Blood-red Diamond von MarySae (- Blutrote Seele -) ================================================================================ Kapitel 16: Feinde ------------------ Ich weiß nicht, was genau ich erwartet hatte, aber als ich die Tür leise öffnete und sich nur ein neuer, fast leerer Gang vor mir erstreckte, war ich ein wenig enttäuscht. Vielleicht hatte ich erwartet von einem Kreuzfeuer empfangen zu werden oder ähnliches. Wahrscheinlich hatte es mich einfach gewundert, dass wir so weit gekommen und tatsächlich noch nicht entdeckt worden waren. Und sogar noch am Leben waren. Adelio trat an mir vorbei und übernahm erneut die Führung. Im Gegensatz zum letzten Gang gab es hier tatsächlich Licht. Durch einige der kaputten Oberlichter drangen neben ein wenig Helligkeit auch Dreck, Erde und Blätter, die sich wie ein Teppich über die ehemals weißen Fliesen legten. Es war wie in einem Horrorfilm. Oder einem dieser Spiele, in dem der Spieler durch verlassene Irrenhäuser lief, immer auf der Flucht vor dem sicheren Tod. Es war unglaublich, dass es solche Orte wirklich gab. Dass das keine Einbildung oder Fantasie von gelangweilten Autoren war, denen die Wirklichkeit zu öde war. Der ehemals graue Linoleum-Boden war von Dreck und Erde verkrustet. Zahlreiche Fußspuren in dem Zentimeter dicken Staub, zeugten von erst kürzlich dagewesenen Besuchern. Waren das Zeichen der Anwesenheit dieser Verbrecherbande? Oder einfach nur Hinterlassenschaften von Fans verlassener Orte? Ich hatte selbst schon viele Bilder und Artikel im Internet über Exkursionen zu diesen sogenannten „Lost Places“ gesehen und es hatte mich auch immer ein wenig interessiert, auch, wenn ich es nie unter solchen Umständen hatte ausprobieren wollen … Die Wände waren mit weißen und bunten Fliesen bedeckt, die jedoch unter mehreren Schichten Graffiti beinahe verschwanden. Nicht erst jetzt war ich mir sicher, dass das Gebäude seine besten Tage schon längst hinter sich hatte. Abgeblätterte Farbe und Überreste der Gipsdecken säumten den Boden. Rostige Türen standen zum Großteil sperrangelweit offen, sodass ich im Vorbeigehen problemlos einen kurzen Blick hindurchwerfen konnte. Die meisten Räume lagen im Dunkeln. Die Oberlichter waren zugewachsen oder von Dreck verkrustet. Nur unscharfe Konturen von Rohren, Regalen, alten Krankenhausbetten, deren Bezüge so zerschlissen und verdreckt waren, dass ich mir einbildete, dass die rote Farbe nicht nur Rost sein konnte, und aussortiertem Medizinequipment zeichneten sich im Dunkeln ab. Die zwei oder drei Räume, die tatsächlich von einfallenden Sonnenstrahlen erhellt wurden, waren größtenteils leer. Nur in einem Raum – ein ehemaliger Operationssaal, wie ich vermutete - hatte sich unter einer Patientenliege eine Wasserlache gebildet, die nun den hellen Boden in einem unheimlichen Grün erstrahlen ließ.   Wir schlichen leise durch die Gänge und wichen alten, vergilbten Beistelltischen und beschmierten, rostigen Spinden aus, ehe einige Meter vor uns plötzlich eine Glastür den Weg versperrte. Dahinter schien ein größerer Raum zu liegen. Sofort schlug das Herz mir wieder bis zum Hals und eine Nervosität, die beinahe schon an Panik grenzte, ließ meinen Magen verkrampfen. Bisher hatten wir noch keinen der schwarzen Männer hier gesehen. Waren sie also überhaupt hier? Oder waren wir die ganze Zeit auf dem Holzweg gewesen? Hatten wir die wertvolle Zeit sinnlos verplempert? Oder würden wir ihnen gleich gegenüber stehen? Hatten sie uns schon bemerkt? Würden sie auf uns schießen, wenn wir den Raum betraten? So viele Fragen blockierten meinen Kopf und ließen meinen Atem rasen. Mein Brustkorb verkrampfte und ich schlang meine Arme um meinen Oberkörper, um mir eine trügerische Sicherheit vorzuspielen. Ich schaffte das. Ich konnte das schaffen! Egal, was gleich passieren würde, wir hatten noch nicht verloren! Es war möglich, dass unser Vorhaben gelang! Es musste einfach!   