Das triste Leben des Jesse Wyatt von Sky- ================================================================================ Kapitel 4: Flucht von Zuhause ----------------------------- Nachdem sie den Getränkemarkt erreicht hatten, traf sich Jesse heimlich mit Andy, der als Aushilfe dort arbeitete und ihn bereits seit Jahren kannte. Dieser war besorgt über den angeschlagenen Zustand seines Kollegen und bemerkte gleich, dass er etwas Fieber hatte. Sein Blick wanderte dann aber schließlich zu Charity, die Jesse begleitet hatte um sicherzugehen, dass er nicht wieder einen Kreislaufzusammenbruch erlitt. „Sag mal Jess, ist das deine Freundin?“ „Red keinen Scheiß, okay? Die hängt wie eine Klette an mir und lässt mich nicht in Ruhe. Ist aber auch egal! Ich muss kurz nach Hause und meine Sachen holen, aber Walter hat mich gestern rausgeschmissen.“ „Hab schon gehört. Der war ziemlich sauer. Vor allem, weil er beim Pferderennen verloren hat. Besser ist, wenn du ihm heute nicht unter die Augen kommst, sonst ist hier die Hölle los. Warte kurz, ich hol dir den Schlüssel.“ Damit ging Andy und sowohl Charity und Jesse warteten. „Hast du keinen eigenen?“ fragte sie ihren Begleiter, welcher mit einem düsteren Blick den Kopf schüttelte. „Nein, ich muss mir immer den Zweitschlüssel leihen und ihn jedes Mal wieder abgeben.“ „Wozu denn das Ganze?“ „Damit ich nicht reinkomme, wenn er mich mal für ein paar Tage rausschmeißt.“ Das waren schon ziemlich harte Maßnahmen und die 22-jährige fragte sich, ob er das tat, damit Jesse mit dem Trinken aufhörte, oder weil er einfach einen miesen Charakter hatte. „Macht er das öfter mit dir?“ Er antwortete zunächst nicht, dann steckte er die Hände in die Manteltaschen und seufzte. „Ja. Meist lässt er mich aber nach zwei Tagen wieder rein.“ „Und wieso macht tut er das?“ „Weil er ein arschgesichtiger Ausbeuter ist. Der Laden läuft nicht gut, da Walter mit seiner Art die Kunden vergrault. Im Grunde arbeiten nur Andy und ich dort. Er ist bloß Aushilfe und ich arbeite ohne Lohn. Dabei könnte sich der Dreckskerl locker vier Vollzeitkräfte leisten, denn Geld hat er ja mehr als genug. In Wahrheit verdient er sich eine goldene Nase beim Pferderennen und tut aber dann aber so, als hätte er nichts, während er das Geld heimlich beiseite schafft und andere ausbeutet. Dabei leisten Andy und ich jeden Tag Überstunden und arbeiten fast immer sieben Tagen die Woche.“ Fassungslos schüttelte sie den Kopf, als sie das hörte. „Aber kannst du da nicht klagen? Ich meine, du hast doch einen Anspruch auf Bezahlung und Urlaub, egal was er sagt.“ „Walter wollte keinen Vertrag abschließen, deshalb kann ich da auch wenig machen. Und dort zu arbeiten ist alle Male besser, als auf der Straße zu sitzen und nichts zu haben.“ „Aber trotzdem ist das keine Alternative!“ Andy kam mit dem Schlüssel zurück und gab ihm seinen Kollegen, wobei er ihn aber warnend ansah. „Lass dich besser nicht von ihm erwischen, okay? Du weißt, wie der Chef sein kann, wenn er richtig in Rage ist.“ Jesse sagte nichts dazu und steckte die Schlüssel ein. Ohne sich zu verabschieden, ging er zum Wagen und schließlich fuhren sie zu Walters Haus. Die Fassade war erst vor kurzem frisch gestrichen worden und auch als sie das Haus betraten, zeigte sich schnell, dass Jesses Onkel offenbar viel Geld hatte. Im Wohnzimmer stand ein riesiger Plasmafernseher, er hatte die neuesten Computer und auch die Möbel sahen edel und vor allem teuer aus. Doch schnell zeigte sich auch die andere Seite des Hausbesitzers, als sie Jesses Zimmer betraten. Dieses befand sich im Keller und dort war es ziemlich spärlich eingerichtet. Die Möbel sahen aus, als stammten sie vom Sperrmüll und waren allesamt stark abgenutzt und teilweise beschädigt. Es gab nur kleine vergitterte Fenster und es war allgemein recht dunkel hier drin, selbst mit den Lampen. Die Wände waren kahl und grau, teilweise löste sich schon bereits der Putz und die Heizung sah auch aus, als würde sie nicht mehr funktionieren. Nichts hier strahlte Wärme aus, alles wirkte so kalt und trostlos wie in einer Gefängniszelle. Dieser Raum hier bildete einen starken Kontrast zum Rest des Hauses und bestätigte so langsam das Bild vom ausbeuterischen und selbstsüchtigen Onkel, der Geld scheffelte und andere arbeiten ließ. Nun konnte Charity diesen Menschen erst recht nicht ausstehen. „Setz dich“, sagte Jesse tonlos und deutete aufs Bett. Zögernd setzte sie sich und sah sich um. Sie war nun richtig nervös und fragte sich, was nun kam. „Warte hier, ich geh kurz ins Bad.