Tribal Soul von MarySae (Das Tor zu deinen Träumen) ================================================================================ Kapitel 13: Leben ----------------- Vor einem großen, anscheinend leer stehenden Gebäude hielten sie inne. Sie waren jetzt eine Ewigkeit - die wahrscheinlich nur mehrere Minuten gedauert, sich für Eyleen aber wie Stunden angefühlt hatte - im Zick-Zack durch den Stadtteil gerannt und hatten, zu ihrer Verwunderung, nicht ein menschliches Wesen getroffen. Kein Fußgänger, kein Auto, nichts. Gab es an einem Samstagabend wirklich niemanden, der sich hierher verirrte? Ihr Blick schweifte über das verfallene, mehrstöckige Gebäude. Viele der Fenster waren vernagelt oder eingeschlagen und überall war Graffiti, dessen quietsch bunte Farben surreal auf der zerstörten Oberfläche aussahen. Steine waren aus dem Mauerwerk herausgebrochen und sammelten sich nun zu ihren Füßen. Pflanzen überwuchsen die Gehwegplatten, wodurch der ehemalige Vorgarten nur noch aus wie ein verwüstetes Stück Wald aussah. Dreck und Moos klebten auf dem rissigen Beton, über den zahlreiche Ranken und Kletterpflanzen das Mauerwerk erklommen. Während Matthew noch immer den verletzten und bewusstlosen Liam auf den Armen trug, sprang Daniel an ihm vorbei zu der marode aussehenden Holztür, um diese für ihn zu öffnen.   Als sie in die Finsternis der Bauruine eintraten, wurde Eyleen auf einmal ganz schlecht. Tat sie wirklich gerade das Richtige? Wäre es nicht besser gewesen einfach einen Krankenwagen zu rufen? Und gleich die Männer an die Polizei zu übergeben? Sie konnten ja ruhig die Wahrheit erzählen! Wahrscheinlich, jedenfalls. Natürlich kannte sie die Vorgeschichte nicht, aber konnte die so schlimm sein, dass es die Polizei nicht erfahren durfte?   „Ash? Ashley? Wo bist du?“ Während er einmal quer durch die erdrückende Dunkelheit rannte, durch die Eyleen sich nur an der Wand tastend durchhangeln konnte, öffnete sich irgendwo weiter hinten unter lautstarkem Protest eine der Türen und ein schwacher Lichtschimmer fiel auf den verschmutzen Fußboden. Staub wirbelte auf, als Matthew durch die Tür ins Innere der Wohnung verschwand. „Hey! Sag mal, spinnst du? Warum brüllst du hier so rum und rennst mich dann noch über den Haufen?“ Die Blondine folgte den Jungs, ehe die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Obwohl es den Anschein machte, als würde niemand mehr in dieser Wohnung leben, wirkte der Flur erstaunlich ordentlich. Es gab zwar keine persönlichen Gegenstände, die auf einen Hausbewohner hindeuteten, aber entlang des Flures waren kleine Metallhalterungen aufgebaut, in denen flackernde Kerzen ihre tanzenden Schatten an Wand und Decke warfen. Es gab keine Tapeten und keine Möbel. Nur ein alter PVZ-Fußboden bedeckte zumindest stückweise den grauen Häuserbeton.   Stimmen drangen aus dem Raum am Ende des kurzen Wohnungsflurs, denen die Tri sofort nachging. „Ashley, hilf ihm!“            „Du meine Güte!“ Eyleen blieb im Türrahmen stehen. Ihr Körper war zu Stein erstarrt und trotz ihres heftigen Atems schien kaum Luft ihre Lungen zu erreichen. Matthew hatte den verletzen Liam auf ein zerschlissenes, grünes Sofa gelegt. Das einzige Möbelstück weit und breit. Weitere Kerzen umrandeten den Raum und schwarze Vorhänge verdunkelten die Fenster völlig, doch ansonsten gab es dort überhaupt nichts. Abgesehen von dem großen, schwarzen Traumtor mit den weißen Runen, das die Wand an der fensterlosen Stirnseite des Raumes zierte natürlich. Das erklärte auf jeden Fall so einiges.   