Haunted by madness von seagrave ================================================================================ Prolog: -------- Er erwachte wieder einmal mit brummendem Schädel in einem fremden Zimmer, in einem fremden Bett. Die kahle Zimmerdecke, hatte offensichtlich schon einmal bessere Zeiten erlebt, hier und dort blätterte der Putz ab und gab das graue Innenleben frei. Es schien noch sehr früh zu sein, durch das geöffnete Fenster drangen nur das Zwielicht des anbrechenden Tages und die dumpfen Geräusche der noch schlafenden Stadt. Leise schlug er die Bettdecke beiseite und schwang die Beine aus dem niedrigen Futon. Als er stand, warf er einen Blick über die Schulter. Seine gestrige Errungenschaft, hatte sich im Schlaf von ihrer Decke frei gestrampelt und lag nun bäuchlings mit entblößtem Hinterteil da. Er widerstand dem Drang, ihr das Haar aus dem Gesicht zu streichen, das sich wie ein dunkler Vorhang darüber gelegt hatte. Auch schlafend mit verdecktem Gesicht, konnte man erkennen dass sie ausgesprochen hübsch war, aber das waren sie immer. Nichts weiter als ein netter Zeitvertreib, schön anzusehen und schön ihre körperliche Nähe zu spüren, aber meistens hatte der junge Mann sich schon nach wenigen Stunden, höchstens einem Tag satt gesehen. Ohne nennenswerte Geräusche zu verursachen, sammelte er seine Kleidung ein, die durch die leidenschaftliche Begegnung vor wenigen Stunden, im gesamten Zimmer verstreut lag, zog sich an und schloss leise die Wohnungstür hinter sich. Ihr Name war ihm entfallen und er war sich nicht einmal mehr sicher, ob er sie danach gefragt hatte. Vermutlich nicht, aber es war ihm ohnehin egal. Während er in seinem BMW eine weithin verlassene Landstraße entlang fuhr, wurde das graue Zwielicht von den zarten Lilatönen eines sonnigen Morgens eingeholt. Wahrscheinlich würde es einer der letzten schönen Tage des Jahres werden. Alles um ihn herum wurde in das klebrig-süße rosa-rote Licht getaucht. Frisch verliebte Pärchen hätten wohl ihre helle Freude an diesem Anblick gehabt, vorausgesetzt, sie hätten es um diese frühe Uhrzeit aus den Laken geschafft. Doch so hatte er diesen Anblick für sich alleine, ohne ihn wertschätzen zu wollen. Aus dem Radio in der Mittelkonsole tönte ohrenbetäubender Metal, der Frontsänger von Hammerfall sang von Erlösung. Mit dem letzten Ton, schnippte er seine Zigarette aus dem geöffneten Fenster. Seine ganze Familie wohnte noch in seiner Heimatstadt, wobei Stadt hier ein falsches Bild vermittelt, eher eine Siedlung, rund um das große Herrschaftsanwesen. Das einzige weitere, signifikante Gebäude war die Ortskirche. Der junge Mann war schon lange weg gezogen, weit Weg von dem behüteten Leben auf dem Land, vor allem weit weg von der Familie. Seit Jahren war er nun schon nicht mehr dort gewesen uns seit einigen Monaten wurde er nicht Mal mehr mit wöchentlichen Anrufen belästigt, die ihn auf sein ungebührliches Fernbleiben hinweisen sollten. Zumal diese meistens sowieso von der Voice-Mail beantwortet wurden. Doch nun war er auf dem Weg dort hin, in die Höhle des Löwens, gewissermaßen. Alle würden dort sein. Alle… Kapitel 1: 1 ~ Rosemary ----------------------- Der abtrünnige Sohn würde heimkehren, zurück nach Hause. Seiner Mutter, Rosemary Hewett, blieb jedoch wenig Zeit, sich über seine Ankunft Gedanken zu machen. Die Vorbereitungen der Feierlichkeiten, hatten ihr in den letzten Tagen jegliche Zeit und darüber hinaus die letzten Kraftreserven geraubt. Gerade hatte Rosemary die angelieferten süßen Stücke und Kuchen in die Kühlung gegeben und nahm sich nun noch ein weiteres Mal die Tischdekoration vor. `Tisch` war untertrieben, an der