“ Aus einem alten Schrank, dessen Tür eher notdürftig repariert war, holte sich Jesse frische Kleidung und verschwand ins Erdgeschoss. Nach einer Weile des Wartens stand die Studentin aber auf und durchschritt langsam den Raum. Hier drin fühlte sie sich überhaupt nicht wohl, denn hier drin gab es wirklich gar nichts, was ein Gefühl von Geborgenheit und Ruhe vermittelte. Das lag aber nicht daran, dass es sich um ein Kellerzimmer handelte. Selbst ein Kellerzimmer konnte schön eingerichtet werden, wenn man gute Ideen dazu hatte. Es war das Gesamtpaket und sicherlich fühlte sich Jesse hier auch nicht sonderlich wohl. Besonders nicht bei so einem Onkel. Außer einem Bett, einem Kleiderschrank, einem Schreibtisch und einer Kommode gab es so gut wie gar nichts. Keine Poster, keine Bücher, höchstens ein paar CDs, aber das war es auch schon. Hier gab es nicht einmal einen Computer, geschweige denn einen Fernseher. Irgendwie kam ihr dieses Zimmer tatsächlich immer mehr wie eine größere Gefängniszelle vor, denn viele Unterschiede konnte sie nicht feststellen. Freiwillig würde sie hier nicht wohnen wollen. Sie ging zum Schreibtisch und sah dort einen Skizzenblock herumliegen und dazugehörige Stifte. Neugierig, was Jesse wohl so malte, schaute sie sich die Zeichnungen an und stellte schnell fest, dass er wirklich begabt war. Die Bilder waren sehr detailliert, wobei es aber fast immer das gleiche Motiv war. Es zeigte eine Kutsche mit Pferden, deren Anzahl von Zeichnung zu Zeichnung variierte, wobei es aber immer bei einer geraden Zahl blieb. Die Pferde selbst sahen ganz süß aus, aber der Kutscher jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Es war ein in schwarz gekleideter Mann mit roten Augen, der so düster gezeichnet worden war, als würde ein leicht schwärzlicher Schatten ihn wie Nebel umgeben. Außerdem erinnerte sie das Gesicht ein wenig an ein Skelett oder an das eines Toten. Er stand auf jedem Bild an der Kutschentür und führte jemanden heraus. Hier war die Person jedes Mal eine andere. Die Letzte hatte deutliche Ähnlichkeiten mit Charity, allerdings war sie sich nicht so ganz sicher, ob sie das auch wirklich war. Der Kutscher mit den roten Augen sah aber niemals die Person an, die er aus der Kutsche holte, sondern starrte immer seinen Betrachter an, wobei er unheimlich grinste. Diese Bilder waren schon etwas seltsam. Schnell legte Charity sie wieder zurück und setzte sich wieder aufs Bett. Wenig später kam Jesse die Treppe herunter und hatte sich ein Handtuch um die Schultern gelegt, da er sich nicht die Zeit genommen hatte, seine Haare zu trocknen. Nun trug er ein grünes Shirt und eine schwarzweiße College-Jacke, wodurch er wenigstens nicht mehr ganz so verwahrlost aussah wie zuvor. Er sah auch sonst ein klein wenig besser aus. In seiner Hand hielt er das kleine Tütchen, wo er den Rest vom Rosenkranz und die Perlen aufbewahrte. Damit ging er zum Schreibtisch, schaltete die Lampe an und holte aus einer Schublade eine kleine Box, wo er Schnüre, Verschlüsse und andere Utensilien aufbewahrte, die man zum Herstellen von Schmuck und kleineren Accessoires benötigte. Sogleich begann er damit, die letzten Perlen von der zerrissenen Kette zu lösen und machte sich direkt an die Arbeit. Charity sah ihm aufmerksam dabei zu. „Machst du so etwas öfter?“ „Meistens, wenn ich eine Beschäftigung brauche.“ „Und hast du schon viele Ketten gemacht?“ „Unter meinem Bett liegt eine Kiste, dort bewahre ich den ganzen Kram auf.“ Da sie davon ausgehen konnte, dass sie die Erlaubnis dazu hatte, griff sie unters Bett und holte eine kleine Kiste hervor. Sie staunte nicht schlecht als sie sah, was Jesse alles angefertigt hatte. Er hatte wirklich alles gemacht, was man mit wenig Werkzeug herstellen konnte. Ketten, Broschen, Armbänder, Schlüsselanhänger, Ohrringe, Ringe und sogar Tiere aus Perlen. Das waren wirklich aufwendige Handarbeiten, die sicherlich stundenlange Arbeit in Anspruch genommen hatten. Kaum zu glauben, dass er sie selbst gemacht hatte. Charity holte eine Brosche hervor, die aus silbernem Draht gebogen und mit Steinchen in allen Farben versehen war. Diese Dinge waren einfach nur wunderschön und sie konnte nur staunen über Jesses Geschick. „Wo hast du gelernt, das so zu machen?“ „Hab ich mir von Bildern abgeschaut und dann selbst nachgearbeitet. Schließlich hab ich dann angefangen, nach eigenen Ideen zu arbeiten.“ „Verkaufst du das alles dann?“ „Nein, die will doch eh keiner haben. Für so etwas habe ich kein wirkliches Können.