Als sie Liams schmerzvolles Stöhnen vernahm, riss sie ihren Blick von dem Traumtor weg und näherte sich dem Sofa auf zitternden Beinen.  Eine junge Frau, vielleicht Mitte 20, hatte sich über Liam gebeugt und starrte ihn mit erschrockenen Augen an. Sie hatte lange, schwarze Haare, die ihr in tausenden Locken auf den Rücken fielen, eine dunkle Hautfarbe, die Eyleen an Vollmilchschokolade erinnerte, und trug ein gelbes Sommerkleid mit weißen Kniestrümpfen. Die junge Tri traute sich kaum zu atmen, als sie beobachtete, wie das ältere Mädchen Liams Wunden unter die Lupe nahm. Ihr war mittlerweile einfach nur noch schlecht. Panik und Angst vernebelten ihre Sinne und die Konturen ihrer Umgebung schienen immer wieder vor ihren Augen zu verschwimmen. Wenn Liam sterben würde, was würde sie bloß Riley und… Chloé sagen?   „Es ist alles okay, hörst du?“ Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und aus Reflex zuckte sie ein Stück zurück. Daniel ließ sich davon nicht beirren und tat so, als hätte Eyleen sich überhaupt nicht bewegt. „Das ist Ashley, Matthews Freundin und auch eine Tri. Auch, wenn sie in einem anderen Team ist, als wir… Jedenfalls ist sie Ärztin, oder zumindest fast fertig mit ihrem Studium. Und ist sie gut darin! Sehr gut sogar. Du kannst ihr wirklich vertrauen. Sie kriegt deinen Freund schon wieder hin!“ Eine Medizinstudentin? Matthews Freundin? Und sie war auch eine Tri? Matthew stand immer noch schwer atmend dicht hinter ihr. Seine Arme, die er eben noch stark angespannt hatte, um Liams Gewicht tragen zu können, hingen nun schlaff und träge an seinen Seiten herab. Er schien plötzlich keine Kraft mehr in sich zu haben. Nur in seinen graublauen Augen brannte noch ein intensives Feuer. „Daniel, meine Tasche!“, verlangte Ashley plötzlich lautstark und im selben Moment war der Druck von Eyleens Schulter verschwunden. Nur einen Augenblick später tauchte er erneut in ihrem Sichtfeld auf und stellte eine große, schwarze Tasche neben der Schwarzhaarigen ab.   Dann ging alles ganz schnell. Die junge Tri war kaum in der Lage der Medizinstudentin zuzusehen. Sie zog Liam das Hemd aus und desinfizierte die Wunde. Das ganze Blut färbte das weiße Handtuch vollkommen Rot. Nadel und Faden bohrten sich durch die Haut des Verletzten, um das klaffende Loch in seinem Bauch zu verschließen, das wie ein kleiner Vulkan immer mehr Blut zu spucken schien. Mit der Hilfe ihres Freundes verband sie schließlich die Wunde, wodurch ein weißes Stoffband Eyleen - zu ihrer Erleichterung – den Blick auf die Stichwunde versperrte. Sie sagte kein Wort, als sie sofort danach den Rest seines Körpers untersuchte. Am Kopf verblieb sie lange und tupfte auch eine Stelle sehr gründlich mit einer übelriechenden Flüssigkeit ein. Fieber schien er allerdings keines zu haben, hörte man die Schwarzhaarige murmeln, nachdem sie ihre Hand von seiner Stirn zog. Das war doch gut, oder?   „W-wie geht es ihm?