Massivholz-Tafel fanden zu jeder Seite 12 Personen Platz, sowie jeweils eine an den beiden Stirnseiten. Akribisch hatte die Dame des Hauses Unter-, Speisen- und Vorsuppenteller angeordnet, so dass sogar Herr Knigge beeindruckt gewesen wäre. Das Bild wurde ergänzt von feinem und perfekt arrangiertem Tafelsilber und komplettiert durch mehrere Kristallgläser, für verschiedene Weine und Wasser. Abgerundet wurde das gänzlich perfekte Bild von kunstvoll gefalteten Stoffservietten an jedem Platz. Rosemary hatte in den letzten Stunden und Tagen viel Energie und Aufwand in diesen Tag, in dieses Ereignis gesteckt und sich dadurch bisher erfolgreich vor der Realität versteckt. Im Gegensatz zur opulenten Ausstattung, war die Dekoration schlicht gehalten. Auf dem feinen weißen Tischtuch, zog sich über die gesamte Länge ein schwarzer Tischläufer. Darauf standen lediglich in regelmäßigen, wie mit dem Lineal abgemessenen Abständen, silberne Lüster. Jeder von ihnen fasste eine lange, weiße Kerze. Auf Blumen hatte Rosemary gänzlich verzichtet. Frank hatte Pflanzen noch nie besonders gemocht. Mit spitzen Fingern zupfte sie kleine schwarze Fussel vom Tischtuch und strich mit der Handfläche jede kleine Falte glatt. Ihrem noch scharfen Augen entging nicht der kleinste Wasserfleck auf dem Silber und erst als sie die letzte Gabel poliert hatte, verließ Rosemary Amanda Hewett die große Halle, um sich für das nun folgende Angemessen zu kleiden. Eine viertel Stunde später, stand die 53-Jährige in ihrem Ankleidezimmer und betrachtete sich ausgiebig im Spiegel. Die schwarz-gefärbten Haare hatte sie sich in einen elegant-schlichtem Knoten in den Nacken geschlungen. Zu dem Etuikleid trug sie ebenfalls Wildleder-Pumps und keinen Schmuck, außer ihrem Ehering. Rosemary scheute davor zurück, ihr Gesicht eingehender zu betrachten, dies hatte sie auch in der letzten Woche vermieden. Als sie es doch tat, erschrak sie nicht so sehr, wie sie vermutet hatte, obwohl sie schockiert über den Anblick war. In den vergangenen Tagen war sie mindestens um zehn Jahre gealtert. Unter ihren blutunterlaufenen Augen hatten sich dunkle Schatten gebildet, ihre Wangen waren eingefallen, wodurch man deutliche Falten erkennen konnte und der zarte Rosé-Ton ihrer Haut war einem fahlen grau gewichen. Rosemary hatte sich immer etwas darauf eingebildet, dass sie deutlich jünger Aussah als sie es tatsächlich war, dies war nun nicht mehr so. Sie sog hörbar Luft durch die schmalen Lippen, straffte dann jedoch die Schultern und legte Make-up und Rouge auf. Ein wenig selbstbewusster, trat sie dann vor das Anwesen, wo ihr Fahrer schon mit laufendem Motor des schwarzen Bentleys wartete. Kapitel 2: 2 ~ Schmerzhafte Begegnungen --------------------------------------- Die Umgebung wurde für den jungen Mann immer vertrauter und bald tauchte auch die Silhouette des Dorfes am Horizont vor ihm auf. Zehn Minuten später, brachte er das Auto vor dem eisernen Tor zum stehen. Shane nahm seine Zigaretten und steckte sich beim Aussteigen eine an. Ohne zu zögern, ging er in Richtung des großen Grundstücks. Das schwere Tor reagierte auf sein Eindringen mit einem empörten Kreischen, ließ ihn aber nach kurzem Widerstand passieren. Er kannte den Weg, oft war er ihn schon gegangen. Es hatte sich kaum etwas geändert. Es roch immer noch nach Erde und Blumen, vor Allem nach Rosen und Nelken. Die Rasenflächen waren fein säuberlich auf wenige Millimeter gestutzt worden. Die Ruhe hier war drückend und trotzdem irgendwie fast idyllisch. Doch etwas störte dieses friedfertige Paradies. Beidseits des Weges den Shane entlang ging, standen die stummen Zeugen abertausender Tränen, schmerzhafter