“ Fassungslos sah sie zu ihm und schüttelte den Kopf. Wie konnte er nur so etwas sagen? Das war nicht bloß irgendwelche simple Amateurarbeit, sondern zeugte schon von der Arbeit eines Profis. So etwas würde sie selbst niemals hinbekommen. „Sag so etwas doch nicht. Die Sachen sind allesamt wunderschön! Du hast echt Talent!“ Er sagte nichts dazu, sondern konzentrierte sich stattdessen auf seine Arbeit. Offenbar schien er nicht sehr viel Selbstbewusstsein zu besitzen und wusste auch nicht um seine Stärken. Sicherlich hatte er in der Vergangenheit nicht sehr oft Zuspruch bekommen. „Wenn du willst, kannst du den Krempel haben.“ „Meinst du das im Ernst?“ „Sonst würde ich das wohl nicht sagen, oder? Betrachte es als Aufwandsentschädigung.“ „So etwas musst du nicht machen. Ich hab mich doch selbst angeboten und das mit der Kette war sowieso bloß ein Unfall. Warum denkst du eigentlich, dass man immer für alles eine Gegenleistung bringen muss?“ „Weil man nun mal nichts geschenkt kriegt. Die Welt funktioniert eben auf dem Prinzip „Geben und nehmen“. Für Arbeit bekommt man Geld, für Geld bekommt man Kleidung, Essen und Unterkunft. Und für Hilfeleistung bekommt man etwas anderes zurück.“ „Aber es gibt auch Menschen, die geben, ohne etwas zu verlangen. Wenn wirklich alle so denken würden, dann gäbe es doch keine Hilfswerke, keine Wohlfahrt und keine Hilfsorganisationen. Und so ein selbstsüchtiges Verhalten würde auch Menschenleben fordern. Denn wenn alle so denken würden, dann würde niemand Organe oder Blut spenden! Manchmal tut man so etwas einfach, weil man anderen Menschen helfen will und etwas Gutes tun möchte. Jemandem etwas zu geben, ohne etwas dafür zu erwarten, ist doch viel schöner. Denn es sind diese Gesten, die Menschen glücklich machen. Und andere Menschen glücklich zu machen, macht auch einen selbst glücklich und dafür braucht man nicht viel zu tun. So etwas nennt man Menschlichkeit.“ Jesse hielt kurz mit seiner Arbeit inne, so als dachte er darüber nach, was Charity ihm da erzählte. Schließlich aber schüttelte er den Kopf und fuhr mit seiner Arbeit wieder fort. „Aber wenn du jemandem etwas gibst, dann tust du das in erster Linie deshalb, weil du dich selbst glücklich machen willst. In der Hinsicht sehe ich überhaupt keinen Unterschied zum Prinzip „Geben und nehmen“. Das, was die Menschen betreiben, ist doch nur eine Fassade! Eine glatte Selbstlüge, weil sie nicht zugeben wollen, dass sie egoistisch sind.“ „Warum bist du nur so zynisch? Fällt es dir denn so schwer zu verstehen, dass es so etwas wie Selbstlosigkeit in der Welt gibt?“ „Ja. Ganz einfach aus dem Grund, weil die Menschen immer zuallererst an sich selbst denken. Das war immer so und wird auch immer so bleiben. Aber du mit deiner Gutgläubigkeit kapierst das nicht. Leute wie du lassen sich nach Strich und Faden ausnutzen, ohne es jemals zu merken und das macht euch nicht nur zu Opfern, sondern auch zu Witzfiguren! Solch eine Denkweise ist einfach nur dumm und naiv.“ „Wer von uns ist wohl der Dumme hier?“ Nun drehte sich Jesse zu ihr um und starrte sie finster an. In diesem Moment hätte sein Blick töten können, aber Charity sah ihn ebenfalls mit einem bösen Blick an, um ihm Paroli zu bieten. Schließlich aber drehte er sich wieder um und sagte nur „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ganz schön treudoof bist?“ „Ja, viele sogar und es ist mir völlig egal, was andere über mich sagen! Ich halte an meinem Glauben und an meinen Überzeugungen fest und ich werde auch nichts daran ändern. Jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient, sogar so ein zynischer, übellauniger und pessimistischer Trotzkopf wie du.“ Nun sagte Jesse überhaupt nichts mehr, sondern gab nur ein missmutiges Grummeln von sich und murmelte irgendetwas, das Charity nicht verstand. Schließlich aber war er mit seiner Arbeit fertig und reichte ihr das Ergebnis seiner Arbeit. Es war der gleiche Rosenkranz, wie sie ihn zuvor getragen hatte. Jesse hatte wirklich alles exakt kopiert, ohne auch nur einen einzigen Fehler zu machen. Sie konnte nicht fassen, dass er es tatsächlich geschafft hatte, ihren über alles geliebten Rosenkranz wieder neu zusammenzusetzen, nachdem er kaputt gegangen war. Vor lauter Freude wären ihr beinahe die Tränen gekommen und mit einem Male hatte sie auch ihren Streit und den ganzen Ärger wieder vergessen. „Danke Jesse… vielen Dank.