Eisregen von MoonlightWhisper (Glaswichteln) ================================================================================ Kapitel 1: Eisregen ------------------- Nedim ging an der Seite seines Vaters den Flur entlang in die Richtung des Konferenzraumes, welcher nur für die höchsten Ränge betretbar war. Nedim war ein großer Mann, ähnlich wie sein Vater. Er hatte ebenfalls sein dunkelbraunes Haar und die grauen Augen. Die Unterschiede, welche sich zwischen den Engeln zeigten, war, dass Nedims Haut ein paar Töne dunkler war als die in einem Goldton schimmernde Haut Raphaels. Auch besaß Nedim nicht das gleiche Ausmaß an Macht. Im Gegensatz zu dem Engel ersten Ranges, der neben ihm ging, war Nedim nur zweiten Ranges. Der Sohn Raphaels schaute sich kurz um und erwartete fast schon, dass sein Zwillingsbruder Noyan ihnen mit eiligem Schritte folgte, doch der Gang hinter ihnen war leer. Raphael schien Nedims Gedanken zu erraten und sagte halblaut: „Dein Bruder wird nicht kommen. Es gab einen Zwischenfall mit ein paar Gefallenen.“ Seit dem Fall Lucifers war es Raphaels Aufgabe gewesen sich um die Gefallenen zu kümmern, welche ihre Schlacht immer noch weiter austragen wollten und das auf kosten der Menschen. Die Schafe, die zu beschützen den Engeln eins aufgetragen wurde. Nedim und Noyan waren seine einzigen Nachkommen, seine Erben und die Oberbefehlshaber, die ihm direkt unterstanden und seine Befehle ausführten. Nedim nannte man die Engelszunge, denn fing er an zu reden, konnte ihm kaum eine Person widerstehen. Viele schlossen sich ihm an oder erzitterten vor seiner Stimme. Noyan dagegen überzeugte durch kühle Strategie und wurde bloß der Offizier genannt. Man hätte nicht vermutet, dass es gerade Nedim war, der von beiden die Kälte ihres Vaters geerbt hatte. In ihm tobte der Eissturm, der wie auch bei Raphael das Engelsfeuer zu ersetzen schien. Vielleicht war gerade dies der Grund, weshalb Nedim mit zur Besprechung dürfte und Noyan sich um die Gefallenen zu kümmern hatte. Am Ende des Ganges war eine große Doppeltür. Vor ihr stand eine Frau, die ausgeglichen und erhaben wirkte. Ihre Flügel waren zwar nicht unter der Haut eingefahren, doch waren sie hinter ihrem Rücken angelegt. Im künstliche Licht der Lampen wirkten sie nicht so erhaben wie im Sonnenlicht mit ihren goldbraunen Federn. Ihr Haar war geflochten und hochgesteckt und wirkte trotzdem so, als müsste man sie nur berühren, damit sie sich zu der hellblonden Flut ergossen, die ihr bis zu der Hüfte reichten. Ihre grünen Augen strahlten, als wäre sie gar nicht auf dieser Welt anwesend, sondern auf einer anderen Ebene. „Ariel, schön dich zu sehen“, begrüßte Raphael die Frau ihm gegenüber reserviert. Ariel nickte und fragte direkt: „Bist du hier wegen Lucretia?“ „Ja, ich wollte mit ihr den Einsatz von ein paar Achtern besprechen.“ „Du sammelst schon wieder Rekruten im achten Rang? Nun, ich denke Lucretia wird dir sagen, ob welche zu entbehren sind“, sagte Ariel ruhig und auf eine Handbewegung von ihr schwang die Tür auf. Nedim durchschritt die Doppeltür, Raphael wurde von Ariel zurückgehalten. Eine ihrer Hände legte sich auf seine Schulter und sie flüsterte ihm zu: „Die Stimme des Erhabenen spricht zu mir und hat nichts Gutes über deine Nachkommen zu berichten. Halte sie im Auge. Nedim und Noyan könnten dich verraten. Es ist mir nur noch nicht klar, welcher der beiden nun die wirkliche Gefahr ist. Zwillinge überkreuzen sich zu sehr.