“ Die Stimme der Blondine klang piepsig und hol, als sie sich endlich durchrang die unheilvolle Stille in dem Raum zu durchbrechen. Sofort schien sich die Anspannung der Anwesenden merklich zu lösen. „Die Wunde ist nicht tief und es wurden keine lebenswichtigen Organe getroffen. Er hat viel Blut verloren und deshalb ist er bewusstlos, doch ihr habt ihn rechtzeitig herbringen können. Er hat unglaubliches Glück gehabt.“ „Ein Glück… Danke. Vielen Dank…“, weinte Eyleen und versuchte das salzige Nass mit ihren bebenden Händen aus den Augen zu vertreiben. Vor lauter Erleichterung gaben ihre Beine unter ihr nach und eine Sekunde später saß sie auf dem fleckigen Fußboden. In sich stieg der Druck an, Liam eine saftige Kopfnuss dafür zu verpassen, dass er ihr solche Angst gemacht hatte!   „Du magst ihn wirklich sehr, stimmt‘s?“ Eyleen bemerkte erst, dass Daniel neben ihr auf dem Boden saß, als er sie direkt ansprach. Plötzlich fingen ihre Wangen wie mit flüssigen Feuer übergossen an zu brennen, doch sie ließ das nicht näher an sich heran kommen. Das war es einfach nicht. „Nein, so… ist es nicht. Liam war derjenige, der mich… den Tri in mir… entdeckt hatte. Er war der Erste, der mir diese ganze Tribal-Sache erklärt und gezeigt hatte. Riley hatte zwar auch einiges an Erklärungen übernommen, aber bei Liam wirkte die ganze Sache irgendwie… realer.“ Sie seufzte einmal und atmete tief durch, bevor sie sagte: „Und er ist der einzige Mensch, der mich nicht für einen hoffnungslosen Fall hält.“ Daniels lachen neben ihr ließ sie aufblicken. Fragend hob sich eine ihrer Augenbrauen. „Sorry, ich hab nicht über dich gelacht! Aber ich hab schon so viel von dem berühmten Tri Liam gehört und das, was du erzählst, klingt irgendwie so gar nicht nach ihm!“ Jetzt lächelte auch Eyleen. Das konnte sie sich sehr gut vorstellen. „Das glaub ich gerne. Er ist auch nur in Ausnahmesituationen nett. In 90 Prozent aller Fälle ist er einfach ein richtiger Idiot!“   „Selber… Idiotin.“ Eyleen sprang auf und hechtete zum Sofa, als seine schwache Stimme den Raum erfüllte. „Bleib gefälligst liegen“, zischte Ashley, als Liam sich unter Stöhnen aufzurichten versuchte. Doch er ließ sich nicht davon abhalten. Die Blondine hielt die Luft an, bis der Tri sich halbwegs aufrecht aufgesetzt hatte. „Du bist verletzt. Nicht lebensgefährlich, aber wenn du hier so rumhampelst und die Wunde wieder aufreißt, dann kannst du problemlos verbluten!“ „Das wird schon nicht passieren“, gab Liam kalt zurück und in Eyleens Hals bildete sich ein nervöser Knoten. „Du könntest ruhig mal ein bisschen freundlicher sein, Liam. Immerhin haben wir dir dein Leben gerettet!“ Matthew hatte sich mit verschränkten Armen hinter seiner Freundin aufgebaut und schaute seinen Gast grimmig an. „Und nicht nur deins!“ Das war das erste Mal, dass Liams Blick auf Eyleen fiel. Der Kloß in ihrem Hals erschwerte ihr noch immer das Atmen und ihr Herz schlug vor Anspannung verkrampft gegen ihren Brustkorb. Liam benahm sich merkwürdig. Etwas stimmte hier nicht. „Ja, ja, Danke fürs helfen. Ich weiß zwar nicht wirklich, was genau zum Schluss passiert ist, aber anscheinend habt ihr uns da raus geholt. Das war sehr nett von euch, doch wir müssen jetzt leider schon wieder los.“ Liam versuchte aufzustehen, doch Matthew schubste ihn mit einem einfachen Stoß zurück auf das Sofa. Er stöhnte schmerzerfüllt, als er gegen die Rückenlehnte stieß. „Liam!