Das triste Leben des Jesse Wyatt von Sky- ================================================================================ Kapitel 7: Mit offenen Karten ----------------------------- Am nächsten Tag war Jesses Fieber vollständig abgeklungen und er sah auch gleich viel besser aus als die letzten drei Tage. Nach dem Frühstück setzten sie sich alle zusammen, da Grace ein paar wichtige Dinge zu klären hatte. Geduldig wartete der 23-jährige, bis sich die pensionierte Lehrerin gesetzt hatte und zu sprechen begann. Sie erklärte ihm in aller Ruhe, dass sie nachgedacht habe und einverstanden war, wenn er hier wohnte, solange er weder Job noch Obdach hatte. Allerdings sei das auch mit einigen Regeln verbunden, die er einzuhalten habe. Jesses Blick verdüsterte sich ein wenig, als er das hörte, so als ahnte er, dass gleich irgendetwas kommen würde. Irgendein Haken war ja immer dabei. Doch zu seinem Erstaunen erklärte Grace „Als Mitbewohner dieses Hauses erwarte ich von dir, dass du uns im Haushalt unterstützt, selbst Ordnung hältst und dich an meine Regeln hältst. Rauchen ist nur am offenen Fenster oder draußen vor der Tür erlaubt und harte alkoholische Getränke wie Schnaps, Wodka und dergleichen sind auch nicht gestattet. Charitys Semesterferien werden auch nicht ewig dauern, da kann ich Hilfe gut gebrauchen. Die Jüngste bin ich ja auch nicht mehr. Also, bist du damit einverstanden?“ Ein wenig abwesend wirkte Jesse schon und zunächst dachte Charity, er hätte gar nicht zugehört, aber dann sagte er tonlos „Ja.“ Aber sonderlich glücklich schien er nicht zu sein, oder vielleicht war es ihm einfach unangenehm, offen Gefühle zu zeigen. Da Charity an dem Morgen einen Termin beim Frauenarzt hatte, ging Jesse seiner Gastgeberin gleich zur Hand. Wortlos und sorgfältig erledigte er alles, was sie ihm auftrug und sie selbst war erstaunt, wie ordentlich er eigentlich war. Sie musste ihm fast nichts erklären und wenn sie seine Arbeit zwischendurch kontrollierte, konnte sie keine groben Fehler entdecken. Nur geringe Kleinigkeiten, die er sofort korrigierte. Und als sie ihn zum Einkaufen schickte, erwies er sich auch als sehr zuverlässig und nicht ein Cent fehlte. Und während Grace sich kurz hinsetzte, um eine Pause von der Anstrengung zu nehmen, verschwand Jesse in die Küche, um das Mittagessen vorzubereiten, ohne dass sie ihn darum bitten musste. Mit ihm zusammenzuwohnen hatte sich bis jetzt als weniger schwierig erwiesen, als die alte Dame zunächst befürchtet hatte. Von Charity hatte sie schon des Öfteren mal gehört, wie anstrengend und unselbstständig Suchtkranke sein konnten und dass sie sich kaum um etwas kümmerten und teilweise auch verwahrlosten. Aber Jesse schien einen starken Kontrast zu den stereotypischen Suchtkranken zu bilden, die sie in der Adaptionsstelle erlebt hatte. Zwar war er sehr wortkarg, verschlossen und schien nicht gerade der sozialste Mensch zu sein, aber er erwies sich als sorgfältig, gewissenhaft, zuverlässig und vor allem fleißig. Nun ja, da er schon von klein auf alles selbst machen musste, hatte er es auch nie anders gekannt. Das einzige Mal, als sie etwas stutzig wurde war, als Charity von der Routineuntersuchung zurückkam und Jesse sie fragte, ob er ihr etwas Geld leihen könnte. Grace hatte es eher zufällig mitbekommen und fragte sich natürlich, was er denn mit dem Geld vorhabe. Auch Charity fragte ihn, doch er antwortete lediglich „Ich brauche noch ein paar Sachen.“ Sie gab ihm das Geld und Jesse versicherte, dass sie es noch heute zurückbekommen würde. Damit nahm er seine Jacke und ging, ohne sich zu verabschieden. Grace sah ihm mit gemischten Gefühlen hinterher und fragte ihre Enkelin. „Wie viel hast du ihm gegeben?“ „Ähm… knapp 200$.“ „Wie bitte?“ rief sie fassungslos und schüttelte den Kopf. „Wieso kommst du nicht direkt zu mir? Du brauchst das Geld doch selbst!“ „Aber er hat doch versichert, dass ich es heute zurückbekommen würde.