Verluste und vergangener Leben, Spalier. Grabstein schloss an Grabstein, einige wurden von flackernden Kerzen angestrahlt. Manche Gräber waren alt und verwittert, ungepflegt und sich selbst überlassen, die Toten darunter längst vergessen. Auf anderen Gräbern lagen frische Trauerkränze, mit Kondolenzbekundungen auf Satin, manche waren gepflegt wie kleine Gärten. Fast so als wollte man den Toten zeigen, wie schön diese Welt hier war. Shane empfand das als Lachhaft. Nicht selten hatte er sich gewünscht, unter Kiloweise Erde in einer engen Holzschachtel begraben zu sein. Oft schien ihm das angenehmer, als das verweilen unter Lebenden. Er verlangsamte seine Schritte als er sich der Traube aus schwarzgekleideten Gestalten näherte. Die Leute waren still. Kein Schluchzen verkündete Trauer, kein klagender Aufschrei Verzweiflung über den Verlust. Eine der Personen, drehte den Kopf in Shanes Richtung und gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass man ihn erkannt hatte. Für Shane gab es deshalb keinen Grund, sich dem Geschehen weiter zu nähern. Also blieb er stehen wo er war, schnippte die Zigarettenkippe weg und wartete. Sie waren alle dort. Alle, bis auf ihn. Shane war nie besonders höflich gewesen. Obwohl er mit den Gepflogenheiten wohlhabender Leute aufgewachsen war, konnte er diesem Knigge-Gehabe nichts abgewinnen. Anscheinend gebot es aber der Anstand, dem Leichenschmaus beim Begräbnis des eigenen Vaters beizuwohnen. Allem in Shane widerstrebte es, sein Elternhaus zu betreten, dem Ort, der alle schlechten Erinnerungen wieder hervor rufen würde, die er in den letzten Jahren mehr oder minder erfolgreich verdrängt hatte. Es erzeugte fast einen Brechreiz, Seite an Seite mit dieser Familie die ihm fremd geworden war, Trauer zu heucheln. Da jeder wusste, wie er zur Familie stand, wenn auch nicht warum, sprach ihn keiner auf diesen bedeutsamen Verlust an. Einzig seine Mutter, Rosemary, trat bald an ihn heran. Scheinbar hatte Sie vergessen, was sie ihm eigentlich sagen wollte. Ihre Augen waren verquollen und gerötet und Shane war sich sicher, ihre Stimme würde brechen sobald sie versuchen würde zu sprechen. „Wie geht es dir?“ fragte Shane emotionslos und ohne wirkliches Interesse. Anstandshalber und kalt. Früher hatte er gedacht, die ehemals hübsche Frau, sei genauso wie er, ein Opfer gewesen. Erst als er älter wurde, begann er die Wahrheit zu sehen: Seine Mutter war ebenfalls eine Täterin. Grausam, kaltherzig und reuelos. „Jetzt bin ich allein hier in diesem großen Haus.“ Entgegen Shanes Erwartungen, antwortete Sie mit klarer und fester Stimme, während sie ihm fest in die Augen sah. „Du bist auch allein. Du hättest hier bleiben sollen!“ Ein sarkastisches Lächeln umspielte Shanes Mundwinkel und er hob eine Augenbraue. „Klar!“ Mehr sagte er nicht, bevor er sich umwandt und sich von seiner Mutter entfernte. Natürlich, er hätte bleiben sollen, damit er kontrolliert und beaufsichtigt werden konnte, damit die hiesigen Verhältnisse nicht publik wurden. Aber das war nie die Intention dafür gewesen zu gehen. Er wollte einfach nur weg. Genau wie jetzt. Er konnte kein weiteres Wort an diese Frau verschwenden, die ihn zwar geboren hatte, aber schon längst keine Mutter mehr für ihn war. Er verließ das Anwesen und das Grundstück, in Richtung des Waldes hinter dem Haus. Auf dem gleichen Weg, den er früher schon immer gegangen war, wenn er fühlte, als bräche alles über ihm zusammen. Vertieft in die unangenehmen Geschehnisse der Vergangenheit, merkte Shane nicht, dass er verfolgt wurde. Erst tief im Wald bemerkte er ihn, und auch nur deshalb, weil sein Verfolger über eine Wurzel stolperte und fiel. Shane drehte sich ruckartig um und sah ihn ächzend am feuchten Waldboden liegen. „Was willst du?