Das triste Leben des Jesse Wyatt von Sky- ================================================================================ Kapitel 9: Eine schwere Entscheidung ------------------------------------ Gleich am nächsten Morgen stand Charity mit einer guten Laune auf und hatte das Gefühl, dass nun alles besser werden würde. Sie stand viel früher als gewöhnlich auf und sang auf den Weg zur Küche ihr Lieblingslied. Dieses Gespräch mit Jesse hatte ihr endlich geholfen, ihn besser zu verstehen und auch zu erkennen, warum er überhaupt so war. Er hatte ihr sein größtes Geheimnis offenbart und ihr auch damit gezeigt, dass er ihr vertraute. Und das war ein wunderbares Gefühl für sie, besonders weil sie mehr für Jesse empfand, als nur Sympathie. Nun gut, ihr Annäherungsversuch war im Grunde ein Schuss in den Ofen gewesen, aber dieses so vertraute Gespräch zwischen ihr und Jesse gab ihr das Gefühl, als würde dies ihr wohl schönster Tag auf Erden werden. Sie fühlte sich völlig unbeschwert und konnte an nichts anderes denken, als an dieses süße Bild, als Jesse sie angelächelt hatte. Er war dabei so süß gewesen und ihr war es in diesem Moment auch völlig egal, dass er dabei eigentlich rein gar nichts empfunden hatte… oder zumindest keine wirklichen Gefühle wahrgenommen hatte. Ihn lächeln zu sehen, das hatte sie sich so sehr gewünscht und insgeheim träumte sie davon, dass sie gleich in die Küche kam, er sie mit dem gleichen Lächeln grüßen und ihr einen Kaffee anbieten würde. Doch als sie die Küche betrat und ihn mit einem etwas düsteren Gesichtsausdruck Zeitung lesend am Tisch sitzen sah, da merkte sie, dass er ihre gute Laune nicht wirklich teilte. Sie versuchte, sich nicht davon beirren zu lassen und grüßte ihn gut gelaunt. Er bemerkte sie jedoch nicht und war völlig in die Zeitung vertieft und man sah ihm an, dass er auch mit seinen Gedanken ganz woanders war. Auch an seinem düsteren Blick konnte man erkennen, dass ihn irgendetwas beschäftigte und seine Stimmung deshalb etwas gedämpft war. Charity versuchte es damit zu erklären, dass er sich erst einmal an diese neue Situation gewöhnen musste, dass er jemandem sein größtes Geheimnis anvertraut hatte und vielleicht war ihm da noch nicht ganz wohl bei dem Gedanken. Womöglich machte er sich auch Sorgen, dass er schon wieder derart enttäuscht und verraten werden konnte so wie in der Vergangenheit. Wer konnte ihm das denn verübeln nach alledem, was er erlebt hatte? Nun, er braucht wohl noch eine Weile, dachte sich Charity und versuchte, optimistisch zu bleiben und ihm zu zeigen, dass er sich deswegen überhaupt keine Sorgen zu machen brauchte. „Jesse, möchtest du einen Kaffee?“ Erst jetzt hob er den Kopf und bemerkte sie wirklich. Doch anstatt, dass sich sein Gesicht etwas aufhellte, wurde es sogar ein klein wenig düsterer, was Charity schon etwas verunsicherte. „Ja, danke.“ Sie goss ihm Kaffee in die Tasse, dann schenkte sie sich selbst ein und setzte sich zu ihm. Schon jetzt fiel ihr auch auf, dass er irgendwie ziemlich wortkarg war und nicht ein Wort sagte. Okay, er war sowieso nicht der redseligste Mensch, aber trotzdem hatte sie sich schon gewünscht, dass er nach dem gestrigen Gespräch ein klein wenig offener wurde. Da hatte sie wohl falsch gelegen. Wenig später kam auch Grace dazu und grüßte die beiden ebenfalls mit einer guten Laune. Das Frühstück selbst verlief jedoch etwas still und selbst der Pensionärin entging nicht, dass Jesse einen etwas bedrückten Eindruck machte. Sie fragte nach, was denn los sei, doch er schüttelte nur den Kopf und sagte „Es ist nichts.