherbe rast direkt auf uns zu. „Mala!“ Ich versuche die Seherin zu warnen, doch als sie zu mir sieht, lächelt sie nur sanft. Im nächsten Moment werde ich komplett unter den Sand gezogen. Ich habe das Gefühl zu ersticken, als würde sich mein Körper mit dem Sand füllen. Meine Innereien wehren sich dagegen, versuchen mich am Leben zu erhalten, während ich immer tiefer eingesogen werde. Auf einmal fühle ich mich nass. Meine Kleidung klebt an meinem Körper. Ich fühle mich beinahe schwerelos und kann mich wieder frei bewegen. Langsam öffne ich meine Augen. Wasser. Ich befinde mich in Wasser. So viel Wasser. Um mich herum schwimmen Fische in allen Arten, Farben und Größen. Ich spüre wie mir die Luft ausgeht, wie ich ohnmächtig werde. Ich muss am Leben bleiben! Ich will noch nicht sterben! Mit letzter Willenskraft schwimme ich, suche einen Ausgang, finde jedoch nichts. Ich schwimme immer weiter, bis ich plötzlich durch eine Oberfläche breche. Nach Luft schnappend halte ich mich am Grund fest und ziehe mich an die Oberfläche. Ich huste und ringe nach Atem. Erschöpft falle ich zu Boden und schließe die Augen. Was war das? Wie sehr kann sich eine Welt verändern? Haben Mala und mein Vater es überlebt? Was ist mit der Stadt und Mareit? „Tala...“, flüstere ich matt. Ich öffne die Augen einen spaltbreit und bemerke, wie der Boden unter mir leuchtet. „Tala?“ Ich setze mich auf und sehe herunter. Es ist nicht Tala, der so scheint. „Was...?“ Ich bemerke, dass ich nicht einfach nur auf einer Oberfläche bin. Unter mir ist das Meer. Überall. Als würde ich auf einer Glasplatte stehen. Unter mir schwimmen große und kleine Fische in allerlei leuchtenden Farben vorbei. Plötzlich brechen sie durch die Schicht, die mich von ihnen trennt und springen aus dem Boden direkt an mir vorbei, nur um wieder platschend im Untergrund zu landen. Die geöffnete Oberfläche verschließt sich wieder, sobald ein Fisch zurück im Wasser ist. Fasziniert beobachte ich die Tiere. Irgendetwas umfliegt mich und als ich den Blick hebe, sehe ich den kleinen Stern. „Tala!“, rufe ich und stehe hastig auf. Er fliegt vor mir weg und so folge ich ihm hastig. „Tala, warte!“, schreie ich und versuche ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Den Blick auf dem Stern haftend, renne ich so schnell ich kann. „Tala!“, rufe ich erneut. Der Stern umfliegt mich, die hellen Lichtpartikel erleuchten alles um mich herum. „Du bist mein Licht. Du führst mich durch die Dunkelheit!“, flüstere ich bewegt. Doch wohin? Ich drehe mich in alle Himmelsrichtungen. Überall ist dieselbe Dunkelheit zu sehen. Wo ist meine Stadt, mein Zuhause? Ziellos laufe ich los. „Tala, wo müssen wir hin?“, frage ich ihn, doch der Stern weicht nicht von meiner Seite. Wo soll ich hingehen? Irritiert bleibe ich stehen. „Ich bin allein...“ Ich merke wie meine Lippen zittern. Meine Hände balle ich zu Fäusten. Ich muss bei Verstand bleiben. Panik hilft mich jetzt nicht weiter. Ich atme langsam tief ein und aus, während ich meine Augen schließe. Das dürfte keiner überlebt haben. Die Scherben waren zu groß. Es waren zu viele. Wieso habe ich das überhaupt überlebt? Ich umschlinge meinen Körper mit meinen Armen und sinke auf die Knie. „Vater...“, flüstere ich mit brüchiger Stimme. „Was soll ich machen? Wo soll ich hingehen?“ Ich weiß nicht, wie lange ich an dieser Stelle verharre. Hier hat man kein Zeitgefühl. Tala fliegt um mich herum. Mein einziger Gefährte. „Bist du ein Stern?“, frage ich ihn. „Konntest du deswegen nicht sprechen? Was ist mit deiner menschlichen Gestalt?“ So viele Fragen mir auch durch den Kopf schwirren, keine von ihnen wird beantwortet. Erneut sehe ich mich um und lasse den Blick schweifen. „Okay, dann muss ich hier wohl auf mein Ende warten...“, murmele ich resigniert. Hier gibt es kein Entkommen. „Gibst du schon auf?“ „Ja, was soll ich sonst machen?“, erwidere ich leise. „Hier führt kein Weg raus.“ „Du bist ein Kämpfer. Das warst du schon immer.“ „Nein, ich bin kein Kämpfer. Ich habe nie für etwas kämpfen müssen.“ „Dann wird es langsam mal Zeit, meinst du nicht?“ Ich drehe mich langsam um und erkenne Egra in einiger Entfernung. „Bist du echt?“, frage ich ihn. Egra beobachtet mich. „Ob ich echt bin? Bist du denn echt?“ „Ich bin ein Mensch. Ich lebe, natürlich bin ich echt!“, erwidere ich höhnisch. „Aber du nicht oder? Du bist vom Fluch befallen. Er frisst dich bei lebendigem Leibe auf.“ „Wie jeden von euch auch.“ „Sie sind alle tot oder nicht?“, frage ich ihn und stehe langsam auf. Tala weicht mir nicht von der Seite. „Möglich...