“ „Na hoffentlich warst du nicht schon wieder zu gutgläubig. Du solltest wirklich bei Männern aufpassen, die dich nach Geld fragen, obwohl du sie kaum kennst. Der Schuss kann schnell nach hinten losgehen!“ Manchmal war Grace schon erschrocken, wie blauäugig ihre Enkelin sein konnte. Bei Geld war immer höchste Vorsicht geboten, das wusste sie selbst, denn sie kam langsam auch auf das Alter zu, wo Menschen ihren Zustand ausnutzen würden, um sie um ihr Geld zu betrügen. Vor allem aber wusste sie, dass Charity Gefühle für Jesse hatte und das war es, was ihr Sorgen bereitete. Sie wollte nicht, dass Jesse oder sonst irgendjemand ihre Gutgläubigkeit und ihre Gefühle schamlos ausnutzte. Das hatte sie schon in der Schule erleben müssen und das war eine wirklich schwere Zeit für sie gewesen. Außerdem fragte sich Grace, was Jesse mit dem Geld vorhatte und wieso er so viel brauchte. Na hoffentlich nicht für Spirituosen und Zigaretten. Es dauerte knapp den halben Tag, bis er wieder zurückkam. Er hatte einige Taschen und einen Koffer bei sich, was stark den Anschein erregte, als wäre er einkaufen gewesen. Bei sich in Begleitung hatte er Andy, der ihm geholfen hatte, die restlichen Sachen bei seinem Onkel abzuholen und in seinem dunkelblauen Lada Niva hierher zu bringen. Sie hatten die Gelegenheit genutzt, als Walter in die Kneipe gegangen war, um während seiner Abwesenheit Jesses Zimmer zu räumen. Jesse selbst hatte weder Auto noch Führerschein und alleine hätte er das kaum geschafft, außerdem war Andys Wagen groß genug für all die Sachen. Aber nicht nur Koffer und Taschen hatten sie bei sich, sondern auch einige Einkaufstüten. Nachdem sie alles in das Gästezimmer hochgebracht hatten, in welches Jesse nun eingezogen war, kam er wieder herunter und drückte Charity 260$ in die Hand mit den Worten „Stimmt so.“ Erstaunt darüber, dass sie sogar mehr Geld zurückbekommen hatte, als sie eigentlich gegeben hatte, fragte sie „Wo… woher hast du…“ „Im Casino beim Roulette gewonnen.“ Entgeistert sah sie ihn an und ihr Blick verriet allzu deutlich, dass sie ihn für einen Spieler hielt und Sorge hatte, dass auch das ein Problem bei ihm sein könnte. Doch Jesse erklärte in seiner gleichgültigen und tonlosen Art „Ich spiele eigentlich selbst nicht, es war lediglich eine schnelle und unkomplizierte Notlösung.“ „Und wenn du verloren hättest?“ „Das habe ich ja nicht. Ich verstehe nicht, wo dein Problem liegt.“ Trotzdem war sie sich nicht ganz sicher, was sie davon halten sollte. Aber zumindest war sie froh, dass Jesse sich wenigstens an die Regeln hielt und tatsächlich keinen Schnaps oder etwas anderes Hochprozentiges gekauft und auch sein Versprechen eingehalten hatte. Und so wie sie hörte, war er auch ihrer Großmutter eine große Hilfe gewesen. Während Jesse im Zimmer seine Koffer auspackte, blieb Andy noch bei einer Tasse Kaffee und unterhielt sich ein wenig mit Charity. Er war ganz anders als Jesse, wie sie schnell feststellte. Viel redseliger, witziger und vor allem offener. Andy war knapp zwei Jahre älter als Jesse und hatte pechschwarzes Haar, das er immer unter einer dunkelblauen Mütze versteckte, auf der groß „X!“ stand, daneben war ein Anstecker mit einem gelben Smiley befestigt. Er hatte etwas Charismatisches an sich, aber was wirklich ungewöhnlich an ihm war, das waren seine gelben Augen. Noch nie hatte Charity bei einem Menschen solch eine goldgelbfarbene Iris gesehen und zuerst hatte sie gedacht, es seien farbige Kontaktlinsen, bis Andy ihr versichert hatte, dass er genetisch bedingt so eine ungewöhnliche Augenfarbe hatte, wie alle in seiner Familie. Charity reichte ihm den Kaffee und bot ihm ein Stück selbstgebackenen Kuchen, was er beides dankend annahm. „Und?“ fragte er schließlich, nachdem er seinen Kaffee ausgetrunken hatte und nun den Kuchen in Angriff nahm. „Wie kommst du mit Jesse klar?“ „Er ist etwas… schwierig, aber er gibt sich auch Mühe und ist wirklich hilfsbereit.“ „Ja, eigentlich ist er echt anständig. Ich kenne ihn schon seit Jahren und weiß deshalb, dass er ziemlich anstrengend sein kann und mit seinem Verhalten schnell anderen vor dem Kopf stößt. Meine Pflegeeltern haben es nicht sehr lange mit ihm durchgehalten, weshalb er schließlich zum Chef in Obhut kam.