“ Raphael hatte die Flügel nicht ausgefahren, doch mit einer unruhigen Bewegung schoss ein paar eisblauer Flügel aus seiner Haut und zerrissen das Hemd, welches er trug, als wäre es Butter an seinem Rücken. „Danke für deine Warung. Wäre es nicht der Erhabene der aus dir spricht, würde ich dich vor dem verräterischen Blut warnen, dass durch deine Tochter fließt. Doch du besitzt einen Teil am Allwissen und so wirst du sie unter Kontrolle halten können.“, gab Raphael ihr leise zurück. Das die Luft nicht um sie gefror, war das einzig Verwundernde. „Wenn du dich erhebst, wird die Welt unserer Schafe im Eisregen versinken. Doch zum Glück ist dieser Tag noch fern. Lass nicht zu, dass deine Söhne dir diesen Platz streitig machen. In beiden fließt genug Eis“, und nun war neben der Ruhe in Ariels Stimme eine scharfe Drohung. „Dann lass du nicht zu, dass durch deine Tochter das Feuer Lucifers die Erde, auf der unsere Schafe grasen, niedergebrannt wird!“, ermahnte Raphael sein Gegenüber. Bei diesen Worten breitete sich ein Lächeln auf ihren Lippen aus. „Das würdest du nicht zulassen, selbst wenn ich versage und du die letzte Instanz wärst. Du hast Lucifers Flügel gebrochen, sie irreparabel beschädigt. Du hast sein Feuer erstickt, als ich dazu nicht mehr fähig war. Wir sind der Rat, wir sind die Erzengel. Auf uns verlässt sich der Erhabene und in unseren Händen liegt das Schicksal unserer Schafe. Ich vertraue dir. Tu du es mir doch gleich“, bat Ariel ihn ruhig und Raphaels Züge wurden nach diesen Worten weicher. Seine Hand fuhr kurz ihr Kinn nach. „Ich habe dir immer vertraut.“ Mit diesen Worten ging auch Raphael in den Konferenzraum und hinter ihm schloss sich die Tür. Der Konferenzraum hatte drei beige Wände und die vierte Wand im Osten bestand aus einer einzigen Glasfront, die einem erlaubte, auf die Skyline von London zu schauen. Der Boden war aus edelstem gut gepflegten Parkett. Es gab keine Tische oder Stühle, nur rote Kissen, auf die man sich setzen konnte. In der Mitte des Raumes, mit dem Blick aus dem Fenster gerichtet, saß ein Mädchen, das nicht älter aussah als vierzehn oder fünfzehn Jahre. Ihr Haar war von dem selben Hellblond wie Ariels und sie trug es nur Kinnlang. Ihr junger Körper steckte in einer Art Tunika, die in einem Scharlachrot leuchtete und ihre Flügel, die sie weit hinter sich ausgebreitet hatte, spiegelten den Herbst wieder. Ihre Federn waren von Scharlachrot, Braun und Gold. Nedim lehnte locker an der Wand und schaute auch aus dem Fenster, doch Raphael bemerkte, dass sein Sohn zwischendurch verstohlen zu Lucretia herüber schielte. „Lucretia, es ist wie immer eine Ehre dich besuchen zu dürfen“, erbot Raphael dem Mädchen den Respekt, den sie verdiente. Lucretia war ein Engel ersten Ranges. Sie würde schon lange im Rat der Ersten sitzen und somit zu den Erzengel zählen, wäre sie nicht bestraft worden. Lucretia war als ihr Vater fiel gerade mal zwanzig Jahre auf der Welt. Ein Kleinkind in den Augen der Engel, da sie sich bis zu ihrem hundertsten Geburtstag dreimal langsamer entwickelten als Menschen. Als Tochter von Ariel, der Stimme des Erhabenen, und Lucifers, dem Lichtbringer, lag in ihr viel Potential. Doch der Erhabene musste ein Exempel statuieren als Lucifer und sein Gefolge verbannt worden war. Um den Richterspruch über Lucretia, als Nachkommen Lucifers, zu fällen, ließ sich der Erhabene bis zu ihrem fünfzigsten Geburtstag Zeit. Das Urteil war, dass sie nie ihre volle Macht entfallen würde und ewig ein Kind bleiben würde. Nun nach einigen Jahrtausenden war Lucretia die Koordinatorin der Aufgaben. Ihre Macht erlaubte ihr jeden Engel der existierte zu lokalisieren