Totenklage von Rockstar ================================================================================ Kapitel 1: ----------- „Warum hasst du mich nur so sehr…?“ Die leise Frage klingt seltsam klagend. Wie ein Kind, das seinen großen Bruder nach einer Ohrfeige mit großen Augen anschaut und fragt, was es den falsch gemacht hat. Oder wie ein Kind, dessen Mutter ihn gerade grob am Arm herum gezogen hat. Ein Ton, der ihm im Herzen nachklang und dort Mitleid erweckte, wo keines sein sollte, gewiss nicht für ihn, gewiss nicht für diese eine Person. Nein. „Ist das nicht offensichtlich? Soll ich dir vielleicht ein Bild malen? Nur zu – schlitz mich doch einfach von oben bis unten auf und lass mich liegen wie Cynthia – vielleicht bekommst du dann eine ungefähre Vorstellung davon.“ Seine Stimme schnappt, klingt wütend, klingt aggressiv und ist erfüllt von gerechten Zorn und Wut. Er kann spüren, wie man inne hält die Hand nach seiner Schulter ausstrecken versucht, kann spüren wie die Fingerspitzen noch über dem alten Stoff seines Hemdes schweben und er kann spüren, wie man leise im Atem stockt, als wäre man immer noch dazu fähig, Sauerstoff in die Lungen zu ziehen. An diesem Ort war das möglich, selbst wenn man bereits gestorben war. Die Erinnerung an ein Abbild der Wirklichkeit, so nannte Walter es. Seltsam verdreht, denn selbst Schmerz war so real, dass er beinah manchmal selbst noch glaubte, er wäre ein lebendiger Mensch und keine wandelnde Leiche, die immer noch in dieser Wohnung umher schlich wie ein ruheloser Geist. „Oh….das.“ Bedauern. Aber nicht wegen der Anspielung, oh nein. Walter hatte kein Mitleid – niemals. Zeigte keine Reue, zeigte kein Irrsinn, nur ein kleines, weiches Lächeln, als hätte er einen Witz verstanden, denn alle anderen übersehen hatten. Jetzt steht er hinter ihm. Henry schnaubte leise. Er konnte ihn behandeln wie er wollte, ihm sagen dass er auch jetzt keinen Schritt in diesem verdammten Kult gehen würden, dass er – Abbild hin, Abbild her – niemanden würde umbringen wollen oder können und es auch gewiss nicht TUN, nicht jetzt, nicht bald und auch in Zukunft nicht. Walter war niemals verärgert darüber. Nur irgendwie traurig. Er hasste ihn dafür. Er hasste ihn so sehr, dass es beinah schien, als produzierte sein Magen noch einmal Magensäure, die ihm bitter in der Kehle empor steigen könnte. Eine Berührung an seiner Schulter, weich, seltsam fiebrig, doch Henry ruckte nur unwirsch und er sah in der Spiegelung des Fensters, dass die hellgrünen Augen sich betroffen für einen Moment senkten. „Ja, Walter. Das. Genau das.“ Ein Knirschen, als schabten seine Zähne übereinander und er sah wie man den Kopf hob, doch er blieb bei seiner unnachgiebigen und vor allen abweisenden Körperhaltung. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und der Blick ging stur hinaus. Er war sein Gefangener. Auch nach seinem Tod. Erst war er sein Spielzeug gewesen, dann sein Gefangener. Und sie war tot. Sie war unwiderruflich tot und er fragte sich immer wieder, besonders an solchen Tagen, wieso Walter ihn nicht hatte ruhen lassen können. Er hatte bekommen was er wollte, seine „Mutter“ zurück und hatte alle vernichtet, die ihm jemals wehgetan hatten. Und doch. Als er die Augen wieder aufgeschlagen hatte, war da dieses besorgte Gesicht gewesen mit viel zu grünen und großen Augen, die direkt in seine hinein spähten und er hatte eine Hand auf seiner Stirn gespürt, einen Kuss auf seiner Wange, als wecke ihn ein Kind nach einem langen Albtraum auf. Die erste Reaktion war instinktive Panik gewesen. Panik, Furcht und Hass. Die drei stärksten Empfindungen wenn er mit ihm alleine war und nichts daran hatte sich in den letzten Monaten geändert. Walters Gesicht war immer trauriger geworden und seines immer härter. Ach, Mitleid wollte dieser jämmerliche Bastard auch noch? Mitleid, weil er Eilleen, alle anderen und auch ihn am Ende getötet hatte, nur für sein verdammtes, verdrehtes, vollkommen hirnrissiges Ritual? Er hatte ihm einen solchen Schlag mit der geballten Faust verpasst, dass der blonde Kopf mit einem hässlichen, krachenden Geräusch gegen die Fensterscheibe geprallt war. Glas war hinab geregnet, warf blitzende Lichter auf spröde Strähnen, doch innerhalb eines einzigen Wimpernschlags war alles wieder wie vorher gewesen. Natürlich. Mutter. Gottes Sohn stand unter persönlichen Schutz und manchmal glaubte Henry, eine hässliche, verzerrte Fratze in der Dunkelheit erkennen zu gönnen, die höhnisch lächelte, über sie beide lächelte. „Henry? Ich wollte dir nicht wehtun, das weißt doch, ja? Und du weißt auch, dass ich all diese Dinge tun musste, um Mutter zurück zu bringen…und mit dir zusammen zu sein. Du weißt das doch, nicht wahr? Ich habe es gut erklärt. Das habe ich doch, oder?