“ Er setzte wieder einen missmutigen Blick auf, so als wäre es ihm unangenehm, dass sie sich bei ihm bedankte. Und auch, dass sie so von ihren Gefühlen überwältigt war, konnte er einfach nicht begreifen. Warum nur lösten solch simple Gegenstände derartige Emotionen bei anderen aus? Aber dann erinnerte er sich an ihre Worte, als sie so geweint hatte, nachdem ihre Kette gerissen war. Der Rosenkranz hatte ihrer verstorbenen Mutter gehört und so wie Charity geweint hatte, musste sie ihre Mutter wirklich geliebt haben. Dieses Ding war nicht bloß irgendein Gegenstand, sondern ein Erinnerungsstück. So wie auch er Erinnerungsstücke besaß, die ihm wichtig waren und das hatte er wohl irgendwie vergessen. Luca… sicher wäre er auch unendlich traurig, wenn er die Erinnerungsstücke an Luca verlieren würde. Aber wirklich vorstellen konnte er sich das nicht. Denn innerlich fühlte er sich einfach nur leer und tot und konnte nur wirklich Emotionen empfinden und ausdrücken, wenn er mindestens 0,8 Promille intus hatte. Jesse legte eine Hand auf seine Stirn, welche unangenehm glühte und auch seine Augen brannten leicht. Verdammt, warum musste er ausgerechnet heute krank werden? Dann würde ihn diese Charity nie in Ruhe lassen, so wie er sie einschätzte. Irgendwie musste er sie schnellstmöglich loswerden. Aber wie am besten? Einfach abhauen und sie hier lassen war keine Alternative. Walter würde bald zurückkommen und wenn er sie hier fand, gab es noch ein Unglück. Zwar glaubte er nicht, dass sein Onkel über das Mädchen herfallen würde, aber trotzdem würde er sie nicht so einfach gehen lassen. Und so treudoof wie die Kleine war, würde sie nicht mal merken, wenn sie verarscht wurde. Das perfekte Opfer für jedermann und er hatte nicht die geringste Lust, hinterher noch den Aufpasser für sie zu spielen. Die sollte ihn einfach bloß in Ruhe lassen und sich um ihren eigenen Kram kümmern. Nachher würde sich doch sowieso wieder nur herausstellen, dass sie im Grunde genauso verlogen und egoistisch war wie alle anderen auch. Alle Menschen waren so und in einer selbstsüchtigen Welt konnte eben nur der Selbstsüchtige überleben. Deshalb hatte er auch kein Interesse daran, für sie den Hampelmann zu spielen. Da konnte sie sich doch einen anderen Deppen suchen. „Du solltest besser wieder nach Hause fahren.“ „Und was ist mit dir? Hat dich dein Onkel denn nicht rausgeschmissen?“ „Der kriegt sich wieder ein und du hattest sicher schon genug Arbeit wegen mir.“ Charity war sich nicht sicher, was sie jetzt sagen oder tun sollte. So wie sie von ihm und seinem Kollegen gehört hatte, schien der Onkel ein ziemlicher Tyrann zu sein und insgeheim fürchtete sie schon, dass Jesse wieder rausgeschmissen wird. Das wäre in seinem ohnehin schon angeschlagenen Zustand nicht sehr gut. Aber wenn er meinte, er könnte seinen Onkel besänftigen, dann müsste er es wohl schaffen. Also verabschiedete sie sich und dankte ihm noch mal für den geschenkten Schmuck und dass er ihr einen neuen Rosenkranz angefertigt hatte. Mit der kleinen Kiste ging sie raus und fuhr nach Hause. Ihre Großmutter war noch nicht zurück und da sie momentan noch nichts zu tun hatte, wollte sie die Zeit nutzen, um Cupcakes zu backen, nachdem ihr die Kekse gestern verbrannt waren. Nach so viel Pech gestern musste es doch heute deutlich besser laufen. Sie hatte sich auch schon überlegt, was sie machen wollte: Schoko-Kirsch Cupcakes. Da sowieso immer ein paar übrig blieben, würden sich die Nachbarn sicherlich freuen. Denn die liebten ihre Cupcakes und meinten auch, dass sie eine wunderbare Konditorin abgeben würde. Vorher wollte sie aber noch mal einen Blick auf den Schmuck werfen, den Jesse ihr geschenkt hatte und sie fühlte sich wie im siebten Himmel, als sie all die wunderschönen Sachen sah. Sogleich legte sie sich die Kette um, in die sie sich unsterblich verliebt hatte und wickelte stattdessen ihren Rosenkranz wie ein Armband um ihr Handgelenk. Das machte sie immer, wenn sie mal eine andere Kette tragen wollte, denn trotz allem wollte sie ihren wertvollsten Schmuck um nichts in der Welt ablegen. Stolz betrachtete sie sich im Spiegel und konnte einfach nicht anders, als über beide Ohren zu grinsen und sich wie ein kleines Kind zu freuen. So einen schönen und bunten Schmuck bekam sie so schnell nicht in einem Laden und er passte einfach wunderbar zu ihr. Als sie sich aber genug mit ihrem neuen Schmuck bewundert hatte, ging sie in die Küche, um mit den Cupcakes anzufangen. Um aber noch etwas Unterhaltung dabei zu haben, holte sie ihren kleinen transportablen Lautsprecher, schloss ihren MP3-Player an und drehte die Lautstärke hoch. Backen brachte sie immer in die richtige Stimmung und machte mit der passenden Musik dazu gute Laune. Aber trotzdem gingen ihr Jesses Worte einfach nicht aus dem Kopf. Wie kam er denn bloß darauf, dass alle Menschen egoistisch seien und immer nur an sich selbst dachten? Nun ja, seine Mutter saß im Gefängnis