und seine Blutlinie nachzuvollziehen. Sie allein wusste, neben dem Erhabenen, was jeder einzelne Engel tat. Hatte man Aufgaben, dann sagte Lucretia einem, welchen Wächter man kontaktieren musste, damit der richtige Engel die Aufgabe bekam. Nur Engel ersten, zweiten und dritten Ranges wurden direkt von den Erzengeln Kontaktiert. Das war die Hierarchie und es behagte Raphael nicht, dass Lucretia dort überall ihre Finger im Spiel hatte. Lucretia drehte sich zu Raphael und ihre goldenen Augen schienen durch ihn durch zu sehen. „Was ist dein Anliegen?“, fragte sie weniger höflich, als er sich gewünscht hätte. „Ich wollte nach der Entbehrlichkeit von Virgil, Rang Acht, nicht Angehöriger zu einem der großen Linien und Garret, ebenfalls Rang Acht, Angehöriger der Linie Michaels, fragen“, erläuterte Raphael präzise. „Die beiden sind noch unter 300 und haben Nedim angesprochen, ob sie ihre Berufung wechseln dürfen.“ „Ist es jetzt zur Gewohnheit deiner Jungs geworden Frischlinge anzuwerben? Für Garret kann ich dir keine Freigabe erteilen. Er ist aus Michaels Linie, wie du eben schon erwähnt hast. Als Enkel von Calypso untersteht er direkt dem Engelschor. Er ist geboren um zu singen. Du weißt wie wichtig diese Berufung ist. Virgil betreut zur Zeit junge Wächter. Es ist nicht leicht Engel zu finden, die mit diesem Grad an Menschlichkeit umgehen können. Die Hohen, so wie du, ich und selbst deine Söhne schrecken häufig davor zurück den direkten Kontakt zu Wächtern zu pflegen weil wir nie wissen, wie diese extreme Vermischung sich irgendwann auf die verwässerte Linie auswirkt. Wegen Virgil musst du mit Uriel reden. Er steht im Moment unter seinem Befehl oder eher unter Markus Befehl, der Uriel untersteht“, erzählte Lucretia ihm bereitwillig und mit einem Nicken ihres Kopfes öffnete sich wieder die Tür. „Du findest Uriel zur Zeit in seinem Büro in der Etage unter uns.“ Nedim stieß sich von der Wand ab. Sein Vater ging vor und als er selbst durch die Tür gehen wollte, schloss sich diese vor seiner Nase. „An dich habe ich noch eine Frage“, plauderte Lucretia vor sich hin und Nedim bemerkte zum ersten Mal, wie gefährlich und alt der Engel war, der hier in diesem Raum saß und immer noch den Körper eines Kindes trug. „Was denn?“, presste er heraus. „Es kommt nicht häufig vor, dass unter den Engeln Zwillinge geboren werden. Ich weiß das, ich sehe alle Engeln vor meinen Augen und auch ihre Stammbäume. Außer dir und deinem Bruder gibt es nur zwei andere Zwillingspärchen. Doch warum fällt es mir nur bei euch so schwer, euch nicht im Stammbaum zu verheddern? Die Kinder deines Bruders...“, sie hielt inne und gab ihm einen bedeutungsvollen Blick. „Ich habe keine Kinder. Sonst käme es dir anders herum genau so vor, denke ich. Es liegt wahrscheinlich daran, dass sowohl Uriel und Ariel, als auch Agon und Selay unterschiedlichen Geschlechtes sind.“, gab Nedim kühl seine Theorie wieder. „Ja vielleicht“, stimmte Lucretia ihm zu. Die Tür öffnete sich und er verließ das Zimmer, doch das Lächeln, welches ihm Lucretia zum Abschied schenkte, ließ ihn Böses ahnen. Raphael klopfte höflich an der Tür zum Büro, in welchem Uriel saß. Um seine Flügel brauchte er sich nicht zu sorgen. Dieses Hochhaus war nur für Engel zugänglich. In die Eingangshalle gelangten manchmal Menschen, doch sie wurden weggeschickt, da sie keine Befugnis hatten. Er hörte die dunkle und trotzdem klare Stimme seines alten Freundes, der : „Herein“, sagte. Raphael drückte die Türklinke herunter und war sich selbst bewusste, dass Uriel ihm nicht