Um nicht sofort gesehen zu werden, drückten wir uns mit dem Rücken an eine der Wände und schlichen in Richtung der Glastür. Mit jedem Schritt spannte sich mein Körper mehr an. Bereit zu fliehen, bereit zu kämpfen. Je nachdem, was nötig war. Es war schon von weitem zu erkennen, dass auch diese Glasscheiben bereits zerschlagen worden waren und nur noch einzelne Teile des durchsichtigen Materials in der Holzkonstruktion steckten. Die anderen Scherben knirschten unter unseren Schuhen. Ich horchte auf jedes noch so kleine Geräusch. Alles kam mir verdächtig vor: das Kratzen von Büschen an den Resten der Fensterscheiben, das Tropfen von Wasser in eine der zahlreichen Pfützen oder das Rascheln alter Vorhänge. Doch unser einfaches Atmen schien alles zu übertönten.   Ein plötzlicher Knall ließ uns alle drei zusammenzucken. Panisch drückten wir uns enger an die Wand und sahen uns nach der Ursache des Geräusches um. Doch weit und breit war nichts zu sehen. Ein wenig Staub und Dreck fiel von der Decke und rieselte auf uns herab. Simultan wandten wir unseren Kopf nach oben. Über uns ertönten Schritte und das wütende Gemurmel eines Mannes drang durch die zerborstenen Scheiben der Tür. Für wenige Sekunden traf ich Aurelias Blick und sie machte gerade den Eindruck, als wäre sie jetzt lieber überall, nur nicht hier. Ich hatte selten eine solche Angst in den Augen eines Menschen gesehen. Das letzte Mal hatte die Person die Situation nicht überlebt … Links neben mir stand Adelio stocksteif an die Wand gelehnt da. Sein Blick war durch die Holztür auf den Raum dahinter gerichtet. Wir hatten bereits erkannt, dass es sich dabei um einen Treppenaufgang handelte, von dem aus drei Gänge in die verschiedensten Teile der Anlage verzweigten. Wenn wir diese Treppe hochgehen würden, kämen wir im Erdgeschoss heraus. Ein gefährliches Unterfangen. Noch immer waren die Schritte über unseren Köpfen zu vernehmen. Die Männer schienen dieselbe Route immer auf und ab zu gehen. Was sollten wir jetzt tun?   Wir standen schon etliche Minuten reglos da, ehe plötzlich etwas passierte. Das Geräusch von berstendem Glas erklang ganz in unserer Nähe und mein Herz setzte kurz aus. Es dauerte einige Sekunden, ehe ich den Stein in Adelios Hand bemerkte, den er schwungvoll durch die Reste der Glastür beförderte. Erneut ertönte ein Klirren und noch mehr Scherben breiteten sich über den Boden aus. Am liebsten hätte ich ihn angebrüllt und gefragt, was genau die Aktion sollte, doch noch bevor ich mich gefangen hatte, worden die Stimmen über uns lauter und Schritte näherten sich dem Treppenhaus. Sie kamen … hierher. Eine Hand packte mein Handgelenk und zog mich mit sich. Ich stolperte verwirrt hinterher und wenige Sekunden später stieß Aurelia mich auch schon in einen der nahen Abstellräume. Als ich in das stickige Dunkel stolperte und mich zu ihr umdrehte, war sie auch schon wieder weg. Doch sie brauchte mir nicht sagen, was das alles sollte. Ich verstand auch so. Schnell hockte ich mich in die Ecke hinter der Tür und schloss die Augen. Der muffige Gestank von Schimmel und nasser Vegetation kroch mir in die Nase und ich musste sie rümpfen. Gespannt lauschte ich auf die Geräusche vor der Tür und betete, dass keinen von beiden etwas passierte. Ich hatte noch nie in meinem Leben gebetet und so abwegig ich das auch fand, in diesem Moment wollte ich alles tun, was ich konnte, um zu helfen. Selbst, wenn ich es mir bloß einbildete.   