Tribal Soul von MarySae (Das Tor zu deinen Träumen) ================================================================================ Kapitel 7: Training ------------------- Der Weg zurück war mühsam gewesen. Sie hatten den ganzen Weg zum Portal durch die Traumwelt-Stadt laufen müssen. Nach den Erlebnissen von diesem Tag war ihr das wirklich etwas schwer gefallen. Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft gefunden, sich über die absurdesten Dinge zu wundern, die sie gesehen hatte (Irgendjemand hatte wohl zu viel Blümchen gegen Untote gespielt). Doch sie hatte sich nicht ein Mal beklagt. Allgemein war ihr Rückweg ausgesprochen schweigsam verlaufen. Riley hatte kaum ein Wort mit ihr gesprochen. Als sie durch das Tor wieder in die reale Welt trat und der Sog sie erneut erfasste, war sie viel zu müde, um sich zu erschrecken. Beinahe kam es ihr auch schon vertraut vor. Riley brachte sie zu seinem Auto, nachdem er die Tür wieder hinter ihnen verriegelt hatte (Und nun wusste sie: Es gab zwei Schlüssel für diese Tür und Riley besaß den anderen). Eyleen hatte einen letzten Blick auf die zwei verbliebenen Tri’s geworfen, die reglos und beinahe tot aussehend die Wand angestarrt hatten. Der Anblick würde ihr wohl immer einen Schauer über den Rücken laufen lassen. Daran konnte man sich gar nicht gewöhnen …   Es dauerte nur gut 20 Minuten, bis sie Eyleens Wohnung erreichten. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es bereits kurz nach ein Uhr Nachts war. Kein Wunder, dass die Straßen wie ausgestorben gewesen waren. Ihr Kopf war erfüllt von der Vorfreude, endlich in ihr gemütliches Bett fallen zu können! Riley hielt direkt vor ihrer Wohnungstür. Leicht verschlafen machte sie sich an dem Verschluss ihres Gurtes zu schaffen, der sich irgendwie nicht öffnen wollte. Es dauerte länger als üblich, bis das vertraute Klick-Geräusch ertönte. „Eyleen?“ Als sie ihren Namen hörte, hielt sie kurz vor dem Öffnen der Beifahrertür noch mal inne. Als sie zur Fahrerseite hinüber sah, lag sein Blick bereits auf ihr. Unter seiner neutralen Maske schien etwas zu brodeln. „Ja?“, fragte sie in die Stille, nachdem einige Momente verstrichen waren, ohne, dass er etwas gesagt hatte. „Es war schön, dass du heute dabei warst. Tut mir leid, dass dein erstes Mal so … chaotisch war. “ Er gab also sich die Schuld, dass bei der Jagd etwas schiefgelaufen war? Und so wie er sie ansah dachte er bestimmt, dass er ihre Angst nur noch schlimmer gemacht hatte. Doch Eyleen sah das etwas anders. „Mach dir da keine Gedanken drüber. Mir geht es gut, ehrlich! Klar hat mich das alles sehr mitgenommen und geschockt, aber ehrlich gesagt bin ich auch ziemlich erleichtert!“ Ein kleines Lächeln erschien in ihrem Gesicht, was ihren Gegenüber bloß noch mehr verwirrte. „Erleichtert? Worüber?“ „Dass ich endlich weiß, was hier vor sich geht! Ob das Ganze allerdings gut oder schlecht ist, dass … weiß ich zurzeit auch noch nicht.“ Sie zuckte leicht mit ihren Schultern und wandte sich wieder der Tür zu. Sie brauchte wirklich mal eine Minute, um darüber nachdenken zu können.   Als sie aus dem Auto ausgestiegen war, lehnte sie ihren Kopf noch einmal durch die offene Tür zurück in das Wageninnere. „Danke fürs Vorbeibringen. Und … Danke für die Einladung.