G.A.B.T. von Rigel (Grand Anime Booze Touring) ================================================================================ Kapitel 4: Die Leiden des Shobun Mifitaga ----------------------------------------- Während der Fahrt wandte sich der Fahrer plötzlich an sie. „Sagt mal, was wollt ihr eigentlich in White Land? Da gibt’s nicht gerade viel zu holen. White Land ist eine recht öde Gegend.“ „Wir hatten eigentlich vor, Menschen aufzusuchen, die heute noch diese Stadtfahrten vornehmen. Wir werden sehen, ob wir jemanden finden“, sagte Yuri. „Ach, ihr meint sicher die Punkverbindungen. Das sind miese Kreise, habe ich mir sagen lassen. Aber ihr müsst natürlich selbst wissen, was ihr tut. Ach ja, ihr solltet langsam eure dicken Klamotten rausholen.“ „Wieso das“, fragte Momoko. „Seid ihr verrückt? Ihr wollt mir doch nicht erzählen, ihr wisst das nicht! White Land hat seinen Namen nicht von irgendwoher. Die Stadt ist eine einzige Eiswüste. Die Leute müssen Thermoanzüge tragen, damit sie überleben, wenn sie nach draußen gehen. Alle Häuser sind mit einer dicken Eisschicht überzogen und das ganze Jahr über herrschen dort mindestens –49°.“ „Waaas?! So kalt? Das hat uns dieser Marvhelh Labravhe aber nicht gesagt“, beschwerte sich Hinagiku (hat er doch, aber wie man ehrgeizige Jugendliche so kennt, sind sie sofort Feuer und Flamme für ein neues Projekt und überhören den Rest einfach). „Wir haben aber keine warme Kleidung dabei“, erklärte Momoko aufgebracht. „Tja, dann werdet ihr aber ein Problem haben, wenn wir die Stadt erreichen. Ich werde dort auch erst einmal einige Stunden festsitzen, weil mir der Motor sofort zufriert, wenn ich nicht gleich wieder verschwinde. Ich brauche erst spezielles Frostschutzmittel gegen richtig dickes Eis. Was ihr dann anfangt, müsst ihr sehen.“ Der Rest der Fahrt erschien ihnen nunmehr wie ein Himmelsfahrtskommando. Sie versuchten fieberhaft, sich einen Plan auszudenken wie sie durch die Kälte kommen sollten. Darüber vergaßen sie die Zeit und schon rief ihnen der Busfahrer zu: „Ich werde jetzt gleich an der Stadtgrenze ankommen, dann geht es auf den großen Vorplatz vor der Bus- und Zugstation. Weiter kann ich euch leider nicht fahren, der Vorplatz ist so etwas wie die magische Grenze. Alles dahinter würde den Wagen umbringen und früher oder später auch mich. Ihr werdet den Weg bis ins Gebäude wohl so schaffen müssen. Ich hoffe, ihr habt Glück und es schneit nicht, denn wenn es in White Land schneit, meine ich damit einen Blizzard, bei dem man die Hand nicht mehr vor Augen sieht. Stellt euch darauf ein, dass es ein ganzes Stück zu Laufen sein wird. Demnächst fragt besser vorher, was euch erwartet, besonders auf diesem Kontinent. Denn hier kann man nie wissen, was als nächstes kommt.“ 15 Minuten später war es dann soweit, die Grenze der Stadt kam in Sicht und waren die anfangs noch wenigen vom Wind verwirbelten Flöckchen schon ein Grund zur Beunruhigung, so wuchsen sie bald zu einem Flockengewirr, aus dem kaum mehr erkennbar war, wo sie sich gerade befanden. Schließlich stoppte der Fahrer den Bus. „Wie schätzen Sie nun die Entfernung ein“, fragte Hinagiku vorsichtig, in Gedanken bereits schrecklich fröstelnd. „Nun... bis zum Eingang dürften es etwa 100 Meter sein. Orientiert euch an dem blauen Signallicht da vorne am Gebäude und rennt schnell dorthin, bevor ihr erfriert. Ich werde euch jetzt die Tür öffnen. Haltet euch bereit.“ In diesem Moment ergriff Kazuya das Wort: „Wartet! Vielleicht halten wir die Kälte besser aus, wenn wir unsere Wellen der Liebe als Schutzschild verwenden. In gegenseitigem Austausch dürften sie eigentlich sehr nützlich sein.“ „Das ist eine ausgezeichnete Idee von dir, Kazuya. Los, auf geht's“, sagte Scarlet zustimmend. „Sag mal, Yuri, was gibt es eigentlich über diese Stadt zu wissen“, wandte sich die neugierige Hiromi an ihre „Reiseführerin“ (aber in einer Situation, die unpassender kaum sein konnte). „Können wir das vielleicht besprechen, wenn wir außer Gefahr und wieder im Warmen sind“, fragte diese, während einige Mutige bereits erste Schritte nach draußen machten. Schnell folgten alle anderen, die Frauen nahmen ihre Partner bei den Händen und gemeinsam durchschritten sie die Pforte in eine Hölle, die sie bisher immer für heiß gehalten hatten (doch auch Kälte konnte schmerzen...). „Ich wünsche euch viel Glück“, sagte der Fahrer noch, ehe die Tür sich schloss. Sogleich umfegte sie ein aggressiver Eiswind, die Hand war vor Augen nicht mehr zu erkennen und nur das Rufen Kazuyas drang durch des Blizzards Brausen an ihre Ohren. „Setzt eure Wellen der Liebe frei, jetzt!“ Das sanfte, warme Leuchten flackerte schwach im starken Schneesturm und vor sich erkannten sie die blauen Signalleuchten, vier an der Zahl, in einiger Entfernung vor ihnen. Und schon rannten sie los, Momoko und Yosuke als Anführer voraus, alle anderen hinterdrein. Beinahe wäre Momoko eine Treppe hinabgestürzt, die sich vor ihnen durch den Schnee abzeichnete und auf einen vertieften Pfad führte. Nur wenige Details der Umgebung ließen sich erkennen. In einigen vereisten Kästen blühten tatsächlich Blumen, die Schnee und Kälte trotzten. Die Umrisse eines kuppelartigen Gebäudes erhoben sich vor ihnen. „Kommt weiter, wir sind gleich da“, brüllte Yosuke mit allem, was seine Lungen hergaben durch den Wind und keuchend stapften sie weiter durch den Schnee, der hier bereits kniehoch lag. Nicht einmal die stärksten Wellen der Liebe konnten dieser Gewalt Gaznaels lange standhalten. Alte Königsmythen: Den Königsmythen zufolge gab es in alter Zeit einige hohe Götter, die das Weltgefüge auf Theyzan beherrschten und jedes Jahrhundert ein Königreich ernannten, welches zum mächtigsten Herrscherreich aufsteigen sollte. Dieser Mythologie nach wurde das 13. Königreich der teddsanischen Welt (dieses war das Königreich Havesthir) von Gaznael, dem Wettergott ernannt, der auf einem mächtigen, weißen Hund vom Himmel geritten kam. Er wurde als Krieger beschrieben, dessen Rüstung alle möglichen Bestandteile der Natur vereinte: Flüsse, Berge, grüne Hänge, Wälder, Erde, Eis- und Windlandschaften. So sollen auch einmal die unterschiedlichen Klimazonen des Zentralkontinentes entstanden sein. Allerdings haben Klimaforscher und auch Historiker des Imperialismus ihre jeweils eigene Version über die Entstehung dieser massiven Klimaunterschiede. „Bald... nicht mehr weit“, hörten sie das zum Flüstern abgeschwächte Rufen Kazuyas, denn jeder Schrei erforderte einen Atemzug und jeder davon ließ die Kälte wie Messer in die Lunge fahren. Dann, von einem Moment auf den Nächsten, sprinteten sie durch eine sich selbst öffnende Tür und befanden sich in einem Korridor zwischen mehreren Vortragssälen. Die gerade besetzten Auditorien waren mit schwarzen Vorhängen verschlossen und Schilder mit goldenen Schriftzeichen gaben die Titel der Vorlesungen bekannt. Hinagiku trat an die Glastür heran, durch die sie gekommen waren. Daneben war ein Schild angebracht, das in roter Schrift „nitadha-sajamhen“ verkündete. „Schaut mal, die ist von ganz feinen, roten Linien durchzogen.“ Sie legte die Hand dagegen, bevor Yuri sie aufhalten konnte (Autsch, Schilder sind zum lesen da), schrie auf und riss die Hand weg. „Verdammt noch mal, die ist ja kochend heiß“, fluchte sie, als eine Stimme hinter ihnen bejahte. „Natürlich. Da steht ja auch 'nicht anfassen'. Die Tür darf nicht zufrieren, deshalb die Wärmeleiter.“ Sie wandten sich zu dem Teddsaner um, der sich zu ihnen gesellt hatte. Yuri blinzelte, die schwarze Weste und das gelbe Abzeichen auf der rechten Brusttasche verrieten ihn als Taxifahrer (bitte den Abschnitt über die Fahrtkosten für Taxis wiederholen!). „Eines würde mich mal interessieren? Wie zum Teufel kommt ihr mit diesem dünnen Fummel hierher und wie wollt ihr weiter kommen?“ „Das wissen wir noch nicht. Wir kamen mit einem Spezialbus hierher, waren aber nicht gut vorbereitet und hatten daher keine passende Kleidung mitgenommen“, berichtete Momoko, während Yosuke ihre Schultern mit den Händen wärmte. „Nicht gut, nicht gut. Ihr könnt froh sein, dass ihr es bis hierher geschafft habt. Und was wollt ihr hier? Entschuldigt, dass ich frage, nur: White Land ist nicht gerade ein Touristenmagnet.“ „Wir suchen hier nach dem Kontaktpunkt eines ehemaligen Syndikats. Die Zentrale soll sich vor 9 Jahren noch in Port Town befunden haben. Man hat uns gesagt, dass einige Leute die alte Route heute noch betreiben“, erzählte Kazuya. „Ja, ich weiß, was ihr meint“, sagte der Teddsaner, „Die sitzen im zentralen Verwaltungsgebäude von White Land. Offiziell machen die Sachbearbeitung, also eine Art Outsourcing für die Unternehmen der unteren Stockwerke. Diese komische Tour bieten sie unter der Hand an.