“ Ich sehe zu Egra. „Du wirst mich hier nicht herausführen. Du willst meinen Tod, immerhin hätte ich dich bereits beinahe umgebracht.“ Egra kommt langsam auf mich zu. Schritt für Schritt. „Was bringt mir dein jämmerlicher Tod? Du weißt genau, wonach ich mich verzehre!“ „Meinen Körper wirst du niemals bekommen!“, erwidere ich wütend. „Nicht meinen Körper!“ Egra bleibt dicht vor mir stehen. „Als ob es das erste Mal wäre...“, murmelt er belustigt und fährt mit seiner rauen Hand langsam über meinen Hals. „Nur noch einmal... Gib mir deinen Körper.“ Egra beugt sich vor, zieht seinen Verband von seinem Gesicht und legt seine Lippen an meine Haut. Ein Schauder rinnt über meinen Leib. „Egra, lass mich los!“ Ich versuche mich zu bewegen, aber es ist mir nicht möglich. Als wäre ich festgewachsen, muss ich mich seinem Willen beugen. Aufgeregt schwirrt Tala um uns herum. Ich merke, wie sich Egras Atem beschleunigt und meinen Hals streift. Er presst sich eng an mich und zieht mir die Kleidung vom Körper. Ein Stück nach dem anderen fällt zu Boden und versickert im Wasser. Wenn ich mich doch nur bewegen könnte... Egra schubst mich zu Boden, drückt mich fest auf den Grund. Er erforscht meinen nackten Körper, streichelt ihn und lässt keinen Millimeter aus. Mein Blick fällt nach oben. Ich zwinge mich dazu, Tala zu beobachten. „Mein kleiner Stern...“, flüstere ich. Wieso kann er mir nicht helfen? Egra entkleidet sich und legt sich auf mich. Ich sehe seinen entstellten Körper, die Verletzungen, die ich ihm zugefügt habe. „Gib mir deinen Körper!“, murmelt er und presst sich eng an mich. Meine Atmung beschleunigt sich. Ich spüre, wie er sich mit mir vereint. Ich versuche mich unter ihm zu winden, aber mein Körper ist starr wie ein Brett. Ich sehe, wie der Fluch langsam auf mich übergeht, wie er mit mir verschmilzt und beginnt sich an mir zu laben. Egras Geist dringt in mich und raubt mir meinen Körper. Mein Gefäß. Als ich zu mir komme, bin ich allein. Auf dem Boden liegt Egras schlaffer geschundener Körper. Ich sehe an mir herunter. Nichts. Ich bin nicht da. Er hat mir meinen Körper genommen. „Tala?“, flüstere ich leise. Bin ich jetzt ganz allein? Hier im Nichts? Bin ich für immer verloren? Verdammt umherzuirren ohne einen Körper? „War es das jetzt wirklich?“ Die Welt stirbt und jetzt auch ich? Bin ich nicht längst tot? Ich bewege mich frei im Raum, in der Dunkelheit. Ich kann endlich überall hin und doch gibt es nirgends einen Ausweg für mich. Ich sehe ein schwaches Leuchten in der Ferne. „Tala? Tala?!“ So schnell es geht, nähere ich mich ihm. Er liegt in seiner menschlichen Gestalt am Boden. Sein Leib leuchtet schwach. Tala öffnet die Augen und dreht sich langsam mit Mühe auf den Rücken. „Was hat er mit dir gemacht?“ Tala atmet schwer und hält die Hand an seinen blutenden Bauch. „Ich brauche deinen Körper, Tala! Du musst ihn mir leihen!“, flüstere ich ihm zu. Tala lächelt erschöpft und nickt kraftlos. Ich lasse mich auf ihm nieder, vereine mich mit ihm und spüre, wie mich die Lebenskraft von Tala umgibt. Er ist nur ein Stern, aber umso viel mehr Energie steckt in ihm als in einem Menschen und trotzdem ist er nun geschwächt und verletzt. Langsam erhebe ich mich und bewege meinen neuen Körper. Ich starre auf Talas schmale Finger. Seine Gliedmaßen fühlen sich so fremd und doch vertraut an. Ich erhebe mich vom Boden und sehe mich um. Wo muss ich jetzt hin? Welchen Weg hat Egra genommen? Mit der Bauchverletzung kämpfe ich mich voran, laufe immer weiter und versuche nicht zu denken. Einfach nicht denken. Nur laufen. Immer weiter und weiter. Der Schmerz bleibt. Verwirrt bleibe ich irgendwann stehen, blinzele ein paar Mal und sehe angestrengt in die Finsternis. „Das sieht aus wie Stufen? Ist das eine Treppe?“ Ich gehe darauf zu, halte meinen schmerzenden Bauch und je näher ich komme, desto größer wird meine Hoffnung. „Eine Treppe! Tala, das ist eine Treppe!“, rufe ich triumphierend aus. Erfreut bleibe ich davor stehen, sacke in mich zusammen und berühre die erste weiße Stufe, die scheinbar in der Luft schwebt. Ich lache leise und spüre die Müdigkeit in mir. Lange hält dieser Körper es nicht mehr aus. „Ich muss meinen Körper finden...“, murmele ich und stütze mich an der Stufe ab. Ich erhebe mich und sehe wie das Blut herunter tropft. Angestrengt erklimme ich die einzelnen Stufen, gelange immer höher und sehe doch kein Ende. Mein Körper wird immer schwächer. Ich verliere einfach zu viel Blut. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)