“ knurrte er. Gesellschaft war gerade das letzte, wonach Shane sich sehnte. Der schlaksige Mann am Boden richtete sich ächzend wieder auf und streifte mit den Händen Moos und Blattwerk von der teuren Anzughose. Besser machte dass aber nichts, denn die Erdflecken hatten sich bereits in den Stoff gefressen. „Shane, ich hätte nicht damit gerechnet dich hier anzutreffen, nach allem...“ „Halt`s Maul! Kein Wort mehr!“ schrie Shane ihn unverwandt an. „Ich mein`ja nur. Ich dachte wir könnten-“ „Ich hab gesagt du sollt deine Fresse halten, sonst stopf ich sie dir!“ Shane sah seinen Cousin wütend an. Er blickte dem jüngeren voller Hass in die Augen und ballte die rechte Hand zur Faust. Shane war schon eh und je aggressiv gewesen und als Schläger bekannt. Seine Drohung hätte jeder ernst genommen der ihn sah. Die breiten Schultern und muskulösen Arme, die seine Faust bei einem Schlag führen würden, waren nicht umsonst schon oft von der Polizei in Handschellen abgeführt worden. Doch Thomas, sein Cousin, traute Shane nicht zu, zuzuschlagen, und so beging er den Fehler, noch einen Schritt auf ihn zu zu machen. Er hob beschwichtigend die Hände, hoffte, ihr beruhigen zu können und öffnete seinen Mund für weitere Worte, doch bevor er auch nur einen Ton sagen konnte, holte der ältere zum Fausthieb aus. Thomas war nicht kräftig. Er war zwar größer als Shane, doch Muskeln mochte man an seinem Körper verzweifelt suchen. Die Wucht des Schlages traf ihn unerwartet, er hörte Knochen brechen und ein paar Sekunden später, spürte er den hämmernden Schmerz am linken Wangenknochen. Er lag benommen am Boden und hatte beide Augen geschlossen. „Lass mich in Ruhe Thomas! Verpiss dich und sprich mich nie wieder darauf an!“ Dann hörte Thomas klicken eines Feuerzeuges und sich entfernende Schritte. Kapitel 3: 3 ~ Thomas --------------------- Thomas fiel es schwer, sich an das Leben in der Realität zu gewöhnen. Seit sechs Monaten, versuchte er nun schon, endlich wieder Fuß im Leben zu fassen. Die Jobsuche hatte er mehr oder weniger erfolgreich hinter sich gebracht und eine Anstellung in einem Coffeeshop gefunden. Er arbeitete dort vier Stunden am Tag und konnte sich dadurch ein kleines Zimmer in einer Drei-Mann-WG leisten. Wohnen und Arbeiten konnte er also. Es waren auch viel mehr die kleineren Dinge die ihm zu schaffen machten. Rauszugehen, jeden Tag neuen Menschen zu begegnen und mit ihnen zu kommunizieren, einen geregelten Ablauf in dieses chaotische durcheinander zu bringen, was man `normales Leben` nannte. Die Anstalt hatte ihn seiner Freiheit und persönlichen Entscheidungskraft beraubt, hatte ihm aber auch Sicherheit und Stabilität geboten. Es war jeden Tag das gleiche gewesen: Aufstehen, Zähne putzen, Duschen, Frühstücken, Therapiesitzungen, Mittagessen, Sport, begleiteter Freigang auf dem Gelände, Abendessen und dann wieder aufs Zimmer und den Abend mit Büchern oder Musik verbringen, bis er endlich eingeschlafen war. Jeden Tag die gleiche Umgebung und die gleichen Leute. Ab und an ein paar neue Patienten, aber an diese wurde man meist langsam herangeführt. Als Unterstützung zu seiner Resozialisierung hatte immer noch drei Einzeltherapiestunden wöchentlich, sowie eine Gruppentherapie, alle zwei Wochen. Ohne diese Maßnahmen würde das alles kaum funktionieren und Thomas scheitern. Als Thomas die Nachricht erhielt, dass sein Onkel gestorben war und beigesetzt werden würde, stand für ihn fest, nicht zur Beerdigung zu fahren. Diese Entscheidung hatte er mit dem Verbrennen der Einladung zur Trauerfeier untermauert. Er