“ Eyleen stand nun direkt neben ihm vor dem Sofa, doch sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte. Ihre Hände hingen nutzlos in der Luft; halb nach ihm ausgestreckt. „Was ist los, Harper? Kannst du unsere Gegenwart so wenig ertragen, dass du es nicht einmal aushältst, nur 10 Minuten mit uns in demselben Raum zu verbringen?“ Plötzlich waren Matthews Augen ungewöhnlich kalt. Einen Blick, den Liam genauso erwiderte. „Ach, wundert dich das wirklich?“   „Okay, okay. Anscheinend wird das hier so eine der üblichen Testosteron-Runden. Da bin ich raus, Jungs. Meine Arbeit ist hier erledigt!“ Mit einem sehr auffälligen Kopfschütteln verließ Ashley den Raum und kurze Zeit später war das Klicken der Haustür zu hören. Doch außer Eyleen schien das niemand so wirklich mitbekommen zu haben. Als Liam einen weiteren Versuch startete, aufzustehen, streckte die Blondine ihre Hände nach ihm aus, um ihn zu stützen, doch noch bevor sie ihn erreicht hatte, zog sie plötzlich etwas an ihrem nach hinten zurück. Ein leises „Au!“ entwich ihr, als sie Daniels Hand bemerkte, die sich ziemlich fest um ihren Oberarm gelegt hatte und sie so daran hinderte Liam zu helfen. „Lass sie gefälligst los“, zischte Liam zwischen seinen geschlossenen Zähnen hindurch und bedachte Daniel dabei mit einem Blick, der selbst Eyleen einen Schauer über den Rücken jagte. Den blonden Käppiträger hingegen schien das nicht zu beeindrucken. Er hielt ihren Arm weiterhin fest umschlossen, wodurch ihre Jeansjacke an ihrer Haut kratzte.   „Du tust ja glatt so, als wären wir Schwerverbrecher.“ Matthew verschränkte seine Arme mit so einer Kraft, dass einzelne Muskeln und Äderchen bereits unter seiner Kleidung hervortraten. Eyleen die ganze Situation mehr als unangenehm. „Ich habe euch am Anfang nicht erkannt, aber mittlerweile weiß ich genau, wer ihr seid. Und was ihr damals getan habt.“  Was sie getan hatten? Eyleen rutschte innerhalb einer Sekunde das Herz in die Hose und sie versuchte sofort Daniels Hand mit ihren zitternden Fingern zu lösen, doch gegen seinen festen Griff kam sie nicht an. „Die alte Geschichte? Wirklich? Reitest du immer noch darauf herum?“ Liam hatte es mittlerweile geschafft, sich vollständig aufzurichten und Eyleen fand, dass auch sein Gesicht nicht mehr ganz so blass war. Das Funkeln in seinen eisblauen Augen zumindest zeigte keine Spur mehr von Schwäche. „Wieso sollte ich das nicht? Du und deine Freunde habt damals Menschenleben gefährdet! Und das nur, weil ihr cool sein und den bösen Mann ganz alleine fassen wolltet! Der Kerl hat auf seiner Flucht 3 Menschen angeschossen und zwei davon lebensgefährlich verletzt, die auch gut hätten tot sein können! Und wofür das Ganze? Weil jemand einen blöden, unsinnigen Spruch abgelassen hat, dass ich als Anfänger schon besser bin als du, Matthew! Nur deshalb wären beinahe Menschen gestorben!“   Die blonde Tri hielt die Luft an, während sie Liams wütenden Worten lauschte. Sie verstand nicht jedes Detail der Geschichte, doch ihr war klar, dass Matthew damals einen großen Fehler gemacht hatte. Wenn sie sich vorstellte, jemand wäre dem Mann - dem Mörder - vor der Pizzeria hinterher gelaufen und der hätte auf dabei noch andere Menschen angeschossen und diese lebensgefährlich verletzt… Schrecklich. Matthews Augen waren reglos. Dunkel und kalt. Statt Grau hatten sie in diesem Moment eher die Farbe des tiefsten Nachthimmels.   „Ich glaube, du solltest jetzt besser gehen, Harper.“ In Matthews kalter Stimme klang die Drohung unverhohlen heraus. „Das werde ich auch. Und du lass endlich Eyleen los.“ Bei dem letzten Satz hatte er sich Daniel zugewandt, der diesmal seinen Worten auch nachkam. Sofort als sie frei war, ging sie einige Schritte von ihm weg in Richtung Tür. Liam war mit wenigen Schritten bei ihr und schob sie mit sich zur Tür. „Was auch immer du von uns halten magst… Vergiss nicht, dass wir dir und deiner kleinen Freundin heute das Leben gerettet haben.“ Liam hielt kurz inne und der Druck gegen Eyleens Rücken verschwand. Ein letztes Mal wandte er sich in Richtung der beiden Männer und meinte: „Das werde ich nie“, bevor sie zusammen das Haus verließen.   Die Nacht war kalt geworden. Eisiger Wind wehte durch die Bäume und ließ deren Blätter geräuschvoll rauschen. Auf Eyleens verschwitzter Haut kam er ihr gleich nochmal eisiger vor. Ob es kann der kalten Abendluft lag, dass sie so zitterte, oder dass es die Tatsache war, dass sie nervlich völlig am Ende war, wusste sie nicht. Sie wusste nur, dass sie Angst davor hatte, dass Liam mit ihr sprach. Sie wagte es nicht in seine Richtung zu sehen.   „Du hättest da eben sterben können, Eyleen. Warum bist du überhaupt gekommen?“ Seine Stimme war ruhig und trotzdem spürte sie die Dringlichkeit darin. Das Zittern wurde stärker, so sehr sie auch versuchte es zu unterdrücken. „Riley rief an. Chloé und er haben dich gesucht. Ob ich vielleicht wüsste, wo du wärst. Da konnte ich einfach nicht mehr Zuhause sitzen bleiben. Es tut mir leid.“ „Es tut dir leid? Ist das dein Ernst? Du kannst dich doch nicht einfach so in einen Straßenkampf einmischen! Wir wären beide beinahe draufgegangen!“ „Ich habe es versucht, okay?“ Tränen stiegen heiß und brennend in ihre Augen. Sie hatte keine Kraft mehr sie zurück zu halten. Sie wandte sich zu ihm um. Sein Gesicht war tief im Schatten vergraben und doch sah sie seinen erschrockenen Ausdruck, als er ihre Tränen bemerkte. „Ich habe versucht stark und mutig zu sein. Ich habe versucht nicht der Schwäche in mir nachzugeben. Mich nicht von der Angst überwältigen zu lassen. Und dennoch konnte ich nichts tun. Ich habe alles falsch gemacht. Es ist alles meine Schuld… Hasse mich ruhig, wenn du willst. Ich würde es genauso tun. Ich war nutzlos, wie immer. Ich habe alles nur noch schlimmer gemacht.“ Mit jedem ihrer Worte wurde sein Gesicht härter. Seine eisblauen Augen hatten nun die Farbe von einer aufgewühlten See.   „Liam! LIAM!“ Zwei dunkle Gestalten, die sich zwischen den schwach glühenden Straßenlaternen nur durch ihre Bewegungen vom Schwarz der Nacht abhoben, näherten sich ihnen im Laufschritt. Schnell erkannte sie Chloés goldene Mähne und Rileys Strubbelkopf, die, je nach Lichteinfall der in der Umgebung befindlichen Lichter, ihre Farbnuancen veränderten.   „Tja, deine Freunde haben sich bestimmt große Sorgen gemacht.“ Mit einer zügigen Handbewegung wischte Eyleen sich das Feuchte von den Wangen, doch gegen das Brennen darauf konnte sie nichts tun. „Es wird Zeit, dass du zu ihnen gehst.