“ Das war das Einzige, was er überhaupt sagte und die restliche Zeit über schwieg er. Nach dem Frühstück machte sich Jesse wortlos an die Hausarbeit, da Grace einen Termin beim Arzt hatte und deshalb kurz nach dem Frühstück schon weg musste. Da sie sich an dem Tag nicht ganz so fit fühlte, bat sie ihre Enkelin, sie doch zu fahren. Grace hatte zwar einen Führerschein, aber das Problem war, dass ihr Arzt seine Praxis in der Innenstadt hatte und dort fand sie einfach nirgendwo einen Parkplatz. Also war es die beste Lösung, wenn Charity sie dorthin brachte. Sie musste ja sowieso noch einkaufen fahren und konnte ihre Großmutter ja auf dem Rückweg abholen, wenn die Untersuchung beendet war. Als sie schließlich abfahrbereit im Auto saßen, fragte die pensionierte Lehrerin ohne Umschweife „Habt ihr denn gestern noch miteinander geredet?“ Charity überlegte kurz, was sie denn eigentlich sagen sollte, denn sie hatte ja Jesse versprochen, dass sie über seinen siebten Sinn Stillschweigen bewahren würde. Aber sie wollte ihre Großmutter auch nicht belügen. „Ja, er hat mir so einiges erklärt. Auch den Grund, wieso er sich so abweisend verhält. Sag mal Oma, hast du schon mal von Menschen gehört, die durch irgendein Erlebnis nicht mehr in der Lage sind, ihre eigenen Gefühle wahrzunehmen?“ Grace ahnte schon, wieso ihre Enkelin darauf ansprach und erklärte „Gehört habe ich davon schon mal. Ich kenne den Fachbegriff zwar nicht, aber man nennt so etwas Gefühlsblindheit. Viele Betroffene merken aber nicht, dass sie gefühlsblind sind, sondern erkennen es erst durch die Reaktion ihres Umfeldes. Darüber wurde letztens in einer Reportage berichtet, die fand ich sehr interessant. Solche Menschen entscheiden immer logisch und objektiv und denken nur mit dem Kopf. Im Beruf sind sie deshalb oft erfolgreich, allerdings leidet sehr häufig die Beziehung darunter und nicht selten geht sie dann auch in die Brüche.“ Nun startete Charity den Motor und setzte langsam den Wagen in Bewegung. „Kann man so etwas auch heilen?“ „Natürlich. Es gibt auch Spezialisten dafür, die sich mit solchen Fällen beschäftigen. Harold hat einige Kontakte und wenn du willst, kann ich mich mal umhorchen, ob er einen Spezialisten kennt.“ „Danke Oma. Weißt du, ich war gestern ganz schön am Boden, weil Jesse immer so abweisend und gefühlskalt war und als er sogar auf meinen Kuss überhaupt nicht reagiert hat, war ich echt fertig. Aber dann hat er mir alles erklärt und da hat er mir auch gesagt, dass er rein gar nichts mehr empfindet, seit das mit seiner Mutter passiert ist. Er kann zwar Gefühle erkennen, versteht aber meistens den Grund für diese Gefühle nicht.“ Die alte Dame nickte bedächtig und ihr Blick ließ erahnen, dass sie sich so etwas schon in der Richtung gedacht hatte. Zumindest schien sie nicht sonderlich überrascht zu sein und nach einer Weile fragte sie mit überraschter Neugier „Und du hast ihn geküsst?“ Wieder wurde Charity rot, als sie an diese Szene dachte und murmelte „Ja… es ist halt so über mich gekommen. Ich glaub, Jesse hat es auch Leid getan, dass er mich mit seiner Reaktion so verletzt hat.“ „Aber wenn er nicht fähig ist, seine eigenen Gefühle zu verstehen, kann er deine auch nicht erwidern, oder sie zurückweisen. Du musst dir schon im Klaren sein, dass es für dich auch nicht einfach sein wird, wenn du trotzdem bei ihm bleiben willst. Er wird nicht in der Lage sein, dich zu verstehen und dementsprechend auf deine Gefühle zu reagieren. Also sei dir bitte auch ganz sicher, dass du das auch schaffst.“ Sie hat ja Recht, dachte Charity und seufzte leise. Selbst wenn Jesse vielleicht erkennt, dass er auch Gefühle für mich hat, wird er nicht in der Lage sein, sie wirklich zu erwidern und mich zu verstehen. Ich bin ein absoluter Gefühlsmensch und komme nur schwer damit klar, wenn sich jemand so kalt und desinteressiert gibt. Jesse ist nicht in der Lage, mir diese Art von emotionalen Beistand zu geben, den ich brauche. „Es ist wirklich eine wunderbare Eigenschaft von dir, dass du ihm helfen willst, aber du musst auch an deine eigenen Gefühle denken. Weder ihm noch dir wird es wirklich helfen, wenn du das wegen deines Mitgefühls erträgst. Du wirst dich nur unglücklich machen, wenn du dir nicht ganz sicher bist.