“ Charity hob erstaunt die Augenbrauen und fragte „Du lebst bei einer Pflegefamilie?“ Andy nickte, aber er verlor nicht einen Moment seine gut gelaunte und freundliche Art. „Meine Eltern sind kurz nach meiner Geburt verschwunden und konnten nicht gefunden werden, also kam ich zu den Gilberts in Pflege. Eigentlich heiße ich mit richtigem Namen Andrew Cohan, aber alle nennen mich bloß Andy.“ „Aber du hast doch gesagt, dass alle in deiner Familie diese Augenfarbe haben. Hast du denn Kontakt zu deinen Verwandten?“ „Ja, zu meinen beiden Cousins, aber von meinen Eltern habe ich bis heute nichts gehört. Das ist auch nicht sonderlich tragisch, denn die Gilberts sind wirklich eine wunderbare Familie und ich fühle mich ihnen weitaus mehr verbunden, als zu meiner leiblichen. Der Kontakt zu meinen beiden Cousins reicht mir auch, mit denen verstehe ich mich wunderbar und sie sind wie Brüder für mich.“ Wirklich erstaunlich, dass Andy und Jesse sich schon so lange kannten und dann auch noch in der gleichen Pflegefamilie gelebt hatten, bevor Jesse zu seinem Onkel kam. Als sie die beiden angetroffen hatte, war es ihr so vorgekommen, als wären sie bloß Kollegen. „Seid ihr Freunde?“ „Nein, Jesse vermeidet jeglichen Kontakt zu Menschen und es ist auch nicht sonderlich leicht mit ihm. Besonders nicht wegen seines Verhaltens. Jeden Versuch, ihm näher zu kommen, blockt er sofort ab und wenn er mal nicht so ruppig ist, hat er bereits seinen guten Tag. Ich hab mich einfach damit arrangiert, weil ich seine Geschichte kenne und deshalb weiß, dass er es schwer hat.“ „Und wieso hat er denn eigentlich bei seinem Onkel gelebt, wenn es ihm dort so schlecht ging?“ „Wo hätte er denn sonst hingehen können? Ich wohne leider in einer kleinen Zweizimmerwohnung und Jesse weigert sich auch vehement, Hilfe anzunehmen. Es hat mich sowieso gewundert, als ich gehört habe, dass er bei dir untergekommen ist. Das sieht ihm überhaupt nicht ähnlich. Lieber würde er auf der Straße leben, als Hilfe anzunehmen und sich auf andere Menschen einzulassen.“ Charity schwieg und gab etwas Milch in ihren Kaffee. Nachdenklich trank sie einen Schluck und betrachtete Andy, der ähnlich wie sie ein Sonnenscheinlächeln im Gesicht hatte. Wie sehr wünschte sie sich, Jesse auch mal lächeln zu sehen. Schließlich seufzte sie ein wenig niedergeschlagen. „Ich wünschte, ich könnte endlich verstehen, wie es in ihm drin aussieht. Er tut immer so, als würde ihm überhaupt nichts nahe gehen und als wäre ihm alles egal. Ich weiß nicht, ob er wütend oder traurig ist, oder ob er genervt oder froh ist, dass er jetzt hier wohnt.“ Andy überkreuzte die Beine, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und erinnerte sie irgendwie in diesem Moment an einen zu jungen Truckfahrer. Wahrscheinlich lag es an der Kleidung. „Wenn er wirklich keinen Bock hätte hierzubleiben, dann hätte er sich mit Sicherheit schon längst klammheimlich aus dem Staub gemacht. Als er zu uns kam, ist er fast jede Nacht ausgerissen. Ein Mal blieb er während der Sommerferien gänzlich verschwunden und wurde erst zwei Monate nach seinem Verschwinden gefunden.“ „Wie hat er denn die ganze Zeit auf der Straße überlebt?“ „Was man eben halt macht, wenn man weder klauen noch dealen will. Eine Zeit lang trieb er sich auf dem Straßenstrich herum und hat wohl dort Geld verdient.“ Fassungslos und mit offenem Mund starrte Charity Andy an und brachte nicht ein Wort hervor. Allein der Gedanke, dass Jesse im Alter von 13 Jahren so etwas getan hatte, war für sie unvorstellbar. Ihr wurde schlecht und ihr Magen verkrampfte sich, als sie sich vorstellte, es in diesem Alter mit irgendwelchen Erwachsenen zu tun. „Wieso hat Jesse das getan? Er war doch erst 13 Jahre alt!“ „Für ihn war es eben ein Mittel, um an Geld zu kommen. Aber eine Gefühlssache war Sex für ihn noch nie.