gerne Gefallen tat. Doch Raphael brauchte so viele Rekruten, wie er nur bekommen konnte. In letzter Zeit hatten sich die Aktivitäten der Gefallen verstärkt.Besonders seit Lucifer vermehrt auf seine Dämonen zurückgriff. Dämonen waren einfach nur Seelen von Engeln, die gestorben waren und denen der Weg zum Erhabenen nicht gewehrt wurde. Lucifer hatte einen Weg gefunden, jene der Gefallenen, die gestorben waren wieder zu sich zu holen und nun waren diese Seelen dunkle Gestalten aus Schatten, die danach hungerten ihre alte Form zurückzubekommen, indem sie die Essenz von anderen Engeln in sich aufnahmen. Uriel saß hinter einem großen Schreibtisch. Er schien angestrengt einen Bericht zu lesen. Seine hellblonden Haare waren schulterlang und zu einem lockeren Zopf zusammengefasst. Sein weißes Hemd ließ seine blasse Haut in einem leichten Goldglanz schimmern. Seine Flügel, welche die Farbe von Bronze hatten, waren ausgebreitet. Durch zwei schmale Schlitze an dem Rücken seines Hemdes verließen sie den Stoff und wie Raphael wusste, konnten diese Schlitze durch Druckknöpfe ganz schnell unsichtbar gemacht werden, wenn Uriel seien Flügel einfahren wollte. „Raphael, was für eine Freude“, sprach Uriel völlig unbetont, während er weiter aus den Bericht starrte. „Es ist auch schön dich zu sehen. Ich hoffe deine Angelegenheiten laufen gut“, sagte Raphael so höflich wie er nur konnte ohne gleich Uriel Mitleid zu zeigen. „Nun, es würde gut laufen, wenn nicht in der letzten Woche drei sich in der Ausbildung befindende Wächter von Dämonen ausgesaugt worden wären. Es wird immer schwerer Wächter zu finden“, grummelte Uriel und legte den Bericht zur Seite. „Ich bin sicher, du bist nicht zum plaudern da, wenn man die Tatsache bedenkt, dass du Gespräche mit mir vermeidest, seit du meinen ersten Sohn getötet hast“, stellte Uriel fest und schaute erwartungsvoll zu Raphael. „Barachiel war einer von Lucifers Generälen. Ich muss mich dafür nicht rechtfertigen, besonders, weil es schon sehr lange her ist“, versuchte sich Raphael zu verteidigen und merkte erst, als die Worte seinen Mund verließen, wie unüberlegt sie waren. „Ich bin nicht wütend auf dich. Du gehörst zu meinen ältesten Freunden. Ich habe als Vater versagt, das lastet auf mir“, beruhigte Uriel Raphael ein bisschen. Sie schwiegen eine Weile, bis Raphael sich wieder des Grund seines Erscheinens entsann. „Ein Engel aus deinem Kreis will sich meinem Anschließen. Ich wollte um deine Zustimmung bitten, dass Virgil, Rang Acht, zu mir übertreten kann.“ Uriel schienen einen Moment zu überlegen. „Nein, es tut mir Leid mein Freund, aber ich brauche ihn in Nord Amerika. Laut des Berichtes meines Enkels, hat er sowieso schon zu wenig Engel vor Ort“, gab Uriel seinen Richtspruch von sich. „Markus ist nach meinem Geschmack zu jung für einen Offizier Uriel. Er hat noch nicht einmal die hundert erreicht. Er ist noch ein Kind“, beschwerte sich Raphael ruhig. „Markus ist mein Enkel. Er ist stark und klug. Sein Vater ist kein Verräter, nur ein Dummkopf. Er hat die Kraft meiner Linie und die Gerissenheit seiner Mutter. Wen denkst du, sollte ich denn dann als Offizier in Nord Amerika einsetzen. Dieser Rang gebührt nur meinem Blut und du schlägst sicher nicht meinen Sohn vor oder? Markus kann lernen und in seine Position rein wachsen“, beendete Uriel das Thema. Raphael wich dem Blick seines Gegenübers aus. Uriel hatte drei Kinder gehabt. Barachiel war ein Verräter, Angelo ein Versager und Darya war stumm. Nedim wollte in der Lobby auf seinen Vater warten. Sein Blick fiel