“ Irgendwie hatte Charity das Gefühl, als würde es nicht einfacher, sondern immer komplizierter werden. Was sollte sie denn machen? Nicht nur für sie, sondern auch für Jesse war es schwierig, denn sie liebte ihn und er war nicht in der Lage, eine angemessene Reaktion auf ihre Gefühle zu geben. Und egal wie sie sich entscheiden würde, so würden sie beide mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Was sollte sie also tun und wie sollte sie sich denn entscheiden? Ihre Hand umschloss den Rosenkranz um ihren Hals und sie schickte ein stummes Gebet zum Himmel. Lieber Gott, bitte lass mich die richtige Entscheidung treffen. Was soll ich nur tun? Ich will so gerne bei Jesse bleiben, aber wenn er nie in der Lage sein wird, meine Gefühle zu verstehen und seine eigenen Emotionen auszudrücken, wird das niemals eine richtige Beziehung zwischen uns werden. Er kann weder meine Gefühle erwidern, noch sie zurückweisen, das ganze ist eine einzige Sackgasse. Nein, noch nicht einmal das, sondern wie eine endlose Warteschleife, die zu keinem Ergebnis führt. Wieso nur musste das Leben manchmal nur so schwer sein? Sie brauchte Zeit, um eine richtige Entscheidung treffen zu können und vielleicht sollte sie auch noch mal mit Jesse sprechen und in Erfahrung bringen, was er in ihrer Gegenwart empfand. Zwar war er nicht in der Lage, Gefühle klar zu erkennen und sie zu erklären, aber er war doch fähig, die Symptome zu erkennen. Wenn er sie richtig beschreiben konnte, war es ihr vielleicht möglich zu erkennen, was er für sie empfand. Jedenfalls hatte sie den Eindruck gehabt, als wollte er sie nicht unglücklich sehen und wer weiß, vielleicht empfand er ja tatsächlich etwas für sie. In diesem Falle durfte sie nicht so einfach aufgeben, nur weil es mit Jesses Einschränkung nicht einfach sein würde. Er selbst hatte selbst schon so viel Scheiße erlebt und war trotzdem noch am Leben. Da durfte sie auch nicht einfach so aufgeben, sondern musste ebenfalls kämpfen. Nur so hatte sie eine Zukunft mit Jesse. Und das Leben bestand nun mal aus schweren Kämpfen und weder sie noch Jesse konnten jedes Mal davor weglaufen, nur weil ihnen das auf den ersten Blick unmöglich zu schaffen schien. Wenn sie es gemeinsam angehen würden, dann würde sich mit Sicherheit eine Lösung finden. Daran glaubte sie ganz fest. Nachdem Jesse die Küche aufgeräumt hatte, schnappte er sich seine Jacke und seine Tasche. Er hatte noch einige sehr wichtige Dinge zu erledigen und sein Entschluss, von hier fort zu gehen, stand endgültig fest. Zwar gefiel ihm das selbst nicht, aber er hatte leider keine andere Wahl. Allein durch seine Anwesenheit würden Grace und Charity noch in große Schwierigkeiten geraten und das konnte er ihnen nicht antun. Nicht nach alledem, was sie für ihn getan hatten. Doch der Gedanke daran, sie vielleicht für immer zu verlassen, löste schon wieder diese seltsamen Schmerzen bei ihm aus. Er fühlte diesen erdrückenden Schmerz in seiner Brust, der ihm das Atmen erschwerte und auch sein Magen sorgte für allerlei Beschwerden. Dabei wusste er ganz genau, dass er nicht krank war. Nein, es waren diese seltsamen Symptome, die er immer bekam, wenn er Gefühle hatte. Er wusste, dass diese körperlichen Schmerzen für Gefühle negativer Art standen und sich verschlimmerten, je schlechter es ihm psychisch ging. Aber wieso hatte er sie verspürt, als Charity ihm gesagt hatte, dass seine Träume ein Geschenk waren, um Menschen zu helfen? Normalerweise fühlte er sich schlecht, wenn er diese Symptome hatte, aber da hatte er sich ganz anders gefühlt. Als wäre ihm mit einem Male irgendwie leichter ums Herz. So etwas war ihm völlig fremd und dieses neue merkwürdige Gefühl kannte