“ „Dann müssen wir dorthin. Wissen Sie wohl, wo wir hier dickere Kleider herbekommen und einen Bus finden können, der uns dorthin bringt“, fragte Yuri freundlich. „Busse bei dem Wetter? Vergesst es, bei diesem Sturm steht der Verkehr still, da geht nichts. Wenn der Sturm sich gelegt hat, werde ich euch dorthin bringen. Ich habe eh noch Dokumente bei der Verwaltung abzuliefern, daher liegt es auf dem Weg. Ich mach euch einen guten Preis, weil ihr Kumpel seid. Da ihr acht kaum in ein Taxi passen werdet, muss ich zwei weitere anheuern. Unter 10 TD pro Taxi kann ich da leider nichts machen (für teddsanisches Taxifahren ist das wirklich ein Superschnäppchen. Wir reden hier von 30 TD, also 72 Euro oder 9621,83 Yen für den Transport von acht (!) Personen. Der geneigte Autor dieses Werkes hat mir verraten, dass er für seine Taxifahrt vom Bahnhof Rotterdam zum Hafen allein soviel bezahlt hat). „Vielen Dank, das ist sehr großzügig von Ihnen“, antwortete Momoko zwar, aber innerlich fürchtete sie schon um ihre Ersparnisse. Hoffentlich stecken wir nicht bis zum Hals in Schulden, wenn wir wieder zurück sind. „Und was ist jetzt?“ Alle wandten sich um. Hiromi hatte das gesagt. „Was denn“, fragte Hinagiku etwas genervt (die meist etwas schroff reagierte, wenn Leute pflegten, sich ihre Gedanken aus der Nase ziehen zu lassen). „Ich meinte Yuri. Du wolltest doch etwas über die Stadt erzählen, so etwa.“ Yuri blinzelte verwundert, erinnerte sich aber und setzte ihr typisches Madonna-Lächeln auf. „Aber Hiromi. Du kannst dir doch sicher denken, dass ich uns nie in eine solche Gefahr gebracht hätte. Hätte ich irgendetwas über diese Stadt gewusst, hätte ich euch doch gewarnt. Ich habe vorher nicht viel darüber erfahren können und auf meiner Studienreise bin ich nie hier gewesen. Informationen zu Studienreisen: Generell kann man sagen, dass die teddsanische Sprache für Einsteiger besser zu lernen ist, wenn man sich in höhere Kreise begibt und beispielsweise mit Nachrichtensprechern oder Unternehmensleitern zu tun hat. Deren Sprachform ist weit besser verständlich, denn sie benutzen nicht das typische Nuschel-Teddsanisch, welches noch immer viele ehrgeizige Sprachanwärter zur Verzweiflung bringt. Yuri tat also gut daran, die teddsanische Welt mit dem Ziel aufzusuchen, die Sprache in guten Kreisen zu lernen. Zu einer Studienriese gehört es erst einmal, als Praktikant/in in einem Unternehmen zu arbeiten und sich an die herrschenden Sprachverhältnisse zu gewöhnen. Dann wird man auf einen historischen Kurztrip durch verschiedene Länder des Planeten geschickt und gewinnt einen groben Überblick über die teddsanische Kultur, die Welt und die Geschichte. Man erkennt an Yuris jetziger Bildung jedenfalls, dass solche Studienreisen die zuverlässigsten Mittel sind, um Theyzan kennen zu lernen. Informationen zu White Land: An dieser Stelle gleich noch eine Info (ich höre auch bald wieder mit dem Kulturgeschwafel auf, versprochen). Die Frage wie eine Stadt überhaupt existieren kann, wenn sie täglich bis zu maximal 69° minus erdulden muß und stetig in einer dicken Eisschicht steckt, ist durchaus berechtigt und erfordert einen kleinen Rückblick in die Zeit der Imperialisten. Man kann über die Imperialisten und ihre Untaten schimpfen wie man will, auf der anderen Seite aber nicht leugnen, dass sie einen blühenden Fortschritt ermöglicht haben. Der imperialistische Wissenschaftler Catapilhar entwickelte jene Solarzellen, die White Land mit der bitter nötigen Wärme versorgen. Diese befinden sich auf weiten Flächen violetter Generatorplatten, welche die Stadt umgeben, dazwischen liegen die Gleise der verkehrenden Züge. Die roten Heizlinien in den Türen sind nur eine Nutzungsart der Solarenergie. Sie wird auch verwendet, um Züge und andere Fahrzeuge fahrtauglich sowie Fenster, Türen und Durchgänge eisfrei zu halten. Die Eisschicht an den Gebäuden kann nicht beseitigt werden, da die Außenfassaden ständig Schnee und Eis ausgesetzt sind. Das wäre zu kostspielig. Die Heizkosten für die Innenräume sind schon astronomisch. Auch die Solarheizungen werden durch die Generatoren am Stadtrand gespeist, ebenso wie die Rohrleitungen für fließendes Wasser durch die Hitzeleitungen vor dem Zufrieren bewahrt werden. Ein technisches Wunderwerk ist diese Stadt, der selbst der größte Schneesturm nichts anhaben kann – abgesehen davon, dass zu dieser Zeit der Verkehr zum Erliegen kommt. „Also geht das klar“, fragte sie der Taxifahrer, „Wenn ihr die Verwaltungsgebäude besuchen wollt, bringe ich euch nach dem Schneesturm hin.“ „Das wäre wirklich sehr freundlich von Ihnen. Wir kommen gerne mit“, bestätigte Scarlet. Die Wartezeit brachten sie damit zu aus den Glasfenstern dem Schneetreiben zuzuschauen. Im Hintergrund unterhielten sich Yuri und der Taxi-Fahrer über die Stadt, denn wie man Yuri kannte, war sie bei allem Unbekannten entsprechend wissbegierig. „Diese Welt hier hat 326 Erdentage im Jahr. An 195 dieser Tage gibt es hier in der Stadt einen Blizzard und die Hölle ist los. Das dauert nie besonders lang, aber zu dieser Zeit steht der Verkehr still“, erklärte ihr Fahrer, „Oh, da scheint sich was zu tun. Ich glaube der Sturm legt sich langsam.“ Alle traten ans Fenster und sahen, wie die Schnee- und Eiswand immer durchschaubarer wurde und sich letztlich in kleine, vereinzelte Flocken auflöste. „Was ist das hier eigentlich für ein Gebäude“, wandte sich Yuri noch einmal an den Taxifahrer, auch wenn sie bereits eine Ahnung hatte. „Das ist ein Goterha“, antwortete er, „Häßlich gesprochen ein Schwafelhaus, auf Theyzan sehr gebräuchlich an Bahnhöfen. Hier kann man sich während der Wartezeiten aufhalten und die mit den schwarzen Vorhängen verschlossenen Vortragssäle besuchen, in denen Hobbyredner ihre Vorträge halten. Sie bezahlen, um den Saal zu mieten, bekommen dafür aber auch den Eintritt der Besucher ausbezahlt. Das reicht jetzt aber an Infos, Leute. Sonst platzt euch noch der Kopf. Ich organisiere wärmere Klamotten für euch. Dann werde ich die anderen Taxis bestellen und danach kann's losgehen.“ Schon eilte er davon. „Supi, endlich kommen wir mal voran. Also, ich finde dieses ganze Herumreisen ziemlich abenteuerlich. Zu Hause wären die Ferien sicher todlangweilig geworden“, verkündete Momoko. „Vor allem ist es hier nicht so heiß wie bei uns daheim. Dort ist jetzt Hochsommer“, sinnierte Yuri, doch allein ihr erster Satz hatte Hinagiku frösteln lassen. „Gefällt es dir in dieser Tiefkühltruhe etwa besser?“ Mit der Hand abwinkend verneinte sie: „Nicht wirklich, aber du musst zugeben, dass es eine Abwechslung ist.“ (Ja, noch besser wäre aber ein Trip nach White Land und anschließend nach Firefield – dann wird man zuerst schockgefroren und darauf geröstet; Gefrierbrand im wahrsten Sinne des Wortes...) Ihr Chauffeur war schnell zurück und hatte bereits telefonisch zwei weitere Taxis verständigt, die sich vor dem an den Bahnhof grenzenden Gebäude einfanden. Die Taxis glichen ovalen Schüsseln, die über dem Boden zu schweben schienen, es aber nicht wirklich taten. Tatsächlich befanden sich Metallschienen ähnlich den Kufen eines Schlittschuhs unter den Taxis. Die Metallschienen erhitzten sich beim Aktivieren des Motors und tauen den Boden an, so dass das Taxi über den Wasserfilm gleitet. Schließlich waren die Liebesengel froh, als sie sich in den Fahrzeugen zurücklehnen und die an ihnen vorbeirauschende Stadt genießen konnten. Zwar befand sich die viel belebtere Innenstadt noch in weiter Ferne, aber jetzt bereits stachen die Gebäude hervor und boten eine herrlich erleuchtete Skyline aus Häusern, die alle von einer türkisblauen Eisschicht überzogen waren, die im Gegenlicht golden schimmerte. Mittlerweile bemerkten sie auch wie alle Fahrzeuge auf den Straßen zögerlich wieder in Bewegung kamen und die vorher wie erstarrt wirkende Stadt mit neuem Leben füllten. Etwa eine halbe Stunde dauerte die Fahrt, dann erhoben sich deutlich die pilzförmigen Verwaltungsgebäude, von denen das Zentrale am größten war. Aus dem Häuserdschungel stachen sie nun hervor und ragten hoch auf, als die Taxis anhielten und die Fahrgäste ausstiegen. „Also, da wären wir. Das hier ist der Verwaltungskomplex der Stadt. Das Büro, das ich meinte, ist ganz oben. Und mich müsst ihr nun entschuldigen, ich muss meinen Kram wegbringen und dann gleich wieder an die Arbeit.“ Nach japanischer Sitte verneigten sich alle acht kurz, bezahlten die Fahrt und gingen (auch wenn die japanische Sprache in der teddsanischen Welt mittlerweile durchaus vertreten sein dürfte, die Gepflogenheiten des Landes kennt dort keine Sau). Sie betraten gemeinsam die Treppe zum Gebäude und konnten durch eine weitere Glastür mit roten Heizlinien eintreten. Gebranntes Kind scheut das Feuer: Hinagiku wagte sich nicht mehr, der Tür zu nahe zu kommen und trottete hinterdrein, als alle anderen hindurchgegangen waren. Im Innern des Gebäudes fanden sie den typischen Baustil von White Land vor. Weiß, überall weiß. Das Material wirkte fast silbern. Zur Linken führte ein langer Gang davon, vor ihnen lag eine Treppe zu einer Erhöhung des ersten Stocks und dahinter waren bereits die Aufzüge zu erkennen. Ganz rechts befand sich eine Rezeption. Hier trennten sich die Wege der Gruppe und des Taxifahrers. Ein Wachposten in der typischen, schwarzen Regierungsuniform mit der Waffe am Gürtel stand neben dem linken Gang und gab sofort einige Erklärungen ab, als sie auf ihn zutraten. Zuerst deutete er auf den Gang: „Boçorhakh! Batarhigjel jobidh. Mivhos-Sether’rhi’warhatçadzh odjo. Çirhakhen jebadh.