Die Worte „Wer ist da?“ hallten durch die Tür zu mir hinüber. Ich kannte die Stimme nicht und machte mich sofort noch kleiner. Ich registrierte jedes Geräusch und versuchte mir vorzustellen, was geschah. Das Knirschen von Glas, berstendes Holz. Stöhnen und Fluchen. Das dumpfe Aufschlagen eines schweren Gegenstandes, gefolgt von einem lauten Schaben. So, als ob etwas - oder jemand – über den Boden rutschte. War jemand zu Boden gegangen? Einer von uns oder einer von denen? Die Spannung zerriss mich innerlich. Ein weiteres Fluchen und das Klicken von Metall. Oh Gott. Die waren bewaffnet. Ich kniff die Augen noch weiter zusammen und wartete auf den Knall eines Schusses. Doch dieser kam nicht. Ein weiteres Stöhnen und ein schleifendes Geräusch, gefolgt von einem dumpfen Aufprall, der die Wand erzittern ließ. Und dann: Stille. Ich wagte es nicht, mich zu bewegen. Wer hatte jetzt gewonnen? Die Guten oder die Bösen? Ich hielt die Ungewissheit kaum noch aus.   „Lina komm. Die Luft ist rein. Wir müssen weiter.“ Die geflüsterten Worte direkt von der anderen Seite der Tür, ließen einen Stein von meinem Herzen fallen. Ein Glück. Mit zitternden Beinen richtete ich mich auf und verließ das muffige Versteck so schnell wie möglich. Draußen auf dem Gang erkannte ich das Ausmaß des Kampfes. Zwei schwarz gekleidete Männer mittleren Alters lagen auf dem Fußboden. Einer lag ausgestreckt in der Mitte des Flures. Eine dunkelrote Blutlache breitete sich wie ein Kranz um sein schneeweißes Gesicht aus und färbte seine dunkelbraunen Haare schwarz. Der andere saß zusammengesunken gegen die Wand, nicht weit von der Tür zu meinem Versteck entfernt. Ein großer Bluterguss bildete sich auf seiner Wange und aus einigen Schnittwunden drangen feine Blutrinnsale. Adelio, der keinen Kratzer abbekommen zu haben schien, untersuchte gerade den sitzenden Mann und zog eine kleine Waffe aus seinem Hosenbund. Aurelia, deren Jacke die meisten Verletzungen abgefangen zu haben schien, stand bereits wartend vor dem Treppenaufgang. Ihr Blick in unerreichbare Ferne gerichtet. Ich schluckte hart. „Sind sie …?“ Ich ließ die Frage offen in der Luft hängen, doch ich war mir sicher, dass der Braunhaarige wusste, was ich meinte. „Nein. Sie leben noch. Wir haben sie nur außer Gefecht gesetzt.“ Auch wenn ich nicht wusste warum, ein wenig erleichtert war ich schon. Es hatte schon zu viele Tote gegeben. Diese Männer hatten wahrscheinlich auch Familie. Es wäre nicht richtig, sie zu töten. Es musste doch einen plausiblen Grund geben, weshalb sie sich für diesen Weg entschieden hatten! Auch wenn mir bei bestem Willen keiner einfallen wollte.   „Seht mal, was hier ist.“ Aurelia hatte sich hinabgebeugt und betrachtete nun einen vergilbten Zettel, der schon reichlich zerknittert war. Einer der Männer hatte ihn wahrscheinlich fallen gelassen. Sofort gesellten wir uns zu ihr und sahen über ihre Schulter. Schwarze Namen auf weißem Grund. Einige davon waren durchgestrichen. Mortimer Hyu, Kevin Landfield, Paulina Hinrich, Tomáš Horák, Jaden Davis, Indra De Souza, … „Was zum Teufel? Warum steht Jadens Name da auf dem Zettel?“ Sofort huschte mein Blick zurück auf den Namen. Jaden Davis? Das war unser Jaden? Sein Name war ebenfalls durchgestrichen, doch bei ihm sah das irgendwie anders aus. Unter dem blauen Strich befand sich noch ein anderer, älter aussehender, der dieselbe schwarze Farbe hatte, wie auch der geschriebene Name. „Dieser Name … war bereits durchgestrichen worden. Das lag wahrscheinlich daran, dass sie ihn schon einmal verfolgt und für Tod erklärt hatten.