“ Das wurde ja immer schlimmer. Je tiefer Charity in Jesses Vergangenheit vordrang, desto schrecklicher wurden die Dinge, die sie über ihn erfuhr. Der Appetit war ihr nun endgültig vergangen und auch Andy erhob sich, da er noch arbeiten musste. „Aber weißt du“, sagte er schließlich als er sah, wie geknickt sie war. „Jesse scheint diese neue Umgebung wirklich gut zu tun. Ich habe wirklich noch nie erlebt, dass er freiwillig Hilfe angenommen hat.“ Damit verabschiedete sich Andy und ging zur Tür raus zum Wagen. Charity saß noch eine Weile schweigend am Tisch, räumte dann das Geschirr weg und ging erst einmal in ihr Zimmer, um sich ein wenig abzulenken. Am Abend ging sie schließlich ins Wohnzimmer, wo Jesse saß und damit beschäftigt war, Perlen aufzufädeln. Er war wohl gerade dabei, eine neue Kette anzufertigen und ging dabei hochkonzentriert vor. Sie setzte sich und schaute ihm dabei zu. Was sollte sie sagen? Sollte sie überhaupt etwas sagen, oder war das auch wieder falsch? Jetzt, da sie so viele unangenehme Sachen aus seiner Vergangenheit wusste, war sie sich nicht sicher, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Insgeheim wünschte sie sich, dass er sich endlich öffnen und mit ihr reden würde. Sie wollte endlich mal seine Gefühle verstehen und wissen, woran sie bei ihm war und ob sie ihn weiter belästigen sollte. Und sie wollte ihm nahe sein und ihn im Arm halten. Nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten, fragte sie zögerlich „Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, Schmuck zu machen?“ „Ich brauchte etwas, um mich konzentrieren zu können. Eines Tages hab ich zufällig ein Buch über das Basteln mit Perlen gefunden und fand die Sachen schön. Also probierte ich es einfach aus und versuchte zunächst, die Ketten und Figuren auf den Bildern nachzuarbeiten. Nach ein paar Minuten hatte ich dann den Dreh raus und habe dieses Hobby weitergeführt.“ Selbst wenn er über sein Hobby sprach, regte sich nichts bei ihm. Jeder andere Mensch hätte mit Leidenschaft und Begeisterung über sein Hobby geredet. Warum bloß er nicht? Charity entschied sich, weiter nachzufragen, um mehr über ihn zu erfahren. „Und liest du auch Bücher?“ „Nicht wirklich.“ Jesse war wieder komplett wortkarg geworden, als wäre er durch etwas abgelenkt. Schließlich aber fragte er „Warum fragst du mich all diese Dinge?“ „Na weil ich dich näher kennen lernen will. Du wirkst immer so desinteressiert und gleichgültig, dass man wirklich nicht erkennen kann, was du denkst oder fühlst. Ich kann dich überhaupt nicht einschätzen und weiß nicht mal, ob du mich hasst.“ Jesse hielt kurz mit seiner Arbeit inne, um wieder nachzudenken. Überhaupt schien er das sehr oft zu tun, da er wohl ein absoluter Kopfmensch war. Schließlich aber fragte er sie etwas, das sie gänzlich irritierte. „Ist es dir etwa wichtig, dass ich dich hasse?“ „Nein“, rief sie und ihr war es unangenehm, dass sie so laut dabei wurde, woraufhin sie wieder ihre Lautstärke senkte. „Warum sollte jemand denn unbedingt wollen, dass man ihn hasst?“ Ein einfaches Schulterzucken war Jesses einzige Antwort. Charity hatte langsam das Gefühl, an ihm zu verzweifeln, denn so langsam wusste auch sie nicht mehr weiter. Sie fühlte sich irgendwie hilflos, aber gleichzeitig wuchs auch der Wunsch in ihr, Jesse nahe zu sein und Seiten von ihm kennen zu lernen, die vielleicht niemand anderes kannte. Nicht nur körperlich, sondern auch emotional wollte sie ihm nahe sein. Diese Gefühle verunsicherten sie und sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Wirklich verliebt war sie noch nie in ihrem Leben gewesen. Zwar hatte sie mal hin und wieder für einen Jungen geschwärmt, aber eine richtige Beziehung hatte sie noch nie und dementsprechend besaß sie auch keinerlei Erfahrung. Nun war es Jesse, der sie prüfend betrachtete, als versuche er zu erkennen, was sie gerade fühlte. Und als sich ihre Blicke trafen, da passierte es. Charity küsste ihn und dachte in diesem Moment gar nicht daran, wie Jesse vielleicht reagieren könnte. Es war einfach über sie gekommen und zugleich spürte sie mit Gewissheit, dass sie ihn wirklich liebte. Doch als sich ihre Lippen wieder von den seinen lösten, sah Jesse sie verständnislos an und immer noch waren keinerlei Gefühle bei ihm erkennbar, was für sie wie ein Stich ins Herz war. „Und… was sollte das jetzt?