“ (Übersetzung: Achtung! Garderobe hier. Aufenthalts- und Versammlungsräume oben. Aufzüge dort.) Yuri verneigte sich knapp als Dank. „Ich schlage vor, wir werden als erstes diese dicken Thermoanzüge los“, sagte sie zu den anderen. Die Anzüge, die ihnen freundlicherweise vom Taxifahrer übergeben worden waren, brachten sie in die Garderobe. Anschließend waren sie wie in einem Taumel der Neugier, dieses neue Gebäude zu erkunden. Auch Yuri merkte man an, dass sie einen solchen Ort zum ersten Mal sah. „Wie die das alles hier aufgebaut haben, ist phänomenal“, rief Hinagiku lauthals, als sie auf die Aufzüge zusteuerten. Diese waren viel nobler, als sie in ihrer Heimat je welche gesehen hatten. Eine durch und durch silberne Tür verschloss ihn. Sie spiegelten sich darin. Ein Druck auf einen ovalen Knopf genügte, er leuchtete blau auf. Ohne den Aufzug hören zu können, warteten sie. Dann, ganz plötzlich, öffnete sich zunächst die silberne Tür und ließ eine metallisch goldene Tür zum Vorschein kommen, die sich nach oben hin öffnete. Der Weg in den Aufzug war geebnet. Beeindruckt pfeifend sah Hinagiku von unten nach oben durch den zylindrischen Aufzug, der im Inneren ebenso metallisch spiegelnd war wie außerhalb. „Ist ja alles pikobello. Dass die Teddsaner so reinlich sind, wusste ich gar nicht“, sagte sie (hehe, sind sie auch nicht; alles Wahlpropaganda des werten Herrn Vizepräsidenten, ihr solltet erst einmal die Nobelklötze von Gebäuden in Zimhagan von innen sehen). Unter den Staunensrufen von Momoko und Hinagiku verließen sie den Aufzug auch wieder, als sie im 36. Stockwerk angekommen waren. Yuri ging schweigend neben ihnen, mit schamgebeugtem Kopf. Die anderen – Scarlet, Yosuke, Takuro, Kazuya und Hiromi – kamen hinterdrein und versuchten, sie noch einzuholen, denn etwas schien sie zu beschäftigen. „Du sag mal, Yuri. Habe ich nicht vorhin gelesen, dass dieses Gebäude hier 40 Stockwerke hat“, wandte Jamapi seine bisher unterdrückte Frage an die brünette Führerin der Gruppe. „Das stimmt auch, Jamapi“, antwortete diese. „Und was machen wir dann hier im 36. Stockwerk“, wollte Hinagiku wissen. „Nichts weiter, ich wollte mir nur einmal die Etage der großen Bosse ansehen. Wegen einer uralten Bewandtnis befindet sich in allen Verwaltungsgebäuden die Ebene der Geschäftsführer in Etage 36.“ Momoko und Hinagiku wollten zu schimpfen anfangen, aber ein dringender Ausspruch entfuhr Momoko. „Puh, was ist das hier nur für eine Affenhitze.“ Tatsächlich empfanden es zumindest Hinagiku und Momoko als auffallend warm. Die Grünhaarige hatte gleich eine Erklärung dafür parat. „Das kommt bestimmt daher, dass es draußen so kalt ist und die Leute hier wärmere Gefilde gar nicht mehr richtig gewöhnt sind. Daher müssen sie in ihren Räumlichkeiten natürlich immer ausreichend geheizt haben, damit sie keinen Kälteschock bekommen.“ (netter Versuch, aber das ist nicht der Grund). Über die 36: Die Sache mit der 36 stammt aus der präimperialistischen Zeit der teddsanischen Welt, als alle noch diesem Mythos von der glücklichen Entwicklung der teddsanischen Kultur erlegen waren und die Bürotürme in Mute und Sim City wie Pilze aus dem Boden schossen. Und zwar galt nach alter Regel, dass in den hohen meist in Glasdächern auslaufenden Wolkenkratzern immer die oberste Etage auch den höchsten Herren vorbehalten war. Als aber einmal ein heftiger Sturm über Mute City hinweg fegte, der vermutlich durch die extremen Winde aus Death Wind hergetragen worden war, wurde die oberste Etage eines der führenden Regierungsgebäude von einer starken Böe einfach herunter gerissen und 30 Regierungsbeauftragte stürzten in den sicheren Tod. Dies sahen die Teddsaner als eine Strafe des Himmels an. Denn in der altvorderen Zeit der Götter und Kaiser hatte das Volk von Theyzan gegen die Götter aufbegehrt und einen Bruch zwischen dem Himmelreich und der teddsanischen Welt herbeigeführt (dies wird mit Den Epias-Briefen wohl verständlicher werden). Nun wurde angenommen, dass die noch immer existierenden Götter glaubten, die Teddsaner wollten mit dem Bau dieser hohen Türme den Himmel ankratzen und dieses Reich auch noch für sich beanspruchen. Daher wurden dieser Sturm und die Zerstörung der obersten Etage als Racheakt von Razhan Wyvharn, dem obersten, teddsanischen Gott gesehen und die Regierungschefs blieben seitdem der obersten Etage fern. Die Zahl 36 wurde als neue Etage der Regierung verabschiedet, weil damals die berühmte Epias-Dynastie bzw. deren zwei Regenten Dalhen und Meiy zur Beilegung des Streits zwischen Göttern und Teddsanern beigetragen hatte (nach den beiden teddsanischen Schriftstellern Marvhon Belhebagh und Serverhin Baghnaçadzh). Und diese Dynastie ist die 36. Dynastie der Herrscher gewesen. Bullenhitze in Bauwerken teddsanischer Art: Hinagikus Theorie klang ja ganz plausibel, aber die Wahrheit ist wieder einmal absolut verrückt. Denn es handelt sich bei der Temperatur um exakt 25° C, was vom teddsanischen Gesetz so geregelt worden war. Man weiß inzwischen, dass Teddsaner als Angehörige einer Bär-Mensch-Rasse sehr gemütliche Wesen sind, die dämmerige Kneipen, kuschelige Betten und warme Höhlen mögen. Da ihnen von alters her eine ganze Jahreszeit Schlaf fehlt (wegen des ausbleibenden Winterschlafes) mögen sie erst recht alle lauschigen Plätze und ziehen daher Teppiche und gepolsterte Sitze kalten Parkettböden oder Fliesenwänden vor. So wurde durch Vizepräsident Wolheverhan Pattabayhe kurz nach Amtsantritt des Präsidenten gesetzlich festgelegt, dass alle Innenräume von öffentlichen Gebäuden eine optimale Temperatur von 25° C haben sollten. Man kann sich also darauf verlassen, dass in 90% aller öffentlichen Gebäude des Teddslandes eben diese Temperatur vorherrscht. Allerdings haben sich die Teddsaner bereits vor der gesetzlichen Verabschiedung an die Temperaturregelung gehalten. Zu dem Gesetzesentwurf sagte der Schriftsteller Baghnaçadzh, genauso gut könne man ein Gesetz erlassen, wonach jeden Morgen die Sonne aufzugehen hat. Dass Gesetz hat aber auch einen anderen Nutzen: Stellt nun ein Teddsaner mit einem Thermometer eine Raumtemperatur fest, welche die vorgeschriebene Musterwärme um mehr als 3° C über- oder unterschreitet, kann er gegen die Firma, der das Gebäude gehört, wegen Nichterfüllung staatlich verhängter Auflagen klagen. Wird seinem Antrag stattgegeben, bekommt die Firma einen Gnadenversuch, die ordentliche Temperatur wiederherzustellen. Sollte dies nicht gelingen, wird das Gebäude geschlossen und der Firma wird die Handelslizenz entzogen. Harte Regeln, aber den Teddsanern bedeutet Wärme viel. Nur werden einige Ausländer ihre Probleme mit den andauernden 25° C haben und auch einige stark schwitzende Teddsaner sind nicht froh über dieses Gesetz (Gallipi beispielsweise). „Ist euch schon einmal etwas aufgefallen“, fragte Momoko plötzlich nachdem sie sich mehrmals um sich selbst gedreht hatte, „Hier in der Regierungsetage sehen alle Türen völlig gleich aus und sie sind so seltsam gewölbt.“ „Ja“, erklärte Yuri, „Die Türen sind nach außen gewölbt und tragen am rechten Türflügel die silbernen Schilder mit Namen und Firma des Beamten. Außerdem sind diese Türen immer metallisch schwarz und haben diese goldenen, geschwungenen Angeln. Es sieht sehr kunstvoll aus, nicht wahr? Ich glaube, das sind stilistische Überbleibsel aus der Zeit des Präimperialismus.“ (Is’ rischtisch!) „Na, ich glaube aber weniger, dass wir hier einfach so klopfen sollten. Der Taxifahrer sagte doch, dass wir die Sachbearbeitung erst ganz oben finden“, meinte Yosuke. „Na dann auf nach oben, Yoyo-Maus, so etwa“, rief Hiromi heiter. Nur wenige Augenblicke später wurde der linke Flügel einer Doppeltür aufgeschoben und ein Teddsaner im schwarzen Anzug schaute heraus, der mit zuckendem Augenlid nachfragte: „Aber sonst geht’s gut, ja?!“ Yuri verbeugte sich knapp: „Ja, bestens, sie hat das öfter.“ Darauf machte sie sich daran, die anderen wieder in den Aufzug zu schieben. Im 40. Stockwerk waren die Gänge breiter und ausladender. Sofort neben dem Aufzug erwartete sie ein Schalter vor einer Trennwand, daneben eine sich ihnen öffnende Glastür in den Bürokomplex. Der oberste, pilzförmige Gebäudetrakt war reserviert für Bibliothek und Verwaltung. Am Schalter saß ein bartloses Pickelgesicht im violetten Dienstpullover dessen Gesichtsfarbe den Eindruck erweckte, als benutze es Bartwichse als Abführmittel. Yosuke schob ihm das so lang schon mitgeführte Flugblatt zu. „Wir wollten fragen, ob so was in der Art noch existiert.