und er hatte keinen Vater. Sie war ganz anders aufgewachsen als er, obwohl sie schon recht früh ihre Eltern verloren hatte. Aber sie hatte ihre Großmutter, die ihr immer erfolgreich Mutter und Vater ersetzen konnte. Und Jesse kannte das alles nicht. Sein Onkel behandelte ihn schlecht und seine Eltern waren nicht für ihn da. Vieles hatte er sich offenbar selbst alles beibringen müssen und musste schon früh anfangen, für sich selbst zu sorgen. Sie hatte trotz des Verlusts ihrer Eltern und dem Spott ihrer Mitschüler eine unbeschwerte und glückliche Kindheit gehabt und konnte deshalb nicht verstehen, wie es Jesse ging. Weil er niemanden hatte, musste er ganz alleine zurechtkommen und war dementsprechend zum Einzelgänger geworden. Kein Wunder also, warum es ihm so schwer fiel, Hilfe anzunehmen. Wenn sie so darüber nachdachte, konnte sie ihn langsam etwas verstehen und sie fragte sich, was sie wohl tun konnte, damit er sich auch irgendwann mal anderen Menschen öffnen konnte. Jesse… sie bekam ihn einfach nicht mehr aus ihrem Kopf und merkte nicht, dass ihr beinahe wieder die Cupcakes verbrannt wären. Noch im allerletzten Moment konnte sie sie retten und ließ sie erst einmal langsam auskühlen, während sie sie die schon mal die Creme vorbereitete. Sie gab noch Kirschsirup für das Aroma und die rosarote Farbe hinzu und stellte die fertige Creme dann kalt. Anschließend griff sie sich aus einer Schale am Tisch ein paar Kirschen und aß welche. Sie liebte Kirschen über alles, vor allem die rote Farbe. Diese Kirschen brachten schöne Kindheitserinnerungen zurück, als sie mit ihren Eltern und ihrer Großmutter gemeinsam im Urlaub war und dann auf die Leiter geklettert war, um Kirschen von den Bäumen zu pflücken. Es war der schönste Sommer ihrer Kindheit gewesen und auch der letzte, bevor ihre Eltern verunglückten. Die Kirschen waren genauso wie ihr Rosenkranz wertvolle Erinnerungen an damals, eben deshalb liebte sie auch ihren Spitznamen „Cherry“ so sehr. Sie liebte aber auch ihren richtigen Namen, denn „Charity“ bedeutete „Nächstenliebe“ und „Barmherzigkeit“. Von ihrer Großmutter hatte sie erfahren, dass es in der Familie gängig war, solche Namen zu geben. Ihre Mutter zum Beispiel hieß „Serenity“. Charity sollte zuerst „Daisy“ heißen, weil ihre Mutter Gänseblümchen so mochte, aber ihr Vater war dagegen gewesen, weil er fürchtete, man könnte sie irgendwann wegen ihres Namens ärgern. Also hatten sie sich auf „Charity“ geeinigt. Außerdem war es kein Standardname, sondern etwas Außergewöhnliches und Besonderes, weil auch sie selbst etwas Besonderes war. Nämlich für ihre Familie. Während nun Ke$has Hit „Tick Tock“ spielte, begann die Studentin nun damit, aufzuräumen, um die Wartezeit ein wenig zu überbrücken. Wenn ihre Großmutter zurückkam und es herrschte Chaos in der Küche, konnte sie richtig unangenehm werden und das wollte Charity lieber vermeiden. Außerdem konnte sie selbst auch keine Unordnung leiden, denn dann verlor sie schnell wieder den Überblick und dann kam es zu irgendeiner kleinen Katastrophe, weil sie wieder hektisch wurde. Nachdem alles aufgeräumt und sauber war und auch die Cupcakes genug abgekühlt waren, begann sie die rosarote Creme in eine Sahnetülle zu füllen und musste sich nun konzentrieren, dass auch ja kein Fehler passierte. Dieser Teil der Arbeit gefiel ihr besonders, denn wenn erst einmal die Creme verteilt war, kam das Verzieren und da fühlte sie sich jedes Mal wie ein kleines Kind. Wenn sie mit ihrem Studium fertig war und genug Geld zusammengespart hatte, würde sie sich ihren größten Traum erfüllen und eine eigene Konditorei eröffnen. Zwar war sie etwas schusselig, aber wenn sie eines konnte, dann war es das Backen. Nun gut, gestern hatte sie selbst einfaches Keksbacken nicht auf die Reihe bekommen, aber gestern war auch ein absoluter Unglückstag für sie gewesen. Der einzige Lichtblick war, dass sie zumindest Jesse helfen konnte. Nachdem sie die Creme aufgetragen und die dafür vorgesehenen Kirschen auf die Spitze platziert hatte, holte sie noch Streusel und bunte Perlen heraus, um sie noch zusätzlich etwas zu verzieren, damit sie auch hübsch aussahen. Als sie fertig war, betrachtete sie ihr Werk stolz und holte schnell den Fotoapparat. Auch das gehörte für sie zum Backen dazu: Wenn ihr etwas besonders gut gelungen war, hielt sie es auf einem Foto fest. Doch als sie mit dem Fotografieren begann, hörte sie plötzlich, wie ein Handy zu klingeln begann. Es war nicht ihr Lieblingslied „Happy“ von Pharrell Williams, sondern das monotone Standardklingeln eines fremden Handys. Selbst ihre Großmutter