Roter Staub von Luca-Seraphin (Das Gewicht einer Seele) ================================================================================ Kapitel 1: Prolog ----------------- 16.07.1857 – Kanpur Brüder, steht auf! Von allen Gottesgaben die köstlichste ist Swaraj (die nationale Selbstregierung). Soll der Teufel der Unterdrückung, der sie uns durch Betrug geraubt hat, sie uns für immer nehmen? Kann eine solche Handlung gegen den Willen Gottes in alle Ewigkeit Bestand haben? Nein, niemals. Die Engländer haben so viele Grausamkeiten begangen, dass das Maß ihrer Untaten voll ist. Zum Überfluss haben sie jetzt ihren Wunsch zu erkennen gegeben, unsere heilige Religion zu zerstören! Wollt Ihr auch jetzt noch untätig bleiben? Gott will es nicht, dass Ihr noch zaudert. Gott hat in den Herzen der Hindus und Mohammedaner den Wunsch geweckt, die Engländer aus dem Land zu werfen. Und mit Gottes Hilfe und mit Eurer Kraft werden sie bald vollständig geschlagen werden, dass in unserem Hindustan auch nicht die geringste Spur mehr von ihnen zurückbleiben wird!..." Aufruf des mohammedanischen Schattenkaisers Bahadur Shah zum Aufstand von 1857, (Auszug): "Hindus und Mohammedaner von Indien! Steht auf! Blutige Schleifspuren führten über die Schwelle zu ihm hinaus. Sie verloren sich nach einigen Metern. Über der leeren Straße flirrte die Hitze. Wind wirbelte roten Staub auf. Jeevan fror trotz der Temperaturen. Vor wenigen Tagen hatte er sich im Auftrag Generalmajor Wheelers aus der Garnison geschlichen und auf den Weg zu Henry Havelock begeben, um den General für das belagerte Kanpur um Hilfe zu bitten. Havelocks Truppen ritten auf die Stadt zu; an der Spitze er General selbst. Allerdings gab es nichts mehr, was sie befreien konnten. Jeevan wendete sich von dem Platz ab und rannte zum Ufer des Sati Chowra. Wie eine eiserne Klammer schloss sich Angst um sein Herz. Nana Sahib wollte den Europäern freien Abzug gewähren, wenn sie sich ihm ergaben. Niemand war hier, aber die frischen Blutspuren deuteten auf einen harten Kampf hin. Vor wenigen Tagen stand eine Kapitulation außer Frage. Die schlecht befestigte Garnison Kanpurs konnte nicht gegen das Artilleriefeuer der Geschütze bestehen. Die Luft biss in Jeevans Lungen und brannte in seinen Augen. Er konnte kaum atmen. Blei lastete auf seiner Brust. Aller Sauerstoff gerann zu heißer, zäher Feuchtigkeit, die ihm die Kehle zuschnürte. Unter seinen nackten Füßen fiel die Straße zurück. Mit langen Schritten brachte er das Stück zwischen Kanpur und Sati Chowra hinter sich. Obwohl er es nicht wollte, sammelten sich Tränen in seinen Augen. Die dreihundert Soldaten und ihre Familien waren ihm mehr Freunde, als die Inder in der Stadt. Seine Hand krampfte sich um sein Gewehr und den Säbel. Trotz seiner Atemlosigkeit nahm er noch an Geschwindigkeit auf. Durch die Bäume sah er bereits das glitzernde Band des Flusses in der heißen Mittagssonne. Der Boden neigte sich. Schilfgras wucherte braun verbrannt aus der rissigen Erde. Ein beißender Schmerz zuckte durch Jeevans Fußsohle. Er stolperte noch einige Schritte voran, bevor es ihm gelang, seinen Schwung abzubremsen. Verunsichert sah er sich um. Um ihn herum brach sich Licht auf Messinghülsen; hunderten Hülsen! Jeevan hob eine davon auf. Für den Bruchteil einer Sekunde betrachtete er das ausgestoßene Geschoss. Es gehörte nicht zu den Enfield Gewehren, sondern zu einer Brown Bess Muskete. „Sepoy!