“ Er klingt flehend und Henry konnte im Fenster sehen, dass er die Lippen leicht zusammen gepresst hat, wie ein Kind dass der Mutter beichtet, welchen Unsinn es in guter Absicht angestellt hat. Kaum zu glauben, dass Walter so ein grausamer Mensch sein konnte. Denn manchmal war er mehr Kind als ein Kind selbst und Henry sah den einsamen Wahnsinn in den hellgrünen Totenlichten, die auch ihn am Ende in den Nebel gelockt hatten. Man hatte es gut gemeint. Jeden einzelnen Mord hatte man in tiefster Überzeugung getan, das richtige zu tun. Einen Dienst zu erweisen. Es besser zu machen. Damit niemand mehr geschlagen oder eingesperrt wurde. Damit niemals jemand wieder traurig oder einsam sein musste. Nie mehr weinen. Nie mehr alleine. Nie mehr. Und Henry hasste, hasste, hasste ihn so sehr dafür, dass ihm für einen Moment ein siedeheißer Schmerz durch den Kopf zuckte, als er spürte, wie man die Arme um ihn legte und ihn leicht an einen Oberkörper zog, der sich schemenhaft unter dem blauen Mantel abzeichnete. Walter war größer als er und Henry neigte den Kopf nach vorn, als man ihm eine warme Stirn gegen die Schulterbeuge drückte. Es war keine innige Umarmung. Es war ein verzweifeltes, ruheloses Klammern und es tat weh, es tat so furchtbar weh so festgehalten zu werden, denn mit jeder Sekunde die verging glaubte er nochmal die Stimmen zu hören, die seine Begleitung in den Nebel gewesen waren. Totenschreie. Sie waren so furchtbar laut gewesen. Cynthia. Jasper. Andrew. Richard. Eileen. Der schlimmste Schmerz von allen, denn so sehr er sich auch die Hände auf die Ohren drückte, die Stimmen verschwanden trotzdem nicht. Er konnte spüren, wie Walter die Arme anspannte, wie seine langen Finger sich in seine Kleidung graben und er konnte seinen Atem spüren, seufzend, klagend, wie ein stummes Gebet zu Gott, von dem Henry längst weiß, wie grausam und kalt“ man auf sie herab lächelt. Es war ein Albtraum und jetzt war es ihr gemeinsamer Albtraum, denn Walter hatte ihn nicht gehen lassen sondern klammerte sich an ihm fest, wie ein Kind dass immer nur eine tröstende Umarmung gebraucht hatte, damit alles wieder hätte gut werden können. „Ich bin so müde.“ Leise Worte, erst auf seinem Nacken gewispert, dann gegen sein Ohr geflutet und das Anspannen seiner Muskeln war die reinste Qual, denn er wollte diese Nähe nicht, wollte nicht diese Innigkeit, nicht diese vertraute Wärme, wollte nicht dass man ihn umarmte, als bedeutete es die Welt und noch viel mehr, als wäre die Welt am Ende nicht einmal genug, konnte nie genug sein, würde nie genug sein. Sein Atem stockte und er ließ die Zähne aufeinander knirschen, als er seine Hände zu Fäusten ballte – und sie am Ende ereignislos wieder sinken ließ, stattdessen die Augen fest zusammen presste und gegen das leise, hilflose Geräusch ankämpfte, das in seiner Kehle schmerzhaft fest steckte und ihm langsam aber sicher den Atem nahm. „Ich hab dich so gern, Henry….so gern. Ich möchte dich behalten. Würdest du es mir irgendwann erlauben? Ich will nur dich, Niemand anderen. Nur dich. Bitte. Bitte hass mich nicht so sehr…“ Die Dunkelheit vor dem Fenster war schwarz und zäh wie Teer. Die Sterne, die keine waren, sondern nur ein Abbild der Wirklichkeit in diesem Albtraum, waren blass und reflektierten kein Licht, denn auch so waren tot, sie waren alle tot. Alles war in diesem Nebel aus Blut und Albträumen versunken, aus dem es kein Zurück geben würde. Niemals. Man würde weiter Blut trinken und Fleisch essen, roh abgezogen von der Haut, weil es nichts bedeutete, weil ein Leben es nicht wert war, nicht in den Augen Gottes, welche mit starren Blick aus dem Schatten heraus auf ihren Sohn hinab starrte, der mit seltsam sanfter Umsicht ein blasses Kinn zwischen seine Finger nahm, es ein Stück über eine dürre Schulter drehte und dann Lippen für sich eroberte. Sie sah die verkrampften, blassen Finger, als die Fingernägel tief in das eigene Fleisch grub. Sie sah die Abscheu in den braunen Augen, währen die grünen sich längst geschlossen hatten. Und sie sah die Hilflosigkeit auf seinem Gesicht, das Gefühl des Verloren seins, das Gefühl der Gewissheit, für immer hier zu sein, mit ihr, mit ihm, mit allen was sie ausmachte, was sie war. „Henry…“ hörte sie ihn sagen, leise flüstern, es war so sanft wie ein Hauchen und sie hörte das atemlose, verlorene Geräusch der fremden Antwort, sah wie Arme in einem blauen Mantel den jungen Mann schließlich herum drehte und ihn gegen die eigene Brust zerrte. „Ich will dich behalten. Bitte. Bitte sei mein.“ Und das würde er, dafür würde sie sorgen. Mit einem kalten, grausamen Lächeln, doch die Liebe einer Mutter war die Liebe einer Mutter, selbst wenn sie dafür das Leben der ganzen Welt verlangte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)