auf eine Tür, die verborgen hinter dem Informationsschalter lag. Wenn er sich konzentrierte, konnte er das leise Singen des Chors hören, der hinter diesen Türen übte. Der Chor war schön, der Chor war hoffnungsvoll und vor allem war er verheerend. Der Chor konnte Mut machen und Mut nehmen. Er war aus den Töchtern und Söhnen Michaels entstanden. Calypso, Sirena und Elvira waren die Gründe für die Mythen um Sirenen, die durch ihren Gesang Männer anlockten. Diese Kraft stammte noch aus einer Zeit, in der dumme Menschen Engel für Götter hielten. Es gab Zeiten, da mussten Engel sich nicht verbergen. Sie herrschten. Nedim und sein Bruder waren noch jung gewesen. Gerade Erwachsen, als der Erhabene dieser falschen Götterverehrung ein Ende setzen wollte. Er äußerte durch Ariel sein Unmut. Lucifer hatte aber schon lange andere Pläne. Lucifer wollte nicht nur für einen Gott gehalten werden, er wollte ein Gott sein. Nedim erinnerte sich noch an die Reden seines Freundes Barachiel über die schwachen Schafe, die man nicht schützen, sondern lenken sollte. Erst war es Nedim nicht aufgefallen, doch mit der Zeit sah er das Dunkle in seinem Freund wachsen. Der Hunger nach Macht und Aufmerksamkeit. Die alten Zeiten waren vorbei und die Götter von damals waren nun Schatten. Doch Nedim wusste, was sie hätten sein können und das schmerzte ihn. Er hätte frei fliegen können und seine Kälte entfesseln können, wann immer es nötig war. Die Tür zum Chorraum öffnete sich und die Nachkommen Michaels strömten aus dem Raum. Sie lachten und waren friedlich. Nedim sah Calypso, die in den Jahren nichts von ihrer Schönheit eingebüßt hatte und dann sah er Calypsos Schwerster Eulalia. Die Frau seines Bruders. Eulalia war groß und schlank. Ihre Gesichtszüge hatten die hohen edlen Wangenknochen ihrer Mutter und ihr Haar strahlte in Tizianrot. Ihre blauen Irden erspähten ihn und lächelnd kam sie auf ihn zu. „Nedim, es ist schön dich zu sehen. Noyan wird bald wieder hier sein oder?“, fragte sie und ließ ihn damit noch kälter werden. „Ja mein Bruder wird sicher bald hier sein.“ Zu ihnen gesellten sich die Zwillinge Agon und Selay. Sie hatten das dunkle Haar ihres Vaters und die blauen Augen ihrer Mutter. Sie waren noch jung und würden bald die hundert erreichen. Damit wären sie erwachsen. Es war nur ein Herzschlag für einen Engel und die Vergangenheit verblasste nicht so leicht für Personen wie Nedim. „Ich muss dann auch los“, wand sich Nedim aus der Gesellschaft und als hätte er die Not seines Sohnes gespürt, betrat Raphael so grimmig wie immer die Lobby. Die Mitglieder des Engelschors wichen vor ihm auf Seite, als er zu seinem Sohn ging. Raphaels blick viel auf seine zwei Enkel. „Habt ihr euch schon entschieden?“, fragte er direkt. Agon, der etwas sensibler als seien Schwester war, zuckte zusammen. Selay stellte sich Raphael direkt. Ihre Augen waren kämpferisch und sie wirkte kein bisschen eingeschüchtert. Es erfüllte Nedim mit Stolz, doch als er den Blick Eulalias Auffing, senkte er den Kopf. „Ich werde kämpfen, wenn es nötig ist“, erklang Selays melodische Stimme, die so klar wie eine Glocke klang. Sie war die Nacht und Agon war der Morgen. Nedim verdrängte das Gefühl dagegen sprechen zu müssen, auch wenn er vor seinem inneren Auge sah, wie die schönen Flügel seine Nichte verbrannten. Wie die Federn, die aussahen wie reinster Perlmutt, in Flammen standen. Die gleichen schönen Flügel wie die ihrer Mutter. Raphaels Hand legte sich auf den dunklen Schopf seiner Enkelin und ein seltenes Lächeln spielte darüber. „Wenigstens ist meine Linie stark“, teilte der große Erzengel mit und drehte sich zum gehen um. Nedim folgte ihm. Ja, Raphaels Linie war stark und vor allem kalt, dachte sich der Sohn des Erzengels mit einem grimmigen Lächeln. Noyan und Nedim saßen vor der Weltkarte. Verschiedene Fähnchen markierten den Standort von verschieden Untergebenen. „Vater wurde zu einem Rat der Engel einberufen?