“ Charitys Brust schnürte sich schmerzhaft zusammen, als sie das hörte und mit einem Male kam sie sich furchtbar dämlich vor und schämte sich. Großer Gott, warum nur hatte sie das getan? Das war ihr in dem Moment so unangenehm, dass sie sich am liebsten in Luft aufgelöst hatte. „Entschuldige…“ Sie stand auf, verließ fluchtartig das Wohnzimmer und eilte in ihr Zimmer, warf die Tür hinter sich zu und setzte sich aufs Bett, wobei sie eines ihrer Kissen an sich drückte. Was hatte sie sich denn da nur dabei gedacht, als sie ihn geküsst hatte? Gott, was musste er jetzt von ihr denken! Aber sie hatte irgendwie gehofft, dass er wenigstens ein einziges Mal Gefühle zeigte und entweder abweisend reagierte, oder vielleicht sogar Gefallen daran hatte. Doch stattdessen sah er sie immer noch so gleichgültig und nichts sagend an. Am liebsten wäre sie in diesem Moment im Boden versunken und für immer dort geblieben. Sie brach in Tränen aus und vergrub das Gesicht in ihr Kissen. Als sie dann aber kurz darauf hörte, wie jemand an ihre Tür klopfte, wischte sie sich hastig die Tränen weg und rief „Ja?“ Etwas zögerlich wurde die Tür geöffnet und sie sah, dass es Jesse war. Oh nein, das konnte doch nicht wahr sein. Jetzt musste sie auch noch ihren Ausrutscher erklären und das war ihr furchtbar peinlich. „Was willst du?“ „Reden.“ Er schloss die Tür hinter sich und setzte sich neben ihr aufs Bett. Doch noch sagte er nichts, sondern überlegte sich wohl noch, was er sagen wollte. Auch er war sich unsicher, genauso wie Charity. Nach einer Weile des Schweigens und Grübelns sagte er schließlich „Es tut mir Leid, wenn ich dich verletzt habe. Ich habe nur nicht verstanden, wieso du das getan hast. Die Sache ist die, dass ich seit diesem Vorfall vor zehn Jahren, als meine Mutter mich niedergestochen hat, nicht mehr in der Lage bin, Gefühle empfinden. Zwar kann ich schon erkennen, wenn jemand traurig, glücklich oder verärgert ist, aber ich kann meistens den Grund nicht verstehen. Der Grund, wieso ich nicht weine oder lache ist einfach der, dass ich keinerlei Gefühle mehr habe. Alles, was ich noch wahrnehme, sind körperliche Beschwerden und Schmerzen. Deshalb war ich auch nicht in der Lage, angemessen auf deinen Kuss zu reagieren. In mir ist gar nichts mehr, innerlich ist alles in mir völlig tot.“ Charity brauchte eine Weile um zu verstehen, was Jesse ihr eigentlich sagen wollte und konnte es zunächst nicht wirklich glauben. Wie konnte ein Mensch denn plötzlich nicht mehr fähig sein, Gefühle zu empfinden und zu verstehen? War so etwas überhaupt möglich? Aber dann erinnerte sie sich an die Szene, als sie Jesse an der Unterführung gefunden hatte und dass er geweint hatte. Wie war das denn möglich, wenn er nach eigener Aussage keinerlei Gefühle mehr hatte? Da stimmte doch etwas nicht. Schließlich schüttelte sie den Kopf und sagte „Sag so etwas nicht, du hast Gefühle in dir. Ich habe gesehen, wie verzweifelt und traurig du warst, weil dir das mit deiner Mutter so nahe gegangen ist.“ „Das mag sein, aber ich bin lediglich im betrunkenen Zustand dazu fähig. Wenn ich nüchtern bin, fühle ich rein gar nichts und ich vermeide deswegen auch solch sentimentale Gespräche, weil ich die Menschen mit meinem Verhalten dann immer vor den Kopf stoße. Oft bin ich überfordert, weil ich nicht weiß, wie ich reagieren soll oder was andere für eine Reaktion von mir erwarten. Soll ich traurig aussehen oder ein fröhliches Gesicht machen? Für viele Menschen ist das alles überhaupt kein Problem, aber ich komme damit nicht klar. Es ist so, als wäre mein Innerstes eine weiße Leinwand. Ein Herz ohne Inhalt, wenn dir das vielleicht besser zum Verständnis hilft.