Kleiner Engel von MarySae (- Die Geschichte einer Rose -) ================================================================================ Blüte ----- Dichter Nebel hing über dem schier unendlich weiten Land. Der Himmel war überzogen von einer grauen, undurchdringlichen Masse. Feuchtigkeit hing in der Luft, die sich bei jeder noch so kleinen Bewegung auf meine eisige Haut legte, und deren winzige Wassertröpfchen in meinem flachen Atem herumwirbelten, wie hunderte winzig kleine Tänzer. Der Schmerz war längst gegangen. Alle Empfindungen und Gefühle waren einer zähen Masse aus Taubheit gewichen. Es war beinahe so, als hätte ich meinen Körper bereits verlassen. Ich existierte nicht mehr. Ich war nur noch ein Schatten meiner selbst. Und ich wehrte mich nicht mehr dagegen. Ich hatte mich bereits aufgegeben. Doch trotz allem konnte ich meine Gedanken nicht daran hintern, zurückzukehren und sich immer wieder dieselben Fragen zu stellen. Warum musste es soweit kommen? Warum ist das alles passiert? War ich so naiv gewesen? War mein Traum einfach nur ein kindisches Hirngespinst gewesen? Immer und immer wieder ging ich sie durch, doch ich kam keinen Schritt weiter. Wieso gab ich mir also die Mühe und versuchte es immer wieder? Es gab keinen Grund dafür. Es würde sowieso sehr bald alles egal sein. Ich bewegte mich nicht. Saß stumm an diesen kahlen Baumstamm gelehnt. Ob der Baum im Frühling wohl noch immer Blätter trug? Oder sogar Blüten? Es musste ein wunderschöner Anblick gewesen sein. Hier auf dieser Wiese. Das Gras trotz des nahenden Winters so hoch, als würde es nach den Sternen greifen wollen. Ein Meer aus bunten Blütenblättern würde in der Luft hängen und ein sanfter Duft, der alle Sinne betörte, würde in der Nase kitzeln. Wie gerne hätte ich das erlebt. Immer weiter driftete ich in das Nichts. Die Sicht vor meinen Augen verschwamm mehr und mehr. Das dreckige Weiß des Nebels schien nach mir zu greifen, mich zu verschlingen. Wie Klauen umklammerte es meinen tauben Körper, nicht gewillt, je wieder loszulassen, und mich mit sich in die Tiefe zu reißen. Mein Leben, diese glühend heiße Qual, würde bald ein endgültiges Ende finden. „Ihr solltet nicht hier draußen liegen. Ihr erkältet Euch sonst noch.“ Eine helle Stimme ließ mich aufschrecken. Es kostete mich unendliche Mühe meine Augen zu öffnen, doch es war nicht schwer ihre bunte Silhouette in dem weißen Meer zu finden. Doch ihr Anblick überraschte mich. Ein junges Mädchen, nicht älter als neun Jahre, hockte vor mir und starrte mich an. Ihre goldblonden Haare lockten sich verspielt um ihr schönes Gesicht. Mit blauen Augen, die schöner waren, als das Funkeln des Meeres, und einem so wundervolles Lächeln, wie es selbst die Engel nicht zustande bringen könnten, hockte sie in ihrem weißen, mit Blumen verzierten Kleid nur Zentimeter von mir entfernt. Ich war von ihrem Anblick so fasziniert, dass ich keinen Ton herausbrachte. „Ihr seid verletzt“, sagte sie nach einer Weile und holte mich damit aus meinen Gedanken. Ihr Lächeln war verblasst und ihre Augen hatten ihren Glanz verloren. Es schmerzte mich, sie so traurig zu sehen. Endlich fand ich meine Stimme wieder. „Das sind nur ein paar Kratzer, bitte macht Euch keine Sorgen.“ Es fiel mir nicht leicht sie zu belügen, doch ich wollte diesem kleinen Kind nichts von dem Schrecken erzählen, den ich erlebt hatte. In Wahrheit wusste ich, dass das Leben unaufhörlich aus meinem Körper rann. „Was macht Ihr überhaupt hier? Es ist gefährlich! Geht lieber schnell nach Hause. Eure Eltern machen sich sicher schon Sorgen.“ Meine Stimme klang leise und krächzend, doch das kleine Mädchen schien das kaum zu bemerken. „Ich spiele oft hier oben! Auf dieser Wiese gibt es so viele Blumen! Und im Frühling, wenn der Kirschbaum blüht, tanzen tausende von Blütenblättern durch die Luft!“ Mitten in ihrer Erzählung war die Kleine aufgesprungen und hatte mit leuchtenden Augen ihre Arme ausgebreitet. Wie ein seidenes Tuch umgab sie der Stoff ihres kleinen Kleidchens, während sie um mich und den Baum herum sprang und tänzelte, wie eine kleine Elfe. Sie war völlig in ihrer eigenen Welt und ich wusste, was genau sie vor ihrem inneren Auge sah. Welch ein schöner Anblick! „Das klingt wirklich … wundervoll“, sagte ich, nicht ohne den Anflug eines Lächelns auf den Lippen. „Ihr solltet unbedingt im Frühling hier noch einmal herkommen! Dann zeige ich Euch die vielen Blumen, ja?“ Ich lächelte sie an. „Das würde ich wirklich sehr gerne tun.“ Sie klatschte bei meiner Antwort vergnügt in die Hände. Ich würde ihr nicht die Wahrheit sagen. Wie könnte ich? „Aber jetzt geht lieber nach Hause, bevor Euch noch etwas passiert.“ Ich sah, wie meine Worte ihre Freude ein wenig trübten, doch das Grinsen auf ihrem Gesicht kam genauso schnell wieder, wie es verschwunden war. „Einen Moment noch!“ Sie kicherte geheimnisvoll und verschwand in der Nebelwand. Ich spürte, wie mein Herz sich zusammenzog, als plötzlich keine Spur mehr von ihr zu sehen war. Sorge krallte sich in meine Eingeweide und alle Taubheit war auf einmal vergessen. Der heiße Schmerz einiger Wunden ließ meine Muskeln verkrampfen. Ein Stöhnen lag in der Luft. Meine Sicht verschwamm. Bald würde alles dunkel sein. „Hier!“ Noch ehe ich begriff, dass das Mädchen wieder neben mir stand, sah ich etwas Rotes dicht vor meinen Augen. Ich musste ein paar Mal blinzeln, ehe ich die Rose in ihrer Hand erkannte. Ich war verblüfft über die schiere Schönheit der Pflanze. Dutzende Blütenblätter umschlangen sich in perfekter Harmonie und bildeten einen faszinierenden Kreis. Das dunkle Rot wirkte rein und mystisch und ich konnte nicht anders, als sie ehrfurchtsvoll entgegen zu nehmen. Plötzlich waren alle Schmerzen vergessen. „Sie ist… wunderschön“, meinte ich leise und sah zu dem blonden Mädchen hoch. Das Lächeln in ihrem Gesicht überstrahlte alles, was ich je gesehen hatte. „Ja, das ist sie! Ich liebe Rosen wirklich sehr!“ Sie kicherte. „Auf Wiedersehen, werter Herr!“ Einen Moment später war sie im Nebel verschwunden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)