“ Sie schloss die Autotür und ging in Richtung des Hauseingangs. Hinter ihr hörte sie, wie der Schwarzhaarige wegfuhr und die Stille der Nacht sich wieder um sie legte. Schnell huschte sie durch die Tür, weil sie langsam die Kälte der Frühlingsnacht in ihren Knochen spürte. Sie lief die paar Steintreppen bis zu ihrer Wohnung und seufzte erleichtert, als sich die Wohnungstür wieder hinter ihr schloss. Unschlüssig, was sie nun tun sollte, blieb sie reglos im Flur stehen. Die Eindrücke des Tages prasselten wie Regentropfen auf sie ein und ihr Kopf wusste nicht, welche er zuerst verarbeiten sollte. Erst als sich ein Detail aus dem Fluss an Gedanken heraus sonderte, kehrte Leben in ihre Beine zurück. Unachtsam ließ sie ihre Jacke auf den Boden sinken, dort, wo sie vor einigen Stunden bereits ihre Schultasche hingelegt hatte, und ging hinüber ins Badezimmer. Sie zog ihren Pullover und das T-Shirt aus und begann trotz der warmen Zimmertemperatur zu frösteln. Schnell wandte sie sich um und brauchte nur Sekunden, um das neue Symbol zu erkennen. Auf ihrer rechten Schulter zierte nun eine Blume ihre Haut. Fein eingearbeitet in den Rest des Tribal-Tattoos. Eine Lotusblüte aus feinen, schwarzen Fäden. Sacht berührten ihre Finger das filigrane Kunstwerk, worauf ein Wort besonders laut in ihren Gedanken widerhallte: Mitgefühl. War das ihre zweite herausragende Eigenschaft? Das Empfinden von Mitgefühl? Natürlich sorgte sie sich um die Menschen, die ihr am Herzen lagen, aber brauchte es nicht etwas mehr, um auf diese Weise mitfühlend zu sein?   Eyleen schüttelte den Kopf. „Nicht jetzt. Zu müde.“ Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern und sie entschied sich, das Grübeln auf Morgen zu vertagen. Sie entledigte sich auch dem Rest ihrer Kleidung und schlüpfte in die schon bereitliegende Schlafkleidung, die bei ihr immer aus einer Jogginghose und einem T-Shirt bestand. Nachdem sie noch schnell ihre Zähne geputzt hatte, schlurfte sie hinüber in ihr Zimmer und kaum, dass die Decke sie bedeckte, war sie auch schon eingeschlafen.   .   Als sie erwachte und die Sonne bereits knallend auf ihr Fenster schien, wunderte sie nicht. Ein kurzer Blick auf die Uhr bestätigte ihre Vermutung, dass sie bis kurz vor zehn Uhr geschlafen hatte. Sie war zwar nicht unbedingt ein Frühaufsteher, aber dass sie so lange schlief, kam dennoch sehr selten vor. Dafür bemerkte sie aber sofort eines: Sie fühlte sich gut. Keine Kopfschmerzen, kein Albtraum. Sie hatte wunderbar geschlafen und war sofort putzmunter. Sie schlug die Decke zurück und trottete ins Bad. Nach einem kurzen Frischmachen, ging sie in die kleine Küche, um sich dort eine Schüssel mit Cornflakes zurecht zu machen, und dann ins Nebenzimmer zu verschwinden. Das Zimmer war das größte ihrer Dreizimmerwohnung und Mia und sie hatten beschlossen, dort ein gemeinsames Wohnzimmer einzurichten. Für Möbel und Accessoires hatten sie nicht viel Geld gehabt, doch mit ein bisschen Kreativität hatten sie es sich wirklich schön gemacht, wie sie fanden. Sie hatten alle Möbel in schlichtem schwarz/weiß gehalten, um – je nach Laune – farbige Dekoration dazu kombinieren zu können. Die weiß gestrichenen Wände waren mit vielen bunten Bildern und Fotos von ihren Bewohnerinnen geschmückt. Der helle Holzfußboden, der zum Teil unter einem hellgrauen Flokati-Teppich verschwand, erhellte den Raum noch zusätzlich. Ein schwarzes Stoffsofa stand an die hintere Wand gerückt, und diente als Ruhepol. Ein weißer Couchtisch, der durch seine abgerundeten Kanten und Verzierungen ein wenig altmodisch wirkte, passte perfekt zu den zahlreichen Kommoden und Schränken, deren goldene Knäufe im Licht schimmerten. Einige Pflanzen und Dekorationsobjekte rundeten die Einrichtung ab. Eyleen fand jedes Mal, wenn sie den Raum betrat, dass sie gute Arbeit geleistet hatten. Das Zimmer wirkte gemütlich und beruhigend und das war genau das, was sie jetzt brauchte.   