“ Mein Atem stockte. „Das hatte er mir damals erzählt“, fuhr Aurelia fort. „Kurz nachdem wir uns kennenlernten. Seine Eltern starben beide bei dem Angriff. Nur Jaden konnte dank McSullen entkommen.“ Der Knoten in meinem Magen zog sich fester zusammen. Ein schlechtes Gewissen überfiel mich. Ich hatte ihn immer für einen arroganten Kerl gehalten, der Spaß am Kämpfen hatte. Nie hatte ich ihn gefragt, warum er das alles eigentlich tat. Langsam wurde es mir immer mehr bewusst: Ich kannte diesen Jungen gar nicht.   Doch ich verfolgte den Gedanken nicht länger, drängte die aufsteigenden Schuldgefühle zurück in die hinterste Ecke und widmete mich wieder dem Zettel. Hinter Jadens Namen waren noch einige Zeichen gemalt, deren Farbe noch besonders kräftig war. Ein Pfeil und ein Kreuz. „Das Kreuz. Oh Gott. Er ist tot.“, Aurelia schlug sich eine Hand vor den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken, das in ihrer Kehle aufstieg. Die Hand, in der sie das Papier hielt, zitterte plötzlich wie wild, sodass ich nichts mehr erkennen konnte. „Aurelia, dass weißt du doch noch gar nicht. Das kann auch …“, begann der Braunhaarige, doch sie blockte sofort ab. „Laber doch nicht! Wofür sollte das Kreuz denn sonst stehen? Das Kreuz bedeutet, er ist tot. Sie haben ihn ermordet!“ Obwohl sie flüsterte klang ihr Klagen unheimlich laut. Jedes Wort wurde von den Wänden tausendfach wiedergegeben und brummte nun in meinem Kopf.   Obwohl mich ihr Gefühlsausbruch sehr mitnahm, blieb ich selbst ganz ruhig. Erklären konnte ich mir das nicht, aber ich glaubte das nicht. Irgendwas übersahen wir. Ich streckte meine Hand aus und nahm ihr den Zettel aus der Hand. Sie ließ mich gewähren und würdigte mich keines Blickes. Im Gegenteil. Sie ging ein paar Schritte von mir weg in einen dunkleren Teil des Flures und verschwand so beinahe aus meinem Sichtfeld. Adelios Blick, den er über meine Schulter auf das Papier warf, spürte ich noch immer. Wieder sah ich auf das zerknitterte Blatt. Wieder überflog ich die gut 50 auf dem Computer geschriebenen Namen. Wieder kam mir der Gedanke, dass sie alle wahrscheinlich tot waren. Dana Simmons, Yusuf Bayraktar, Deniz Bayraktar, Chen Lu Sūn, … Doch sie alle waren …   „Nein. Jaden ist nicht tot.“ Ich begriff selber erst nach einigen Sekunden, dass diese Worte aus meinem Mund kamen. Das Schluchzen aus der Dunkelheit verstummte. „Wie kommst du darauf?“ „Dies scheint ein Teil der Liste ihrer Opfer zu sein. Die meisten Namen sind durchgestrichen.“ Ich zeigte auf das Kreuz. „Doch bei Jaden gibt es noch dieses Symbol. Sein Name war bereits einmal durchgestrichen und wurde jetzt erneut gekennzeichnet. Der Strich hat dieselbe Farbe wie das Kreuz, aber eine andere, als die meisten anderen. Sie haben sich nicht die Mühe gemacht, seinen Tod extra einzuzeichnen. Die anderen Menschen auf dieser Liste sind wahrscheinlich ebenfalls ermodert worden und niemand von ihnen bekam ein Kreuz“, erläuterte ich. „Ich verstehe, worauf du hinaus willst, aber wofür soll das Kreuz dann sonst stehen?“ Aus Adelios Stimme war deutlich zu hören, wie es in seinem Kopf ratterte. „Eine Kirche.“ „Eine Kirche? Wie bitte?