“ Liam schaute abwechselnd zwischen seinen Freunden und Eyleen hin und her. Man sah ihm die Unsicherheit förmlich an. Eine Premiere für Eyleen. Doch sie verstand. Ein trauriges Lächeln huschte für eine Sekunde über ihre Lippen. So blitzschnell, dass er es wahrscheinlich nicht einmal bemerkte. „Lass mich nur eins noch sagen, bevor wir von nun an getrennte Wege gehen werden: Ich bin wirklich froh, dass du noch lebst.“ Im nächsten Moment war sie auch schon in die entgegengesetzte Richtung los gerannt und in der Dunkelheit verschwunden.   Mia hatte ihr angesehen, dass etwas nicht stimmte, als die Blondine spät abends die gemeinsame Wohnung wieder betrat. Ihr war klar gewesen, dass man ihr die Geschehnisse der letzten Stunden deutlich ansah. Spuren der Tränen im Gesicht, zerzauste Haare, Schweiß vom Laufen klebte an ihrer Haut und Flecken in der Kleidung. Es konnte gar nicht sein, dass ihr das n i c h t auffiel. Und trotzdem. Zu Eyleens Verwunderung hatte sie nichts gesagt. Sie hatte nur dort gestanden, in der Tür zum Wohnzimmer, hatte sie ruhig angelächelt und gesagt: „Schön, dass du wieder da bist!“ Danach war sie einfach zurückgegangen und hatte sich wieder auf das Sofa gesetzt, den Film gespannt verfolgend. Die Aktion hatte Eyleen einen Stich ins Herz gejagt. Das war nicht die Reaktion, die sie erwartet hatte. Mia war doch sonst immer wie eine Mutter für sie gewesen. Immer streng, immer am schimpfen, selbst wenn ihr nur beim Essen etwas auf die Kleidung tropfte. Immer hatte sie diesen mütterlichen Ton gehabt. Damals hatte sie ihn noch gehasst. Wie oft hatte sie Mia gesagt, sie solle damit aufhören? Jetzt tat sie es. Und nun wünschte sie sich, es wäre wieder alles so wie damals.   Eyleen war ins Badezimmer geschlurft, weil ihr für das Füßeanheben die Kraft fehlte. Sie war den gesamten Weg zurück gerannt, ohne sich nur einmal umzudrehen. Sie wusste nicht, was hinter ihrem Rücken passiert war, als sie gegangen ist. Sie war nur froh, dass Liam wieder dort war, wo er hingehörte. Die Dusche hatte sie mit neuem Leben erfüllt und als die frische Jogginghose und das neue T-Shirt ihre Haut bedeckten, fühlte sie sich gleich wie neu geboren. Ein entspanntes Seufzen verließ ihre Lippen als sie sich zurück auf ihr Bett fallen ließ. Die Uhr auf ihrem Nachtschrank zeigte mittlerweile 22:41 Uhr. Ihre Gedanken kreisten noch immer in ihrem Kopf wie der Mond um die Erde. Immer wieder ließ sie den Abend Revue passieren. Auch, wenn sie das eigentlich gar nicht wollte. Es war einfach schon zu spät, um sich darüber noch den Kopf zu zerbrechen. Morgen war Sonntag und da hatte sie noch genug Zeit für solch unschöne Dinge. Wenn sie nicht gleich ins Bett gehen würde, könnte sie für nichts mehr garantieren.   Umso mehr schreckte sie das laute Schellen der Türklingel hoch. Innerhalb von Millisekunden saß sie wieder aufrecht im Bett. Wer klingelte denn bitte um kurz nach halb 11 Uhr an fremden Haustüren? Noch ehe Eyleen reagieren konnte, streckte plötzlich ihre Freundin Mia ihren schwarzen Haarschopf durch ihre Zimmertür. Ihr Gesicht sprach Bände. „Ist für dich.“ Die Blondine schluckte schwer, weil es nur eine Person gab, die etwas von ihr wollen könnte. Doch das war eigentlich unmöglich. Und vor allem war es ganz schlecht.   