“ Der Beamte beugte sich einmal so tief darüber, dass man meinte, er wolle die Farbe abschlecken, dann verzog er das Gesicht und winkte ab. „Bin ich nicht für zuständig. Müsst ihr zum Schalter 20A.“ Ein wenig Missmut war da schon in der Bauchgegend, sei es nun aufgrund des mürrischen Beamtentons oder in Befürchtung eines irren Beamtenmarathons von A bis O und wieder zurück. Wie auch immer, Schalter 20A befand sich links durch eine Glastür hindurch und hinein in einen weiteren Büroabschnitt mit angeödet tickenden Bahnhofsuhren und noch viel angeödeteren Gesichtsruinen - von gerade 4 Stunden Arbeit pro Tag (oh, ich hatte ganz vergessen, dass diese Damen und Herren selbstredend der Ausbund an Arbeitswut sind, den das teddsanische Land schon seit der Republik so verzweifelt gesucht hatte...) Nein, man konnte kaum davon sprechen, dass sich ihr Etagensport dem Ende näherte. „Schalter 49B, hier raus in den Hauptgang und immer gerade aus und dann rechts durch die Schiebetür – ist sogar automatisch“, verriet die Dutt tragende Frau mit begeistertem Grinsen (mehr Fortschritt hätte ihr vermutlich einen allergischen Schock eingejagt). Dort angekommen, traten sie durch die automatische Schiebetür in einen allein schon seiner Ausstaffierung wegen „helleren“ Raum. Hell waren auch alle anderen Wände... ja, hell... hellgrau, steril und impotent. An diesen Wänden klebten über Massen von Flüssig-, Sekunden-, Stunden- und Trockenkleber Reiseplakate und -prospekte, dem in ihren Händen gar nicht unähnlich. Ein erster Hoffnungsseufzer drohte ihnen zu entfleuchen. Aber zu früh gefreut... Momoko übergab diesmal dem Mann in Tweedjacke und blauer Brille das Zettelchen. „Haha, den Schrott verkaufen sie noch“, lachte er, als er einen flüchtigen Blick darauf warf. Was derweil so interessant über seinen Rechnermonitor flimmerte, konnte keiner von ihnen von dort aus sehen (es muss die Spiegelung seines Grinsens gewesen sein). „Nein, das haben wir nicht gekauft, sondern gefunden. Sagen Sie, wird dieser Dienst noch angeboten?“ „Jaaa... wird er. Habe aber einige, schlimme, schmierige Sachen darüber gehört. Da soll doch glatt irgendein Perverser diese Fahrten ausnutzen, um den Teilnehmern – symbolisch oder eben nicht symbolisch gesprochen – in den Schlüpper zu grabschen.“ (wenn besagter Perverser nun in einer Sprechblase auftauchen könnte, würde er beteuern: „Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts!“) „Ach so“, wunderte sich Hinagiku, „Dann wird das also mittlerweile gar nicht mehr darüber betrieben?“ „Nein, nein, so habe ich das nicht gemeint. Nur lag der Dienst wegen dieser Geschichte in den vergangenen Jahren auf Eis. Offensichtlich gibt's ihn aber noch. Dieser Sittenstrolch soll ein ums andre Mal in Junktown auftauchen und die Beziehungen zwischen Junktown und der verbotenen Stadt aufrecht halten. Und weil Junktown - das darf ich aber nicht zu laut sagen - auch ein Kontaktpunkt dieser Route ist, läuft das dann wieder auf uns zurück. So ist’s gemeint.“ „Und Sie arbeiten im Auftrag dieses Dienstes“, hakte nun Kazuya nach. Scheel sah der Bebrillte zu ihm auf, als hätte Kazuya einen obszönen Witz gerissen. „Hehe, nur indirekt. Ich will weder mit diesem Volk in Junktown noch mit dem in der verbotenen Stadt irgend etwas zu tun haben. Nicht, weil ich was Persönliches gegen sie habe, sondern weil es meinen Ruf schädigen würde.“ „In diesem heruntergekommenen Büro haben Sie noch einen Ruf zu verlieren“, fragte Hinagiku in ihrer gnadenlosen Ehrlichkeit. Der Mann ließ verdrossen den Kopf hängen. „Hast ja Recht. Im Grunde sind wir hier auch nicht besser dran. Aber du kannst dir sicher denken, wie’s läuft: Mit 23 Lenzen kam ich her, mit nicht mehr als ein paar geschmierten Brötchen und jeder Menge Zuversicht – hauptsächlich eingetrichtert von meiner Mutter, die wollte, dass aus mir was wird. Ich habe nie verstanden, weshalb sie meinte, das könne mir ausgerechnet hier gelingen. Und dann komme ich hier am Raumhafen an und alles, was mir mein teddsanischer Gastgeber an der Rezeption da gelassen hatte, war ein alter Werbewisch, auf den mit schwarzem Filzer ‚Komm her!’ und eine Adresse geschrieben stand. Seitdem ging es bergab mit mir... oder besser bergauf, wenn ich bedenke, wie ich angefangen habe. Was Gutes hat es ja auch. War man einmal so tief unten, kann man quasi nur noch aufsteigen. Und dabei hatte ich - da wo ich herkam - richtig gute Chancen. Ich habe meine Hochschule mit Auszeichnung verlassen, sprach vier Sprachen in Gebetform und das im Schlaf, hatte schon mehrere Praktika voll und war gefasst auf eine Übernahme an irgendeiner Stelle. Und dann glaubt meine Mutter, ich könne hier groß rauskommen. Das einzig Große in dieser Welt ist der lächerliche Widerspruch zwischen dieser präimperialistischen Protzerei und den deprimierten Visagen der Teddsaner. Das Eine sag’ ich euch: Sucht euch überall eine Arbeit, aber bitte nicht hier!“ Gemeinschaftlich erleichtertes Schnaufen (von manchen leiser, von anderen lauter) über das Ende des trauerschweren Vortrags. „Eine Runde Mitleid“, spottete Hinagiku angriffslustig, „Oh, tut mir leid, Mitleid ist aus. Sind Sie jetzt fertig mit dem Gejammer?!“ Der Brillenträger ordnete seine Papiere und seufzte dann auch. „Ja, schon gut. Ich sollte wirklich zu jammern aufhören und mich freuen, dass ich hier im Warmen sitze und wenigstens eine Arbeit habe, ganz anders als all diese armen Schweine in…“ Er hielt inne, blickte zu ihnen auf und wirkte zum ersten Mal verstört. „Äh… wohin, sagtet ihr, wollt ihr noch gleich?“ „Das wissen Sie doch mittlerweile“, protestierte Momoko, „In die Stadt dieser Verbindung, was immer das auch sein soll.“ Der Mann deutete energisch mit dem Zeigefinger auf das Kleingedruckte am unteren Rand des Prospekts, wo stand, dass der Alkohol - nebenbei bemerkt - spottbillig sei. „Euch ist schon klar, was dieser Punkservice ursprünglich war, oder?“ „Woher soll uns das klar sein, bisher hat niemand uns etwas Genaues darüber sagen können“, warf Kazuya ein. „Hat Marvhelh nichts gesagt“, fragte der Mann, von einer plötzlichen Geisteseingebung getroffen. „Sie kennen Marvhelh Labravhe? Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?“, fragte Yuri (vielleicht, weil es seinem Siebkopf entfallen war). „Natürlich kenne ich ihn. Er ist Mitorganisator des Punkservice und ich bin…“ Er druckste einen Moment herum, als scheue er sich, eine unangenehme Wahrheit auszusprechen. „…ich bin der Wortführer des Punkservice. Is‘ ja auch egal. Ihr geht hier nicht in ein Ferien-Resort für die gesellschaftlich Höhergestellten. Die Stadt ist ein Moloch im wahrsten Sinne des Wortes und ihr geht dort auf eine Sauftour! Ich hoffe doch schwer, dass keiner von euch mehr minderjährig ist, denn sonst bin ich euch nie begegnet.“ Der einzig Minderjährige in der Gruppe wäre Jamapi, überlegte Momoko bei sich, aber der zählte nicht (wohl auch deshalb nicht, weil er sich die ganze Zeit über hinter Momokos Rücken versteckt hielt). „Wie jetzt, heißt das, wir können da doch nicht hin“, fragte Hiromi erschüttert (während sie versuchte sich an der widerspenstigen Hinagiku vorbei zu drängen). Shobun Mifitaga (stand auf dem Alu-Schild auf dem Schreibtisch) hob die Hände zur Verteidigung. „Nein, nein. Sicher könnt ihr da hin. Is‘ ja euer Leben. Hab‘ nur fragen wollen, ob ihr wisst, worauf ihr euch einlasst.“ Hinagiku stampfte mit dem Fuß auf, ein untrügliches Zeichen für das äußerste Ende ihrer Geduld. „Das wissen wir, verdammt nochmal, nicht! Wir hatten ja gehofft, dass Sie uns was dazu sagen können.“ Mifitaga zuckte unbekümmert die Schultern. „Ich weiß nur, dass jeder, der freiwillig in diese Stadt geht, nicht mehr alle Flusen in der Mottenkiste haben kann. Letztes Jahr lag die Sterblichkeitsrate dort bei… is‘ ja auch egal. Machen wir’s kurz: die Stadt ist gefährlich, nur Deppen gehen rein, ihr solltet trinkfest sein und der teddsanischen Sprache mächtig. Ach und ein paar Judogriffe könnten auch nicht schaden. Wenn ihr’s immer noch wollt, vermerke ich euch als Gruppe in der Liste, ihr habt die Wahl. Wollt ihr die harte Tour oder wollt ihr sie nicht?“ So plötzlich zu einer Entscheidung gedrängt, gerieten die Freunde doch ernstlich ins Zögern. Keiner wollte entscheiden, vor allem aber wollte keiner für den anderen entscheiden und an Jamapis herum huschenden Augen hinter Momokos Rücken ließ sich ablesen, dass er gerade darüber nachdachte, ob es vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war, die Liebesengel zu begleiten (darüber hätte er vielleicht vor der Abreise nachdenken sollen). Schließlich wandte sich Momoko kleinlaut an Mifitaga. „Können… können wir wohl kurz rausgehen und das besprechen? Selbst wenn ich wohl… glaube ich jedenfalls, die Anführerin bin, habe ich kein Recht, für meine Freunde zu entscheiden. Also, dürfen wir…“ „Wenn’s denn dem Frieden dient“, erwiderte der Wortführer stoßgebetartig, „Hauptsache, ihr diskutiert nicht, bis es taut.