“ Aurelia war aus dem Schatten getreten und hatte sich nun wieder neben mich gestellt. Ein kurzer Blick auf ihr Gesicht offenbarte mir die gerade geweinten Tränen. Ihre Augen hatten noch immer einen sehr feuchten Glanz. „Ich … Ich habe zwar keine Ahnung von der Baukunst von vor über 100 Jahren, aber selbst heute werden in Kliniken noch Kirchen, oder besser Kapellen, gebaut, um den Kranken Halt zu geben. Wahrscheinlich gibt es hier auch eine Art Gebetsraum. Das könnte der Ort sein, an dem sie Jaden gefangen halten.“ Ergab meine Theorie Sinn? Oder war das nur reines Wunschdenken? Doch etwas in mir sagte, dass ich recht hatte. Jaden lebte und wir würden ihn finden. „Das hast du dir doch bloß aus den Fingern gesaugt! Es gibt keine Beweise dafür, dass das wirklich stimmt! Du hast doch gar keine Ahnung von dem, was hier vorgeht! Du kannst dich ja nicht mal selbst verteidigen!“ Das brachte das Fass zum Überlaufen. Innerlich brannte die Wut. „Wie sollte ich auch? Die Tage, an denen ich bisher um mein Leben fürchten musste, kann ich an einer Hand abzählen!“, zischte ich sie an. „Und Karate hatten sie in der Schule leider nicht zur Auswahl!“ „Aurelia. Es stimmt, was sie sagt. Woher soll sie all das können? Sie wurde nicht jahrelang darauf vorbereitet, so wie wir!“ Adelios schlichtender Tonfall schien ihr inneres Feuer bloß noch mehr anzuheizen. „DU hältst mal schön deine Klappe! Ich weiß nicht, wie oft ich dir das schon gesagt habe, aber es interessiert mich nicht, was du-!“   „Nein, jetzt hältst du mal die Klappe!“, zischte ich und Aurelia verstummte. Ihre grünen Augen funkelten mich giftig an. „Hast du vergessen, warum wir hier sind? Wenn auch nur noch der kleinste Funken Hoffnung besteht, dass Jaden noch lebt, sollten wir handeln und nicht hier stehen und uns gegenseitig angiften! Verdammt, es geht um nichts Geringeres als sein Leben! Wenn er dir wirklich so viel bedeutet, wie du immer tust, solltest du das auch endlich mal zeigen! Entweder kommst du mit in die Kirche oder du gehst am besten gleich! Aber hör endlich auf uns zu behindern!“ War das wirklich ich, die da sprach? Woher kam diese Selbstsicherheit? Woher kam diese innerliche Ruhe? Warum war ich plötzlich so auf Krawall gebürstet? Nicht, dass sie es nicht verdient hätte, aber … Ich wusste es nicht. Doch eines war mir in diesem Moment klar: Ich mochte diese neue Seite an mir. Sehr sogar.   „Adelio? Wir gehen!“, sagte ich ihm dann direkt ins Gesicht und wandte mich anschließend der Treppe zu. Ich vernahm die Schritte des Braunhaarigen hinter mir. Ich hörte ihn erheitert drucksen, was er aber eher schlecht als recht durch ein leises Hüsteln verstecken wollte. Noch bevor ich den Treppenansatz erreicht hatte, mischten sich weitere Fußstapfen zögerlich unter die von Adelio und mir, doch ich drehte mich nicht um. Das würden wir später regeln.   Die morschen und zerfurchten Treppenstufen zu erklimmen (und das möglichst lautlos), war wirklich nicht besonders einfach. Adelio hatte wieder die Führung übernommen; die Waffe starr vor sich gerichtet. Bereit, sie jederzeit einzusetzen. Ein kalter Schauer rann über meinen Rücken, wenn ich nur daran dachte. Nach genau 26 Treppenstufen erreichten wir das Erdgeschoss. An die Wand gedrückt, lugte Adelio um die Ecken, ehe er uns mit einem Winken bedachte, ihm zu folgen. Wir traten durch eine weitere Holz/Glastür, die an derselben Stelle saß, wie die im unteren Stockwerk und betraten so einen neuen Gang, der ebenso marode und verdreckt war, wie alles hier. Doch einen Unterschied gab es. An den Wänden hingen keine weißen und bunten Fliesen, sondern verschiedene Tapeten. Wie Hautfetzen schälte sich das Papier herunter und offenbarte das feuchte, schimmlige Holz darunter. Eine einzelne Lampe baumelte leblos von der Decke. Die Glühbirne lag zerschmettert auf dem Boden.   