hatte einen eigenen Klingelton, wessen Handy war das dann also? Charity legte die Sachen beiseite und suchte nach der Quelle des Geräuschs. Es kam aus dem Wohnzimmer und schon hörte es auch zu klingeln auf. Aber kurz darauf wurde sie fündig. Auf dem Boden neben dem Hocker lag Jesses Handy. Offenbar war es aus der Tasche gefallen, als sie den Mantel dort hingelegt hatte. Oder es war passiert, als er seinen Mantel aufgehoben hatte und bei dem Durcheinander wegen dem Rosenkranz hatte keiner von ihnen darauf geachtet. Besser war es, noch mal kurz zu ihm nach Hause zu fahren und ihm wenigstens das Handy wiederzugeben. Sicher vermisste er es schon längst. Schnell steckte Charity es in die Hosentasche, ging kurz in die Küche zurück und stellte die Cupcakes in den Kühlschrank, damit die Creme nicht schlecht wurde, oder im schlimmsten Fall noch verlief. Eine Jacke nahm sie nicht mit, sie schnappte sich nur kurz ihre Schlüssel und ging nach draußen zum Wagen. Irgendwie musste doch immer ein Malheur bei ihr passieren, als ob sie so etwas magisch anziehen würde. Aber wenigstens traf sie dieses eine Mal keine Schuld und so hatte sie gleichzeitig eine gute Ausrede, um noch mal nach dem Rechten zu sehen, ob es Jesse auch wirklich gut ging, oder ob er wieder Ärger mit seinem Onkel hatte. Und vielleicht freute er sich ja, dass sie seinen Schmuck trug. Jesse hatte aus dem Badezimmer Kopfschmerztabletten geholt und sich gleich zwei eingeworfen, aber leider fand er nichts, was gegen Fieber half. Er fühlte sich überhaupt nicht gut und ahnte, dass er vielleicht doch lieber hätte liegen bleiben sollen. Tja, das hatte er nun davon, aber wenigstens konnte er diese Charity endlich abschütteln. So treudoof wie sie war, war sie ohne lange zu diskutieren abgerauscht und ließ ihn hoffentlich endlich in Ruhe. Dieses Mädchen war ihm sowieso ein Rätsel und er verstand auch nicht, was sie mit dieser ganzen Aktion bezweckte und wieso sie sich unbedingt in sein Leben einmischen wollte. Sollte die sich doch erst mal um ihren eigenen Kram kümmern, anstatt ihm auf die Nerven zu gehen! Die hat ja leicht reden von Selbstlosigkeit, Nächstenliebe und dem ganzen anderen Kram. So behütet, wie die aufgewachsen war, hatte die doch überhaupt keine Ahnung vom Leben. Wenn sie nicht mal endlich ihre rosa Brille abnahm, würde das noch ein schlimmes Ende mit ihr irgendwann nehmen und dann stand sie vor dem großen Scherbenhaufen, den sie dann natürlich nicht kommen sah. Wenigstens war er dann aus der Nummer raus und musste sich dann hinterher nicht anhören, dass das seine Schuld war. Er verstand sie einfach nicht. Wieso nur versuchte sie ihm zu helfen, obwohl sie ihn gar nicht kannte? Sie hatte gesagt, dass jeder eine zweite Chance verdient hätte… selbst er. Für einen Moment spürte Jesse, wie sich etwas tief in seinem Innersten regte, obwohl er schon seit Jahren glaubte, dass dort in seinem Herzen bereits alles tot war und er nur im Vollsuff in der Lage war, überhaupt noch zu weinen. Es bereitete ihm Unbehagen und er wusste nicht, wie er das einordnen sollte. Als sie gesagt hatte, dass auch er eine zweite Chance verdiente, hätte er am liebsten geweint, aber natürlich konnte er es nicht. Zu solchen Emotionen war er im nüchternen Zustand einfach nicht mehr fähig. Er spürte weder Hass, noch Traurigkeit, oder überhaupt Zuneigung. Die Menschen waren ihm allesamt gleichgültig, aber wieso nur hörte er immer wieder ihre Worte, als sie sagte, dass er eine zweite Chance verdiente? Irgendwie verstand er sich selbst nicht mehr und setzte sich erst einmal aufs Bett, starrte zur Zimmerdecke rauf und versuchte, alles auf logischer Basis zu erklären. Charity war ein gutgläubiges und naives Mädchen und machte diesen ganzen Religionsquatsch mit. Wahrscheinlich frühkindliche Hirnwäsche und jetzt versuchte sie das Gleiche bei ihm, genauso wie diese bescheuerten Zeugen Jehovas. Zweite Theorie: Aufgrund seines Fiebers herrschte nicht nur ein biologisches Durcheinander in seinem Körper, sondern auch ein emotionales. Im angeschlagenen Zustand war er etwas empfindlicher, als wenn er gesund und nüchtern war. Ja, das war sehr wahrscheinlich. Dieses Mädchen nutzte seinen angeschlagenen Zustand aus, um ihn einer religiösen Gehirnwäsche zu unterziehen und ihn für ihren obskuren Verein zu gewinnen. So musste es sein und nicht anders. Deshalb bekam er sie nicht aus seinem Kopf und deshalb klebte sie wie eine Klette an ihm. Aber wieso nur hatte er sich so elend gefühlt, als sie wegen des Rosenkranzes geweint hatte? Er hatte sie gewarnt, weil er wusste, dass ein Unglück geschehen