er überhaupt nicht. Was also waren das denn für Gefühle, die Schmerzen auslösten, aber einen dennoch besser fühlen ließen? Das alles konnte er sich einfach nicht erklären. Aber jetzt war auch nicht die Zeit, um über so etwas nachzudenken. Jesse schnappte sich sein Handy und seine Geldbörse, dann packte ein paar Klamotten in seine Tasche ein und verließ das Haus. Es war besser, wenn er abhaute, ohne sich zu verabschieden, oder eine Nachricht zu hinterlassen. Das würde alles nur noch komplizierter machen und egal was er schreiben würde, Charity würde sowieso nach ihm suchen. Abzuhauen ohne eine Nachricht zu hinterlassen, verschaffte ihm wenigstens genug Zeit, denn dann würde sie ja erst einmal warten, bis er von alleine wieder zurückkam. Zwar würde sie sich dann furchtbare Sorgen machen und sicherlich denken, ihm wäre etwas zugestoßen, aber es war die beste Möglichkeit, die ihm momentan einfiel. Er steckte in einer absoluten Zwickmühle und musste sich etwas einfallen lassen, wie er sie endgültig loswerden konnte, ohne dabei zu riskieren, dass sie in die ganze Sache hineingezogen wurde. Alleine würde er es auf keinen Fall schaffen, er brauchte unbedingt Unterstützung. Und er wusste auch schon, an wen er sich da wenden konnte. Sein Weg führte in die Innenstadt zu einer kleinen Seitenstraße, wo es ein kleines etwas verstecktes Tattoostudio gab. Es sah von außen ein klein wenig heruntergekommen aus, aber davon ließ er sich auch nicht abschrecken. Er kannte diesen Ort, denn er war schon unzählige Male dort gewesen, um sich seine Piercings stechen zu lassen. Gleich schon als er die Tür öffnete, war das helle Läuten einer Glocke zu hören und kurz darauf kam eine rothaarige Frau mit Tattoos und Piercings im Gesicht herbei, um ihn zu begrüßen. Tabitha, die sich den Künstlernamen „Chibi“ zugelegt hatte, war eine professionelle Tätowiererin und kannte Jesse schon seit Jahren. Er hatte sie vor zehn Jahren in den Sommerferien kennen gelernt, als sie ebenfalls auf den Strich gegangen war. Sie war von zuhause weggelaufen, da sie ziemlich viele Probleme mit ihren Eltern hatte und Marco hatte sie ebenfalls aufgegriffen von dort weggeholt. Seitdem arbeitete sie bei ihm und obwohl sie mit den farbigen Kontaktlinsen und den vielen Tätowierungen und Piercings schon fast furchteinflößend aussah, besaß sie einen ähnlich gutmütigen und freundlichen Charakter wie Charity, war aber bei weitem frecher und selbstbewusster. „Hey Jess, suchst du Marco? Warte kurz, ich geh ihn eben holen.“ Damit verschwand sie im hinteren Teil des Studios und begann nach Marco zu rufen. Er kam aus einem der Zimmer und neben ihm wirkte Chibi fast wie eine dürre Zwergin, die er locker wie ein Streichholz brechen konnte. Tatsache war auch, dass Chibi nicht einmal 1,65m groß war und neben dem fast zwei Meter großen Marco noch winziger aussah, als sie eigentlich bereits war. Schon damals, als Jesse ihn im Gefängnis kennen gelernt hatte, war er eine furchteinflößende Erscheinung gewesen und wirklich jeder hatte Respekt vor diesem muskulösen Riesen mit der Gangstervisage und der etwas schwerfälligen Gangart. Tatsächlich war Marco in seiner kriminellen Vergangenheit einer von der richtig schlimmen Sorte gewesen und hatte nicht einmal davor zurückgeschreckt, Eltern zu drohen, ihren Kindern etwas anzutun. Fingerbrechen, Messerstechereien, Prügeleien und Freiheitsberaubung… wirklich alles hatte Marco schon erlebt, oder selbst durchgezogen. Nur Mord hatte er nie begangen und das hatte ihn vor der lebenslangen Haftstrafe bewahrt. Nur ein Mal hatte er einen anderen Menschen getötet, nämlich ein Mitglied einer verfeindeten Gang, aber der Fall ging als Notwehr durch, da dieser Marco zuerst angegriffen hatte. Als Schutzgelderpresser und Schläger hatte Marco vor nichts und niemandem Respekt gehabt und immerzu auf andere