“ Um Yuris Lippen zuckte es, als sie sich zum Gehen umwandten, doch sie konnte sich das Lachen verbeißen (Tau in White Land, das is’n Kracher). Sie verließen die Verwaltungsetage und fuhren mit den Aufzügen ins Erdgeschoß zurück, wo sie sich unbemerkt vor den Eingangstoren nach links wandten und in einen leeren, weißen Raum flüchteten, offensichtlich so etwas wie eine zur Zeit geschlossene Kantine (hehe, das wird sie auch bleiben, weil alle großen, teddsanischen Bosse zum Essen vornehme Restaurants aufsuchen). „Also, was tun wir jetzt“, eröffnete Momoko die Diskussion. „Welche Alternativen haben wir denn“, fragte Takuro. „Unsere Alternative lautet, wir blasen alles ab“, erklärte Momoko, „Irgendwo hier wird sich ein Händler finden, der uns nach Hause zurückbringt. Nur… ich weiß nicht, ich käme mir dabei so… klein vor. Als hätten wir gegen einen besonders fiesen Dämon gekämpft und müssten nun das Feld räumen.“ Scarlet meldete sich zu Wort. „Das Gefühl verstehe ich nur zu gut, Momoko, mir ginge es genauso. Aber was denkt ihr? Gehen oder bleiben?“ „Also ich hätte diese berüchtigte Stadt schon gern gesehen, bevor ich sie berüchtigt nenne“, verkündete Yosuke großspurig (ohne zu ahnen, dass es Dutzende gäbe, die sie berüchtigt nennen würden, ohne sie auch nur namentlich zu kennen). „Yoyo-Maus hat Recht, ich will sie auch sehen, etwa so“, pflichtete Hiromi mit heftigem Kopfnicken bei. Jamapi hüllte sich in Schweigen, Kazuya enthielt sich auch vorsichtshalber der Stimme und so sah alles nun auf Liebesengel Lily. „Was ist mit dir, Yuri“, wollte Momoko wissen, „Deinetwegen, könnte man sagen, sind wir ja erst hier gelandet.“ Yuris Blicke straften sie mit Empörung. „Momoko, bitte stell‘ es nicht so dar, als sei ich Schuld daran gewesen.“ „Na-Natürlich tu ich das nicht“, ruderte sie zurück, „Sagen wir, wir sind dir zuliebe hier gelandet und wissen nicht, ob es noch immer das ist, was du willst.“ Yuri stand etwas einsam an einem der großen Fenster und blickte hinaus auf den goldenen Glanz der Häuser in ihren Mänteln aus Eis und kam sich mit einem Mal auch wie in Eis gefangen vor. Den ganzen Sommer lang, war sie ihrer Mutter bei Näharbeiten zur Hand gegangen, doch während sie aus Langeweile Kazuya in allen möglichen, lächerlichen Kostümen gesehen hatte, waren ihr auch einige, viel furchterregendere Bilder im Traum erschienen. Allein ihre Mutter, die mit versonnenem Blick einen Hochzeitsanzug für Kazuya nähte, wäre genug gewesen, doch das andere Mal hatte sie geträumt, ein Dämon hätte sie getötet und sie wäre (aufpassen, der ist besser, als das tauende White Land) als sein Trikot wiedergeboren worden. Und wenn sie noch ehrlicher gewesen wäre, hätte sie zugeben müssen, dass sie ihren Sturz nach dem Fußballspiel damals noch hätte abfangen können. Sie hatte bewußt darauf verzichtet, weil sie sich gewünscht hatte, vor allen anderen in seinen Armen zu liegen. Und, ja, jetzt wünschte sie sich nach Hause zurück, wo sie sich in das Schneckenhaus ihres Engelssymbols Reinheit & Unschuld verkriechen könnte und nicht mehr darüber nachdenken müsste, was eigentlich mit ihr los war. Ganz offen gesagt, fürchtete sie sich weniger davor, wo ihre gemeinsame Reise sie hinführen konnte, als davor, wo ihre eigene Reise sie hinführen mochte. Aber, konnte sie eigentlich noch zurück? Die anderen hatten sich mehr oder minder einstimmig dazu entschieden, die von Mifitaga angekündigte harte Tour zu versuchen. Wie stünde sie dann da, wenn sie jetzt Widerspruch einlegte? Sie gab sich geschlagen. „Gut“, sagte sie und straffte die Schultern, „Ich weiß zwar nicht, was uns eine Beteiligung an einem Trinkgelage bringen soll, aber letztendlich entscheiden wir ja wohl, was wir in dieser Stadt machen oder nicht. Und ich finde, wir sollten sie uns wenigstens einmal ansehen.“ (ob sie ihre Meinung wohl später noch ändern wird? – ich denke nicht). Wieder gemeinschaftlich erleichtertes Schnaufen (nur Jamapis Laut kam einem Todesseufzer näher). „Da wir unsere Konferenz ja nun beendet haben“, schloß Momoko, „schlage ich vor, wir gehen zurück und lassen uns erzählen, was dieser Punkservice uns für die Weiterreise bieten kann.“ (die Antwort wird euch nicht gefallen). Shobun Mifitaga blickte nervös umher, als die achtköpfige Gruppe sich erneut seinem Schreibtisch näherte, denn mittlerweile lugten nicht wenige, glotzende Mitarbeiterköpfe über die Ränder der Bürotrennwände. „Habt ihr’s jetzt, ja? Fein, ich würde auch vorschlagen, wir erledigen das hier. Ihr zieht mir mittlerweile zu viel Aufmerksamkeit auf euch.“ „Das ist Ihr Problem“, schnappte Hinagiku, „Sie wollten, dass wir entscheiden? Bitte, wir haben entschieden.“ „Wir machen es“, verkündete Momoko, „Also, was können Sie uns anbieten?“ „Zunächst mal das hier.“ Mifitaga kramte kurz in einer Ablage unter dem Schreibtisch und schob dann ein Klemmbrett zu ihnen herüber – darauf ein Zettel mit einer kurzen Erklärung und einigen Spalten für Unterschriften. „Was soll das sein?“, wollte Momoko wissen. „Eine Verzichtserklärung. Darüber, dass ihr euch für diese Reise aus freien Stücken entschieden habt, nicht durch arglistige Täuschung, Irreführung oder unter Androhung von Gewalt. Außerdem besagt diese Erklärung, dass ihr die volle Verantwortung für euer Handeln übernehmt und für gar nichts uns die Schuld geben werdet. So die Standardprozedur. Der Punkservice haftet für nichts, insbesondere nicht für den Verlust von Erinnerungen, Gliedmaßen oder dem Leben. Tragt den Gruppennamen und die Unterschriften aller Beteiligten ein.“ Als er sein Klemmbrett wieder hatte, setzte Momoko noch einmal an. „So, was können Sie uns nun anbieten?“ „Nun, ich würde sagen: eine Route… wie ihr von hier aus weiter kommt. Also, die Züge hier in White Land sind recht zuverlässig – wenn es nicht gerade einen Schneesturm gegeben hat. Kehrt zurück zum Bahnhof und nehmt den Zug G12, fährt von Gleis 23. Der Zug bringt euch direkt zur Baçodekh-Grenze. Die Grenze liegt übrigens mitten in der Walachei, da ist kein bewohnter Ort in der Nähe. Den Grund dafür“ – er warf einen kurzen Blick auf Yuris schulkonform erhobene Hand – „kennt ihr ja schon. Die Züge hier sind nur für das Klima von White Land konzipiert – mit anderen Worten, wärmer als -25°C ist zu viel für so einen Zug. Dann kann er nicht mehr fahren. Auf der Baçodekh-Grenze allerdings erhöht sich die Temperatur nach nur 500 Metern in östliche Richtung von -40° auf +10°C. Deshalb haben sie hier einen Umsteigebahnhof eingerichtet. Dort fährt der zweite Zug G12 weiter – einer, der normalen Bedingungen angepasst ist. Er wird euch in unter zwei Stunden nach Clokhaçadzh bringen. Von dort aus ist es leicht: in Clokhaçadzh nehmt ihr den Interkontinental-Express nach Batushekh auf dem Nordkontinent und von dort aus gelangt ihr per Fernbus nach Lighttown. Hier wiederum ist ein weiteres Mitglied des Punkservice ansässig, das euch sagen kann wie’s weitergeht. Seine Adresse steht auf dem Ausdruck eurer Route. Einen Augenblick, bitte.“ „Moment mal“, mokierte sich Hinagiku plötzlich, „soll das etwa alles sein, was Sie uns anbieten!?“ „Ja, freilich“, gab der Bebrillte offen zurück, „habt ihr gedacht, wir übernehmen die Reisekosten? Dafür müsstet ihr uns erst einmal bezahlen.“ Yuri meldete sich zu Wort und verbarg wachsenden Unmut unter ihrer kühlen Beherrschtheit. „Wir dachten, das hätten wir bereits. Von Marvhelh Labravhe wissen wir nämlich, dass dieser Punkservice sich hauptsächlich über Spenden finanziert.“ Mifitaga wuchs ein hämisches Grinsen. „Ja. Spenden, von denen wir hier keine einzige Münze sehen. Keiner darf die verbotene Stadt verlassen, genauso wenig wie Geld, das dort verdient wurde. Die stecken alles in die Sanierung des Punknetzwerkes und der Unterkünfte. Wir finanzieren uns nur über Werbung. Die Gilde der Händler bezahlt uns dafür, dass wir solche Prospekte verteilen und sie als führendes Transportunternehmen anpreisen und die Händler bringen uns dann die Besucher her. Da aber in den letzten Jahren nur noch inoffiziell – das heißt: nicht über uns – Besucher in die verbotene Stadt kamen, sahen wir von deren Geld keinen müden TeddsDollar. Woher sollen wir also das Geld haben, um solche aufwendigen Fahrten zu bezahlen?“ „Und wenn uns das Geld ausgeht“, fragte Scarlet. „…habt ihr ein Problem“, antwortete der Wortführer, „Genauso, wenn ihr in Lighttown niemanden mehr antrefft. Die Route ist nämlich nur noch bis Batushekh sicher. Von unserem Kontaktmann in Lighttown hab‘ ich seit fünf Jahren nichts mehr gehört.“ Yuri biss sich in die Wange. Das wird ja immer besser, fauchte sie innerlich. „Wie dem auch sei“, beendete Mifitaga und schob den fertigen Ausdruck zu Momoko herüber, „hier ist eure Route. Ihr habt euch entschieden. Macht das Beste draus. Und ganz viel Glück. Wird euch zwar nichts nützen, aber dass ich’s gesagt habe, erspart mir das schlechte Gewissen.