Die Blondine ließ sich auf das Sofa fallen und versank sogleich in den zahlreichen Kissen. Mit einer Hand balancierte sie ihre Cornflakes-Schale, während sie mit der anderen den Fernseher einschaltete. Sie ließ die Nachrichten laufen ohne dem Sprecher wirklich zuzuhören und aß dabei ihr Frühstück. So langsam krochen die Gedanken wieder in den Vordergrund. All die Dinge, die geschehen waren, und all das, was sie in den letzten vier Tagen gelernt hatte. Noch immer bekam sie eine Gänsehaut, wenn sie nur daran dachte. Dämonen lebten unter ihnen. Im Kopf von jedem von ihnen. Ein böser Geist, der dich so lange deine schlimmsten Albträume durchleben ließ, bis dein Herz und dein Kopf schwach genug waren, damit er das komplette Handeln übernehmen konnte. Was für ein absolut schrecklicher Gedanke…   Und wieder erwischte sie sich dabei, wie sie in sich hineinhorchte und nach irgendeinem Zeichen suchte, dass auch in ihr so ein Monster tobte. Sie glaubte, es spüren zu müssen, jetzt, nachdem sie von dem Geheimnis wusste. Doch sie fand nichts in sich. Oder war das sogar Teil ihrer List? Dass es sich exakt wie eine eigene Entscheidung anfühlte? Kannten diese Wesen den Menschen so gut, dass es ihn zu etwas zwingen konnte, ohne, dass dieser es bemerkte? War das etwa die innere Stimme, die auch als Bauchgefühl bezeichnet wurde? War es wirklich so leicht einen Menschen zu einer Marionette zu machen?   Ein leises Piepsen ließ die 17-jährige aufblicken. Im Fernsehen lief jetzt anscheinend eine Reportage über das Herstellen irgendeiner Käsesorte. Sie schaltete das Gerät aus, stellte ihre Schüssel mit den restlichen, inzwischen matschigen Cornflakes auf den Tisch und krabbelte vom Sofa. Sie wusste, was dieses Geräusch gewesen war, und das machte sie neugierig. Draußen im Flur beugte sie sich zu der Jacke herunter, die sie beim Heimkommen vor die Garderobe hat fallen lassen, und kramte so lange darin herum, bis sie den Gegenstand in der rechten Jackentasche herausgezogen hatte. Tatsächlich verkündete das Display ihr eine eingegangene Nachricht. Wieder von einer unbekannten Nummer. Die Neugier wuchs. Als sie die SMS abrief und die ersten zwei Worte las, legte sich kurz ein Schatten über ihr Gesicht, doch sie schluckte den gedanklichen Kommentar erst mal hinunter.   „Hey Kätzchen! Ich denke mal, du weißt, wer ich bin, nicht wahr? Hab mir von dem Nerd deine Nummer geklaut. Nicht schlecht, was du gestern abgeliefert hast! Ich weiß, dass du viel mehr getan hast, als du zugibst. Du bist nicht sonderlich schwer zu durchschauen. Von mir aus kannst du aber ruhig weiter das kleine ängstliche Mädchen spielen. Das steht dir irgendwie. ;-) Aber egal. Ich dachte, du hättest vielleicht Interesse daran zu wissen, wie du die Klinge beschwören kannst. Nur für den Fall, dass du beim nächsten Mal wieder die Heldin spielen willst. Komm nachher um 12 Uhr in die alte Fabrik. Du kennst ja den Weg. Aber lass dich von niemandem sehen! Bis später, Kätzchen!“   Liam hat sich von Riley die Nummer geklaut? Wieso hat er denn überhaupt geschrieben und nicht Riley? Will er jetzt auf einmal den Lehrer spielen? Jetzt, nachdem er den ganzen anderen Kram seinem Freund zugesteckt hatte? Hatte sie ihn so beeindruckt, dass er sie plötzlich nicht mehr als nutzlos betrachtete? Aber was hatte sie denn so großartiges getan? Mehr als Panik schieben und Reden schwingen hatte sie doch überhaupt nicht zustande gebracht! Das war ja wohl wirklich nichts Beeindruckendes gewesen …   Sie ging ein paar Schritte zurück ins Wohnzimmer und warf einen Blick auf die Uhr. 10:34 Uhr. Sie hatte also noch gut eineinhalb Stunden, um sich zu überlegen, ob sie sich dort wieder mit den Tri’s traf und in der Traumwelt lernte mit dem Schwert rumzufuchteln, oder ob sie sich tiefer ins Sofa vergrub und tunlichst versuchte, nicht an das Thema zu denken.   