“, flüsterte er atemlos. Die bislang irreale Angst gewann an Stofflichkeit. Er schleuderte die Hülse von sich und trat rasch durch die dichten Bäume. Der Anblick raubte ihm alle Kraft. Hilflos sank er auf die Knie und starrte auf das Ufer hinab. Über den Leichen hunderter Männer und Frauen flirrte die Luft. Insekten und Aasfresser scharrten sich an diesem Ort. So weit Jeevan den Ort überblicken konnte, sah er niedergemetzelte Soldaten. Einige lagen in ihren Booten, hingen halb über die Reling oder kauerten in unnatürlicher Haltung, erstarrt. Blut, Verwesung und Hitze würgten Jeevan. Sein Gehirn konnte dieses sinnlose Massaker nicht ertragen. Er fühlte, wie sich sein Geist leerte und einer unerträglichen Körperlosigkeit platz machte. Hilflos presste er die Hände gegen seine Schläfen, bis ein geringer Schmerz erwachte und ihm sagte, dass er noch immer Empfindungen hatte. Mühsam zwang er sich, seinen Verstand zu gebrauchen. Bei einem Blick über das Schlachtfeld, wurde ihm bewusst, dass diese Männer und Frauen schon tagelang tot sein mussten. Das Blut auf der Straße hingegen war frisch … Jeevan stützte sich auf sein Gewehr und drückte sich vom Boden hoch. Es fiel ihm schwer. Er spürte, dass ein Teil seines Herzens hier zurück blieb. Was ihn nun erwarten möchte, konnte nur ungleich schrecklicher sein! Vor kurzem musste es in der Stadt zu einem weiteren Kampf gekommen sein! Vielleicht gab es aber noch Überlebende. Allein von diesem Gedanken beflügelt rannte er zurück, so schnell seine Füße ihn trugen. Vielleicht konnte er helfen! * Jeevan duckte sich unter der eingetretenen Tür des Innenhofes hindurch. Im Sand rund um den Mulsuri Baum lagen zertrümmerte Gefäße. Kleidungsreste, getränkt von schwarz getrocknetem Blut, hingen in den Ästen. Haar wehte geisterhaft in dem heißen Wind und verfing sich an dem Stamm. Roter Staub bedeckte die Fliesen der Veranda unter den beiden Palisaden rechts und Links von Jeevan. Der Gestank von Blut, Fäkalien und Tod streifte ihn. Für einen winzigen Moment glaubte er, diesen schrecklichen Geruch auf seiner Zunge zu schmecken. Jeevans Kehle schnürte sich zusammen. Sein Herz raste. Er wusste nicht, ob es vom Laufen kam, oder der nagenden Ungewissheit über den Verbleib seiner Freunde. Angst kroch seine Wirbelsäule hinauf. Er hatte plötzlich das ungute Gefühl, beobachtet zu werden! Unwillkürlich schluckte er, doch sein Mund war so trocken, als habe er zum letzten Mal in Agra getrunken. Wenn es ein Anglis war, erkannte er Jeevan vielleicht nicht. Er trug die englisch-indische Uniform mit der typisch roten Jacke und den weißen Hosen eines Sepoys. In seiner Hand lag das entsicherte Enfield Gewehr. Er trug die Bewaffnung eines Soldaten; Revolver, Säbel, Messer und Gewehr. Im Notafall konnte er nicht davon ausgehen, dass jemand zwischen einem Enfield Gewehr und einer Brown-Bess Muskete einen unterschied machen würde. Jeevan war eindeutig ein Inder. Er rechnete mit verängstigten Anglis, Soldaten oder Rebellen von Nana Sahibs Armee. Vielleicht bildete er sich den Beobachter aber auch nur ein. Seine angespannten Nerven spielten ihm vielleicht auch nur einen Streich … Andererseits