“ Eine Viertelstunde später standen sie (innen) vor den verglasten Eingangstoren des Verwaltungsgebäudes. Die roten Heizlinien darin entsprachen den Zornesadern an den Schläfen einiger Damen und Herren. Man konnte sagen, sämtliche Liebesengel waren nun ernstlich ein wenig verstimmt (man konnte sogar sagen, sie waren so verstimmt, dass es die teddsanische Live-Musik an Schrecken übertroffen hätte). „Das ist doch eine Unverschämtheit, was erlaubt dieser elende Dreckskerl sich eigentlich“, wütete Hinagiku. „Ich bin auch nicht begeistert“, pflichtete Yuri bei, „aber es war ein Argument. Wenn es so riskant ist, sich in diese Stadt zu begeben, würde kein Unternehmen – schon gar keins, das in Geldnöten steckt – Haftung für Unfälle übernehmen wollen, ganz zu schweigen von Haftung für die Unzufriedenheit derjenigen, die sich unter dieser Fahrt eine Ferienreise vorgestellt hatten.“ Scarlet schnaubte verächtlich. „Na, den Zahn hat er uns wohl eben gezogen.“ Hinagiku gebot ihr Einhalt. „Oh, jetzt sind wir es, die jammern und das kann ich echt nicht ab. Takuro, willst du dich wieder nicht beteiligen? Was machst du da eigentlich?“ Er sah auf und rückte mit schüchternem Lächeln seine Brille zurecht. „Na ja, ich mache mich nützlich, könnte man sagen. Unser Hauptproblem besteht doch darin, dass wir nicht wissen, wie wir die weitere Reise bezahlen sollen, oder? Also rechne ich aus, welche Kosten noch auf uns zukommen könnten.“ Hinagiku blinzelte verblüfft. „Was, das kannst du?“ Takuro lächelte wieder sein scheues, fast trauriges Lächeln. „Natürlich. Es hat ein wenig mit Permanenzenberechnung zu tun. Ich habe in Port Town erfahren, wie viel der Bus kostet und von einigen Berichten weiß ich, dass die öffentlichen Verkehrsbetriebe in dieser Welt ständig in Wettbewerb zueinander stehen. Nimmt man neben den Kosten anderer öffentlicher Verkehrsmittel noch die Nummer des Zugs, das Gleis und die Abfahrtszeiten, kann man daraus den wahrscheinlichsten, derzeitigen Tarif der Züge von White Land nach Clokhaçadzh errechnen.“ „Dann lass mal hören“, forderte Yosuke. „Wenn meine Berechnungen stimmen, dann liegt White Land in der Tarifstufe 7. Der G12 ist nicht der beste Zug, dafür aber erschwinglich. Jedenfalls sollte eine Fahrt nach Clokhaçadzh nicht deutlich mehr, als 15 TD kosten (das wären nach Adam Riese 36 € oder 4932,94 Yen). Der Fahrschein wird natürlich durchgehend gelten, d.h. auch wenn wir an der Baçodekh-Grenze umsteigen, gilt der Fahrschein bis nach Clokhaçadzh. Nur über den Interkontinental-Express konnte ich nichts herausfinden, weil er keinem Verkehrsunternehmen angehört.“ Yuri trat plötzlich wieder verlegen auf der Stelle, so wie damals, als sie gestand, ein wenig Teddsanisch sprechen zu können. Diesmal, weil sie etwas Wichtiges beizusteuern hatte – eine Erklärung. In diesem Falle aber waren alle viel zu sehr von Takuros Rechenkünsten gebannt, als auf sie zu achten. Man bemerkte daher ihr stillschweigendes Begehren nach Aufmerksamkeit nicht (wenn das mal nicht ins Auge geht – die meisten, wichtigen Dinge kommen immer erst raus, wenn’s zu spät ist). „Tja, da hätten wir aber immer noch ein Problem: wie kommen wir zum Bahnhof zurück“, fragte Scarlet. „Stimmt“, pflichtete Yosuke bei, „Den Taxifahrer von vorher werden wir nicht noch einmal treffen und zwei andere bestellen, würde unserem Geldbeutel sicher nicht gut tun.“ „Was ist, Takuro“, fragte Hinagiku, „Hast du zu den Taxis auch so eine tolle Rechnung parat?“ „Ich denke schon“, antwortete Takuro und tippte eine Weile an seinem Laptop… „Das Taxi-Unternehmen hat einen sogenannten 1.7er-Tarif. Das heißt, die würden erst einmal 5 TD Anzahlung pro Person erheben.“ Alle rissen verdutzt die Augen auf. „Anzahlung? Wofür denn eine Anzahlung“, fragte Kazuya. „Hier steht, die erheben für den Fall eines Schneesturms und damit verbundenen Auftragsausfall sporadische Kosten für die Bestellung des Taxis, die Anfahrt und dafür, dass sie uns einsteigen lassen. (hehe, dreist, was?) Wenn ich dann die Tachorate schätze, dürfte eine halbstündige Fahrt wie die zum Bahnhof bei normalem Verkehr mit etwa 40 TD für ein Taxi zu Buche schlagen und das auch nur, wenn der Fahrer seinen Tacho nicht frisiert hat, was mich wundern würde. Zur Sicherheit sollten wir von 60 TD pro Fahrt ausgehen. Da wir acht Leute sind und zwei Taxis brauchen werden, zahlen wir also 40 TD Anzahlung und noch einmal 120 für die Fahrt, insgesamt also 160 TD.“ (Summa Summarum also 383,97 € oder 52341,08 Yen für eine Taxifahrt – und dabei hat der gute Takuro ganz die Möglichkeit eines Schneesturms vergessen. Dann nämlich bleibt der Verkehr absolut still stehen, nur der Tachometer läuft munter weiter, so dass man am Ende ganz lässig 200-250 TD bezahlen darf) Hinagiku motzte: „Na wunderbar. Und wie kommen wir jetzt bitte zum Bahnhof? Oder sollen wir hier wirklich festsitzen, bis es taut?“ Hiromi wedelte mit der Hand in der Luft, was wohl so etwas wie schulisches Aufzeigen sein sollte, ehe sie sprach: „Wir könnten doch so einen Bus bestellen, wie den, der uns hergebracht hat, so etwa?“ Yuri schüttelte nachsichtig den Kopf. „Das geht nicht, Hiromi. Die Busse, die Marvhelh Labravhe bestellt hat, sind für die Verhältnisse dieser Stadt nicht gemacht. Sie fahren nur bis in die Vororte von White Land, wo es nicht so kalt ist. Das heißt, dass sie spätestens ab dem Bahnhof nicht weiter in die Stadt hinein fahren.“ Momoko ließ den Kopf hängen. „Uff, daran hätten wir vorher denken sollen. Wie sollen wir nur zum Bahnhof kommen?“ So bedrückt wie sie waren, hatte keiner den teddsanischen Geschäftsmann bemerkt, der eben aus dem Fahrstuhl gestiegen war und nun die Treppe hinab in den Eingangsraum kam. „Ganz einfach“, sagte er in perfektem Japanisch, „Ihr bestellt euch eben einen anderen Bus… wie ich.“ Yuri stutzte. Sie erkannte in ihm eben den Geschäftsmann, der nach Hiromis eigenwilligem Gebrabbel auf der 36. Etage verstört aus seinem Büro geblickt hatte. Gleich darauf zückte er einen Ohrstecker an dessen Kabel sich eine Art Mikrofon befand, drückte einen Knopf und murmelte etwas hinein, das bei näherem Hinhören wie Brezidirh klang. Gleich darauf telefonierte er wohl mit jemandem… „Eydhya, ners-e-banghi caghi-çento sarhe warhitheraiy… Jea, veseydhal jasarha. Disothem-e-çesthra? Thoy.“ (Übers.: Einen Bus Klasse 1 zum Verwaltungszentrum, bitte. Ja, 70 %. 10 Minuten? In Ordnung.) Sprachliche Eigenheiten: An einem Teddsaner merkt man sofort, ob er aus gutem Hause kommt, sprich eine gute Ausbildung genossen hat. Ganz davon abgesehen, dass teddsanische Geschäftsleute nicht abgewrackt nuscheln, sondern viel sauberer sprechen, benutzen sie noch einige, sprachliche Kniffe, die im Allgemeinen als schicklicher gelten. Zum Beispiel setzt der gebildete Teddsaner als Höflichkeitsgeste das „Bitte“ (eydhya) nicht an das Ende einer Frage, sondern an den Anfang. Er spricht die Zahlen vollständig aus, statt sie zu verkürzen (çento statt çen) und er benutzt das kultiviertere „Bindungs-E“, wenn zwei Wörter auf einen Konsonanten enden und anfangen, was die Aussprache schwierig oder unverständlich machen würde (ners-e-banghi). Zusätzlich benutzt er das bessere Wort „Warhitheraiy“ für Verwaltung (sonst wäre es borghaçegh gewesen) und er benutzt das gehobene Thoy, was so viel heißt wie adäquat oder angemessen, kein solches Deppenwort wie Okay. Zudem spricht er die Minute mit dem weicheren Ç statt mit dem harten Ch! Zur Klasse 1: Bei so gut wie allen, teddsanischen Beförderungsmitteln (Zug, Bus, Taxi etc.) gibt es die erste Klasse nicht als Abteil, sondern als eigene Fahrzeuglinie. Entweder fährt man also mit einem Bus der normalen Klasse oder mit einem der Klasse 1. Brezidirh beispielsweise ist ein Unternehmen, das ausschließlich Busse und Taxen der Klasse 1 zur Verfügung stellt. Diese fahren keine speziellen, vorgegebenen Strecken, sondern werden bestellt. Dabei hat der Kunde einen Vertrag mit dem Unternehmen und zahlt feste Preise, kann dafür aber innerhalb eines Monats so oft auf den Dienst zugreifen wie er will. Die Klasse 1 zeichnet sich durch absoluten Fahrkomfort, teuerste Baustoffe und gedämpfte Atmosphäre aus. Die meisten teddsanischen Geschäftsleute bestellen als Standard einen Bus der Klasse 1, der zu 70 % frei sein soll, d.h. nur maximal 30 % der Sitzplätze dürfen bereits mit anderen Fahrgästen belegt sein, die die gleiche Strecke fahren (bei 30 Sitzplätzen dürften also höchstens 9 Plätze belegt sein). Natürlich sollten Leute, die die Klasse 1 nutzen, mit dem Kleingeld nicht sparen. Ein wenig pikiert über die so offen zur Schau gestellte, höhere Stellung standen die acht Freunde abseits und warteten verdrossen, bis acht Minuten später ein pechschwarzer, glänzender Bus vorfuhr an dessen Flanke in goldener Schrift Brezidirh stand und dessen getönte Fenster von innen mit dunkelroten Vorhängen verhängt waren. Der Teddsaner hob seine Tasche vom Boden auf und spazierte zur sich teilenden Eingangstür. Hinagiku wandte sich daraufhin heimlich an Yuri und schimpfte rohrspatzartig: „Wenn ich ein teddsanischer Bonze wäre, würde ich mir auch so ’nen Bus bestellen.