Doch sie wusste die Antwort bereits. Wenn ein Thema erst mal ihre Neugierde geweckt hatte, dann ließ es sie so schnell nicht wieder los. Und zudem hatte sie sich für den Weg entschieden, auf dem sie gerade ging. Sie trug das Tribal auf dem Rücken. Und auch, wenn es eine unterbewusste Entscheidung gewesen war, empfand sie es trotzdem als ihre Entscheidung. Sie hatte die Möglichkeit einigen Menschen das Schicksal des Mannes vom Vortag zu ersparen. Ihnen zu helfen, den Dämon loszuwerden und wieder in Frieden leben zu können. Ohne einen Gedanken an Hass und Wut. Und ohne die Erfahrung, sich selbst zum Monster werden zu sehen…   Plötzlich konnte sie es kaum noch erwarten, dass es 12 Uhr wurde. Kaum war sie angezogen und ausgehfertig, da trat sie auch schon hinaus in den wunderschönen Vorsommertag. Dieser Apriltag war einfach perfekt um nach draußen zu gehen. Die Sonne schien vom strahlend blauen Himmel und beglückte die Welt mit guten 25 Grad. Die dünne Strickjacke, die sie über ihr T-Shirt gezogen hatte, hatte sie nach wenigen Metern bereits in ihre Umhängetasche verbannt und genoss nun das angenehme Gefühl von Wärme auf ihrer Haut. Als sie die Bushaltestelle erreichte, war in der Ferne auch schon der richtige Bus zu erkennen. Die Haltestellen-Uhr zeigte gerade 11:30 Uhr. In 20 Minuten würde sie die an dem Treffpunkt sein. Es blieb ihr also keine Zeit mehr, um nervös zu sein. Verträumt blickte sie auf aus dem Fenster. Viele Menschen waren an diesem Samstag unterwegs. Autos und Fußgänger säumten die Straßen und Parkplätze der nahen Einkaufszentren. Die meisten von ihnen erledigten wahrscheinlich ihre Wochenendeinkäufe, um sich dann ein paar gemütliche Stunden mit der Familie zu machen. Und sie alle dachten nicht im Geringsten daran, dass es irgendwas gab, vor dem sie sich fürchten müssten und sie davon nicht einmal etwas ahnten...   Als sie den Bus verließ, begann ihr Magen sofort zu vor Aufregung zu kribbeln. So unauffällig wie möglich trat sie in die kleine Gasse. Bei Tageslicht machte sie einen komplett anderen Eindruck. Tatsächlich waren große Teile der Mauern und Zäune mit Efeu und anderen Kletterpflanzen bedeckt. Gleich wirkte der schmale Gang längst nicht mehr so bedrückend, wie er es noch am Abend zuvor getan hatte. Und trotzdem wollte sie die Zeit, die sie dort verbrachte, möglichst gering halten. Als die Höhe des Eingangs erreicht war, wandte Eyleen sich um und suchte die ganze Gasse entlang nach Anzeichen, dass jemand sie beobachten könnte. Aber weit und breit war niemand zu sehen. Daher beschloss sie, es zu wagen. Sie schob ein paar der Efeuranken zur Seite und schlüpfte durch das Loch. Sofort strichen die Grashalme über ihre Jeanshose und gaben leise, kratzende Geräusche von sich. Die Blondine folgte der Spur aus leicht platt getretenem Grünzeug, bis sie die aufgehebelte Tür vom letzten Mal erreichte. Und diesmal fiel ihr auch das große, verblichene Schild über dem Eingang auf. „Joeys Repairs“ prangte in großen Buchstaben auf einer teils zersplitterten Plastikschale, die früher wahrscheinlich sogar beleuchtet gewesen war. Und auch die vielen Hebebühnen, die im Boden verankert waren, die im Beton eingelassenen Gruben und die dutzenden Werkzeugschränke fielen ihr beim Betreten der Werkstatt dieses Mal sofort ins Auge. Alles war mit Staub und Dreck bedeckt und doch konnte sie sich lebhaft vorstellen, wie es zu seinen besten Zeiten wohl einmal ausgesehen haben könnte.   Ihre Füße trugen sie in Richtung des alten Büros, in dem die anderen wahrscheinlich schon auf sie warteten. Kurz davor blieb sie einen Moment lang stehen, um noch einmal tief durchzuatmen. Mit einer Mischung aus Vorfreude und Anspannung dachte sie an die Dinge, die sie gleich sehen würde. Sie wusste nur eins: Es würde unglaublich werden. Zaghaft klopfte sie an die Tür und wartete darauf, eine Stimme von innen zu vernehmen. Als diese jedoch nicht kam, widmete sie sich der Türklinke, die sich ganz einfach herunterdrücken ließ. Unter leisem Quietschen öffnete sich das Metall und gab den Blick auf den im Dämmerlicht liegenden Raum frei. Die beiden mit Brettern vernagelten Fenster schluckten das Meiste von dem Sonnenlicht, welches auf sie drauf schien. Die wenigen Strahlen, die sich einen Weg hindurch bahnten, ließen die in der Luft schwebenden Staubfusseln golden glitzern. Erst als sie den Raum betreten hatte und die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, hatten ihre Augen sich soweit an die Lichtverhältnisse gewöhnt, dass sie auch den Rest des Zimmers wahrnehmen konnte.   