Das Leben geht weiter von Atina ================================================================================ Kapitel 6: Schock ----------------- „Lea?“, rief Anne ins obere Stockwerk hinauf. „Ja?“ Die Gerufene erschien auf der Treppe. „Kannst du mir vielleicht bei den Matheaufgaben helfen?“ „Wenn’s schnell geht.“ Der Küchentisch lag voller Zettel, mittendrin das Tafelwerk und der Taschenrechner. „Du solltest dir mal etwas Ordnung angewöhnen“, meinte Lea. „Mhm.“ „Was ist denn das Problem?“ „Hier, diese Aufgabe.“ Anne reichte ihr einen der Zettel und Lea begann sich die Aufgabe durchzulesen. „Das ist etwas tricky, aber machbar.“ „Kriegen wir das in einer halben Stunde hin? Ich wollte damit fertig sein, bevor Daniel kommt.“ „Ich bin in zwanzig Minuten in der Stadt verabredet. Machen wir das doch morgen Vormittag, okay?“ „Okay. – Wohin gehst du denn?“ „Ins Kino und dann vielleicht noch in eine Bar.“ „Und mit wem?“ „Kennst du nicht.“ Damit war Lea aus der Küche und wieder die Treppe hinauf, um ihre Tasche zu holen. „Warte!“, rief Anne und lief ihrer Cousine hinterher. „Soll das heißen, du hast ein Date?“ „Kann man so sagen.“ „Und wie?“ „Ich habe ihn neulich im Park kennen gelernt und er hat mich am Abend zu einem Drink eingeladen.“ „Das ist doch super. Meinst du, es könnte was Ernstes sein?“, fragte Anne. „Mal sehen…“ Lea lächelte. „Ich muss jetzt los.“ „Na klar. Viel Spaß!“     Matthias wartete bereits vor dem Kino. Er lehnte an einem Pfeiler, hatte die Arme verschränkt. Als er Lea auf sich zukommen sah, lief er ihr mit einem Lächeln auf den Lippen entgegen. „Hey.“ „Hallo.“ Sie umarmten sich zur Begrüßung. „Wie war dein Tag?“ „Ganz okay. TM war interessant“, sagte Lea. „TM?“ „Technische Mechanik.“ „Und das war interessant?“, fragte er ungläubig. „Ja. … Wie war denn dein Tag?“ „Ausgefüllt mit Stunden zählen.“ Sie sah ihn fragend an. „Bis ich dich endlich wiedersehe.“ „Charmeur.“ „Man tut, was man kann.“ Er grinste. „Haben wir uns eigentlich schon auf einen Film geeinigt?“ „Ich bin für den Henry-Kent-Film.“ „Den hätte ich auch vorgeschlagen. Du stehst auf Action?“ „Manchmal. Ich mag halt Henry Kent“, antwortete Lea. „Na gut. Gehen wir rein.“ Sie betraten das Gebäude und gingen zur Kasse. Sie stellten sich in die Schlange und kauften die Karten, die sie günstiger bekamen, da sie ihren Studentenausweis vorlegten. „Hast du Lust auf Popcorn?“ Lea sah ihn mit einem strahlenden Lächeln an. „Okay, du hast Lust auf Popcorn.“ Er kaufte es und gemeinsam gingen sie in den Kinosaal. „Wo sitzen wir?“ Lea sah auf die Karten. „Reihe 14, Sitze 16 und 17.“ Sie fanden ihre Plätze und unterhielten sich weiter, bis der Film begann. „Ich war doch heute meine Hausarbeit abgeben und die wollten sie mir doch fast nicht abnehmen.“ „Warum das denn?“ „In dem Büro war niemand informiert. Erst wollten sie mich ans Prüfungsamt weiterleiten, doch vorher haben sie sicherheitshalber noch einmal beim Professor angerufen und der hat gesagt, dass sie die Arbeiten entgegen nehmen müssen.“ „Vermutlich hat der Prof nicht damit gerechnet, dass so zeitig bereits welche abgegeben werden und wollte seinen Assistenten erst kurz vorher bescheid sagen“, überlegte Lea. „Kann schon sein.