lag er selten falsch mit seinen Vorahnungen … Seine Waffenhand bebte leicht. Schweiß rann über seine Stirn und sickerte in den Kragen seiner Uniform. Langsam ging er weiter, darauf bedacht, die Schatten unter der Attika und hinter den Säulen, in den Räumen, mit den Blicken zu durchdringen. Allerdings war es ihm durch die unerträglich grelle Sonne kaum möglich mehr zu sehen, als die verspielten, mit Ornamenten versehenen Durchgänge unter der Galerie, aus der stille Schwärze drang. Jeevan kniff die Augen zusammen und sah zu Boden. Überall fand er Blut und Schleifspuren in dem Sand. Hunderte Füße zertrampelten Spuren … Vorsichtig schritt er aus, darauf bedacht, nicht in das Blut zu treten. Er lauschte. Bis auf das rasende Pochen seines eigenen Herzens vernahm er nichts. Mit einem Schritt überwand er den geringen Höhenunterschied der Veranda. Das Haus atmete Tod aus … Allerdings mischte sich in den Gestank der scharfe Geruch eines Raubtieres! Er biss die Kiefer aufeinander und betrat das Innere des Bibighar – des Frauenhauses. Er hielt sich im Toten Winkel für jeden Schützen, als er durch den Torbogen nach innen huschte. Der Gestank nach Tod in der Hitze der entvölkerten Stadt folgte ihm und verstärkte sich. Die gespenstische Stille in den Mauern nahm ihm den Atem. An den geborstenen Kacheln klebte eine dicke Schicht halb geronnenen Blutes. In den Ritzen netzte es den ausgedörrten Boden. Spritzer bedeckten Wände und Decken. Rote Abdrücke kleiner Kinderhände schmierten über die Scheiben und Wände. In Lachen lagen abgehackte Körperteile in vereinzelten Resten von Kleidern und ausgerissenem Haar. Seine Lippen bebten. Tränen schossen in seine Augen. Alle Kraft floss aus seinem Körper. Eine Mischung aus Grauen und Hoffnungslosigkeit rann zähflüssig in seinen Geist. Tod, abgeschlachtet von aufständischen Männern seines eigenen Volkes. Jeevan lehnte sich gegen eine Säule und rieb sich mit der Hand über die Augen. Etwas in ihm weigerte sich anzuerkennen, dass möglicherweise alles Leben ausgelöscht worden sein konnte. Trotzdem rannen Tränen ungehindert über seine Wangen. Heißer, feuchter Atem streifte seine Waffenhand! Jeevan zuckte zusammen und sah hinab … Ein großer, sehniger Tiger stand neben ihm. Aus großen, intelligenten Bernsteinaugen sah das Tier zu ihm auf. Er erkannte sie an ihrem goldenen Halsband, in das drei Smaragde eingelassen waren und an ihrer eigentümlich menschlichen Art. „Aditi“, flüsterte er und streichelte ihr über den Kopf. Der Blick des Wertigers sank reumütig zu Boden. Das riesige Geschöpf litt unter dem Tod der Menschen, gegen den sie nichts ausrichten konnte. In ihrem Fell fand er Narben, die auf Schüsse hindeuteten. Ein Teil ihres Ohres fehlte. Verkrustetes Blut und Dreck verunstalteten sie. Jeevan ging in die Knie und legte ihr seinen Arm um den Nacken. Aditi drückte ihren großen, weichen Kopf gegen seine Brust. Sie zitterte. Auch wenn sie in dieser Gestalt beeindruckend groß und gefährlich erschien, war sie doch nur ein fünfzehnjähriges Mädchen, was in ihrem jungen Leben reichlich Leid und Schmerz über sich ergehen lassen musste. Eine entmachtete Rani, die nie ein eigenes Reich regieren würde. Jeevan kraulte ihren Nacken. „Ich weiß, dass du keine Chance gegen Nana Sahib und Tantya Tope hattest.