“, fragte Noyan nach. „Ja, wegen der Häufung der Angriffe. Die Erzengel wollen Berichte. Ich habe gehört, Michael ist nicht erfreut darüber, dass wir mehr Rekruten brauchen“, erklärte Nedim seinem Bruder. Sie schwiegen kurz, bis Noyan ein rotes Fähnchen entfernte. „Kamil ist gefallen“, kommentierte Noyan. „Gefallen oder Gestorben?“, hakte Nedim nach. Sein Zwilling schaute ihm ruhig in die Augen. Auf einmal sah Nedim die Kälte auch in den Augen des Anderen. „Zuerst gefallen. Dann habe ich ihm die Flügel gestutzt. Nun ist er tot“, berichtete sein Bruder mit der gefährlichen Ruhe Raphaels. „Du scheinst nicht in Übung zu sein, wenn dein Feind bei der Beschneidung stirbt“, stellte Nedim trocken fest. „Ich werde in Übung sein, sobald wir das wahre Leck gefunden haben. Wer auch immer Informationen weitergibt wird bezahlen“, drohte Noyan, doch es wirkte auf seinen Bruder hohl. „Also glaubst du nicht, dass Kamil das Leck war?“, hinterfragte Nedim. Noyan schüttelte den Kopf. „Ich bin mir dessen sogar sicher. Kamil hatte nicht den Rang um das versteckte Quartier zu kennen. Wir suchen nach jemanden in den höchsten Rängen.“ Nedim schaute seinen Bruder lange an. Etwas stimmte nicht, dessen war er sich sicher. Noyan wusste etwas und sagte es nicht. Es ließ ihn sich unwohl fühlen. Sollte Noyan über ihn beschied wissen? Über die Fehler die er begangen hatte? Der Grund,warum er sich seit fast hundert Jahren in die Kälte stürzte. So sehr in ihr versank, das er Handschuhe tragen musste, damit Dinge unter seiner Berührung nicht zu Eis wurden. „Hast du einen Verdacht?“, horchte Nedim nach. Noyan nickte und sprach nur einen Namen: „Lucretia“ Das brachte Nedim aus dem Konzept. „Lucretia?“, fragte er erstaunt nach. „Hast du das schon Vater mitgeteilt?“ „Ich hatte es vor, sobald ich zurück war, doch er war bereits im Raum der Erzengel.“ Nedims Blick wanderte zum Fenster, das anfing von innen zu gefrieren. War er das? „Und ihr seid euch da einig?“, fragte Raphael scharf nach. „Ja“, kam es unisono von seinen Söhnen. Nedim hatte seinem Vater Noyans Vermutung vorgetragen und sah nun das wütende Gesicht eines mächtigen Engels. „Dann müsst ihr mich begleiten. Das bedarf keines Aufschubes mehr!“ „Ich dachte, wir könnten das morgen machen. Ich hätte schon gerne heute noch meine Familie gesehen“, meldete sich Noyan zu Wort. Etwas an seinem Ton stimmte nicht und das wurde Nedim immer deutlicher. Er wusste, dass es sich sein Bruder zu Gewohnheit gemacht hatte, Wochenlang von Eulalia fern zu bleiben. Noyan hatte es nie ertragen lange Zeit bei ihr zu sein und doch schaffte er es auch nicht ohne sie. Etwas, das Nedim nur zu schmerzlich bewusst war. Ohne Eulalia hätte sich sein Bruder schon vor Jahren dem Abgrund genähert ohne seine Flügel zu spannen. „Nein! Es war eure Vermutung, ihr müsst bei der Gegenüberstellung dabei sein!