Liam stand nur einen Meter von ihr entfernt. Sein Blick war hochkonzentriert, als er mit seiner Klinge die letzten Zentimeter des Portals auf die Wand zauberte, um die kleinen, schwarzen Schlangen ihre Arbeit erledigen zu lassen. Eine gute Minute beobachtete sie die sich bewegenden Linien, ehe die Runen am Rand des Tors begannen ihr schummriges Leuchten abzugeben. „Das Tor hält bloß 12 Stunden. Danach löst es sich einfach wieder auf. Aber länger als sechs Stunden am Stück sollte eh niemand in der Traumwelt bleiben. Das ist auf Dauer nicht gut für die Psyche.“ Während er sprach betrachtete er ununterbrochen das nun vollständige Portal und würdigte den Neuankömmling keines Blickes. Normalerweise hätte es sie geärgert, dass er sie wie Luft behandelte, aber in diesem Moment brannte eine für sie viel wichtigere Frage auf ihrer Zunge. „Wo sind denn die anderen?“ Waren Riley und Chloé etwa schon vorgegangen? Aber das war ja nicht möglich. Das Portal war doch eben erst fertiggestellt worden! In diesem Moment wandte er sich ihr zu und auf seinem Gesicht lag ein gehässiges Lächeln. Seine Augen funkelten selbst in diesem Dämmerlicht gefährlich. „Außer uns ist niemand hier. Und es wird auch niemand sonst kommen.“ Der Schauer, der ihr nach seinen Worten über den Rücken lief, war eisig. Ihr Herz setzte kurz aus, nur um dann doppelt so schnell wie normal zu schlagen. Sie wusste nicht, woher dieser Fluchtreflex plötzlich kam, aber es fiel ihr wahnsinnig schwer ihm zu widerstehen. Seine Augen funkelten belustigt. Es machte ihm Spaß sie zu ärgern. Er ging seelenruhig an ihr vorbei und auch ohne, dass sie sich zu ihm umdrehte, wusste sie genau, was er vorhatte. Einen Augenblick später drehte sich der Schlüssel im Schloss und sie war eingesperrt. Zusammen mit ihm. Es war ein Test, soviel war klar. Er wollte wissen, ob sie feige war und einen Rückzieher machte. Nein, er wollte seine Vermutung nicht bestätigt wissen. Liam war sich hundertprozentig sicher, dass er recht hatte. Aber diese Genugtuung würde sie ihm nicht geben. Sie war nicht schwach! „Na, wenn alle da sind, dann können wir ja jetzt loslegen. Nicht, dass wir uns noch so lange anstarren, bis dein schönes Kunstwerk wieder von der Wand verschwindet.“ Demonstrativ gelassen stemmte sie eine Hand in die Hüfte und warf mit der anderen die Tasche auf den neben ihr stehenden Schreibtisch. Ohne sich zu ihm umzudrehen, klopfte sie ungeduldig mit dem Fuß. Nun wirbelten noch mehr Staubfusseln in den einfallenden Sonnenstrahlen.   „Das Kätzchen zeigt wieder ihre Krallen. Ich muss sagen, du beeindruckst mich mehr und mehr. Jede andere hätte schon mindestens einen Nervenzusammenbruch bekommen.“ Sie hatte also recht gehabt. Es machte ihm großen Spaß sie zu Ärgern und aus der Reserve zu locken. Aber das würde sie nicht zulassen. „Wie gut, dass ich nicht „jede andere“ bin“, zischte sie und nutzte die Gelegenheit, um schnellstmöglich das Thema zu wechseln, ehe ihr Gespräch doch noch in einen Streit ausartete. „Das heißt also, du willst mir heute was beibringen?“ Sie legte extra viel Hohn in ihre Worte, denn was er konnte, konnte sie schon lange. Er hingegen ließ sich nicht im Geringsten aus der Ruhe bringen. Ihm machte die ganze Situation anscheinend unglaublichen Spaß. „Einen besseren Lehrer als mich wirst du nirgendwo finden. Wenn du es also nicht raffst, liegt das ganz allein an dir.