Noch bevor wir ein paar Schritte machen konnten, fiel mir plötzlich etwas ins Auge. Ohne auf die anderen zu achten, lief ich auf die andere Seite des Gangs und betrachtete den großen Aushang an der Wand. Eine Karte! Das Glas davor war bereits vergilbt und mit Dreck beschmiert, was das Lesen etwas erschwerte, aber das Wichtigste war noch erkennbar. Meine Augen überflogen das Papier und bereits nach wenigen Sekunden hatte ich das Gesuchte entdeckt. „Da, eine Kirche!“, flüsterte ich freudig. Ich hatte also wirklich recht! „Erster Stock links, dann den Gang bis zum Ende durch.“ Adelio war hinter mich getreten und betrachtete nun ebenfalls die Karte. „Ein Glück. Wir sind ganz in der Nähe! Dann los. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“   Sofort machten wir auf dem Fuß kehrt und eilten zurück zur Treppe. Wir hatten zwar die beiden Wachen hier ausgeschaltet, aber das hieß noch lange nicht, dass wir sicher waren. Ich fragte mich sowieso, wie lange die beiden da unten liegen bleiben würden, bevor sie aufwachten und Verstärkung riefen. Die Treppe knirschte unter unseren Schritten. Da drei Stufen beinahe komplett rausgebrochen waren, mussten wir uns an dieser Stelle an die Wand drücken, um nicht runterzufallen. Dabei konnte ich einen kurzen Blick durch eines der zerbrochenen Fenster auf den Himmel werfen. Schwarze Wolken säumten den Horizont und lugten über die im leichten Wind wogenden Wipfel der Bäume. Ich bildete mir sogar ein, einen Blitz in der Ferne zu erkennen. Es würde nicht mehr lange dauern, ehe ein Unwetter auch die letzten Strahlen der Sommersonne ablösen würde. Und damit hoffentlich auch die Hitze in diesem alten Gemäuer, die mir immer mehr Schweißperlen auf die Stirn trieb.   Es war so ruhig. Wieso war niemand hier? Das Rascheln von Blättern und heruntergefallener Tapete mischte sich unter das näherkommende Donnergrollen. Ansonsten war so gut wie nichts zu hören. Auch der nächste Stock war leer. Durch die zerschlagen Fenster drangen vereinzelte Strahlen der Sonne ein und malten verzerrte Schatten auf den verschmutzten Untergrund. Ein Patientenbett lag umgekippt quer im Gang und das schmuddelige Metall glänzte dumpf im goldenen Licht. Jedes Mal, wenn sich ein Ast vor einem Fenster bewegte und einen der Lichtstrahlen unterbrach oder etwas draußen knirschte oder knackte, zuckte ich kurz zusammen. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Doch das Gebäude schien wirklich menschenleer zu sein.   Wegweiser zeigten uns die Richtung. Sämtliche Türen in diesem Stock waren geschlossen und niemand von uns wagte es, eine dieser zu öffnen. Unser Ziel war die Kirche und laut der kaum noch lesbaren Schilder, die vereinzelt die fleckige Tapete zierten, sollte sie nicht mehr allzu weit entfernt sein. Dann würden wir endlich wissen, ob ich richtig lag oder nicht. Bitte. Bitte, lass mich dieses eine Mal recht haben! So dauerte es tatsächlich nicht lange, bis wir sie entdeckten. Ein großes, hölzernes Tor thronte am Ende des Flurs. Kunstvoller Eisenbeschlag zierte das dunkle Holz, das trotz seines Alters in erstaunlich guter Kondition war. Das Kreuz aus Buche über der Tür zierte eine angelaufene Messingfigur von Jesus, der leidend seinem Schicksal entgegenblickte.   