würde, wenn sie ihm zu nahe kam. Und dass sie so blöd war und trotzdem zu Hilfe eilte, war doch nicht sein Problem. Aber trotzdem fühlte er sich beschissen, als sie so traurig war. Ob sie statt Aspirin irgendetwas anderes in sein Glas gemischt hatte, dass er jetzt so durcheinander war? Nein, dazu war sie nicht hinterhältig genug. Das wusste er mit Gewissheit. Jesses Augen brannten und auch seine Stirn glühte. Er legte seine kalte Hand darauf, um sein Gesicht ein wenig zu kühlen, aber das schaffte auch keine Abhilfe. Immer wieder musste er einen längeren Zeitraum seine Augen schließen, aber immer, wenn er das tat, hörte er Charitys Worte. Verdammt, in diesem Zustand spielte sein Verstand komplett verrückt. Er brauchte jetzt dringend Ruhe und Abstand, um sich erst einmal zu sammeln. Erschöpft legte er sich hin und schloss die Augen, aber schlafen konnte er nicht. Überhaupt hasste er es, zu schlafen und tat es nur, wenn es nicht mehr anders ging. Als er die Augen geschlossen hatte, versuchte er seine Gedanken einfach loszulassen und seinen Kopf leer zu bekommen. Doch daraus wurde nichts, denn kurz darauf hörte er die Haustür oben zuschlagen und wie schwerfällige Schritte im Erdgeschoss ertönten. Auch das noch! Walter kam heute früher nach Hause. Ob Andy sich verquatscht hatte? Vielleicht war es auch nur Zufall, dass er so früh zurück war. Die Tür zum Keller wurde geöffnet und Walter kam die Stufen herunter. Er war ein bulldoggengesichtiger Endvierziger mit knapp 130kg Gewicht und Halbglatze. So unfreundlich und schmierig wie er aussah, war er auch und der Gestank von Schweiß und Bier wehte dem 23-jährigen entgegen. „Was hast du denn hier verloren, du Rotzbengel? Ich hab dich rausgeschmissen, schon vergessen? Mach sofort, dass du wegkommst, oder…“ „Oder was?“ fragte Jesse und setzte sich sofort auf, wobei er versuchte, sich seinen angeschlagenen Zustand nicht anmerken zu lassen. Wäre ja noch schöner, wenn er ausgerechnet vor Walter Schwäche zeigte. Dieses Vergnügen würde dieser schmierige Sklaventreiber ganz gewiss nicht bekommen. „Willst du mich etwa verprügeln? Weißt du was, lass mich in Ruhe, ich hab jetzt echt keine Lust auf Diskussionen mit dir.“ „Werde mir bloß nicht frech, du kleiner Punk.“ Mit schwerfälligen und stampfenden Schritten kam Walter näher und sofort erhob sich Jesse. Zwar war sein Onkel bei weitem nicht so beweglich und schnell wie er, aber er konnte dennoch verdammt gut zuschlagen, wenn er sauer war. Und dann konnte es auch für Jesse gefährlich werden, das wusste er aus Erfahrung. „Wegen dir hab ich das Pferderennen verloren. Zehn Riesen sind mir deinetwegen durch die Lappen gegangen und die wirst du mir schön wieder zurückholen, oder ich werde mal ganz andere Seiten aufziehen, mein Freund. Bis jetzt war ich ja noch freundlich zu dir, weil du mein Neffe bist, aber deine frechen Kommentare und deine Respektlosigkeit mir gegenüber haben bei mir so langsam die Toleranzgrenze überschritten.“ Damit packte er Jesse am Kragen und stieß ihn mit dem Rücken zur Wand, wobei dieser sich den Hinterkopf schlug. „Ich lass dich hier wohnen und füttere dich schon seit Jahren durch, da wird es auch mal Zeit, dass du mir das auch mal zurückzahlst. Das nächste Rennen will ich gewinnen und du wirst dafür sorgen, dass dein Onkel wieder zufrieden ist. Denn wenn Onkel Walter nicht glücklich ist, dann wirst du dein blaues Wunder erleben. Mal sehen, ob du dann immer noch so aufmüpfig bist.“ Der Schlag am Hinterkopf tat weh und ging durch seinen ganzen Schädel. Die Schmerzen waren entsetzlich und für einen Moment wurde Jesse schwarz vor Augen. Sein Gesicht glühte und alles um ihn herum begann sich zu drehen. Verdammt, warum nur musste das ausgerechnet heute sein? Mit Mühe gelang es ihm, sich aus Walters Griff zu befreien und schon ging er zur Treppe hin, da wurde er erneut gepackt und zurückgezerrt. Er fiel zu Boden und sogleich wurde ein Fuß auf seine Brust gesetzt. „Du gehst nirgendwo hin, bis ich mein Geld wieder habe, hast du verstanden? Wenn du unbedingt Ärger mit mir haben willst, dann kannst du gerne Ärger haben!“ Es setzte einen kräftigen Tritt auf den Brustkorb, der Jesse die ganze Luft herauspresste. Er stöhnte auf und versuchte wieder Luft zu holen, doch da packte Walter ihn am Kragen und verpasste ihm noch einen Schlag ins Gesicht und einen in die Magengrube. Benommen fiel Jesse zu Boden, sein Kopf fühlte sich an, als würde er explodieren und wirklich alles im Raum schien sich zu drehen. Als er den Blick hob, sah er, wie sein Onkel aus der Hosentasche Handschellen holte und er begann zu ahnen, was gleich kommen würde. Und diese Vorstellung gefiel ihm überhaupt nicht. „So mein Freund, du willst es unbedingt auf die harte Tour? Das kannst du gerne haben.