Mechanisch richtete sie sich auf und ging steifgliedrig in Richtung der Haustür. Sie sah sein schiefes Lächeln schon von weitem und ihr Herz rutschte vor Schreck in ihre Schuhsohlen. Was zum Teufel machte er hier? Was sollte sie Mia sagen?   Unbewusst ließ Eyleen eine Art Sicherheitsabstand zur Tür. Mia hatte sich hinter ihrem Rücken in ihr Zimmer zurückgezogen, doch auch ohne hinzusehen wusste sie, dass ihre Freundin immer noch sehr präsent war. „Du warst vorhin so schnell weg, obwohl ich noch nicht fertig war.“ Er grinste noch immer. Er versuchte also diese doch ziemlich unangenehme Situation etwas mit seiner üblichen Haltung aufzulockern. Eyleen nahm die Vorlage gerne an. Im Stenkermodus ließ sich so etwas viel einfacher bewältigen. „Tja, ich wollte dir halt noch die Zeit geben, deine Gesichtszüge wieder zu ordnen. Nicht, dass du für immer mit einer Grimasse rumlaufen musst.“ Er verschränkte kurzerhand die Arme vor der Brust und lehnte sich schräg gegen den Türrahmen. Sein Lächeln wurde, wenn es geht, nur noch breiter. Wenn die Tri nicht genau wüsste, dass er eigentlich recht schwer verletzt war, dann hätte sie ihm überhaupt nichts angemerkt. Bis auf ein paar Flecken in der Kleidung und Kratzer und blaue Flecke auf der Haut sah er nicht groß anders aus als normalerweise. Zum Glück verdeckte seine Lederjacke den großen Blutfleck auf seinem T-Shirt komplett. „Wie immer sehr zuvorkommend, Kätzchen.“ Danach schwieg er und starrte seine Gegenüber nur stumm an. Eyleen wurde es immer unwohler in ihrer Haut, woraufhin sie das Gespräch wieder aufnahm.   „Und was willst du jetzt hier? Kannst du mir mal erzählen, wie ich meiner Freundin deinen nächtlichen Herrenbesuch erklären soll?“ Das war wirklich eine Frage, die ihr keine Ruhe ließ. Sie spürte Mias Blick richtig in ihrem Nacken brennen. „Was ist denn deine sonstige Ausrede?“ Immerhin senkte er seine Stimme, bis sie nur noch ein Flüstern war. Das konnte die Schwarzhaarige unmöglich hören. „Fitnessstudio“, gab sie genauso leise zurück. „Na, da kannst du doch was draus machen.“ Er zwinkerte ihr zu. Sie verdrehte nur die Augen. Aber ja, das ging. „Hör zu“, fuhr er weiter so leise fort, obwohl das Klicken einer Tür hinter ihnen Mias Rückzug verkündete. „Es tut mir leid, was da eben passiert ist. Ich wollte nicht, dass du wegen meiner Dummheit in Gefahr gerätst. Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber ich weiß, dass du mir da ziemlich aus der Patsche geholfen hast. Dafür wollte ich mich unbedingt bei dir bedanken.“ Ihre Wangen brannten wie Feuer. Das war ihr alles mehr als unangenehm. Sie hatte doch gar nichts tun können! „Du brauchst mir nicht danken. Ich hatte gar nichts tun können.“ Sie senkte ihren Blick. „Im Gegenteil. Ich habe alles nur noch schlimmer gemacht. Ich höre noch immer, wie sie sich über mich lustig machen…“ Das tiefe Lachen der Männer… Wie ein Echo hallte es in ihrem Kopf wieder. „Nein, das stimmt nicht. Du hast nicht unbedingt den besten Auftritt hingelegt, aber erwischt hätten sie mich sehr wahrscheinlich trotzdem. Aber weil du da warst, stehe ich jetzt noch hier. Hier in deiner Haustür und kann dich nerven.