Als wir näher kamen bemerkte ich, dass die Tür einen spaltbreit offen stand. Ein merkwürdiges Gefühl der Aufregung überfiel mich und ich konnte es kaum erwarten, sie endlich zu erreichen. Woher diese Hektik plötzlich kam, wusste ich selber nicht genau, doch sie trieb meinen Puls deutlich in die Höhe. Das Rauschen des Blutes in meinen Ohren übertönte selbst das knirschende Geräusch meiner Schritte. Ich drückte mich seitlich an Adelio vorbei, damit ich nun mit ihm auf einer Höhe war. Es waren nur noch wenige Schritte bis zur Tür und ich konnte bereits die Staubfusseln im Schein einiger Sonnenstrahlen sehen, die in den Kirchenraum fielen. Doch ein leises Grollen, das immer öfter die Fundamente der Klinik erzittern ließ, kündete vom baldigen Verschwinden dieser. Nur noch ein paar Zentimeter … Ich zählte in Gedanken die Schritte … Zehn … Neun … Acht … Mein Herz schlug mir bis zum Hals und gefühlt noch deutlich weiter. Alles, hing von diesem Moment ab. Alles, was ich bisher erlebt hatte, war nichts gegen diesen Augenblick.   Adelio lehnte sich an die geschlossene Seite der Tür. Die Waffe in der einen, die Kante des Türflügels in der anderen Hand. Ich hielt die Spannung kaum aus, als der Braunhaarige die Tür lautlos weiter aufzog. „Wir müssen vorsichtig sein. Die Kerle könnten überall sein.“ Doch ich beachtete seine Worte kaum. Ich wusste nicht, was zuerst ausgesetzt hatte. Mein Herz, mein Atem oder mein Kopf. Denn ich sah bereits das, was wir suchten. Dort, am Ende der langen Reihen von Kirchenbänken, direkt vor dem Altar, saß Jaden auf einem alten Stuhl. Sein Kopf hing auf seiner Brust und seine Hände waren hinter seinem Rücken zusammengebunden. Seine Kleidung war von Blut und Dreck verkrustet.   Ich hörte, dass Adelio meinen Namen rief, aber mein Körper reagierte ganz von selbst. Ich bemerkte erst, dass ich losgelaufen war, als ich die Hälfte der Kirche bereits hinter mir gelassen hatte. Ich sah die morschen Holzbänke nicht, die teilweise umgekippt aufeinander lagen. Ich bemerkte die eisige Temperatur nicht, die die Wände aus Gestein in diesem Raum bewahrt hatten. Mein Blick war nur auf ihn gerichtet und etwas eisiges umklammerte mein Inneres. Kaum war ich bei ihm, gaben meine Beine unter mir nach und ich sackte vor dem Stuhl zusammen. Kniend legte ich meine Hände an seine Oberarme und schüttelte ihn. Mein Blick war starr auf sein bleiches Gesicht gerichtet. Seine Augen waren geschlossen. „Jaden? Jaden, hörst du mich? Wach auf!“, piepste ich. Meine Kehle war staubtrocken. Der Kloß in meinem Hals verhinderte das Atmen. „Jaden!“, zischte ich lauter, als die Tränen wie heiße Säure über mein Gesicht liefen. Hatten wir ihn verloren? Waren wir zu spät gekommen? War alles umsonst gewesen? „Ame-lina?“ Konnte man vor Erleichterung sterben? Zumindest schien es ein Gefühl zu geben, dass diesem sehr ähnlich war. Ich hätte beinahe aufgeschrien, als seine schwache Stimme an mein Ohr drang und seine Augenlider zitterten. „Was machst du denn … hier?“ Nur Augenblicke später blickten seine eisblauen Augen in meine. Tränen der Freude nahmen mir fast gänzlich die Sicht. „Ein Glück, du lebst.“ Ein Lächeln umspielte meine Lippen und ich dachte, es würde meine Gesichtsmuskeln zerreißen. Es fühlte sich an, als hätte ich ewig nicht so gelacht.   „Jaden? Du bist tatsächlich noch am Leben!“ Aurelia war neben uns aufgetaucht und machte sich sofort an dem dicken Seil zu schaffen, dass den Rothaarigen am Bewegen hinderte. Ich nahm meine Hände von seinen Armen und rappelte mich mühsam auf. Doch meine Beine zitterten so stark, dass ich Angst hatte, mich nicht halten zu können. Als seine Hände frei waren, rieb er sich die aufgescheuerten Handgelenke und schob sich einige Haare aus dem Gesicht. Irgendwie schien er immer noch ein wenig neben sich zu stehen, was meine Freude deutlich trübte. „Dass du dich auch immer in Schwierigkeiten bringen musst.