herabgesehen und sie eingeschüchtert. Er war in ähnlich schwierigen Verhältnissen aufgewachsen wie Jesse, allerdings in einer sehr gefährlichen Gegend eines Ghettos, wo man bei Anbruch der Dunkelheit Angst um sein Leben haben musste. Marco war schon früh auf sich allein gestellt gewesen und musste sich immer alleine durchkämpfen, niemand hatte ihm je geholfen und deshalb war er lange Zeit genauso ein Einzelgänger wie Jesse. Doch dieses Treffen im Gefängnis mit ihm hatte sein Leben verändert. Ein gerade mal 13-jähriger Junge, den Marco noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte, warnte ihn vor einen Mordanschlag und hatte ihm damit das Leben gerettet. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte jemand ihm geholfen, der dafür nichts als Gegenleistung verlangt hatte. Von da an begann er sein Image zu ändern und damit sein kriminelles Dasein hinter sich zu lassen. Er eröffnete sein Tattoostudio und versuchte sich auch sozial zu engagieren, indem er auch als Streetworker tätig war und Ausreißern wie Jesse und Chibi half. Und außerdem hatte er während seiner Zeit im Gefängnis wohl auch den Glauben zu Gott gefunden. Für Jesse irgendwie unverständlich, da er mit Religion überhaupt nichts anfangen konnte, aber wenn es Marco half, ein ehrliches Leben zu führen, war es ihm auch Recht. Und wäre er nicht gewesen, dann wären Jesse und Chibi immer noch auf dem Strich und wahrscheinlich sogar in die Drogenszene abgerutscht. Zu Marco hatte Jesse nie eine besonders freundschaftliche Beziehung gehabt, da er jegliche Art von zwischenmenschlicher Beziehung strikt ablehnte. Aber er sah in ihn einen guten Ratgeber und Helfer, auf den er sich im Notfall immer verlassen konnte. So zum Beispiel, als er mit seiner Hilfe diese Menschenhändler aus dem Verkehr ziehen konnte, die beinahe Charity entführt hätten. Zwar hatte es Marco nie offen gesagt, aber manchmal hatte Jesse den Eindruck, als sähe dieser in ihn so etwas wie einen Boten Gottes. Und das war für ihn noch unverständlicher. Mit einem gut gelaunten Grinsen im Gesicht grüßte der ehemalige Rocker ihn und hob kurz zur Begrüßung seine Hand. „Hey Jesse, was verschlägt dich denn hierher? Willst du dir jetzt etwa die Zunge piercen lassen?“ „Nein, ich hab schon genug davon. Ich will ein Tattoo, hättest du Zeit?“ Überrascht hob der Hüne die Augenbrauen, als er das hörte. Eigentlich kannte er Jesse als jemanden, der nicht so wirklich auf Tattoos stand. Die Piercings konnte man ja alle zur Not rausnehmen, aber bei Tattoos war das eine ganz andere Sache. Aber das war ja seine Entscheidung und wenn er das nun so wollte, würde Marco ihn auch nicht aufhalten. „Klar, kein Problem. Dann komm mal mit.“ Jesse folgte dem Hünen in eines der Zimmer und setzte sich schon mal hin. „Dann schieß mal los, was hättest du denn gerne und wo willst du es haben?“ Wortlos holte Jesse eine Zeichnung aus seiner Tasche und zeigte sie dem Ex-Rocker. Er hatte es sehr detailliert gezeichnet und Marco war erstaunt, als er das Motiv sah, denn das war sogar noch untypischer für jemanden wie Jesse. War es nur seine Einbildung, oder hatte sich der Junge seit ihrer letzten gemeinsamen Rettungsaktion irgendwie verändert? „Und dann auch noch am Fußrücken? Bist du dir auch ganz sicher? Ich sag dir jetzt schon, das wird echt wehtun. Du könntest es auch am Rücken haben, da wird es nicht so schmerzen.“ „Das geht schon klar. Wie viel wird’s kosten?“ Marco begann alles vorzubereiten und zog sich die Handschuhe an. „Nichts. Betrachte es als Geschenk nachträglich zu deinem Geburtstag.