“ Charity sah ihn nicht an und hielt ihr Kissen fest an sich gedrückt. Zu hören, dass ein Mensch rein gar nichts mehr empfand und innerlich so leer war, musste doch schrecklich sein. Ein absolut trostloses Dasein, ohne Hoffnung und Lichtblicken. Sie dachte schließlich an die Szene in der Küche, als ihre Großmutter auf Jesses Mutter angesprochen hatte und er daraufhin abhauen wollte. Oder als er über ihren Mordversuch erzählte und dass er beinahe umgebracht worden wäre. Und auch, dass sein kleiner Bruder getötet wurde. Für sie hatte es so ausgesehen, als würde ihm das überhaupt nicht nahe gehen, oder als sei ihm das alles egal. Aber das stimmte gar nicht. Es war nicht so, dass ihm das alles völlig gleichgültig war, was ihm widerfahren war. Irgendetwas in ihm war durch dieses schreckliche Trauma mit seiner Mutter einfach „blockiert“. Er empfand Gefühle, aber er konnte sie nicht wahrnehmen und glaubte deshalb, dass er sie gar nicht mehr besaß. Sie nahm seine Hand und sah in diese wunderschönen smaragdgrünen Augen, in welche sie sich verliebt hatte. „Ich glaube nicht, dass dein Herz leer ist, Jesse. Du hast noch Gefühle, das weiß ich! Denn weißt du, für mich ist weiß auch eine Farbe, ebenso wie schwarz. Wenn du sie früher gehabt hast, dann hast du sie noch irgendwo in dir drin. Man verliert seine Gefühle nicht einfach so. Ich bin mir sicher, dass es eine Möglichkeit gibt, dass du sie wieder erlernen kannst, aber dazu musst du anfangen, auch dein Herz zu öffnen.“ Jesse schwieg und dachte über das nach, was sie da gesagt hatte. „Und was bringt mir das, wenn ich lerne, meine Gefühle zu verstehen und sie auszudrücken?“ „Dass du nicht mehr alleine bist.“ Nun wandte er den Blick von ihr ab und zog seine Hand zurück. Wenn Charity es nicht besser wüsste, würde sie glauben, dass er genau davor Angst hatte. Er hatte Angst vor dem Zusammenleben mit Menschen. „Jesse“, sagte sie nach einer Weile. „Du hast Angst davor, dich anderen Menschen zu nähern, nicht wahr? Ist es deswegen, weil sie dich an der Schule wegen deiner Mutter gemobbt haben, oder ist es wegen deiner Eltern?“ „Keine Ahnung. Ich denke einfach: Was soll ich mit Gefühlen, wenn man eh nur Enttäuschungen erlebt und man sowieso von der Gesellschaft als Verlierer abgestempelt wird, nur weil man trinkt und die Mutter im Knast sitzt?“ „Aber es gibt doch nicht nur negative Gefühle. Nur weil du in der Vergangenheit enttäuscht wurdest, heißt das noch lange nicht, dass alle Menschen dich so behandeln werden. Das Leben hat auch schöne Seiten und du bist nicht alleine. Ich werde dich nicht im Stich lassen, aber dafür darfst du dich nicht selbst aufgeben.“ Sie hielt seine Hand fest, auch wenn sie nun wusste, dass sie von Jesse keine Reaktion erwarten konnte. „Wir werden schon einen Weg finden, dir zu helfen. Das mag jetzt zwar ein wenig bescheuert klingen, aber wenn man ganz unten angelangt ist, kann es nur noch bergauf gehen.“ Da war tatsächlich etwas dran und nach einer Weile nickte Jesse nachdenklich. Schließlich betrachtete er ihre Hand, die die seine hielt und dann sah er sie prüfend an, als versuche er herauszufinden, wie sie sich wohl fühlte. „Wenn du mehr über mich erfährst, bist du dann weniger traurig?“ „Ja, ich würde wirklich gerne mehr über dich wissen und dich näher kennen lernen. Wenn man mit anderen Menschen zusammenlebt und mit ihnen eine soziale Bindung eingehen will, ist so etwas wichtig.“ Er atmete tief durch und sie sah ihm an, dass es ihm wirklich schwer fiel, über seine Person zu erzählen und ihr einen Einblick in sein Leben zu geben. Und so wirklich wusste er auch nicht, wo er anfangen sollte. Also half sie ihm auf die Sprünge und fragte „Was magst du denn alles? Was ist deine Lieblingsfarbe und welche Tiere magst du?“ Einen Moment lang musste er überlegen und erklärte dann „Meine Lieblingsfarbe ist grün und was Tiere betrifft, bin ich mir nicht sicher. Ich finde aber Reptilien interessant. Ich mag keinen Fisch und keine Eier und ich kann es nicht ab, wenn über mich oder meine Familie geredet wird. Wenn ich Zeit habe, gehe ich ab und zu mal zum Fluss, aber ich hatte schon immer mal vorgehabt, ans Meer zu fahren. Außerdem mag ich Gewitter und Regen, sie wirken irgendwie beruhigend. Ich bin ein reiner Kopfmensch und vermeide es, über Gefühlsthemen zu reden. Eigentlich hatte ich nie Probleme damit, keine Gefühle wahrnehmen zu können, aber es wurde an der Schule zum Problem.