“ Das Licht wurde gedimmt und der Vorhang aufgezogen, die ersten Werbefilme und Trailer für demnächst anlaufende Filme flimmerten über die Leinwand. Nach der Werbung für Eis ging das Licht erneut an und ein Mitarbeiter des Kinos trat mit einer kleinen Eisbox in den Saal, um noch die ein oder andere Leckerei an den Mann zu bringen. Als er wieder gegangen war, ging das Licht aus und die Leinwand wurde wieder angestrahlt – der Hauptfilm begann.   „Hast du Lust, noch etwas trinken zu gehen?“ „Ich denke schon“, antwortete Lea und lächelte Matthias an. Er griff nach ihrer Hand und sie schlenderten die Straße entlang. Obwohl es Freitag war, war nicht viel los. Ab und zu fuhren Autos vorbei oder Radfahrer, auf der anderen Straßenseite liefen ebenfalls einige Fußgänger. Lea und Matthias standen an der Ampel und warteten, bis es grün wurde, als zwei Autos ineinander fuhren. Es ging alles ganz schnell, innerhalb von Sekunden. Der Rechtsabbieger hatte einen grünen Pfeil und gedacht, dass er es noch vor dem heranfahrenden Auto schaffte. Es konnte nicht mehr gebremst oder ausgewichen werden. Es knallte laut und scheppernd fielen Metall- und Kunststoffteile zu Boden. „Oh mein Gott!“ Matthias überquerte die Straße und rannte zu den Autos. Der Fahrer des einen Wagens stieg bereits aus. „Geht es Ihnen gut?“, fragte Matthias und sah zu dem anderen Wagen herüber. „Ja, bin nur etwas durchgeschüttelt.“ Sie liefen gemeinsam zu dem zweiten Auto und versuchten die Fahrertür zu öffnen. Der Fahrer lag bewusstlos über dem Lenkrad. „Die Tür hat sich verzogen. Ich versuche es an der Beifahrertür. Rufen Sie einen Notarzt!“ Der Mann holte sein Handy aus dem Handschuhfach und wählte den Notruf. Matthias hatte sich inzwischen den Fahrer des anderen Wagens angesehen, er hatte einen normalen Puls, war aber bewusstlos. „Der Notarzt wird gleich hier sein“, sagte der Mann und sah durch die Beifahrertür zu Matthias. „Lea.“ Matthias sah sich nach ihr um und sah, dass sie noch immer an der Ampel war. „Bleiben Sie bitte bei ihm. Ich geh kurz zu meiner Freundin rüber.“ Mit schnellen Schritten lief er zu Lea, die zusammengesunken am Boden saß, das Gesicht hinter den Händen versteckt, schluchzend. „Lea? Was ist los?“ Er nahm sie in den Arm. „Sie sind tot“, schluchzte sie. „Den beiden Fahrern geht es soweit gut, der Notarzt ist aber gleich hier.“ „Sie sind tot. Ich will nicht, dass sie tot sind.“ „Lea. Wer ist tot?“ Sie lehnte sich an ihn, immer mehr Tränen liefen über ihre Wangen. „Lea, wer ist tot?“ „Meine Eltern…“ Matthias drückte sie fest an sich, streichelte sanft über ihren Kopf. Von weitem hörte man die Sirenen des Krankenwagens. Zeitgleich mit dem Notarzt kam die Polizei an. „Lea, komm, setz dich dort rüber auf die Bank. Ich werde der Polizei kurz schildern, was passiert ist. Aber ich bin gleich wieder da“, sagte Matthias. Er brachte Lea zu der Bank und lief dann zu den Beamten, die sich mit dem unversehrten Fahrer unterhielten. Er sprach für einige Minuten mit ihnen und kam dann zurück zu Lea. „Komm mit, Kleine, ich bring dich nach Hause.“ Er half ihr auf und sie entfernten sich vom Unfallort. Matthias hielt ihre Hand, immer wieder blieben sie stehen und er nahm sie in den Arm, um sie in ihren wiederkehrenden Tränenausbrüchen zu beruhigen. Nach etwa einer halben Stunde standen die beiden vor der Haustür. „Kommst du mit rein?