“ Jesse machte seinen Fuß frei und beobachtete, wie Marco nun damit begann, die Stelle zu desinfizieren und grob vorzuzeichnen, damit es auch perfekt wurde. Solche Motive hatte er hin und wieder schon mal gestochen und es war auch nicht so schwierig, dass er länger als maximal eineinhalb Stunden brauchen würde. Für Jesse hingegen war dies sein allererstes Tattoo und sollte auch gleichzeitig sein einziges bleiben. Er hatte nämlich keine Lust, seinen ganzen Körper zu einem Gesamtgemälde zu machen wie Marco oder Chibi. So etwas war überhaupt nicht sein Geschmack. Ein klein wenig nervös war er schon, allerdings nahm er es nicht direkt als Nervosität, sondern lediglich als innere Unruhe wahr. Seine Augen ruhten auf das, was Marco machte, während der Tätowierer selbst Jesse kein einziges Mal dabei ansah. Er musste sich ja auf seine Arbeit konzentrieren. Immer, wenn Jesse vorbei kam, um sich piercen zu lassen, unterhielten sie sich dabei ein wenig, wodurch die Prozedur meistens mehr wie eine Art bizarres Kaffeekränzchen war. „Und?“ fragte Marco schließlich. „Wie schaut’s bei dir so aus? Hab gehört, dass du dich letztens wieder irgendwo auf der Straße herumgetrieben hast. Ehrlich gesagt war ich schon besorgt, du würdest wieder auf den Strich gehen.“ „Nein, die Phase hab ich hinter mir gelassen und ich habe dir ja versprochen, so eine Scheiße nicht mehr zu machen. Der Vorfall mit meinem Klassenlehrer hat mir gereicht. Erinnerst du dich noch an das Mädchen, das wir vor den Menschenhändlern gerettet haben?“ „Die Blonde mit dem Rosenkranz?“ Jesse nickte. „Sie hat mich betrunken an der Unterführung aufgegabelt und bei sich zuhause aufgenommen.“ „Obwohl du ihr die Tasche geklaut hast und sie dich gar nicht kennt?“ „Sie ist ein wenig treudoof, ist aber ganz in Ordnung. Das mit Walter ist jetzt auch vorbei. Als er beim Pferderennen verloren hat, wollte er mich mit Handschellen ans Heizungsrohr fesseln. Er ist komplett durchgedreht, aber ich konnte noch rechtzeitig abhauen, bevor er mich einsperren konnte.“ Marco war deutlich anzusehen, dass er nicht wirklich eine positive Meinung über Walter hatte und schüttelte mit einem leicht verfinsterten Blick den Kopf. Zwar hatte er ihm einiges zugetraut, aber diese Aktion schockierte ihn. „Ich hab sowieso nicht verstanden, wieso du bei ihm geblieben bist, Jesse. Walter ist eine miese kleine Ratte und weiter nichts. Und diesem Andy traue ich auch nicht über den Weg. Der ist so aalglatt, dass es schon fast nicht mehr normal ist. Aber die Kleine wirkte recht süß. Ein wenig unschuldig und naiv vielleicht. Was genau ist da zwischen euch?“ Genau auf diese Frage wusste Jesse auch keine Antwort. Zwar wusste er, dass Charity in ihn verliebt war, aber er konnte einfach nicht sagen, was er dabei fühlte. Und das war problematisch. „Sie scheint auf mich zu stehen und sie weiß auch über alles Bescheid. Das mit meiner Vergangenheit und meiner Fähigkeit.“ „Hast du es ihr etwa gesagt, oder ist sie selbst dahinter gekommen?“ „Ich hab es ihr selbst gesagt. Und sie war gar nicht entsetzt oder hat versucht, mich großartig auszufragen.“ Nun holte Marco die Nadel und setzte sie vorsichtig an. Jesse lehnte sich zurück und biss sich auf die Unterlippe, als er spürte, wie die Nadel unter seine Haut drang. Wie Marco ihn bereits gewarnt hatte, tat es wirklich weh und so schnell würde es auch nicht vorbei sein, wie beim Piercingstechen. Denn ein Tattoo brauchte Zeit und in der musste er wohl oder übel die Schmerzen aushalten. Er hatte es ja selbst so gewollt, also musste er da jetzt durch. Marco fuhr währenddessen mit der Konversation fort. „Mir ist übrigens aufgefallen, dass du irgendwie anders bist als sonst.“ „Kann sein, ich hab krank im Bett gelegen.“ „Nein, das meine ich nicht. Du wirkst irgendwie viel lebendiger als sonst und hast dich zum Positiven verändert. Zwar nur ein wenig, aber mir ist es sofort bei dir aufgefallen. Wie kommt es überhaupt, dass du bei ihr wohnst? Normalerweise nimmst du niemals Hilfe an, außer in solchen Fällen, wenn du irgendwelches Unglück verhindern musst. Hattest du einen plötzlichen Sinneswandel?