“ Pikiert schnaubte sie lautstark. „Wollen wir doch mal sehen, wie blöd ich mich anstelle.“   „Du weißt sicherlich, warum wir hier sind. Sonst wärst du auch nicht gekommen.“ Plötzlich hatte sich die Stimmung völlig verändert und die Luft kühlte spürbar ab. „Auch, wenn du glaubst, dass alles dort hinter diesem Portal nicht real ist, so kannst du auch dort schwer verletzt werden. Ich werde dich nicht schonen, darum sage ich es dir gleich jetzt und hier: Du kannst dort drinnen auch problemlos deinen Tod finden.“ Ihr Körper versteifte sich. Der Blick war starr auf das Portal gerichtet. „Zwar haben die Dämonen nicht die Möglichkeit, nachts vor deinem Bett aufzutauchen und dein Herz mit ihren Klauen zu durchbohren, aber sie haben ihre eigenen Methoden, um dich in die Knie zu zwingen.“ Die Frage brannte auf ihrer Zunge, auch wenn sich alles in ihr sträubte, sie zu stellen. „Und die wären?“ „Hat dir das Anschauungsbeispiel nicht schon genug gesagt?“ Von Panik durchzogene Augen. Die Gewissheit, dass nur der Tod der einzige Weg ist. Alleingelassen in seinem schlimmsten Albtraum. Doch. Doch, das hatte es. „Sie können dich foltern. Vielleicht nicht hier im echten Leben, aber dort drüben, hinter diesem Tor, allemal. Dort können sie dir Schmerzen zufügen. Dir Bilder zeigen, die dir das Blut in den Adern gefrieren lassen. Allein ihre Anwesenheit lässt dir schon einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Und auch die Traumwelt selbst kann dir gefährlich werden. Du solltest dich nie zu lange außerhalb deines Körpers aufhalten. Das kann wirklich schlimme Folgen haben.“ Eyleen schluckte hart und versuchte krampfhaft nicht zu viel in seine Worte hinein zu interpretieren. Sie hatte Angst, dass sie doch die Flucht ergreifen und sich wie ein kleines Mädchen weinend unter der Bettdecke verkriechen würde.   „Willst du immer noch gehen?“ Diesmal lag kein Spott und kein Hintergedanke in Liams Frage. Er ließ ihr wirklich die Wahl zu gehen oder zu bleiben. Eyleen konnte das Zittern ihres Körpers kaum noch unterdrücken. Wenn sie es nicht besser wüsste, hätte sie geschworen, die Stadt würde gerade von einem Erdbeben heimgesucht. Aber sie hatte sich entschieden. Es gab keinen Weg zurück mehr. Sie wusste, dass sie schon viel zu tief drinnen steckte, um alles zu vergessen. „Ja, will ich“, sagte sie mit fester Stimme und sah dem Braunhaarigen das erste Mal seit ihrer Ankunft direkt in die Augen. Er schien etwas darin zu suchen… Und zu finden.   „Wir fangen damit an dir beizubringen, wie du die Klinge heraufbeschwören kannst“, begann er in einem typischen Lehrer-Ton zu erzählen, ohne weiter auf das vorherige Thema einzugehen. „Aus taktischen Gründen werden wir das aber nicht hier tun, sondern da drinnen. Das Schwert in der realen Welt zu rufen, erfordert einiges an Geschicklichkeit. Selbst gestandene Tri’s haben damit so ihre Schwierigkeiten. Bitte, nach ihnen!“ Mit einer übertriebenen Geste deutete er ihr, dass sie doch als erste durch das Portal gehen sollte. Eyleen merkte, dass er sich anscheinend Mühe gab ernst zu sein und sie nicht zu ärgern, doch alles schien er nicht unterdrücken zu können. Irgendwie fand sie das ein wenig sympathisch. Ganz wenig, versteht sich. Ein weiteres Mal positionierte sie sich vor dem schwarzen Portal und starrte stumm auf das dunkle Nichts. Ihr Herz schlug automatisch mit jedem Zentimeter schneller, den ihre Hand näher an die Wand kam. Mit einem Ruck überwand sie die letzten Millimeter und schon im nächsten Augenblick riss der ungeheure Sog sie von den Füßen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)