Wenn Du nur zu träumen wagst... von M1KADZUK1 ================================================================================ Kapitel 1: Der ganz normale Alltag ---------------------------------- Ich saß draußen auf einem Stein und ließ mich von den letzten Strahlen der Sonne wärmen, die dieses Jahr für mich bereithielt. Der Herbst hing nur noch an einem dünnen Faden, bald würden auch die letzten der farbenfrohen Blätter, die sich noch tapfer in den Baumkronen hielten, herunterfallen und auch die letzten Spuren der warmen Jahreszeit würden beseitigt sein. Vielleicht würde sich mit dem Einbruch des Winters ja nicht nur die Natur, sondern auch meine Situation etwas ändern. So wie der Schnee Jahr um Jahr sämtliches Grün unter sich begrub, wünschte ich mir, er würde in diesem auch all meine Gefühle bedecken. Nur, dass sie nicht nach wenigen Monaten strahlender und sprießender als je zuvor zurückkommen, sondern für immer und ewig fort bleiben sollten. Das wäre besser für alle. "Hey, Sarana-chan! Du hast mir überhaupt nicht zugehört!", beschwerte sich meine beste Freundin Chigai Kakazu. Sie schob schmollend die Unterlippe vor, was ich an ihr immer besonders niedlich fand. Doch wenn ich ihr das sagen würde, wäre ich buchstäblich tot. Sie mochte es nicht, wenn man sie in irgendeiner Art und Weise als "niedlich" bezeichnete. "Entschuldigung, was hast Du gesagt?", fragte ich. Eigentlich hatte ich ja keine besondere Lust, zu reden und würde lieber weiter meinen Gedanken nachhängen, aber unter Freundinnen, besonders unter besten, hatte man sich nun mal für die Probleme der anderen zu interessieren. "Onii-sama kam gestern Abend viel zu spät und total betrunken nach Hause. Ich habe zwar versprochen, Okaa-san nichts davon zu erzählen, aber das kam jetzt schon zum dritten Mal vor! Ich mache mir echt Sorgen um seine Gesundheit! Was denkst Du, was ich tun soll?" "Ein Versprechen muss man halten, auch wenn es noch so schwierig ist!", meinte ich. "Vielleicht solltest Du zunächst mal mit ihm selbst über Deine Angst reden!" "Genau!", schaltete sich jetzt auch Kashikoi Sakuma, meine zweite beste Freundin, die auf meiner anderen Seite stand, in das Gespräch ein. "Wenn ihr wirklich so ein gutes Verhältnis zueinander habt, wie Du immer sagst, wird er sicher zuhören und Dich verstehen!" "Mensch, Kashi-chan, Du klingst immer so weise!", stellte ich ein weiteres Mal bewundernd und mit einem Hauch von gespielter Beleidigung in der Stimme fest. Da ertönte die Pausenklingel und alle weiteren Gesprächsthemen wurden fallengelassen. Ich stand auf und klopfte mir den Staub vom Rock meiner Schuluniform. Ich mochte sie. Der Rock war dunkelblau, der Blazer auch. Bei ihm prangte das Wappen der Schule in klein auf der rechten Seite der Brust. Die Bluse wurde in schlichtem Weiss gehalten, wohingegen die Schleife mit ihrem rot-gelb gestreiften Muster sofort ins Auge fiel. Die hohen Kniestrümpfe, die in jeder japanischen Schule Pflicht waren, waren ebenfalls weiss, die Lackschuhe glänzten schwarz. Das war vielleicht nicht gerade die modischste Kombination des Jahres, den meisten Betrachtern musste sie wie eine ganz gewöhnliche Schuluniform vorkommen, aber für mich war sie etwas besonderes. Sie gehörte in mein Leben, allein schon, weil ich eine Freundin der Gewohnheit und Rituale war. Ich verabschiedete mich von Kashikoi, die leider in der Parallelklasse und nicht in meiner gelandet war und machte mich zusammen mit Chigai auf den Weg zur nächsten Unterrichtsstunde. Für uns stand jetzt Mathematik auf dem Plan, das Fach, das Chigai am meisten und ich am wenigsten mochte, während die glückliche Kashikoi sich jetzt auf eine Stunde Englisch mit unserer gemeinsamen Lieblingslehrerin Shirai-sensei freuen durfte. Wir gingen nach drinnen und durchquerten die