“ Jesse versuchte sich zu entspannen, um die brennenden Stiche an seinem Fußgelenk besser ertragen zu können, aber das erwies sich als gar nicht mal so einfach. Er drückte seinen Handrücken gegen die Stirn und schloss die Augen. „Ich weiß es selbst nicht. Momentan verstehe ich meine eigenen Symptome nicht mehr. Aber der Grund, wieso ich eigentlich zu dir gekommen bin ist der, weil ich dich um etwas bitten möchte.“ Marco unterbrach kurz seine Arbeit und hob den Blick, um Jesse ansehen zu können. Er ahnte, dass sein alter Bekannter wieder eine Vorahnung oder einen seiner Träume gehabt hatte und dass wieder ein Unheil in Anmarsch war. „Natürlich, wie kann ich dir denn helfen?“ „Könntest du ein Auge auf Charity werfen, wenn ich weg bin? So wie ich sie kenne, wird sie nach mir suchen und wieder nur in irgendwelche Schwierigkeiten geraten, so gutgläubig und naiv wie sie ist.“ Nun wurde Marco ernst und er nickte langsam. „Hab mir schon gedacht, dass du es schon längst weißt. Hast es sicher schon in einem deiner Träume gesehen, nicht wahr?“ „Ja. Dann weißt du es also auch schon bereits?“ „Na klar doch. Auch wenn ich nicht mehr zur Szene gehöre, hab ich immer noch einige Kontakte und erfahre von meinen Kunden so allerhand. Deshalb weiß ich auch darüber Bescheid. Du willst sicher untertauchen, solange es brenzlig ist, nicht wahr? Du weißt aber schon, dass ich dich solange bei mir verstecken könnte.“ „Nein, du sollst dich bitte um Charity kümmern. Ich komm schon allein zurecht. Tust du das für mich?“ Marco gab ihm sein Wort und fuhr mit seiner Arbeit fort. Es dauerte knapp eine Stunde, bis das Tattoo fertig war und Marco endlich die Nadel beiseite legte. Schweigend betrachtete Jesse das Ergebnis ohne eine erkennbare Gefühlsregung, oder überhaupt etwas dazu zu sagen. Seine Haut war ungesund gerötet und es brannte immer noch ein wenig. Schließlich aber nickte er und murmelte „Es ist gut geworden.“ „Freut mich, wenn es dir gefällt. Aber sag mal Jesse, wo willst du denn überhaupt hingehen und wo wirst du unterkommen?“ Nur ein Schulterzucken kam zur Antwort, dann zog Jesse wieder seinen Schuh an und stand auf. Noch immer brannte sein Fuß und es würde wohl noch eine Weile dauern, bis auch diese hässliche Rötung verschwunden war. Aber wenigstens hatte er jetzt, was er wollte und allein darauf kam es an. „Das weiß ich noch nicht. Jedenfalls ist es besser, wenn ich eine Weile von der Bildfläche verschwinde, bis sich die Lage wieder beruhigt hat. Mach dir keine Sorgen, ich komme schon klar. Sorg du nur dafür, dass Charity und ihrer Großmutter nichts passiert. Dann hab ich weniger Probleme am Hals.“ „Du kannst dich auf mich verlassen. Aber pass trotzdem gut auf dich auf.“ Marco bemerkte, dass Jesse ziemlich bedrückt war und ihm diese ganze Sache wirklich zu schaffen machte. Und er machte sich auch große Sorgen um ihn, denn er wusste, dass Jesse nicht wirklich viel auf sein eigenes Leben gab nach alledem, was er durchmachen musste. Immerhin hatte ihn sein Alkoholproblem schon oft genug ins Krankenhaus gebracht. Was, wenn er wieder so leichtfertig sein Leben aufs Spiel setzte und es dieses Mal nicht überleben würde? Aber wenn Jesse der Ansicht war, es war die beste Entscheidung, wenn er schnellstmöglich verschwand, dann musste er ihm vertrauen. Der Junge wusste schon, was er tat. „Hast du geträumt, dass das Mädchen sterben wird, wenn du bei ihr bleibst?“ „Nein, in meinem Traum habe ich dieses Mal Sariel gesehen. Und das, was sie mir gezeigt hat, war schon schlimm genug und ich kann nicht riskieren, dass Charity so etwas passiert.“ „Okay, ich hab verstanden.