“ Er küsste ihren Kopf. Menschliche Tränen rannen aus den Augen des Tigers und sickerten in seine Uniformjacke. Seit Beginn der Belagerung nutzte sie ihre tierische Gestalt, ohne in ihren humanoiden Körper zurück zu kehren. Dennoch überwogen alle menschlichen Gefühle über alle tierischen Instinkte. Schuldgefühle manifestierten sich in seinem Herz. Aditi war seine Frau. Auch wenn er sie nicht liebte, stand sie ihm, als Cousine und Kindheitsfreundin nah. In den letzten Tagen dachte er keine Sekunde an die Gefahr, in der auch sie schwebte. Nun sah er, wie die Sepoy gewütet hatten. Auch Aditi schwebte in beständiger Gefahr. „Ich hätte dich mitnehmen müssen“, flüsterte Jeevan. Sie hob den Kopf und leckte ihm über die Wangen. Ihr Atem roch nach Krankheit und schlechtem Fleisch. Dennoch war es Zeichen ihrer Vergebung. Er umklammerte sie und drückte ihren riesigen Körper an sich. „Die Anglis kommen zu spät“, flüsterte Jeevan in ihr Ohr. Erneut rannen Tränen über seine Wangen. Aditis Schädel zuckte hoch. Jeevan sah sie fragend an. Mit einem Satz sprang sie an ihm vorbei, auf die Veranda und wartete. Sie wollte ihm etwas zeigen! * Langsam folgte Jeevan dem Tiger hinaus in die sengende Hitze. Plötzlich schien er wieder etwas besser atmen zu können. Die Beklemmung ließ nach. Allerdings währte dieser Zustand nur wenige Sekunden. Aditi schlug den Weg zu dem Brunnen nah des Frauenhauses ein. Sie folgte den Schleifspuren … Jeevan sah bereits von weitem die eingetrockneten Blutspuren auf der Brunneneinfassung. Mit jedem Schritt wurde er langsamer. Dennoch übte dieser Ort eine magische, böse Anziehung auf ihn aus, der er sich nicht entziehen konnte. Er wusste, was ihn erwartete. Am Rand des Beckens blieb er stehen. Sein Blick glitt hinab. Der Anblick war unerträglich. Blutige Kadaver von Frauen und Kindern, Erschossen, erschlagen, erstochen und zerhackt, lagen am Grunde des Schachtes. Unerträglicher Gestank drang nach oben. Jeevan kniete nieder. Hemmungslos rannen Tränen des Entsetzens und der Verzweiflung über sein Gesicht. Diese Menschen hatten nicht verdient, so zu sterben! Das alles waren seine Freunde! In den erloschenen Augen glaubte er Vorwurf zu lesen, die blutigen Gliedmaße wiesen anklagend auf ihn. Jeevan spürte eine Woge unversöhnlichen Hasses auf seinen Cousin! Nana Sahib musste für diese Tat bezahlen! Selbst wenn seine Taten nicht nur von Machtgier gesteuert worden wären, so hätte er Indien damit keinen Dienst erwiesen! Die Anglis würden sich rächen. Dabei stand außer Frage, dass sich ihr Zorn gegen alle Hindus und Moslems richten würde, nicht nur gegen die aufständischen Sepoy und ihre Anführer! Jeevan spürte, wie ihm schlecht wurde. Allein zu dieser Grausamkeit waren nur Asura im Stande! Ein Mensch konnte so schrecklich nicht sein! Die Abscheu und der Schmerz in ihm wurde körperlich. Er würgte. Zugleich setzte starker Schwindel ein. Mit beiden Händen klammerte sich Jeevan an der Umfassung des Brunnens fest und drehte das Gesicht ab. Erschöpft sank er zu Boden und krümmte sich zusammen. Der heiße Sand fing seine Tränen auf. Jeevan weinte stumm. Es gab nichts auf der Welt, was diese Ungerechtigkeit sühnen konnte und niemand würde nun die Anglis von ihrem Rachefeldzug abhalten! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)