Pausenhalle, wo mein Herz blitzartig doppelt so schnell zu schlagen begann. Ich blickte geradeaus und sah meinen geliebten Iruka Ogata an einer Säule lehnen und lachen, umgeben von ein paar Freunden. Früher hatten wir einmal engen Kontakt gehabt, doch das ist lange her. Es hörte sich vielleicht seltsam an, aber ich hatte ihn beim Pokémon-Spielen kennengelernt. Es gab eine Zeit, in der man mich ohne meinen Gameboy Advance gar nicht erst anzutreffen zu versuchen brauchte. Immerzu verbrachte ich meine Zeit mit diesem Spiel, dessen schillernder Stern an Popularität bei der Jugend Japans längst untergegangen war, weswegen ich von einigen Seiten ein paar ganz schön dumme Sprüche hatte wegstecken müssen, aber da ich ohnehin nicht viele Freunde hatte (an dieser Schule um genau zu sein nur zwei) kümmerten mich die Gedanken der Anderen wenig bis gar nicht. Wie dem auch sein mochte, seine Aufmerksamkeit hatte ich durch meine Leidenschaft zu Pokémon wecken können, und zwar im Gegensatz zu der der Anderen im positiven Sinn. Er war von diesem Zeitpunkt an ab und zu in den Pausen zu mir rübergekommen und hatte mich nach dem neuesten Stand meines Spiels gefragt. Ich war jeden Tag die halbe Nacht aufgeblieben, um ihn mit einem möglichst hohen Level meines Gyaradosu (so der Name meines Lieblingspokémons) zu beeindrucken, was mir sogar halbwegs gelungen war. Ich vermisste die Zeiten, in denen meine Naivität mich hatte glauben lassen, dass eine gemeinsame Leidenschaft mehr Emotionen als lediglich den Kampfgeist hervorrufen konnte. Mit der aus der Liebe resultierenden Blindheit eines Schulmädchens lebte es sich nun mal besser als mit dem gebrochenen Herzen eines solchen. Sehr oft, wenn ich allein war und Zeit zum Nachdenken hatte, wünschte ich mir, zu wissen, was sich aus diesen Gesprächen entwickelt hätte, wäre ich damals nicht auf diesen Austausch nach London gefahren. Ich interessierte mich sehr für den fremdsprachlichen Unterricht und hatte mich daher mehr als glücklich gefühlt, meine Kenntnisse vor Ort anwenden zu dürfen. Ich hatte bei einer überaus netten Familie im Stadtbezirk Enfield gewohnt. Meine Gasteltern waren sehr zuvorkommend gewesen, meine kleine Gastschwester hatte ich süß wie Zucker gefunden und in meiner Austauschpartnerin hatte ich eine gute Freundin gefunden, mit der ich bis heute über die vielfältigen Möglichkeiten, die das Netz mir bot, engen Kontakt hielt. Ich hatte eine schöne Zeit vebracht und zum ersten Mal seit langem wieder das Gefühl von zu Hause sein empfunden. Eine wirklich intakte Familie zu sehen war mir seit vielen Jahren nicht mehr vergönnt gewesen. Meine Eltern hatten sich getrennt, als ich gerade neun Jahre alt gewesen war. Für mich war damals eine Welt zusammengebrochen. Der Boden war mir unter meinen Füßen weggerissen worden und ich war in ein tiefes, schwarzes Loch gefallen. Mittlerweile war ich fünfzehn Jahre alt und hatte mich recht gut von diesem Schock rehabilitiert. Zurzeit hatte ich jedoch schon wieder ganz andere Probleme. Meine Woche in London würde ich ohne großartig nachzudenken zu einer der schönsten in meinem Leben zählen, aber um mit Iruka-sama zusammen zu sein würde ich sofort sämtliche Erinnerungen daran auslöschen, ohne mit der Wimper zu zucken. In der Woche, in der ich in London gewesen war, hatte ich folglich nicht in der Schule sein können und demnach auch nicht in Iruka-sama's Nähe. Er hatte sogar einmal nach mir gefragt, wie mir meine Freundin Chigai später berichtete, aber das alles hatte den anscheinend vorherbestimmten Ausgang meiner Geschichte nicht aufhalten können. Nach dem Austausch begannen sofort die Herbstferien. Es war durchaus nicht so, dass ich diese zweiwöchige Erholung nicht hätte gebrauchen können, ganz im Gegenteil. Doch während all dieser Zeit ging