“ Marco wusste von Jesses Träumen und den Personen, die dort regelmäßig in Erscheinung traten. Deshalb wusste er auch, dass Sariels Erscheinen in seinen Träumen immer schlimme Dinge bedeuteten, die in der Zukunft passierten. Und wenn diesem Mädchen tatsächlich etwas zustoßen sollte, wenn Jesse in ihrer Nähe blieb, dann konnte Marco ihn schlecht aufhalten. Aber trotzdem war ihm nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass der Junge wieder einfach so abhaute und damit erneut auf der Straße landete. Zwar hatte dieser ihm versprochen, nie wieder auf den Strich zu gehen, aber Marcos größte Sorge galt Jesses Alkoholproblem. Was, wenn er sich wieder so betrank und dann im schlimmsten Falle unter die Räder kam? Er konnte nur das Beste hoffen und seiner Bitte Folge leisten. Chibi konnte ja solange den Laden übernehmen, wenn er sich um den Schutz dieses Mädchens und seiner Großmutter kümmerte. Das sollte ja kein Problem sein. Nachdem sich Jesse kurz und knapp auch von Chibi verabschiedet hatte und die Tür hinter ihm zugefallen war, ging er zu einer Bank hin, setzte sich und holte aus seiner Tasche eine kleine Schnapsflasche. Eigentlich war es noch viel zu früh zum Trinken, aber das war ihm jetzt auch egal. Er brauchte jetzt dringend einen starken Drink, um das alles erst einmal zu verarbeiten. Die Sorge, dass immer noch etwas schief laufen könnte, war immer noch präsent, aber es war schon ein tröstlicher Gedanke zu wissen, dass Marco sich um alles Weitere während seiner Abwesenheit kümmern würde. Auf ihn war zum Glück immer Verlass. Trotzdem schlug ihm die ganze Sache auf den Magen und er fühlte sich furchtbar. Aber warum bloß ging es ihm so schlecht? Etwa, weil er schon wieder davonlief und auf der Straße leben würde? Oder war es wegen ihr? So ganz sicher war er sich auch nicht. Er kam sich so verloren vor und wenn er nicht diese Blockade hätte, dann hätte er sicher geweint. In diesem Moment wünschte er es sich sogar und das war ihm bislang noch nie vorgekommen. Wie gerne wäre er bei den Witherfields geblieben. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl gehabt, wirklich irgendwo zuhause zu sein und dass man ihn so akzeptierte, wie er war. Und nun musste er das alles wieder aufgeben. Der Gedanke daran, vielleicht nie wieder dorthin zurückkehren zu können, war kaum zu ertragen und am liebsten hätte er sich komplett betrunken, damit er sich nicht mehr so miserabel fühlen musste. Aber dieses Mal würde er es nicht tun. Was brachte es ihm denn, sich wieder bis zur Bewusstlosigkeit zu betrinken? Davon würden seine Probleme auch nicht gelöst werden und er musste bei klarem Verstand bleiben. Also warf er die angebrochene Schnapsflasche in den Abfalleimer um sich selbst davor zu bewahren, wieder die Kontrolle zu verlieren und die ganze Flasche leer zu trinken. Wenigstens hatte der Alkohol seine Wirkung getan und nun war auch nicht mehr das Gefühl so präsent, als würde eine tonnenschwere Last auf seinen Schultern liegen. Ein lautes Donnern riss ihn aus seinen Gedanken und ein Blick zum Himmel verriet ihm, dass es wohl bald anfangen würde zu regnen. Auch das noch. Eigentlich mochte er ja Gewitter, aber in dieser Situation konnte er das unmöglich gebrauchen. Zu seinem Unglück hatte er ja nicht einmal einen Regenschirm dabei und er hatte überhaupt keine Lust, schon wieder krank zu werden. Der Wind nahm zu und es wurde deutlich kühler, wodurch Jesse ein wenig zu frösteln begann. Besser war es, wenn er sich für gleich irgendwo einen Unterschlupf suchte, bevor es zu regnen begann. Damit erhob er sich, schulterte seine Tasche und eilte die Straße runter, wobei er wieder von einem sonderbaren Gefühl ergriffen wurde. Es war keines seiner körperlichen Symptome, sondern eine Vorahnung… sein siebter Sinn. Er wurde unruhig und eine unheimliche Gewissheit wuchs in ihm. Wahrscheinlich würde diese Konfrontation wohl schneller stattfinden, als ihm lieb war. Besser war es, sich schnell irgendwo zu verstecken, bevor er noch gefunden wurde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)