“ Schon auf der Türschwelle, wandte sich der Bonze noch einmal um. „Was ist, kommt ihr jetzt mit oder was?“ Wenn sie nicht so fest im Kopf gesessen hätten, wären nun ganze 16 Augen (18, Entschuldige, Jamapi) über den polierten Boden gekullert. Yuri vergaß ihren Anstand und fragte schlicht: „Hä?!“ „Ich hab‘ doch gesagt, dann bestellt ihr eben einen anderen Bus. Da draußen steht er und wartet darauf, dass ihr einsteigt. Oder habt ihr’s euch anders überlegt?“ Minuten schienen zu verstreichen, während man zu der Annahme hätte kommen können, die Eingangshalle sei mit acht frisch lackierten Feuermeldern dekoriert worden, so rot waren die Freunde angesichts ihrer abschätzigen Gedanken angelaufen und etwas zögerlich setzten sie sich alle in Bewegung. Sie hatten ganz vergessen, wie sich White Land draußen anfühlte. Es war, als zögen sich alle Muskeln vor der Kälte krampfartig zusammen, die Haut brannte bis in die untersten Schichten, wie in flüssigen Stickstoff getaucht. Dem Teddsaner hingegen machte die Kälte wegen seines Pelzes gar nicht so viel aus. Wenige Meter waren es nur, die Treppe herunter, dann standen sie vor einer einladenden Bustür, die in einen Innenraum mit herrlichster, teddsanischer Normtemperatur führte. Kaum hatten sie sich aber hinter ihrem Gönner eingereiht, beschwerte sich der Fahrer. „Chengrha Quinhsamer?! Nitha-che masir-e-jodar!“ (Übersetzung: Noch mehr Fahrgäste?! Das war nicht abgemacht!). „Ich sage dir, was nicht abgemacht war“, begann der Geschäftsmann aufgebracht, „Es war nicht abgemacht, dass hier ein völlig leerer Bus vorfährt. Ich hatte absolut klar einen 70 % leeren Bus bestellt.“ Der Fahrer zuckte verwirrt mit den Schultern. „Äh… Je weniger… desto besser, dachten wir.“ „Falsch gedacht. Vielleicht wünsche ich mir ein wenig Gesellschaft, nur nicht zu viel. Diese jungen Leute sind zu acht, d.h. wenn sie sich setzen, haben wir von den 30 Sitzplätzen 8 belegt, womit etwa 73 % frei wären, genau wie abgemacht. Also entweder lässt du sie jetzt Platz nehmen oder ich rufe den Geschäftsführer an und bespreche mit ihm, wie viel 70 % freie Sitzfläche bedeuten.“ Anscheinend war dem Fahrer die Vorstellung einer Beschwerde unbehaglich genug. „Also… etwa 30 % belegte Sitze. Wie abgemacht, ja? Bitte nehmen Sie Platz, wir fahren gleich los.“ Die acht Freunde versammelten sich alle um ihren neugewonnenen Freund im hintersten Teil des Busses. Teddsanische Atmosphäre strahlte dieser aus mit den kleinen, dezenten Lämpchen an der Decke, den roten Vorhängen, dem Teppichboden und den weich gepolsterten, großen Sitzen. Yuri ergriff zuerst das Wort, während die anderen es sich noch bequem machten. „Das war wirklich unglaublich nett von Ihnen. Dürften wir Ihren Namen erfahren, wenn es nicht zu aufdringlich wäre.“ „Haha, ich habe mich ja wohl euch aufgedrängt, also nichts für ungut. Firbatedhs, heiße ich. Firbatedhs Gramhon. Nennt mich Firbatedhs.“ (Das ist so etwas wie ein Freundschaftsangebot, denn eigentlich pflegen Teddsaner einander mit dem Nachnamen anzusprechen). „Oh und keine Ursache dafür, dass ich euch mitfahren lasse. Sagen wir, ich mache das nicht ganz umsonst.“ „Was verlangen Sie“, fragte Yuri. „Hehe, nicht viel mehr, als ein wenig Plauderei. Mich würde brennend interessieren, was so eine bunte Bande wie ihr ausgerechnet in White Land verloren hat.“ Einer nach dem Anderen, stellten sie sich Firbatedhs Gramhon vor und dann erzählten sie (hauptsächlich Momoko und Yuri) die ganze Geschichte, bis nach ihrem Gespräch mit Shobun Mifitaga im 40. Stockwerk des Verwaltungszentrums. Als sie fertig waren, machte Firbatedhs Gramhon den Eindruck, als könne er sich nicht entscheiden, ob er nun amüsiert, erstaunt oder nachdenklich sein soll. „Ha, der olle Mifitaga. Was der erzählt, müsste man unter dem Mikroskop betrachten können, wollte man wissen, ob er nun wirklich die Wahrheit gesagt hat. Der hat mal ein Seminar zum Beschwatzen potentieller Arbeitgeber mitgemacht. Damit wollte er hier wohl groß rauskommen. Jedenfalls beherrscht er die Kunst, haargenau das Gegenteil dessen zu sagen, was er meint, ohne dass man es ihm anmerkt. Uns hat er immer erzählt, er bemitleide dieses arme Pack in der verbotenen Stadt und wir glaubten ihm das, weil wir genauso dachten. Dann aber haben wir ihn auf einer Feier mal abgefüllt und plötzlich fing er davon zu reden an, wie gerne er doch mal in die Stadt kommen und herausfinden wollte, wie es sich dort so lebt – für ein Muttersöhnchen am gefährlichsten Ort des Planeten. Der ist schon komisch. Und ihr habt tatsächlich Marvhelh getroffen und wollt jetzt mit der Tour weitermachen? Dann führt eure Reise wohl nach Clokhaçadzh, nicht wahr?“ „Ja, allerdings“, antwortete Hinagiku, „Wissen Sie irgendwas über die Stadt? Ist sie schön?“ „Oh ja, kann man wohl sagen. Besonders die öffentlichen Badehäuser. In anderen Städten haben sie nur diese zu klein geratenen Waschräume, aber dort… das hat noch Klasse. Leider bin ich nicht so oft da, wie ich’s gern hätte. Mein Weg führt woanders hin. Ich nehme einen Expresszug nach Mute City, dort findet eine Tagung der Logistik-Bosse statt. Ich will wenigstens das klassische Geschäftsessen nicht verpassen.“ Einige von ihnen schmunzelten über so viel teddsanische Offenheit. Jedenfalls hatte ihnen dieser freundliche Wink des Schicksals viel Mühe und vor allem Kosten erspart. In weniger als einer halben Stunde fuhr der Bus während des ersten, leichten Schneetreibens durch die Stadt und erreichte den ihnen bekannten Bahnhofsvorplatz. „Da wären wir. Ich hab nachgeschaut. Ihr müsstet den G12 bis zur Baçodekh-Grenze nehmen und von dort aus nach Clokhaçadzh weiter. Der nächste G12er geht in 30 Minuten, also habt ihr noch genug Zeit.“ Sie bedankten sich nochmals herzlich bei ihm, dann stiegen sie aus dem luxuriösen Bus und nahmen die Beine für den kurzen Sprint zum Vorraum in die Hand. Dort bemerkten sie zwischen den Eingängen zu den Vortragssälen eine Treppe, die sie nach unten in den Bahnhofstrakt hineinführte. Glücklicherweise gestaltete sich die Suche nach dem richtigen Gleis bedeutend einfacher als ihre Suche nach dem Bus bei ihrer Ankunft in Port Town. Hier suchten sie nach nur einem Schriftzeichen und einer Zahl. Mit Yuris Hilfe war beides schnell gefunden, so dass sie wenig später eine lange Treppe bis zum Gleis hochstiegen. Die Gleise befanden sich in langen, glasüberdachten Hallen, die von oben wirkten wie lange, blaue Röhren. Man hatte die Innenräume vollkommen von der Kälte draußen abgeschirmt und teddsanische Normtemperatur hergestellt, was den Freunden abermals ein Gefühl dafür gab, welch horrende Heizkosten White Land innerhalb eines Jahres entstehen mussten. Scarlet machte den Versuch, sich noch einmal zu vergewissern, was sie im Begriff waren zu tun. „Wir hatten ja alle einvernehmlich beschlossen, dass wir das tun wollen, ja“, fragte sie, „Nur, dass jetzt keine Ratte mehr das Schiff verlassen will. Wir stecken alle mit drin.“ Alle nickten gemeinschaftlich (Jamapi nicht, der hatte seit Mifitagas Ausführungen kein Wort mehr verloren und hielt sich in Momokos Tasche versteckt). Der Zug traf fahrplanmäßig ein. Ein recht gewöhnliches Eisengefährt, das selbst wie eine lange Röhre wirkte. Die Übergänge der einzelnen Abteile waren kaum auszumachen. Yuri löste eine Gemeinschaftskarte, dann betraten sie den Zug und nahmen gleich im ersten Abteil acht Plätze ein. Dabei stellten sie doch recht überrascht fest wie leer der Zug geblieben war. Keiner in der Gruppe (mit Ausnahme von Momoko und Hiromi vielleicht) war so unaufmerksam, dies nicht zu bemerken. „Seltsam…“, brachte es Yuri zur Sprache, „dass der Zug so leer bleibt. Dabei ist Clokhaçadzh eine der berühmtesten Städte auf diesem Planeten und der G12 ist einer von drei möglichen Zügen, die man dorthin nehmen kann. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass nur so wenige nach Clokhaçadzh reisen wollen.