mir "mein" Iruka-sama sowohl nicht aus dem Kopf als auch nicht aus dem Herzen. "Wir müssen echt mal zusammen Pokémon zocken!". Das hatte er zu mir gesagt. Seine Wortwahl zählte vielleicht nicht gerade zu den erlesensten, aber der Inhalt brachte mein Herz zum Schmelzen. Etwas mit jemandem zusammen zu tun bedeutete, mit demjenigen Zeit zu verbringen. Und das war es, was ich mir früher wie heute am meisten wünschte, obwohl ich Iruka-sama damals erst seit sehr kurzer Zeit gekannt hatte. Und zu der Erfüllung meines Herzenswunsches war es dann nie gekommen, da Iruka-sama mich nach den Ferien einfach ignorierte, als hätte er mich nie gekannt. Ich hatte mir unser Wiedersehen in den schillerndsten Farben ausgemalt. Und obwohl ich wusste, dass die Realität nie so schön war wie die Tagträume, die sich das Gehirn eines Menschen so zusammenbastelte, war ich von dieser Realität dann doch etwas enttäuscht. Wenigstens "Hallo" hätte er zu mir ja mal sagen können. Ich selbst war viel zu schüchtern für solche Aktionen, aber früher war ja auch er immer zu mir gekommen, also hatte ich mir um den Beginn eines Gesprächs keine Gedanken machen müssen. Und so wurde mein Herz wieder einmal gebrochen. Das passierte mir in der Tat öfters... Aber nun gut, genug des Schwelgens in alten Erinnerungen. Nun sah ich meinen geliebten Iruka-sama also an dieser Säule lehnen und mich wie immer ignorieren. Seine Präsenz zu spüren tat mir mehr weh, als ein Holzpfahl mitten durch mein Herz es getan hätte. "Sarana-chan! Starr Ogata-kun nicht schon wieder so an wie das achte Weltwunder! Wir haben gleich Unterricht!", sagte Chigai zu mir und holte mich schlagartig aus meiner Traumwelt zurück in die Gegenwart. Der Schleier aus Gedanken um mich herum fiel langsam zu Boden und es dauerte einen Moment, bis ich mich erinnerte, wie man sprach und wie man sich bewegte. "Du hast ja recht!", entgegnete ich und blickte niedergeschlagen zu Boden. "Komm, nimm's nicht so schwer!", sagte Chigai aufmunternd zu mir und blickte sich in der Pausenhalle um. "Wo Sugaku-sensei wohl bleibt?", fragte sie sich laut. Ich blickte wieder nach oben, um ebenfalls nach unserem Lehrer Ausschau zu halten. Ihn konnte ich noch nicht erblicken, dafür aber Gushiken-sensei, den Klassenlehrer von Iruka-sama. Er hatte ihn auch gesehen und setzte sich mit seinen Mitschülern in Bewegung, nachdem er sich von seinen Freunden aus anderen Klassen verabschiedet hatte. Nun sahen Chigai und ich auch Sugaku-sensei, weswegen wir ihm schon mal entgegenliefen. Unser Klassenzimmer lag auf der entgegengesetzten Seite des Flurs von Iruka-sama's Klassenzimmer. Unsere beiden Klassen ragten aufgrund der merkwürdigen Bauart unserer Schule aus den anderen hervor und die gezogenen Wände bestanden aus nichts als mit Plastik verkleideten Metallplatten. Das hieß, dass nur wenige Meter mich von dem Jungen trennten, den ich liebte. So nah und doch unerreichbar - sowohl seelisch als auch physisch. In diesen Moment kam ich Iruka-sama allerdings sehr nahe, denn wir liefen aneinander vorbei und seine Schulter streifte meine. Meine Nase nahm seinen Geruch auf, der mich sofort voll und ganz betörte. Ich gehörte diesem Jungen total, was ihn jedoch herzlich wenig zu interessieren schien. Er sah mich kurz an, sagte "Entschuldigung" und ging weiter. "Kein Problem...", hauchte ich und blickte ihm nach, bis auch das letzte Stück von ihm verschwunden war. "Alles okay, Nakajima-san?", fragte mich mein vorbildlich um mich besorgter Lehrer Sugaku-sensei, der inzwischen bei uns angekommen war. Völlig von meinen Gefühlen überwältigt sagte ich eine Weile lang gar nichts, brachte dann aber doch ein "Ja" hervor. Von dieser Unterrichtsstunde würde ich wohl relativ wenig mitbekommen... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)