“, sprach Raphael sein Machtwort und zeigte mit einer ernsten Geste, dass sie ihm folgen sollten. Vor Lucretias Zimmer erwartete sie schon Ariel. „Ich wusste, dass du kommen würdest.Du machst einen Fehler, Nedim“, hauchte sie. Raphael ignorierte diese Worte. „Wir wollen Lucretia sehen“, presste er heraus. Die Tür öffnete sich und Ariel schaute verwundert hinein. Lucretia stand in der Tür. Das lange rote Gewand verdeckte nicht, dass sie Barfuß war. Ihre Flügel hatte sie ausgestreckt, als wollte sie ihre Macht präsentieren und ihre goldenen Augen funkelten böse. Ihre Hände waren immer noch ausgebreitet in der Geste, mit der sie durch der Kraft ihrer Gedanken die Tür geöffnet hatte. „Sag es ihnen Nedim. Sag ihnen, was du weißt“, sagte sie mit der Stimme eines Kindes. Nedim schüttelte den Kopf, fühlte sich umzingelt und kalt. Der Stoff seiner Handschuhe gefror an seiner Haut. Er begegnete dem ungläubigen Blick seines Vaters. Der Blick seines Bruders viel kalt auf ihn. Ariel schien nicht über ihn zu urteilen und Lucretia wartete, dass er den Mund aufmachte. Er schluckte und dann war es doch Lucretia, die wieder sprach: „Du hättest es verhindern können. Du denkst schon lange über den Abgrund nach und flüchtest dich in das Eis, das du von Raphael hast. Du denkst oft daran, was wäre, wenn du damals deinem Freund gefolgt wärst, ob du nun ein Gott wärst. Doch du bist nicht der, der in den Abgrund gestürzt ist. Du bist der, der verzweifelt versucht Noyans Hände am Rand zu halten.“ Aus Noyan brach eine Welle von Eis und alle starrten ihn nun an. „Ich dachte, wenn er sie hat, wenn er eine Familie hat und die Frau die er liebt, dass es ihn genug halten würde“, brach es auch Nedim hervor. „Du Verräter!“, zischte Noyan mit Hass in der Stimme. „Ich habe sie aufgegeben!“, brüllte Nedim ihm entgegen. Es entfesselte sich etwas, das die Fenster in Lucretias Zimmer sprengte. Ein Sturm aus Eis. Raphael brauchte nur einen Sekundenbruchteil um zu reagieren. In ihrer Rage hatten sich die Flüge seiner Söhne entfaltet. In seiner Hand sammelte sich die kalte Energie seiner Essenz und mit einem Hieb verstümmelte er Noyans linken Flügel. Der Engel schrie vor Wut und Schmerz. Das gab Ariel die Zeit, Nedim gegen die Wand zu schleudern. Es knackte, als die empfindlichen Knochen des Engels zwischen ihm und seinem gesamten Körpergewicht eingeklemmt wurden. „Ich will Erklärungen“, forderte Raphael wütend. Nedim stöhnte und er stand auf. Sein rechter Flügel stand grotesk ab. „Als Noyan mir heute Nachmittag das mit Kamil erzählte, dass er ihn getötet hat, beim Stutzen, da war es mir klar. Dann hat er auch noch Lucretia die Schuld gegeben. Es war zu perfekt erdacht. Zu strategisch. Er hat nur mit einem nicht gerechnet und das ist seine Selbstkontrolle. Ich dachte ich wäre es, der die Fenster zum frieren brachte, dann sah ich seien Hände. Seine Handschuhe waren zu Eiskristallen zerfallen. Meine dagegen waren noch aus dem weichen Leder und wiesen kein Eis auf. Als ich die Kontrolle so verlor, hätte es anders herum sein müssen. Ich musste mich Fragen, warum dich Eulalia nicht von dem Abgrund fern halten konnte und dann kam mir die Erkenntnis. Du weißt es, nicht mein Bruder?“, sprach Nedim mit Reue in der Stimme. Noyan keuchte und fand nicht ganz sein Gleichgewicht mit nur einem Flügel. Der andere lag blutverschmiert auf dem Boden. In den Federn, die Wirkten wie ein grauer Eissturm, schillerte das Scharlachrot. „Ich hätte Kamil nicht umbringen dürfen, sonst hättest du nicht gemerkt, oder? Aber Kamil vertraute mir was an. Er sagte, es ist kein Wunder das meine Frau es nicht bei mir aushält und lieber zu meinem Bruder ginge. Er hat selbst dem Tode nahe noch über mich gehöhnt. Sagte der Erhabene würde ihn sicher empfangen, doch mir bliebe das verwehrt. Er sagte, es wäre ein Glück, dass die Kinder nicht von mir wären. Er sagte, er hätte dich