“ „Als du gemobbt wurdest?“ Er nickte und fuhr fort. „Es gab einige Schüler, die sich für mich einsetzten und versucht haben, mir zu helfen. Aber weil ich keine Gefühle zeigen konnte, war ich auch nicht in der Lage, mich angemessen ihnen gegenüber zu verhalten und das führte dazu, dass sie sich auch gegen mich wandten. Sie haben alles Mögliche gemacht. Glasscherben in die Schultasche, Rasierklingen in die Schuhe, Insekten und Würmer in die Sporttasche, anonyme Nachrichten mit den Schriftzügen, dass ich krepieren sollte und es wurden auch einige Internethetzkampagnen gestartet. Als schließlich einige prekäre Details ans Tageslicht kamen und in der Schule herumerzählt wurden, eskalierte die Situation, weshalb ich dann die Schule gewechselt habe. Als ich bei einer Pflegefamilie gelebt hatte, bin ich des Öfteren abgehauen und ein Mal über die Sommerferien weggeblieben. In der Zeit habe ich mir Geld auf eine sagen wir mal unmoralische Art und Weise verdient und das wurde schließlich publik.“ Charity erinnerte sich an ihr Gespräch mit Andy. Dieser hatte ihr offenbart, dass Jesse sich in den zwei Monaten Sommerferien über Wasser gehalten hatte, indem er sich auf dem Straßenstrich Geld verdient hatte. Sie konnte sich schon denken, wie heftig die Schikanen deswegen waren, wenn seine Mitschüler erfahren hatten, dass er sich quasi prostituiert hatte. Beleidigungen und Erniedrigungen waren mit Sicherheit an der Tagesordnung gewesen. Sie konnte sich auch gut vorstellen, dass auch Bilder von ihm in der Schule veröffentlicht wurden, wo er richtig bloßgestellt wurde. Und hätte er nicht diese emotionale Blockade gehabt, wäre es für ihn die absolute Hölle gewesen. Vielleicht wäre es nicht bei Alkoholabhängigkeit geblieben, womöglich hätte er sich sogar tatsächlich das Leben genommen. Sein ganzes Leben war trist und voller Leid. Wieder konnte sie die Tränen nicht zurückhalten, als sie sich vorstellte, in was für einer Hölle er gelebt haben musste und er als einzigen Ausweg für sich nur den Tod durch Alkohol sah. Und er war noch nicht einmal in der Lage, sich seinen Schmerz richtig von der Seele zu reden, weil seine Gefühle verschlossen waren. Schweigend betrachtete er sie und war sich nicht sicher, ob er vielleicht etwas Falsches gesagt haben könnte. Er hatte ihrem Wunsch Folge geleistet und etwas über sich erzählt, weil er sie nicht mehr so traurig sehen wollte. Denn wenn er sie so sah, spürte er jedes Mal diese unangenehmen Stiche in seiner Brust und das Atmen fiel ihm etwas schwerer. Er fühlte sich schlecht, wenn es ihr nicht gut ging und anstatt, dass sie sich besser fühlte, schien sie nur noch unglücklicher zu werden. Vielleicht hätte er besser nichts sagen sollen. „Warum weinst du? Habe ich deine Gefühle verletzt?“ Heftig schüttelte sie den Kopf und umarmte ihn. „Ich weine, weil ich es so traurig finde, was dir alles passiert ist. Man nennt das Mitgefühl.“ „Erklär es mir bitte, damit ich es besser verstehen kann.“ Langsam löste sie sich wieder von ihm und wischte sich die Tränen weg. „Mitgefühl bedeutet, dass Menschen mit anderen die gleichen Gefühle teilen, auch wenn sie selbst nicht betroffen sind. Sie fühlen den gleichen Kummer und Schmerz und die gleiche Freude, damit sie einander nah sind. Mitgefühl bedeutet, dass man den anderen versteht und versucht, den Schmerz des anderen zu teilen, um ihm beizustehen und sein eigenes Leid zu lindern.“ „Dann habe ich deine Gefühle nicht verletzt?