“ „Wenn du das möchtest.“ Lea nickte. Sie kramte ihren Schlüssel aus der Handtasche hervor und wollte aufschließen, doch der Schlüssel fiel ihr aus der Hand. Matthias hob ihn auf und öffnete die Tür damit. Sie traten in den Flur, ohne das Licht einzuschalten. Leas Tante und Onkel waren bereits schlafen gegangen, Anne übernachtete bei Daniel, das Haus lag im Dunkeln. Zwei Minuten später standen die beiden in Leas Zimmer. Sie zog ihre Strickjacke aus und legte sich auf das Bett. Matthias war sich unsicher, ob er sich zu ihr legen sollte, doch dann tat er es einfach. „Möchtest du darüber reden?“ Sie lehnte ihren Kopf an seinen, brachte jedoch kein Wort heraus. Er streichelte sanft ihre Wange, strich damit die Tränen weg. Langsam beruhigte sie sich, sie fühlte sich geborgen in seiner Nähe.     Als Lea am Morgen aufwachte, schien das helle Sonnenlicht bereits durch die Spalten ihrer halbgeschlossenen Jalousien. Der Platz im Bett neben ihr war leer. „Matze?“, fragte sie in das Zimmer und setzte sich auf. Doch er war nicht da, stattdessen entdeckte sie auf dem Nachttisch einen Zettel.     Es tut mir leid, dass du ohne mich aufwachen musst, aber ich hielt es für besser zu gehen. Ich rufe dich nachher an.                              Matze     Lea las den Zettel und legte ihn zurück auf den Nachttisch. Seufzend ließ sie sich in ihr Kissen sinken und dachte an den letzten Abend. So war er ganz sicher nicht geplant gewesen. Wie hatte sie nur so die Fassung verlieren können? Nach einem Blick auf die Uhr stellte sie fest, dass es Zeit zum Aufstehen wurde. Ihre Tante und ihr Onkel hatten bestimmt schon gefrühstückt. Wann Matthias wohl gegangen war? Sie hatte tief und fest geschlafen. Zwar wusste sie nicht, wie er es geschafft hatte, aber sie hatte sich in seiner Gegenwart besser gefühlt. Er gab ihr ein Gefühl von Sicherheit.   Nach dem Frühstück kam Anne nach Hause und Lea setzte sich mit ihr zusammen, um die Mathematikaufgabe zu besprechen. Gegen elf Uhr klingelte ihr Handy. „Entschuldige, ich muss da kurz rangehen“, sagte Lea und verließ die Küche. „Hey.“ „Hey Lea. Alles okay bei dir?“ „Ja. Ich… es tut mir leid. Ich weiß nicht, wie ich so die Fassung verlieren konnte.“ „Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen. Ich kann das verstehen. Du wurdest durch den Unfall an den Tod deiner Eltern erinnert.“ „Danke, dass du für mich da warst.“ „Das war doch selbstverständlich. … Ich wusste nicht, wie deine Verwandten zu fremden Übernachtungsgästen stehen, nur deshalb bin ich gegangen.“ „Ich glaube nicht, dass sie etwas dagegen gehabt hätten, Annes Freund übernachtet hier auch. Aber ich weiß, was du meinst.“ „Anderes Thema: Leonie hat vorgeschlagen, dass wir heute ins Freibad gehen. Hast du Lust mitzukommen?“ „Ich weiß nicht. Ich mach mit Anne Mathe und sie meinte grad, dass Oliver zum Mittag vorbeikommt und seine Aufgaben mitbringt.“ „Ach komm, Mathe kann man jeden Tag machen. Heute ist so schönes Wetter, das müssen wir doch nutzen“, erwiderte Matthias. Lea seufzte. „Na gut.“ „Super. Wir treffen uns um halb zwei am Eingang des Freibads.“ „Gut. Bis dann.“ „Bis dann.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)