“ Obwohl er immer noch ganz benommen von dem Tritt war, reagierte Jesse sofort und trat seinem Onkel mit aller Kraft, zu der er fähig war, unter die Gürtellinie. Dieser krümmte sich vor Schmerzen und sogleich trat der 23-jährige gegen seine Beine, um ihn endgültig zu Boden zu bringen. Wie ein nasser Sack fiel Walter hin und war viel zu benommen, als dass er etwas gegen seinen Neffen hätte ausrichten können. Etwas taumelnd kam Jesse wieder auf die Beine und warf seinem Onkel einen tödlichen Blick zu. „Krepier doch, du fettes Schwein.“ Und damit trat er gegen seinen Rücken und dann auf seine Hand, die die Handschellen festhielt. Walter schrie auf und ließ los, dafür griff Jesse sich diese und fesselte seinem Onkel die Hände. Da dieser aber zu massig war, bekam er die Hände nicht auf den Rücken, aber das war auch egal. Als er Anstalten machte, sich zu bewegen, setzte es noch einen ordentlichen Tritt in die Magengrube. Das hatte Walter nun den Rest gegeben. Jesses Kopf dröhnte und ihm war schlecht, außerdem war ihm entsetzlich heiß und sein ganzes Gesicht fühlte sich an, als würde es brennen. Offenbar schien sich sein Fieber zu erhöhen und er brauchte dringend Ruhe. Aber hier konnte er auf keinen Fall bleiben, so viel stand fest. Er ging zum Kleiderschrank, holte eine Sporttasche heraus und begann schnell ein paar Sachen einzupacken. „Was hast du vor?“ brachte Walter unter Schmerzgestöhne hervor, als er sah, was sein Neffe da machte. Ohne ihn anzusehen, antwortete Jesse „Ich hau ab. Mir reicht’s endgültig. Lieber leb ich auf der Straße, als auch nur einen Tag länger in diesem Haus!“ „Dann mach doch. Du wirst früher oder später sowieso wieder zurückkommen, wenn du keine Kohle mehr hast, die du versaufen kannst! Zum Klauen hast du ja sowieso nicht den Mumm. Ein elender Schmarotzer bist du und das wirst du auch immer bleiben. Ohne mich hättest du weder Obdach, noch Essen, Kleidung oder Job. Ohne mich bist du nichts, hast du gehört?“ Doch Jesse hörte nicht zu, sondern verschloss seine Tasche, schulterte sie und gab seinem Onkel noch einen Tritt ins Gesicht. „Ist mir doch egal.“ Das war alles, was er noch zu ihm sagte. Schließlich verließ er den Keller, schloss die Tür hinter sich und ging in den Flur. Dort durchsuchte er den Mantel seines Onkels und fand schließlich seine Brieftasche. Er holte sie heraus, nahm sich zehn Dollar und ließ den Rest des Geldes drin, selbst die Kreditkarten. Die Brieftasche legte er wieder zurück. Sein Entschluss stand endgültig fest, dass er hierher nie wieder zurückkehren würde. Selbst dann nicht, wenn es die allerletzte Möglichkeit vor dem endgültigen Absturz war. Auf der Straße zu leben war ihm alle Male lieber, als sich von diesem fetten Ausbeuter im Keller einsperren und mit Handschellen ans Heizungsrohr fesseln lassen. Der hatte sie ja nicht mehr alle und er wollte lieber nicht daran denken, was der noch mit ihm angestellt hätte! Er lief so schnell er konnte und wollte einfach nur weg, weit weg am besten. Zehn Jahre lang hatte er das alles still schweigend ertragen, aber nun war das Maß endgültig voll. Sollte sich Walter doch einen anderen Vollidioten suchen, den er sich als persönlichen Sklaven halten und ans Heizungsrohr ketten konnte. Jesses Wange schmerzte, wo der Schlag ihn getroffen hatte und auch seine Brust tat bei jedem Atemzug weh. Sein Onkel hatte aber auch wirklich den Schlag eines Boxers. Als er ihn ins Gesicht geschlagen hatte, war ihm für einen Moment regelrecht schwarz vor Augen geworden und hätte er sich nicht zusammengerissen, dann wäre er jetzt sicher am Heizungsrohr gefesselt und so schnell nicht mehr aus dem Keller herausgekommen. Wohl erst dann, wenn ein Wunder geschah. Aber jetzt merkte er auch richtig, dass sein Fieber gestiegen war. Sein Gesicht glühte und er fühlte sich müde, schwach und erschöpft. Er wollte sich einfach nur hinlegen und sich ausruhen. Doch bevor er das tun konnte, musste er noch etwas ganz Wichtiges erledigen und dafür musste er sich beeilen. Jesse griff in seine Hosentasche und suchte nach seinem Handy, fand es aber nicht. So ein Mist, hatte er es bei Walter vergessen? Oder hatte er es unterwegs verloren? Um keine Zeit zu verlieren, ging er zur nächstgelegenen Telefonzelle und rief sich ein Taxi. Wenn er Glück hatte, dann würde er es noch rechtzeitig schaffen und dann konnte er guten Gewissens endlich verschwinden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)