“ Adelio war neben mich getreten und streckte eine Hand in Richtung des Rothaarigen aus, der diese mit einem leichten Lächeln im Gesicht annahm. „Ich kann mich ja nicht so wie du immer feige Zuhause verkriechen, oder?“ Auch, wenn er ebenfalls ein wenig unsicher auf den Beinen war, schien es ihm doch deutlich leichter zu fallen, stehen zu bleiben, als mir. Ich war nur unglaublich froh, dass er noch lebte.   Jadens Blick wanderte durch die Runde. Ich sah, dass Aurelia sich wirklich Mühe geben musste, ihm nicht gleich um den Hals zu fallen. Ein wenig Wut brodelte in meinem Magen. „Aber was zum Teufel macht ihr hier? Verdammt, das ist gefährlich!“ Das Lächeln auf seinem Gesicht war verschwunden und dieser tadelnde Unterton hatte sich wieder in seine Stimme geschlichen. „Darum haben wir auch keine Lust länger hierzubleiben. Wir sollten schnellstmöglich verschwinden.“   „Da sind sie!“ Ein lauter Aufschrei hallte durch die dunkle Kirchenhalle und ließ uns alle zusammenzucken. Dort, an der gut 15 Meter entfernten Holztür waren drei Männer aufgetaucht und trotz des schummrigen Dämmerlichts, das nun in dem Raum herrschte, erkannte ich einen von ihnen sofort. Mein Blut gefror in meinen Adern. Das war der Typ, den Adelio vorhin außer Gefecht gesetzt hatte! Der Typ an der Wand! Ich konnte kaum einmal blinzeln, als auch schon die ersten Schüsse die Luft zerrissen. Eine Hand packte mich am Oberarm und zog mich mit sich. Eine Sekunde später kauerten wir vier hinter dem alten Holzaltar. Eine Vase zersprang, als ein Schuss diese traf und Glasscherben regneten auf uns nieder. Ich hob die Arme über den Kopf, um mich wenigstens etwas davor zu schützen. „Hier! Nimm!“ Ich konnte gerade noch sehen, wie Aurelia Jaden eine Waffe reichte (wahrscheinlich die des anderen Mannes), ehe die beiden Jungs sich um die Holzkonstruktion beugten, um ebenfalls auf die Angreifer zu schießen. Das Knallen der Schüsse machte mich beinahe taub. „Wir müssen hier weg!“, meinte Adelio, als er sich wieder zurückbeugte und uns aus steinharten Augen ansah. „Hinter dem Altar“, die Blonde zeigte auf das reich dekorierte Konstrukt aus Holz, Gold und Eisen, in dessen Mitte die Kanzel und ein lebensgroßer, gekreuzigter Jesus hingen, „muss es einen Ausgang geben! Kirchen sind oft so angelegt!“ Und tatsächlich war von unserer Position aus zu erkennen, dass die Wand um einige Zentimeter abstand und es dort tatsächlich begehbaren Platz geben musste. „Geh du vor. Ich gebe dir Deckung!“ Und dann ging alles ganz schnell. Adelio schoss genau in dem Moment in Richtung des Eingangstores, als Aurelia in die linke Ecke der Kirche lossprintete. Erst jetzt bemerkte ich die vielen Holzkisten, die entlang des Podests gestapelt waren und nun für die Blonde als Feuerschutz dienten. Nur eine Sekunde später folgte Adelio ihr und ließ Jaden und mich damit alleine. Mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb und mir war plötzlich furchtbar schlecht. „Wir müssen auch“, war der kurze Kommentar des Rothaarigen, als ich Aurelia dabei beobachtete, wie sie von ihrem Versteck aus hinter das hölzerne Gebilde verschwand. Ich nickte steif. Als Adelio der Blonden hinterher eilte und somit Platz für uns schuf, sprintete Jaden zuerst los, doch gerade, als ich ebenfalls loslaufen wollte, zischte ein Schuss durch die Luft und traf eine der Kisten frontal. Das letzte, was ich sah, war ein wahnsinnig helles Licht und ich hörte diesen ohrenbetäubenden Knall, bevor mein Körper auf dem Boden aufschlug und alles Schwarz wurde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)