“ Ein Kopfschütteln war die Antwort und sie sah, wie Jesse wieder nachdachte. Es fiel ihm wirklich schwer, dieses Mitgefühl nachzuvollziehen, denn bis jetzt hatte er immer versucht, solche Dinge logisch zu erklären. Aber jetzt, da er nicht mehr so alleine war, erkannte er, dass er so auf die Dauer nicht mehr weitermachen konnte. Wenn er dieses neu gewonnene Zuhause nicht verlieren wollte, musste er an sich arbeiten und wieder lernen, mit anderen Menschen auszukommen und sie nicht nur logisch, sondern auch emotional zu verstehen. Denn sonst würde er das alles wieder verlieren. Aber noch kannte Charity nicht die ganze Wahrheit. Den Grund, wieso er versuchte, sie unter allen Umständen loszuwerden und warum er so oft von zuhause weggelaufen war und auf der Straße gelebt hatte. Den Grund, weshalb er die Menschen auf Abstand hielt. Doch sollte er es ihr wirklich sagen? Sollte er wirklich dieses Risiko eingehen und ihr sein größtes Geheimnis offenbaren, selbst auf die Gefahr hin, dass sie ihn genauso verraten und ausnutzen könnte wie sein Onkel? Gab es denn eine Garantie, dass sie wirklich ehrlich zu ihm war und ihm nicht bloß etwas vorspielte? Da er ihre Gefühle nicht verstehen konnte, war es ihm nicht möglich, sie gänzlich zu durchschauen. Er musste ihr wohl „vertrauen“. Auch einer dieser Begriffe, mit denen er nur schwer etwas anfangen konnte, genauso wie dieses „Mitgefühl“. Aber da Charity starke Gefühle ihm gegenüber empfand und sie ihn gerettet hatte, obwohl er ein 23-jähriger obdachloser Alkoholiker war, schien sie es ehrlich zu meinen. Also konnte er den Versuch wagen und zumindest sie schon mal einweihen. Was hatte er denn zu verlieren, außer einem zuhause? Nun, er konnte immer noch auf der Straße leben, wenn es dazu kommen sollte, dass er sich in ihr getäuscht hatte. Und wirklich traurig würde er dann ja auch nicht sein, weil er gegen seine eigenen Gefühle völlig abgestumpft war. Doch trotzdem war da etwas in ihm, was gegen diesen Beschluss rebellierte. Sein Kopf sagte ihm, er solle es nicht tun und dass es eine absolut irrsinnige Entscheidung war. Aber da war noch eine andere Stimme, die ihm zusprach, dass er Charity endlich die Wahrheit sagen sollte. Wem diese zweite innere Stimme gehörte, wusste er nicht und er konnte auch nicht verstehen, wieso sie das sagte. Denn er hatte schon oft genug erlebt, wie grausam, selbstsüchtig und hinterhältig die Menschen sein konnten und wie sehr man sich in ihnen täuschen konnte. Bis jetzt hatte ihn doch jeder im Stich gelassen. Sein Vater, seine Mutter, seine Mitschüler, sein Onkel… wirklich jeder. Aber Charity hatte ihn nicht im Stich gelassen, als er ihr sagte, dass seinetwegen sein kleiner Bruder tot war. Nein, sie war bei ihm geblieben und wollte ihn verstehen. Doch würde sie immer noch bei ihm bleiben, wenn er ihr sein Geheimnis offenbarte und ihr die ganze Hintergrundgeschichte erklärte, wieso sich ihre Wege gekreuzt hatten? Tja, er hatte wohl keine andere Wahl, als es einfach zu versuchen. Denn diese fremde zweite Stimme in ihm war sich sicher, dass sie ihn nicht im Stich lassen würde. Nein, sie würde ihm zuhören und ihn verstehen. Also erhob er sich von ihrem Bett und ging zur Tür „Warte kurz, ich muss dir etwas zeigen.“ „Was… was willst du mir zeigen?“ „Etwas sehr Wichtiges. Wenn ich es dir so erkläre, wirst du es wahrscheinlich nicht verstehen, oder mir nicht glauben.“ Damit verließ er das Zimmer und ließ Charity allein. Diese war mehr als verwundert, als er ihr das gesagt hatte. Was hatte er bloß vor und was wollte er ihr denn unbedingt zeigen? So wie Jesse geklungen hatte, war es ihm wichtig, dass sie irgendetwas ganz Bestimmtes erfuhr. Vielleicht ein Geheimnis, das er all die Jahre gehütet hatte. Aber was für ein Geheimnis? Insgeheim fürchtete sie sich schon ein klein wenig davor, es zu erfahren, denn ihr erster Gedanke war, dass es vielleicht mit dem Tod seines kleinen Bruders zu tun hatte. Aber diesen Gedanken verwarf sie sofort wieder. Nein, so etwas würde Jesse ganz gewiss nicht tun. Er war kein Mörder und da sprach auch nicht ihre Gutgläubigkeit aus ihr. Sie wusste es aus tiefstem Herzen, dass er kein schlechter Mensch war und sie musste ihm jetzt wohl einfach vertrauen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)