“ Zu leeren Zügen: Teddsanern kann man im Grunde selten bis niemals bescheinigen, rücksichtsvoll, solidarisch oder am Gemeinwohl interessiert zu sein. In diesem einen Punkt aber strafen sie alle Kulturklischees Lügen, denn die Züge bleiben deshalb so leer, weil Teddsaner ein System entwickelt haben, nach dem sie das Zustandekommen übervoller Züge verhindern. Sicher steckt dahinter nicht in erster Linie das Gemeinwohl, sondern das Eigene. Wenn der Teddsaner eines hasst, dann sind es zu viele Artgenossen auf engem Raum. Deshalb veröffentlichen Teddsaner in den Bahnhofszeitschriften regelmäßig Frequentierungslisten, d.h. sie veröffentlichen einen Bericht darüber wie viele Leute für den entsprechenden Monat oder die entsprechende Woche bereits mit den einzelnen Zügen in die entsprechende Stadt fahren wollen. Andere Teddsaner richten ihre Reisepläne eben danach aus und verteilen sich so intelligent auf alle verfügbaren Züge, dass es so gut wie nie zu einer Überfrequentierung kommt und die Züge so leer bleiben, wie es der Durchschnittsteddsaner mag. Not macht halt erfinderisch und selbst wenn es so solidarisch nicht ist, kann man nur den Hut ziehen vor so viel Einfallsreichtum. Sie haben schon ihre Vorteile, die biestigen kleinen Pelzträger. Der Zug rollte gemächlich und leise vor sich hin, die Landschaft zog vorbei und nun schwanden auch langsam die letzten Sonnenstrahlen und machten Platz für den hereinbrechenden Abend. Nach etwa dreißig Minuten erreichte der für White Land konzipierte Eisschienenzug die Baçodekh-Grenze. Die Damen erkannten beim Aussteigen schon, dass Shobun Mifitaga Recht gehabt hatte: Dieser Umsteigebahnhof bestand aus nichts weiter als aus zwei Gleisen, den dazugehörigen Bahnsteigen, einigen, hohen Lampen und (an jedem Bahnsteig) einer Anzeigetafel, über die unentwegt in goldener Schrift teddsanische Abkürzungen huschten. Das Gleis, welches von White Land herkam, endete einfach dort, wo auch der Bahnsteig endete und auf der anderen Seite war es genauso, nur dass diese Schienen für gewöhnliche, teddsanische Züge gemacht waren und in Richtung Osten in der Dunkelheit verschwanden. Schlotternd stand also die Gruppe im eisigen Abendwind der Ausläufer von White Land (Jamapi nutzte den Vorteil seiner geringen Größe und verkroch sich – nach wie vor – in Momokos Tasche) und horchten erleichtert auf, als endlich die langersehnte Durchsage kam… „Çirhay quinhsamer, boçorhakh! Ço djeç, G-derhes, suh-idhsamun odd’jahi-derhidtch. Eydhya, sasa-ya jeferha!“ (Übersetzung: Achtung, verehrte Fahrgäste! Der Zug G-12 wird bald auf Gleis 2 einfahren. Bitte treten Sie zurück!). Eine neue Zeit: Ähnlich wie es im Französischen das futur simple gibt, existiert auch in der teddsanischen Sprache (vor allem in der Gehobenen) eine Futur-Variante, welche die Zukunft in nur einem Wort ausdrückt. Genau wie bei den Vergangenheitsformen bleiben in dieser die ersten drei Personen Singular gleich und nur an die drei Personen Plural werden die Endungsbuchstaben aus dem Präsens angehängt. Yuri übersetzte es obligatorisch für die Anderen und sehnsüchtig warteten sie, bis auf dem gegenüberliegenden Gleis endlich der Zug nach Clokhaçadzh einfuhr. Dieses Exemplar war deutlich größer und luxuriöser als der Zug aus White Land. Als die Triebmaschine an ihnen vorbeirollte, bemerkte Hinagiku drei Paar große, schornsteinartige Rohre an der Maschine, aus denen violettes Gas strömte. „Wow, abgefahren! Wie fährt so ein Ding eigentlich? Ich hab‘ hier nirgendwo Stromkabel gesehen.“ „Die fahren mit Energiezellen an Bord“, erklärte Yuri, „Energiezellen sind mit flüssigem Byazhin-Gas gefüllt, das in den Motoren verbrannt wird. Auch wenn es nicht so aussieht, es ist eine sehr umweltfreundliche Art des Antriebs.“ „Wahnsinn, Yuri, was du alles weißt“, begeisterte sich Hinagiku, „Das hast du doch nicht alles auf einer Studienreise gelernt?!“ Die durch die Kälte in Yuris Gesicht getretene Röte vertiefte sich noch. „Na ja, ich habe mich auch vor der Reise schon ein wenig informiert.“ Als sie nun sahen wie die letzten Fahrgäste in den Zug stiegen, beeilten sich auch die Liebesengel, der Kälte White Lands zu entfliehen und sich wieder in wohlige, teddsanische Normtemperatur zu begeben. Kaum hatten sie in einem Abteil Platz genommen, rollte der Zug an und fuhr in entgegengesetzter Richtung davon. Die Acht nahmen beinahe das ganze Abteil ein, doch überraschenderweise war auch dieser Zug angenehm leer. „Dieses Teil sieht von innen fast noch besser aus als von außen“, schwärmte Hinagiku. „Und wusstet ihr, dass man mit einer dieser Energiezellen, von denen Yuri sprach, unsere Heimatstadt für ein halbes Jahr mit Strom versorgen könnte“, fragte Takuro. „Was, so lange?“ Momoko blieb vor Staunen der Mund offen stehen. „Wäre das toll, wenn wir diese Dinger in unserer Welt verwenden könnten. Allerdings bezweifle ich, dass die Teddsaner diese Geschäftsidee so einfach aus den Händen geben werden.“ (Da sollte sie gar nicht zweifeln, Teddsaner verschachern nämlich alles, wovon sie glauben, dass es Geld bringt). Schweigend bewunderten sie die edle Aufmachung des Abteils mit roten, gepolsterten Sitzen und holzvertäfelten Wänden, die mit Lampen in goldenen Floralfassungen behängt waren. Ihnen war überhaupt nicht aufgefallen, dass am Bahnsteig ein verdächtig gut gekleideter Teddsaner gewartet hatte, der sein Gesicht fortwährend hinter einer Zeitung versteckt gehalten hatte. Das hätte natürlich auch nur ein Zufall sein können. Zu diesem Zeitpunkt zückte jener gut gekleidete Teddsaner in seinem Abteil sein Mobiltelefon und telefonierte eilig nach Mute City… „Jea, Meshgalha… Piaghey, quitch-e-nitha-xezh-mos waruther.“ (Übersetzung: Hallo, Meshgalha… Ich kann leider nicht kommen.) Sein Gesprächspartner empörte sich... „Nitha-waruther? Mors-e-karhar-tes ibdj çûm shigha?! Mute-City-skhra, ravinhir-mos tors-amha.“ (Übersetzung: Nicht kommen? Veräppelst du mich? Ich habe in Mute City für dich reserviert.) „Che-rivh-mos, Meshgalha. Rhi-piagh-mos quitch… Tilhsi-non jimha shogh-çe caperhevhir-mors.“ (Übersetzung: Ich weiß, Meshgalha. Und ich bedaure es, aber… sagen wir, dass die Neugier mich gepackt hat.) „Çe shogh? Nithada boyegh-mos. Ponherh… sekh quep-laser-e-tes?“ (Übersetzung: Die Neugier? Versteh ich nicht. Was hast du nun vor?) „Sam-mos warbekh-e-clokhaçadzh. Eydhya, samakarhen riçhe-mors-xezher-e-tes?“ (Übersetzung: Ich gehe nach Clokhaçadzh. Könntest du mich bitte vertreten?) „Seth-che baighs masen. Quitch-e-dyrha-mos rivhen, sekh butorhs ‚çe shogh‘.“ (Übersetzung: Wenn’s sein muß. Aber ich will wissen, was „die Neugier“ bedeutet.) „Werha-rivher-tes, Meshgalha. Waruthe warbekh-e-clokhaçadzh seth tes-e-didirh ibdj Mute City. Delhalh!“ (Übersetzung: Das wirst du, Meshgalha. Komm nach Clokhaçadzh, wenn du in Mute City fertig bist. Danke!) Was so auffällt: An einigen, einfachen Dingen bemerkt man, dass hier zwei wohlgebildete Personen miteinander sprechen. Das Bindungs-E wird ständig verwendet, damit die Aussprache nicht so stockend ist und man findet viele Inversionen, die ebenfalls in der gehobenen Klasse üblich sind (Bsp.: nitha-xezh-mos, tors-amha, laser-e-tes). Trotzdem stehen diese beiden einander sehr nahe, denn immerhin redet der Eine seinen Freund mit ‚Meshgalha‘ an, eindeutig ein teddsanischer Vorname. Interessant ist auch, dass der Satz des Freundes 'Mors-e-karhar-tes ibdj çûm shigha' wortwörtlich 'Trittst du mir vor's Bein' bedeutet, was in der teddsanischen Sprache idiomatisch übersetzt wird mit 'veräppeln, verarschen' oder 'zum Narren halten'. Wir können da wohl gespannt sein, was sich noch ergeben wird, denn dieser Teddsaner plant etwas. Es kommt eben selten vor, dass ein Teddsaner von Neugier spricht… Die Fahrt ging weiter, während die Liebesengel Grüppchen gebildet hatten, in denen entweder lieber geredet oder geschwiegen wurde. Scarlet starrte schweigend aus dem Fenster (wie meistens), Hinagiku und Takuro schwiegen (wie immer), Hiromi schwieg auch (sie sah aus wie ein Vulkan, der jeden Moment ausbrechen könnte, so sehr musste sie sich das Reden verkneifen). Kazuya unterhielt sich leise mit Yuri und Momoko schwatzte gut hörbar mit Yosuke. Plötzlich vernahmen alle ein »Ritsch« und Jamapi schälte sich aus Momokos Tasche, wo er nun schon so lange Zeit schweigend (und schmollend) ausgeharrt hatte. „Ach, du lässt dich auch wieder blicken“, fragte Hinagiku bissig, „wir dachten schon alle, du wärst sauer.“ Jamapi spielte den Empörten. „Bin doch nicht sauer, jama. Nur… seid ihr alle wirklich sicher, dass wir uns in solche Gefahren begeben sollen? Das ist ja so, als wären wir damals alle ins Reich der Dämonen gegangen.“ „Also, ich finde, du übertreibst, Jamapi“, erwiderte Yosuke (finde ich nicht… und die verbotene Stadt übrigens auch nicht). „Wir wissen alle, dass es dort gefährlich werden kann“, versuchte Momoko ihn zu besänftigen, „Falls du dich aber um uns oder dich sorgen solltest, kann ich dir etwas versprechen: wir werden alle zusammen bleiben wie immer und wir werden alle gut aufeinander aufpassen, also auch auf dich.“ „Danke, Momokochen, danke, jama“, rief der kleine Knubbel und kuschelte sich gegen ihre Wange. Außerdem, dachte Yuri, kann uns immer noch das Geld ausgehen, bevor wir diesen Kontinent verlassen haben. Das halte ich sogar für sehr wahrscheinlich… Der Engel der Reinheit wurde plötzlich aus seinen Gedanken gerissen, als Scarlet ihn ansprach. „Du, Yuri… wann erzählst du uns eigentlich etwas über die Stadt, in der wir bald ankommen werden. Ich wüsste schon gern, womit wir es dort zu tun bekommen.“ Yuri rutschte nervös auf ihrem Platz herum und betete, dass sie jetzt nicht rot anlief. „Na ja… wisst ihr… ich erzähle euch am besten erst etwas über die Stadt, wenn wir angekommen sind. Man bekommt ein viel besseres Bild von Clokhaçadzh, wenn man sich die Stadt auch ansehen kann.“ „Da bin ich aber gespannt, Yuri“, ereiferte sich Kazuya. Und was ich zu sagen habe, wird euch nicht gefallen, dachte sie wieder - hinter zusammengebissenen Zähnen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)