damals oft um Eulalia schleichen sehen und sie hätte immer gelächelt, hätte gelacht und freudig auf dich gewartet, wenn du sie Abends besuchen gingst, weil ich wieder eine längere Streife in Gebieten übernahm, für die du zu fein warst. Er hat gelitten, das kannst du mir glauben und trotzdem hat er gelacht“, spuckte Noyan mit noch mehr Eis in der Stimme aus, als sie zuvor schon erlebt hatten. „Ich hatte mir das schon gedacht“, sprach er weiter, noch verbitterter. „Argon hatte schon immer diese Art zu reden. Eulalia ist redegewandt, keine Frage, aber Argon hatte die gleiche Engelszunge wie du, Bruder. Am Anfang, habe ich mir versucht einzureden, es könnte daher kommen, dass wir Zwillinge sind, aber umso älter Agon wird, desto mehr sehe ich dich in ihm! Auf meiner letzten größeren Reise traf ich dann Paladin, der sich Lucifer verschrieben hatte. Er erinnerte mich an die Reden von Barachiel. An den Traum davon, offen zu herrschen. Daran, dass das verlogene Rattennest, das sich der Rat der Engel nennt, ausgelöscht gehört. Wir sollten keine Befehle von etwas annehmen, das uns lange verlassen hat und nur die liebt, die seinen Wünschen entsprechen!“ Raphael konnte nicht glauben was er da hörte. Beide seine Söhne waren auf ihre Art Verräter. Nedim hatte Noyan verraten und Noyan hatte sie alle Verraten an den Feind, gegen den er eigentlich in den Krieg ziehen sollte. „Du bist wahnsinnig!“, schrie Nedim und stürzte sich auf seinen Bruder. Noyan taumelte und schrie. Zusammen kämpften sie sich in Lucretias Raum. Glasscherben schnitten ihnen in die Haut, als sie sich auf dem Boden wälzten. Sie verteilten auf dem Parkett Spuren von Blut und Federn. Bald erkannte man nichtmehr, welche Federn Eisblau waren und welche das Schneegrau hatten. „Es reicht!“, erklang Lucretias Stimme wütend und mit einer Handbewegung schlitterten die beiden Engel aus dem kaputten Fenster und stürzten in die Tiefe. Raphael schaute seinen Söhnen nach. Es war hoch und sie würden hart auf dem Asphalt aufkommen. Es war längst Nacht und bei der Dunkelheit trieb sich kein Sterblicher in dieser Gegend herum. Er breitete seine Flügel aus und folgte seinen Söhnen. Das hier war seine Aufgabe. Er war der Erzengel, der sich um die Gefallen kümmerte. Der Aufprall seiner Söhne hatte einen kleinen Krater verursacht. Sie lagen ineinander verheddert, fast so, wie sie auf die Welt gekommen waren. Raphael trennte sie und legte den bewusstlosen Noyan zu seiner einen Seite. Er trennte ihm den anderen Flügel ab und versiegelte die Wunden mit seiner eigenen Engelsessenz. Dies würde verhindern, dass sie ihm nachwachsen würden. Danach nahm er sich Nedim vor. Der gebrochene Flügel war nicht zu retten. Raphael trennte ihn ab. Den anderen Flügel stützte er mit Eis. Der Schmerz des nachwachsenden Flügels und die Jahrzehnte, die es brauchen würde, bis sein Sohn wieder fliegen könnte, waren Strafe genug, zu mindestens für Raphael. Aus dem Gebäude kam Uriel geschlendert. „Ich habe die Aufregung meiner Schwester gespürt“, antwortete er ruhig auf Raphaels fragenden Blick. „Was willst du nun mit deinen Söhnen machen?“ „Noyan ist gefallen. Er wird dahin gehen, wo auch Barachiel hin musste. Zu seinem neuen Meister. Hilf mir Nedim aufzuraffen. Wir müssen ihn zu Gabriel bringen. Sie kann ihm den verblieben Flügel richtig Schienen und sich um seine Wunden kümmern“, antwortete Raphael kühl. Uriel half Raphael mit Nedim und sie brachten ihn in das Gebäude. Sie warfen keinen Blick zurück auf den Verbliebenen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)