“ Das Grinsen wollte seine Lippen nicht verlassen. Meinte er wirklich ernst, was er da sagte? „Du solltest dich eher bei Matthew und Daniel bedanken. Ohne die beiden wären wir jetzt beide…“ Das letzte Wort blieb ihr im Hals stecken.   Als er seufzte, verschwand auch erstmals seine gute Laune. „Ja, vielleicht habe ich ihnen Unrecht getan. Vielleicht hätte ich die alte Geschichte nicht noch mal aufwärmen sollen. Ich weiß, wo ich seine Handynummer her bekomme. Ich schreibe ihm noch mal.“ Ein Schauer der Erleichterung lief über ihren Rücken, ehe sie zustimmend nickte. Was auch immer sie damals für einen Fehler gemacht hatten. Diesmal waren sie diejenigen, die zwei Menschenleben gerettet hatten.   „Mittwoch wollen wir wieder los. Du bist doch bestimmt wieder dabei, oder? Eine kleine Runde auf dem Laufband drehen?“ Und da war sein Lächeln wieder. Eyleen hingegen war gar nicht zum Lachen zumute. „Ich soll wieder mitkommen? Ist das wirklich eine gute Idee? Ich meine… Du bist ja auch noch verletzt und…“ „Ach, das ist doch nur ein Kratzer“, fiel er ihr gleich ins Wort. Sofort war die Tri auf 180°. „Nur ein Kratzer? Ernsthaft? Ich zeig dir gleich, was ein Kratzer ist!“ Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, hatte sie ihm bereits unbewusst mit der Faust gegen seinen linken Arm geschlagen. Erst danach wurde ihr bewusst, was sie grade getan hatte. Schnell ruderte sie zurück. „Ah, ich… Tut mir leid…“ „Alles okay. Wenn du mit deinen kleinen Fäustchen zuhaust, merk ich das doch gar nicht.“ Eyleen seufzte tief. Sofort war alle Sorge um ihn verschwunden. „Du solltest wirklich besser gehen. Auch Kratzer müssen erstmal verheilen. Und ich bin grade nicht mehr in der Lage dazu dein Geschwätz zu ertragen.“ Liam setzte ein Schmollgesicht auf, das man nicht mal einem kleinen Kind geglaubt hätte. Eyleen war kurz davor zu lachen, doch diesen Triumph gönnte sie ihm gerade nicht. „Das trifft mich wirklich hart, Kätzchen.“ „Geh weg!“, meinte sie und schob ihn (sanft) aus der Tür hinaus. „Ruh dich gefälligst aus! Und keine verrückten und dämlichen Aktionen mehr!“   Als er in Richtung Treppe ging, war sein breites Grinsen wieder da und er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Wir sehen uns dann Mittwoch!“, lachte er noch, ehe er außer Sichtweite war. Völlig erschöpft schloss Eyleen die Tür. So ein Chaos! Schlurfend schlich sie zu ihrer Zimmertür hinüber und freute sich endlich schlafen zu können. Doch noch ehe sie die Tür auch nur erreicht hatte, tauchte Mias Kopf erneut im Türrahmen ihres Schlafzimmers auf. „Wer war das denn?“ Da war sie wieder, ihre Neugierde. Eyleen versuchte ihr wild schlagendes Herz zu beruhigen. „Das ist Liam. Ich hab ihn im Fitnessstudio kennen gelernt. Ist ein ziemlich arroganter und eingebildeter Typ, aber irgendwie auch ganz nett. Er war wohl ziemlich betrunken und kam auf die tolle Idee, die Klingelschilder hier nach meinem Namen abzusuchen. Ich hatte ihm nur die Straße gesagt, in der ich wohne. Witzig, was für Leute man so kennen lernt.“ Das hatte er nun davon! Jetzt stand er als verrückter Trunkenbold da! Eyleen musste zugeben, dass sie das ungemein befriedigte. „Also alles in Ordnung. Gute Nacht!“   Und keine fünf Minuten später war es mucksmäuschenstill in der Wohnung. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)