wusste, eine Zusage würde für ihn auch einen Rückschritt in seiner Therapie bedeuten. In der Nacht vor der Beerdigung lag er wach. Die Erinnerungen plagten ihn und ließen ihn kein Auge zu machen. Es war, als würde er in dieser einen Nacht die ganzen Jahre des Schreckens noch einmal erleben. Die Gesichter seiner Peiniger und deren Komplizen tauchten vor ihm auf, er sah den gleichen Ausdruck in ihren Augen, als hätte jemand die Zeit zurück gedreht und hörte die Stimmen, die ihn verhöhnten und drohten, wenn er nicht tat, wie ihm gehießen wurde. Unter all den schlechten und schmerzhaften Erinnerungen, tauchte ein Gesicht auf, welches ihn damals wie heute, trösten und beruhigen konnte. Dass von seinem vier Jahre älteren Cousin Shane. Die Vorstellung von ihm an seiner Seite, ließ Thomas endlich in einen unruhigen Schlaf fallen. Als er am nächsten Morgen gerädert erwachte, nachdem er seinem gewohnten morgendlichen Ablauf nachgegangen war und eine Scheibe Toast mit Pflaumenkonfitüre frühstückte, hatte er eine andere Entscheidung getroffen. Er würde zur Beerdigung fahren. Er hatte Angst, sich selbst mit der Umgebung und der Familie zu konfrontieren, aber etwas zog ihn dort hin. Jemand. Er wollte Shane wieder sehen, und dieser musste doch schließlich zur Beerdigung seines Vaters fahren. Egal was vorgefallen war, der Rest der Familie und schließlich seine Mutter, würden schon dafür Sorge tragen, dass Shane kommen würde. Thomas hatte nichts mehr von ihm gehört, geschweige denn, ihn gesehen, seit er die Familie verlassen hatte. Als Thomas sicher war, dass die Beisetzung bereits begonnen hatte, trat er die vierzigminütige Fahrt von Gloucester nach Ellwood an. Er hatte es durch seine psychischen Probleme nicht geschafft, weiter vom Ort seiner Qualen weg zu kommen. Aber die Stadt war zumindest gefühlt tausend Meilen von der vermeintlichen Dorfidylle entfernt. Es war auch das erste Mal seit seiner Einweisung, dass er in das kleine Dorf in der Nähe von Coleford zurückkehrte. Thomas wollte der Beisetzung und der Trauerfeier nicht beiwohnen, sondern in der Nähe des Hewitt-Anwesens im Auto warten, bis er Shane sah und ihn abpassen konnte. So, dachte er, kann er die Seelenpein gering halten. Seine Psychotherapeutin wäre nicht begeistert, würde sie von dieser spontanen Aktion Wind bekommen. Aber darum scherte Thomas sich im Moment nicht, er wollte, musste Shane sehen. Langsam fuhr er an der Auffahrt zum Herrenhaus vorbei, offensichtlich war die Beerdigung noch nicht vorbei, denn es waren keine Wagen von Gästen zu sehen. Das Manor schien vollkommen leer zu sein, obwohl die Bediensteten im Inneren des großen Hauses bestimmt gerade die letzten Vorbereitungen für den Empfang trafen und emsig hin und her liefen. So blieb Thomas zumindest unentdeckt und er konnte den Wagen ungesehen am Haus vorbei, auf einen kleinen Feldweg führen. Der Weg führte an der Südseite des Hauses herum, und trennte die imposante Gartenanlage des Hewitt-Hauses vom Wald des Nagshead-Naturschutzgebietes. Thomas stellte den Wagen so hinter einen kleinen Biegung des Weges ab, dass er in den Garten sehen konnte, jemand der sich in ihm aufhielt, den silbernen Volvo allerdings nicht erblicken konnte. Shane war früher immer durch den Garten in den Wald geflüchtet und Thomas hoffte, vielmehr verließ sich darauf, dass heute irgendetwas in Shane den gleichen Impuls wecken würde. Thomas kaute nervös die Haut seitlich seiner Fingernägel ab, manche Stellen bluteten schon und schmerzten. Während er wartete, füllte sich das Haus, was er daran erkannte, dass die breite Tür des Wintergartens aufgeschoben wurde und einige Leute der feinen Gesellschaft auf die Terrasse heraus traten um frische Luft zu schnappen. Er war ein wenig zu weit weg um jemanden zu erkennen oder um in das Haus hinein zu sehen. Die Anspannung in ihm wurde immer größer und obwohl er schon fast anderthalb Stunden wartete, liess er keine Zweifel an seiner Hoffnung zu. Dann, als beinahe zwei Stunden vergangen waren, sah er jemanden geradewegs durch den Garten stürmen. Thomas platzte bald vor Anspannung, das musste Shane sein. Die dunklen, wirren Haare schwangen im Rhythmus seines energischen Ganges um das markante Gesicht seines Cousins. In den letzten zehn Jahren war Shane sehr muskulös geworden, sein breites Kreuz ähnelte stark dem eines Bodybuilders, ohne an einen kolossalen Fleischberg zu erinnern. Sein Gesicht hatte durch das breite Kinn und die starken Wangenknochen nichts jugendliches mehr an sich, wie noch vor zehn Jahren und trotzdem sah er dem jungen Shane noch sehr ähnlich. Thomas erkannte den Zorn in seinem Antlitz als er sich ihm näherte, es schien, als würde er zähneknirschend vor einem Streit davon laufen. Abwechselnd entspannte und ballte er die Hände zu Fäusten, als er in Rage durch die Büsche die Garten begrenzten, brach und den Waldweg überquerte. Er würde also tatsächlich seinen alten Zufluchtsort aufsuchen. In seiner Wut, schien Shane das parkende Auto und Thomas nicht gesehen zu haben, denn ohne zu zögern lief er in den Wald hinein. Thomas stieg hastig aus dem Auto, hatte es so eilig, hinterher zu laufen, dass er es nicht versperrte. Mit einigen Metern Abstand, schlug er sich durch das dicke Gestrüpp und den unwegsamen Waldboden. Mehrmals stolperte und fluchte er leise, er konnte kaum mit Shane schritt halten. Während Thomas überlegte, wie er seinen älteren Cousin ansprechen sollte, verhedderte sich sein Fuß in einer Wurzel am Boden, brachte Thomas zu Fall und nahm ihm die Entscheidung ab. ~ Thomas lag ein zweites Mal am Boden, als Shane ihn niederschlug. Er schmeckte Blut im Mund und spürte seine Wange pochen. Die Galle stieg seine Speiseröhre hinauf und erzeugte einen widerlichen Brechreiz, dem er auf dem Waldboden nachgab. Thomas war sehr oft so und ähnlich geschlagen worden und dieser Hieb, weckte mehr alte Erinnerungen, als er heute hätte verkraften können. Zögerlich öffnete er die Augen. Shane war weg gegangen, seine Schritte hatten sich entfernt. Hilfesuchend, verzweifelt sah er sich nach seinem Cousin um. Er richtete sich wieder auf, indem er sich an einem entwurzelten Baumstamm abstützte und hochzog. Sein Kopf drehte sich und ein zweites Mal überkam ihm betäubende Übelkeit. Jetzt konnte er dem Drang sich zu übergeben jedoch widerstehen und deckte stattdessen die erste Lache mit Laubwerk ab. Mit zitternden Knien setzte er sich auf dem Baumstamm, er brauchte kurz, um wieder zu Kräften und klaren Gedanken zu kommen. Shanes Verhalten war ihm suspekt. Ja, er war schon immer aggressiv gewesen und hatte sich stets gewehrt. Aber Thomas hatte er stets beschützt, zumindest hatte Shane es immer versucht. Er war Thomas einziger Halt gewesen, er hatte sich immer auf ihn verlassen. Und jetzt war seine erste Reaktion ihn zu beleidigen und zu schlagen wenn er ihn sah. In Thomas zerbrach etwas, er sah den Erfolg der jahrelangen Therapie in Gefahr und sein ganzes Weltbild wankte. Er war sich Shanes Wohlwollen so sicher gewesen. Thomas stellte sich die Frage, wieso er hatte hier her fahren müssen, für eine Person die er seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Thomas begann zu schluchzen, er verbarg das Gesicht in den Händen und wurde plötzlich von kräftigen Weinkrämpfen geschüttelt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)